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FRITZ MAUTHNER
Junggrammatiker
II-08

"Viele Irrtümer in der Geschichte der Wissenschaften beruhen auf den Analogieschlüssen. Die Sonne und der Mond bewegen sich ähnlich um die Erde herum; sie werden also beide die Eigenschaften der Planeten haben. In Wirklichkeit ist weder Sonne noch Mond ein Planet."

Der Unterschied zwischen der älteren Schule und derjenigen, welche gegenwärtig als die der Junggrammatiker die Sprachwissenschaft beherrschen will, besteht weder in der Methode, noch wesentlich im Stoff, sondern hauptsächlich darin, daß die ältere Schule bescheidener nach einigen "Gesetzen" des Lautwandels suchte, während die Junggrammatiker die gefundenen weniger bescheiden für Naturgesetze ausgaben. Wie gesagt: auch JAKOB GRIMM wußte, daß jede Änderung in der Welt ihre bestimmte und bestimmende Ursache habe; er glaubte nur nicht, das Netz dieser Ursachen zu kennen. Die Junggrammatiker bilden sich das ein oder hoffen doch, diese Kenntnis erreichen zu können, weil sie die Arbeit ihrer Vorgänger ein wenig weiter gefördert haben. Die Art dieser Selbsttäuschung wird scharf beleuchtet, wenn wir nun aus HERMANN PAULs "Grundriß der germanischen Philologie", der völlig auf junggrammatischem Standpunkt steht, einige fast unfreiwillige Zugeständnisse zusammenstellen. Der Ausgangspunkt ist, daß JAKOB GRIMM mit bewundernswerter Arbeit zwar das Material für die neue Wissenschaft gesammelt, aber die richtigen Gesetze noch nicht gefunden habe. Ähnliches erfahren wir über größere und kleinere Forscher, die der Zeit der Junggrammatiker vorausgingen.

Von SCHLEICHER wird gesagt: es bleibe ihm zwar das Verdienst, daß er das Ziel zuerst klar vorgezeichnet habe; aber es haben sich seine Aufstellungen später in vielen Hinsichten als irrig erwiesen. Gleich darauf heißt es von HOLTZMANNs Abhandlungen: sie waren gleichfalls mehr durch die von ihnen ausgehende Anregung als durch ihre positiven Resultate von Bedeutung. Die neue Zeit datiert der "Grundriß" vom Jahre 1868, weil damals SCHERERs "Zur Geschichte der deutschen Sprache" erschien. Wer nun aus diesem Buche selbst nicht viel lernen konnte, der hofft von solchen Verehrern SCHERERs zu erfahren, daß dieser Forscher die so lange gesuchten Gesetze endlich entdeckt habe. Der Grundriß aber sagt:
"Er wollte in raschem Anlauf mit Mitteln, die uns jetzt als durchaus unzureichend erscheinen müssen, gleich die letzten Fragen der germanischen, ja der indogermanischen Sprachgeschichte lösen, ein Unternehmen, welches notwendigerweise scheitern mußte ... So war das Ganze nicht etwa eine neue Grundlegung von bleibendem Werte, sondern nur ein allerdings höchst kräftiges Ferment in der Entwicklung, durchaus anregend, auch da, wo es zum Widerspruch reizte."
Also erfahren wir, daß die Geistesarbeit der Sprachforscher niemals bleibenden wissenschaftlichen Wert hatte, immer nur anregend war, bis LESKIEN (1876) den berühmten Satz aufstellte, daß man keine Ausnahme von den Lautgesetzen gestatten dürfe. Da wurde die Schule der Junggrammatiker gegründet. Ihr oberster Satz von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze, denen man Nachsicht "nicht gestatten dürfe", spricht nicht eben geschmackvoll den einfachen Gedanken aus, daß nur ausnahmslos ähnliche Erscheinungen sich nach unserem Sprachgebrauch unter dem Namen eines Gesetzes zusammenfassen lassen, daß nur aus solchen Beobachtungen sich eine Wissenschaft zusammenstellen lasse. Es ist nur die Frage, ob es solche strenge Übereinstimmungen, ob es solche Gesetze gibt.

Die Geschichte der Sprache vollzieht sich teils regelmäßig, teils unregelmäßig; und diese ebenso richtige wie unbrauchbare Beobachtung haben schon die Alten gemacht, da sie die ihnen bekannte Bildungsweise der Sprache in die Wirkungen der Analogie und der Anomalie zerlegten. Analogie und Anomalie waren für die Alten allerdings so etwas wie Personifikationen, Götter, besondere Kräfte; unsere modernsten Forscher wissen sich von solchem Irrtum frei, haben aber in die bewegenden Kräfte der Sprache, die sie Prinzipien nennen, arge Verwirrung gebracht. Im Grunde waren die Alten viel vorsichtiger, wenn sie gleichmäßige Erscheinungen unter den Begriff der Analogie brachten, das heißt unter den Begriff der Ähnlichkeit, weshalb denn auch die Lateiner Analogie mit  comparatio  übersetzten. In dem richtigen Gefühle, daß eigentlich nur unerklärte ähnliche Tatsachen vorliegen, also nur Analogien, wo sie von Lautgesetzen sprechen, in dem weiteren richtigen Gefühle, daß auch die kreuzende Tätigkeit der Anomalie fast niemals isoliert sei, fast immer durch psychologisches Anschließen an andere Gruppen zustande komme, haben nun die Junggrammatiker - besonders von SCHERER angeregt - die nach ihrer Anschauung ungesetzlichen Bildungsformen "falsche Analogien" genannt. Es ist den Herren beim Gebrauche dieses Wortes nicht behaglich zumute. OSTHOFF schlägt dafür den Ausdruck "Assoziationsbildungen" vor, weil der Terminus " falsche  Analogiebildung" mit der Sache ein nicht zu rechtfertigendes Odium verknüpfe. Auch ich glaube, daß es ebensowenig angehe, seit Jahrhunderten gebrauchte Sprachformen falsch zu nennen, wie eine neugezüchtete Art von Rosen falsche Rosen zu nennen. Aber die Gefahr im Gebrauch des Wortes Analogie liegt viel tiefer; es wird einfach - mit Erlaubnis der gelehrten Sprachforscher - ein Fremdwort von ihnen falsch angewendet.

Als die alten Griechen das Wort Analogie auf solche Gleichmäßigkeiten anpaßten, da sprachen sie - fast möchte ich sagen: deutsch. Das Wort ihrer Muttersprache war ihnen kein gelehrter Terminus. Analogie hieß ihnen die Ähnlichkeit zweier Formen, noch allgemeiner: das Verhältnis zweier Formen. Die Lateiner nannten das, wie gesagt,  comparatio,  aber auch  proportio.  Nun wurde aber von dem großen Schulmeister ARISTOTELES das Wort Analogie - immer noch ganz unpedantisch - auf diejenigen Schlüsse angewendet, die nichts beweisen, die nur von einer Ähnlichkeit ausgehen. Dieser vollkommen unwissenschaftliche Schluß würde in kurzen Worten lauten: wenn zwei Dinge in vielen bekannten Eigenschaften übereinstimmen, so werden sie wohl auch in den unbekannten Eigenschaften übereinstimmen; noch kürzer und noch klarer wäre die Unsinnigkeit - wenn zwei Dinge einander ähnlich sind, so werden sie wohl einander gleich sein. Viele Irrtümer in der Geschichte der Wissenschaften beruhen auf den Analogieschlüssen. Die Sonne und der Mond bewegen sich ähnlich um die Erde herum; sie werden also beide die Eigenschaften der Planeten haben. In Wirklichkeit ist weder Sonne noch Mond ein Planet. Es gehört die Lehre vom Analogieschluß gar nicht in die Logik hinein, sondern nur in eine Darstellung der Schwächen des menschlichen Verstandes, also insofern doch in die Logik oder Pathologie des Denkens. Die Lehre vom Analogieschluß ist jedoch tatsächlich mit der übrigen Logik in die Gelehrtenköpfe hineingeraten; man könnte sie die Lehre vom falschen Vergleichen nennen. Hatte man nun aber erst einen gelehrten Terminus für das nachfolgende Schließen aus Ähnlichkeiten, so wandte man diesen Terminus technicus auch auf das Entstehen solcher Ähnlichkeiten an. Wie so oft redeten da die modernen Gelehrten griechisch, wo die Griechen ungelehrt das Wort ihrer Muttersprache gebrauchten.

Der Fehler in der Anwendung der logischen Analogie auf die Geschichte der Sprache wird noch klarer, wenn wir dasselbe Wort auf die Geschichte der Organismen anzuwenden suchen. Ist nämlich wirklich die Entstehung der differenzierten Tierformen aus den niedersten oder einfachsten durch die einander kreuzenden Wirkungen der Erblichkeit und der Anpassung zu erklären, so könnte man ja die Erblichkeit, das heißt die Tendenz, das Kind den Eltern identisch zu schaffen, Analogie nennen, - die Anpassung jedoch, das heißt die Tendenz, kleine Unterschiede zu häufen und zu konservieren, die falsche Analogie. Sofort wäre damit die Sprache, welche durch die Worte Vererbung und Anpassung erklärende Gesetze aufzustellen versucht hat, zu der Banalität zurückgekehrt, daß die Tiere einander teils ähnlich, teils unähnlich sind. Aber die Worte der menschlichen Sprache sind nicht einmal Organismen, sondern nur Bewegungen oder Tätigkeiten von Organen. Man darf die Sprache nicht mit den lebenden Tieren vergleichen, sondern nur mit ihren anderen Tätigkeiten, z.B. mit der Fortbewegung der Tiere. Das wäre - wie schon einmal hervorgehoben - eine recht fruchtbare Vergleichung, weil ja doch das Schwimmen, Fliegen und Gehen der Tiere zuerst und zuletzt eine Annäherung entweder an Nahrungsmittel oder an den Gegenstand der Geschlechtsvereinigung bezwecken, und weil wohl die menschliche Sprache außer den Zielen der Eitelkeit zuerst und zuletzt ebenfalls die Annäherung des Nahrungsmittels und des Weibchens beziehungsweise Männchens will.

Ich wage es nicht, da ich mich auf keine physiologische Vorarbeit berufen könnte, eine Vergleichung durchzuführen, zwischen der Entwicklung der Sprache und zwischen dem Wege, welcher von den zuckenden Bewegungen der Seeanemone (um ein auffallendes Beispiel zu nennen anstatt ,den weniger bekannten Bewegungen der Moneren, die hier richtiger stünden) in unendlichen Zeiträumen bis zum Fluge des Adlers und zum Gang und Tanz des Menschen geführt haben mag. Die Entwicklung des Organismus wäre dabei eine Sache für sich. Aber der Gebrauch des Organs, der dann freilich wieder die Entwicklung beeinflußt haben wird, dürfte doch wohl dem Gebrauch des menschlichen Sprachorgans entsprechen. Und es ist kein Zufall, wenn man befreundete Menschen ebensogut an der Sprache wie am Gang erkennen kann, ja sogar am Schall der Tritte kann man sie erkennen. Das ist nicht wunderbar; "Sprache" ist ein Abstraktum, es gibt nur Individualsprachen, eigentlich nur Augenblicksworte; "Gang" ist ein Abstraktum, es gibt nur individuelle Gangarten, eigentlich nur ähnliche Schreitbewegungen.

Ich kehre zu den Gesetzen des Junggrammatikers zurück. Der kleine Ausflug, den wir eben gemacht haben, läßt uns vielleicht freier atmen und denken. Wenn es nur Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten sind, was wir auch in der Sprache Gesetze nennen, so spricht aus der Lehre von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze doch nur der lobenswerte Wunsch. Wir wollen künftighin nur solche Ähnlichkeiten durch eine Formel zusammenfassen, die durch ihre Regelmäßigkeit den Gedanken an einen Zufall verscheuchen. Es ist also das berühmte Wort dieser neuen Schule nicht so sehr schon eine Entdeckung als vielmehr eine Warnung vor der törichten Anwendung des Wortes Gesetz. Weil die Herren das aber nicht zugeben, weil sie doch gern im kleinen etwas Entdeckerwollust genießen möchten, darum haben sie ihr großes Gesetz verklausuliert und begnügen sich zur Not mit kleinen Gesetzchen, die dann innerhalb einer begrenzten Zeit und eines begrenzten Raums gelten sollen.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906