cr-3Joseph Church - Die Anfänge des Sprechens 
 
FRITZ MAUTHNER
Erste Mitteilung
II-30

"Es gibt sehr hochentwickelte Tiere, man nennt sie Dichter, welche Theaterstücke schreiben aus fein differenziertem Hunger und welche diese äußerst komplizierte Maschinerie des Stückeschreibens doch nur für Herbeischaffung der Nahrung in Bewegung setzen."

Das Verhältnis des Lallens zur Erlernung der Muttersprache läßt sich beim Kinde am besten während des letzten Viertels des ersten Lebensjahres beobachten. Da hat der Säugling den größten Schritt der urzeitlichen Menschengeschichte in seinem Gehirn kleinweise bereits wiederholt: er hat begriffen, daß das Tönen des Sprachorgans zur Mitteilung zwischen den Menschen geeignet sei. Er versteht bereits einige Worte seiner Umgebung und reagiert darauf mit seinen Bewegungen. Er ahnt auch bereits, daß er im stande sein werde, diese Töne nachzumachen; aber die ersten Versuche mißlingen vollständig, er hört irgend etwas Tönendes, bewegt aufmerksam Zunge und Lippen und bringt etwas anderes Tönendes hervor. Es ist schon vorhin darauf aufmerksam gemacht worden, daß wir durchaus nicht wissen können, ob nicht irgend eine Absicht der Nachahmung auch dem Lallen dieses Lebensjahres zugrunde liegt. Jedenfalls hören wir Erwachsenen keine Bestandteile der Muttersprache heraus. Was wir wahrnehmen können, das ist folgendes: das Kind weiß jetzt (ungefähr so wie ein erwachsener Hund), daß z.B. sein Nahrungsbedürfnis rascher befriedigt wird, wenn es mit den Händen oder mit den Sprachorganen geeignete Bewegungen macht. Freiwillige Bewegungen zum Zwecke der Ernährung sind das Kennzeichen der Tiere. Es gibt sehr unentwickelte Tiere, welche das nahrungshaltige Wasser durch Bewegungen ihrer Flimmerhärchen an ihr Freßorgan heranspülen; es gibt sehr hochentwickelte Tiere, man nennt sie Dichter, welche Theaterstücke schreiben aus fein differenziertem Hunger und welche diese äußerst komplizierte Maschinerie des Stückeschreibens doch nur für Herbeischaffung der Nahrung (in weiterem oder im engsten Sinne) in Bewegung setzen.

Mitten zwischen diesen beiden Extremen steht das einjährige Kind mit seinen Nahrungsbewegungen. Vielleicht glaubt der Hund, daß sein Winseln unmittelbar durch eine Zauberkraft die Tür öffne; vielleicht glaubt das Kind, daß die Bewegungen seiner Sprachorgane ihm die Milch aus der Brust oder der Flasche herbeispülen. Wir haben dann einen frommen Hund, ein frommes Kind vor uns. Das Kind arbeitet dabei mit den Muskeln seiner Augen und seiner Ärmchen, es fleht mit Blicken und Händen. Aber es hat bereits auch gelernt, die Muskeln der Lippen, der Zunge und des Kehlkopfes in Bewegung zu setzen; es hat z.B. einmal bemerkt, daß auf die Bewegung, welche das Zufallswort "mimi" hervorbrachte, sofort die süße Milch an seinem Munde war. Das Kind hat nun schon Gedächtnis genug, um beim nächsten Hungergefühl die gleichen Sprechbewegungen zu machen; auch die Mutter hat Gedächtnis und versteht das Zufallswort  mimi  schnell, ohne daß das Kind die Muskeln seiner Augen und seiner Arme anzustrengen braucht. Das auszeichnende Merkmal der Sprache, die große Bequemlichkeit der Zeichen, ist zum ersten Male praktisch geworden. Mutter und Kind üben sich unbewußt auf das Zufallswort ein, und wieder einmal hat eine neue Ursprache angefangen. Sie wird nachher durch die Muttersprache verdrängt, weil diese im Verkehr zwischen den Menschen noch bequemer ist. Aber für einige Zeit ist das Lallen zur Sprache geworden, der Zufallslaut mimi ist das Zufallswort mimi geworden.

Noch einmal: wir sagen Zufall, weil wir die Notwendigkeit nicht beschreiben können. Vermuten können wir aber doch, daß die Lippenbewegung, ohne welche  m  nicht hervorgebracht werden kann, doch nicht so ganz zufällig das Wort für das erste Bedürfnis des Kindes bildet: die Nahrungsaufnahme. Vielleicht ist der Säugling dabei ein mimischer Künstler und ahmt das Saugen nach, um das Saugen zu ermöglichen, oder vielmehr: er saugt so lange, bis er Milch findet. Psychologen mögen sich nun daran ergötzen, daß der Begriff  mimi  im Säuglingsgehirn unklar und unbestimmt unsere Begriffe Milch, Mama, Amme, Mund umfassen mag und daß da überall das mimische  m  vorhanden ist. Ein Kind, das mit der Flasche aufgezogen worden ist, wird natürlich auch "Flasche" unter dem Begriff  mimi  mitdenken.

Im ersten Viertel des zweiten Jahres hat PREYERs Versuchskind fast gar keine Fortschritte im Sprechenlernen, bedeutende Fortschritte im Verstehenlernen gemacht. Es bringt wenigstens die Namen für menschliche Körperteile mit irgendwelchen Vorstellungen in Verbindung, vielleicht nur mit Raumvorstellungen. Es hat aber seiner persönlichen Ursprache ein neues Wort hinzugefügt, wenn PREYER richtig beobachtet hat und "atta" nicht vielmehr "adieu" ist und damit das erste Wort der Muttersprache. PREYER verwundert sich darüber, daß  atta  jedes "fort" bedeutet, auch z.B. das Auslöschen einer Flamme. Das Kind war aber dabei logischer als sein Professor; denn die Flamme ist dem Kinde mit Recht etwas Körperliches; wenn sie auslischt, so ist das eben nur viel schneller "atta", als wenn ein Mensch stirbt.

Wie sehr wir uns aber vor der Annahme hüten müssen, daß das Kind die angeblich verstandenen Worte im Sinne der Erwachsenen verstehe, kann ein kleines Beispiel zeigen. Das Kind ist jetzt so weit, nicht nur "Ohr" zu zeigen, sondern auch auf den Befehl "Das andere Ohr" das andere Ohr zu zeigen. Sagt man ihm aber "das andere Auge", so zeigt es abermals das andere Ohr. Es hat also eigentlich nur die Tendenz, den Klang "andere" zu verstehen, es versteht ihn aber falsch; er ist ihm wahrscheinlich ein Eigenname für ein bestimmtes Ohr. Wie überhaupt das Kind in diesem Alter nur mit Eigennamen operieren mag, die sich ihm bei wachsender Intelligenz zu Familiennamen gestalten. Milch, Mama und Amme gehören ihm zu der Familie "mimi".

Gegen Ende des zweiten Lebensjahres ist der Gegensatz zwischen Verstehen und Sprechen am größten geworden. Das Kind ist bereits imstande, mehrgliedrige Sätze der Kinderstubensprache zu behalten und zu befolgen. Wenn der Vater sagt "Nimm den Hut und lege ihn auf den Stuhl", so tut das Kind so. Selbstverständlich geht ihm dabei die komplizierte Grammatik des Satzes nicht auf. Es faßt gewiß nichts anderes als etwa "Hutt - tuhl"; es wird auch genügen, diese beiden Silben auszusprechen. Das Kind ist aber zu dieser Kombination noch nicht fähig. Es schlägt die Händchen auf die Mahnung "bitte" ganz geläufig zusammen, es kann auch schon die beiden Silben bi und te getrennt und sinnlos gut nachsprechen, es kann aber das gehörte "bitte" noch nicht sprachlich anwenden. Das macht ihm aber nicht viel. Seine Umgebung ist so aufmerksam und zuvorkommend, daß das Kind sich immer noch mit dem Verstehen begnügen und in Mußestunden lallen kann. Erst wenn z.B. in einer Krankheit der Nutzen des Sprechenkönnens klar wird, zeigt sich die ganze Hilflosigkeit des Menschenkindes.

Für die letzten Monate des zweiten Lebensjahres glaubt PREYER das erste logische Urteil feststellen zu können. Das Kind hat "heiß" gesagt und natürlich damit gemeint "die Milch ist mir zu heiß". Wir wollen uns darauf hier nicht einlassen. Wir werden mühsam erkennen, daß die Logik und ihre Grammatik nur sprachlicher Art sind, nur Hilfskonstruktionen des Denkens, daß nicht nur Urteile, sondern auch Schlüsse schon in den Begriffen oder Worten stecken. Wir werden uns also hüten, solche Kinderworte grammatisch auszudeuten; wir werden vielmehr zu unserer Befriedigung vermuten, daß auch in der Ursprache oder im Urdenken der Menschheit noch ein einzelnes Wort war, was später breit in Sätzen auseinanderging.

Wie dieser angeblich erste Satz Aufschluß geben hilft über die innere Struktur der Ursprache, so ist ein anderes Wort vor Ende des zweiten Lebensjahres sehr interessant für den Klang der Ursprache, ich meine für die Art, wie die menschliche Sprache klingt, wenn man sie nicht versteht, fast möchte ich sagen: wie die menschliche Sprache für Tiere klingt. Es ist ein bekannter Scherz, ohne ein einziges ihrer Worte zu kennen, den Klang verschiedener Sprachen nachzuahmen. Es unterscheiden sich da auch für das ungeübteste Ohr z. B. Französisch, Englisch und Ungarisch. Es werden dann aber doch nur besonders häufige Laute aneinander gereiht. Wie tönt aber das, was die menschliche Sprache von den Tiersprachen unterscheidet? Wir kennen alle das nachahmende Wort, mit welchem sich ein Kind über die Sprache der Erwachsenen lustig macht, wenn es entweder nicht mehr nachsprechen oder Geschwätz nachahmen will. PREYER hat diese Nachahmung hübsch mit den Buchstaben  raterateratera  fixiert. Das nebenbei.

Mit dem Anfang des dritten Lebensjahres ungefähr hört die Bildung von Zufallsworten, die Schöpfung einer persönlichen Ursprache auf, und zwar nicht eigentlich allmählich, sondern plötzlich mit dem beginnenden Ehrgeiz des Kindes, ein Erwachsener zu sein. Es wiederholt sich das in mehreren Lebensepochen. Das Kind fühlt sich jetzt mit seinen wenigen gesprochenen Worten schon reich, vielleicht weil es so viele andere Worte wenigstens versteht. Es beginnt umzulernen. Es schämt sich seiner Zufallsworte und will sie auch von der Mutter bald nicht mehr hören, wie es ebenfalls anfängt, sich seiner Kinderkunststückchen zu schämen. Der Ernst des Lebens ist herangetreten: es lernt laufen; da findet es das Kunststückchen "wie groß ist das Kind" zu kindisch für den kleinen Mann. Erst später wird es die Kunststückchen und die Zufallsworte mit der Überlegenheit des reiferen Alters scherzhaft wieder gebrauchen. Ich habe diesen Übergang an einem besonders fröhlichen Kinde selbst genau beobachtet. Um diese Zeit gewinnt das Kind die Sprachbeherrschung, die sich ebenso wie in der Sprachgeschichte (wirklich ebenso) in der Bildung von Sätzen und in der Bildung von Worten äußert. Zum ersten Male verbindet das Kind zwei Worte zu einem Satze und hat damit das Paradies seiner Jugend verloren, wo in einem Zufallsworte noch eine ganze Welt verborgen war; so herrlich ist die gelernte Sprache nicht mehr. Und zum ersten Male bildet das Kind grammatisch ein Zeitwort aus einem Substantiv; es kennt das Wort  Messer  und sagt "messen" für "mit dem Messer schneiden". Es ist ein recht gut gebildetes Wort; es ist bloßer Zufall, daß wir für "schneiden" nicht das Wort "messen" haben, wie das etymologisch vielleicht doch verwandte "metzen".

Mit dieser sprachlichen Tat hat das Kind deutlich seinen Entschluß zu erkennen gegeben, auf die Erfindung einer persönlichen Ursprache zu verzichten und nach der Analogie der Umgangssprache sprechen zu lernen. Im dritten Lebensjahre ungefähr wird diese außerordentliche Arbeit vom Kindergehirn geleistet. Bis jetzt hat es nur Namen von Dingen und Tätigkeiten angenommen; im dritten Lebensjahre erlernt es überraschend schnell einen großen Wortschatz, der mitunter von Tag zu Tag wächst, beinahe von Stunde zu Stunde. Dazu faßt es nun die Analogien, welche Beziehungen ausdrücken und welche wir grammatische Formen nennen. Es war ein Ereignis, da das Kind zum ersten Male durch das Anhängen der verbalen Endsilbe aus einem Ding eine Tätigkeit machte. Die Vergleichung der Kindersprache mit der menschlichen Ursprache hört damit auf. Fassen wir aber den Begriff Ursprache zur Abwechslung wieder einmal ganz weit und dulden wir seine Anwendung auf die ungeheuern Zeiträume, in welchen die Sprachen grammatische Formen gewannen für die Beziehungen der Zeit, der Person, des Raums usw., so mag doch wieder das langsame Verstehenlernen der Beziehungsformen ein Abbild sein für die Entwicklung der Sprache beim Menschengeschlecht. Was der mittelalterliche Mönch von HEISTERBACH für seinen Gott in Anspruch nahm, das gilt für die Entwicklungsgeschichte: es sind für sie tausend Jahre wie ein Tag.

In der ersten Hälfte des dritten Lebensjahres beginnt das Kind einige Präpositionen richtig (das heißt im Sinne der Erwachsenen) anzuwenden; sie drücken Beziehungen des Raumes und des Interesses aus ( auf  den Schoß,  für  Mama) und scheinen die Annahme der Sprachwissenschaft zu bestärken, daß die Kasusformen ursprünglich rein lokalen Charakter hatten. Auch der Gebrauch des Artikels wird jetzt mit Verständnis nachgeahmt; der bestimmte Artikel geht dem unbestimmten voraus.

Merkwürdig ist es, daß die Fragen des Kindes, die jetzt zuerst sprachliche Form finden, rein lokaler Art sind. "Wo ist Mama". Nach der Zeit kann das Kind schon darum nicht fragen, weil es die Zeit weder im Verbum noch in Adverbien begriffen hat.

Es lernt das persönliche Fürwort gebrauchen. Aber vorläufig noch nicht die abstrakte Bezeichnung "ich", sondern das Hauptwort alles Interesses: "mir". Der kleine Egoist bezieht die Außenwelt früher auf sich selbst, als er den Begriff seiner selbst geformt hat; später wird die erste Anwendung des Ich-Begriffs in dem Rufe "ich will" oder "ich will nicht" sich äußern.

Bevor das Kind dritthalb Jahre alt ist, hat es so gelernt die Beziehungsformen des menschlichen Verstandes mit den ererbten Analogien der menschlichen Grammatik und Logik ungefähr auszudrücken. Wir können sagen: das Gedächtnis oder das Gehirn ist so erstarkt, daß es nicht nur die Ähnlichkeiten der Dinge merkt und die Merkzeichen an ein Wort heftet, sondern daß es auch schon die Analogien von Beziehungen zwischen den Dingen festhält. Nur zählen kann es noch nicht. Es kennt zwar die ersten fünf Zahlworte, aber es verwechselt noch zwei und drei. Nur der ungeheure Sprung in die Abstraktion der Mathematik hinein ist bereits vollzogen. Das Kind hat den schwierigen Begriff der Einheit erfaßt. Es kann innerhalb der Mehrzahl zwei und drei noch nicht unterscheiden; aber es zählt bereits "eins" und "noch eins".

In der zweiten Hälfte des dritten Lebensjahres wird das Sprechenlernen im wesentlichen vollendet. Die falschen Artikulationen kommen hier nicht in Betracht, weil sie sehr häufig mit mundartlichen Verschiedenheiten zusammenfallen. Ebenso gehört es in die Erklärung des Lautwandels hinein, daß die Kinder bekanntlich mit sogenannter falscher Analogie die schwache Konjugation und Deklination der starken vorziehen, z.B.  getrinkt  anstatt  getrunken  sagen.

Nur der Zeitbegriff ist immer noch nicht vorhanden. Ich habe viele und kluge Kinder in ihrem dritten Lebensjahre daraufhin in unbefangenem Gespräch genau beobachtet und bin zu einem sicheren Ergebnis gekommen. Der Zeitbegriff ist dem Kinde einzig und allein im Zusammenbange mit seinem Nahrungsbedürfnis anschaulich zu machen, vielleicht in buchstäblichen Sinne anschaulich. Es kann die Worte "vor" und "nach" nur in der Verbindung vor dem Essen, nach dem Essen gebrauchen, vielleicht mit der Vorstellung, daß es damit so sei wie, etwas vor dem Tische und hinter dem Tische. Der erste minimale Versuch der Orientierung in der Zeit ist lokal. Davon ausgehend ist dem Kinde das Wort "nachher" verständlich, aber immer nur in dem Sinne von "sofort", nicht klar als etwas Zukünftiges. Das Wort "vorher" ist ihm unbegreiflich. Ebenso plappert es die Worte Vormittag und Nachmittag, Morgen und Abend, gestern, heute und morgen nur sinnlos nach. PREYERs Kind gewöhnte sich sogar das sinnlose "heitgestern" an. Auf einen allgemeinen Ausdruck gebracht, besagen diese Tatsachen, daß das dreijährige Kind zwar bereits ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Tatsachen habe, oft ein besseres Gedächtnis als die Erwachsenen, daß die Erinnerungen jedoch, wie sie objektiv in die Zeit zurückgreifen, subjektiv durchaus kein Bewußtsein von der Zeit besitzen.

Es scheint mir außer Zweifel zu sein, daß es um das oft erstaunliche Gedächtnis der intelligenteren Tiere ebenso bestellt ist, daß auch sie nicht einen Schimmer von der vierten, zeitlichen Dimension haben, während sie sich in den drei Dimensionen des Raums vorzüglich auskennen - es scheint mir sehr wahrscheinlich, daß auch die beginnenden Menschen der Urzeit von der Zeit nichts wußten. Noch später als auf das Zählen verfielen sie auf das Messen der Zeit. Es würde in unaufhellbare Abgründe führen, wollte ich nun die Frage erörtern, ob die Zeit eine Entdeckung oder eine Erfindung der Menschen sei, ob nicht am Ende das zeitlose Gedächtnis des Kindes und des Tieres ebenso wie das zeitlose Artgedächtnis, als welches uns der menschliche Leib sich darstellt, die Wirklichkeitswelt richtiger auffassen als unser Zeitbegriff, ob die ganze Mathematik mit ihrer Zählung und ihrer Zeitmessung nicht ein falsches Bild der Natur sei, wie die flache Erdkarte ein falsches Bild der Erde.

Jedenfalls wird das Kind drei Jahre alt, ohne eine Frage nach der Zeit zu stellen. Das Wort "wann" ist ihm noch unbekannt. Aber eine andere Frage hat es vor Ablauf des dritten Lebensjahres stellen gelernt. Die Frage: "warum?" Das Sprechenlernen des Kindes ist zu Ende. Es hat nach vielerlei Versuchen, der Umgebung seine persönliche Ursprache aufzunötigen, sich der Sitte gefügt und die Muttersprache gelernt, welche ihrerseits aus urzeitlichen persönlichen Ursprachen hervorgegangen ist. Jetzt beherrscht das Kind die Sprache und damit die Philosophie seiner Zeit. Es hat zum ersten Mal "warum?" gefragt und auf die Antwort gewartet. Mehr leistet auch die Philosophie nicht.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906