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FRITZ MAUTHNER
Sprachtheorien
II-32

"Jede Mitteilung ist zugleich ein Zwang, daher denn auch die Belästigung durch Mitteilungen, die uns unerwünscht oder gleichgültig sind."

Wir können nicht darauf verzichten, zu untersuchen, welche Kräfte, Geisteskräfte natürlich, es sind, die den verschiedenen Theorien von der Entstehung der Sprache zugrunde liegen. Man hat die populärsten Theorien ganz bequem unter drei Schlagworte gebracht, Spitznamen, welche jedoch von den Vertretern der bezüglichen Lehren ehrlicherweise angenommen werden könnten, die Klingklang-Theorie, die Aha-Theorie und die Wauwau-Theorie.

Die  Klingklang -Theorie ist unter diesen drei Hypothesen die jüngste, wenn sie auch bereits von dem Sprachphilosophen HEYSE vorgeahnt worden ist. MAX MÜLLER war ihr Prophet, um sie dann ein wenig zu verleugnen und sie seinen Aposteln zu überlassen. Es wird in dieser Lehre behauptet, daß jeder Körper, wenn er in Bewegung gesetzt wird , einen Schall errege; der Schall des Menschen sei seine Sprache, so wie der Schall der Bronze der Glockenton, der Schall des Baches sein Rauschen sei. Es scheint mir nicht einmal nötig, diese Weisheit durch Spott ad absurdum zu führen. Denn der Schall des in Bewegung gesetzten Menschen dürfte doch viel natürlicher als in der Sprache in anderen Geräuschen zu suchen sein; der Mensch klingt, wenn ihm fünfundzwanzig aufgezählt werden, er schreit sogar dabei, er rülpst, wenn er zu viel gegessen hat, und vollführt weiter derlei Geräusche. Sie sind aber allesamt zu keiner Sprache ausgebildet worden. Selbst der Wind-Virtuose in ZOLAs  La Terre  spricht nicht auf dem Wege, der ihm beliebt. Im Ernste: diese Klingklang-Theorie tut nichts, als daß sie die menschliche Sprache äußerst töricht und einseitig mit etwas vergleicht, was unter dem höheren Begriff "Schall" gerade den Gegensatz zur Sprache darstellt, weil sie sich doch von  allen  anderen Naturgeräuschen eben durch ihre willkürliche Artikulation unterscheidet. Diese Theorie hat nicht einmal so viel Phantasie, um der Sprache eine noch so armselige Kraft zugrunde zu legen. Nach ihr würde die Sprache in der Akustik abzuhandeln sein; ein Echo wäre ebensoviel wie Sprache.

Die Aha-Theorie klingt nicht ganz so unsinnig. Nach ihr ist die Sprache aus Interjektionen entstanden. Aus den Empfindungslauten, in denen wir außersprachlich noch heute unsere Gefühle auszudrücken pflegen (Ah! Oh! Au! Ei! usw.), wären die Wurzeln entstanden und aus diesen nachher die Sprache. Es fällt dabei auf, daß erstens diese Lehrer nicht wissen, was Interjektionen eigentlich sind, daß zweitens unsere meisten Interjektionen gerade im Gegenteil Reste ehemaliger Worte sind, daß drittens die echten Interjektionen (wenn wir das Ah! und Oh! nach unserem Sprachgefühl dafür halten dürfen) gerade den Konsonanten entbehren und darum wohl erst die Frage vorauszuschicken wäre, wo die Interjektionen diese notwendigen und sehr genau artikulierten Sprachlaute hergenommen haben. Angenommen nun, diese Bedenken lägen nicht vor, die Theorie wäre richtig, wäre auch nur möglich, so stehen wir doch vor der gleichen Phantasiearmut wie bei der ersten Theorie.

Es ist gerade für unseren Standpunkt wohl ausgemacht, daß Interjektionen zur Sprache gehören, trotzdem sie weder in die Kategorien der Logik noch in die der Grammatik recht hineinpassen wollen. Das aber dürfen wir wohl für gewiß annehmen, daß die Interjektionen  vor  der Entstehung der Sprache gänzlich unartikulierte Laute waren, besser ausgedrückt (da wir doch für die Entstehung der Sprache keinen auch noch so unbestimmten Termin setzen): daß die Interjektionen jederzeit weniger artikuliert waren als die übrige Sprache. Man denke nur z.B. an unser "hm", das zwar mit diesen beiden Buchstaben geschrieben, aber ganz voralphabetisch ausgesprochen wird; man denke an unseren Ton des Bedauerns (einem inspirierten T ähnlich), der höchstens im Alphabet der Hottentotten einen fest artikulierten Lautwert hat. So mögen die ältesten Interjektionen unartikulierte Töne gewesen sein wie noch unser Stöhnen und Seufzen. Insoweit solche Töne zur Mitteilung benutzt wurden ("Ich leide Schmerzen" oder "Ich fühle mit, daß du Schmerzen leidest"), waren sie allerdings schon Sprache. In dem Augenblicke aber erst, wo diese Laute etwa durch Metapher zur Mitteilung anderer Begriffe verwandt wurden, wo sie also zu Wurzeln unserer Sprache wurden, wo bewußte Sprache entstand, in diesem selben Augenblick mußte etwas Neues in den Menschen vorgehen, was eine solche Verwandlung erst erklären konnte. Und für dieses Neue, diese sprachbildende Kraft, für dieses zu Erklärende hat die Aha- und Pahpah-Theorie kein Wort, nicht einmal einen Gedanken.

Die dritte Theorie, die onomatopöetische, schallnachahmende, welche MAX MÜLLER als die  Wauwau -Theorie lächerlich zu machen vermeinte, ist die älteste Lehre über Entstehung der Sprache, und zu ihr ist man seit PLATON immer wieder zurückgekehrt. Onomatopöie hieß bei den Griechen - wie schon das Wort besagt - eben gar nichts anderes als Wortbildung. Auch wir glauben, daß in Urzeiten die Menschen sehr häufig Dinge dadurch zu bezeichnen suchten, daß sie ihre eigentümlichen Geräusche mit der Menschenstimme nachzuahmen glaubten. Aber wieder frage ich in dieser Lehre, so wie sie vorgetragen wird, vergebens nach der Idee von einer Ursache der Spracherscheinungen, nach der "Kraft".

Es wird nämlich in der folgenden Untersuchung - überzeugend, wie ich hoffe - nachgewiesen werden, daß in jeder Schallnachahmung nur ein Bild, eine Metapher des Originalschalles geboten wird. Dies gilt nicht allein von den Fällen, wo ein ganz verworrenes Naturgeräusch - wie in "Rauschen«, "Donnern" - für unser Sprachgefühl nachgeahmt wird; es gilt auch mein Beispiel ist "Kuckuck" - überall da, wo wir ganz ernstlich glauben, das Tier habe einen Ruf, der mit seinem deutschen Namen identisch wäre. Diese Täuschung ist ganz allgemein, nicht nur bei Philologen, sondern auch bei ganz unverdorbenen Leuten. Kürzlich erst, als ich mit einem Jäger durch ein Binnenwasser segelte und ein Kiebitz mit seinem Schrei (plattdeutsch "kiwiet") über uns hinflog, sagte mein Begleiter: "Er kann nichts als seinen eigenen Namen rufen."

(Ich möchte an dieser Stelle übrigens noch die Bemerkung einschalten, daß wir bei der endlosen Vergangenheit unserer Wörter niemals wissen können, ob die Onomatopöie, die wir z. B. heute aus einem Worte herausfühlen, auch seine Etymologie sei. Hier sind die gröbsten Irrtümer, möglich und wahrscheinlich. Es kann und wird sehr häufig  onomatopöetische  Volksetymologie vorliegen, ein Begriff, zu dem Beispiele zu sammeln ich Detailforschern überlassen muß.)

Wenn nun unsere echten Schallnachahmungen - sie dürften zu zählen sein - durchaus keine realistischen Nachahmungen sind, wenn jedesmal das Eintreten artikulierter Menschenlaute für die jedesmal unartikulierten Naturlaute oder -Geräusche ein Symbol, ein konventionelles Bild, mit einem Worte eine Metapher von dem Originalgeräusch darstellt, so fehlt der Wauwau-Theorie meines Erachtens abermals dasjenige, was die Erscheinung oder Entstehung der Sprache erst erklären könnte. Irgend eine Ursache für die Erfindung der Artikulation wird nicht entfernt angegeben. Läßt man das Metaphorische in der Onomatopöie außer acht, so bleibt zwischen Nachahmung und Sprache eine unüberbrückte Kluft. Es gibt bekanntlich Tiere (Papageien, Spottdrosseln), die Schallnachahmungen auszuführen lieben; sie haben aber nicht artikuliert sprechen gelernt, wenn sie auch - neben ihrem spielenden Nachplappern - ihre eigene Sprache haben mögen. Der Mensch wiederum, der Schallnachahmungen nützlich zur Sprache umgeformt zu haben glaubt, erkennt sofort instinktiv, daß er konventionelle Zeichen für Nachahmungen genommen hat, sowie mit der Ähnlichkeit Ernst gemacht werden soll. Der Jäger, der ein Tier durch Nachahmungen seines Rufs anlocken will, begnügt sich niemals mit den hergebrachten Onomatopöien. Selbst viele Kinder wissen das schon. Sie antworten auf die Frage: "Wie singt der Hahn?" wohl "Kikeriki"; aber wenn sie es ernstlich nachahmen wollen, dann bringen sie "unartikulierte" Laute hervor. Ebenso sagen sie wohl, der Hund mache "Wauwau"; aber sie bellen unartikuliert besser, sobald sie nachmachen wollen. Und mancher Tingeltangelvirtuose kann die verschiedenen Bellaute recht gut auseinander halten.

Unsere sogenannten Schallnachahmungen sind also schon konventionelle Zeichen, sind schon Worte. Und auf die Frage: wie kam der Mensch dazu, neben seiner Fähigkeit, die Naturtöne realistisch nachzuahmen, auch noch die andere Fähigkeit zu entwickeln, diese selben Laute konventionell umzugestalten? auf diese Frage hat die Wauwau-Theorie keine Antwort. Ja, die Frage ist meines Wissens noch niemals gestellt worden.

Auf einen drolligen Rettungsversuch der Wauwau-Theoretiker lasse ich mich nur ungern ein. Während ich  jede  Onomatopöie für metaphorisch erkläre, ihrem Wesen nach, eben der Artikulation wegen, haben überzeugte Onomatopöetiker die Nachahmung selbst bildlich erweitern und durch die Artikulation, z.B. Schnelligkeit, Mühsamkeit, gewissermaßen plastisch dargestellt wissen wollen. Noch WHITNEY glaubt, das sei nicht ohne Glück geschehen. Erinnert er doch sogar an die "Wurzel"  ma,  deren Konsonant  m  in so vielen Sprachen (allen indoeuropäischen vor allem) die erste Person der Einzahl bezeichnet, weil bei der Aussprache des  m  "die Lippen sich fest zusammenpressen, den Sprecher gleichsam von der Außenwelt abschließen"; oder an die "hinweisende Pronominalwurzel"  ta,  welche figürlich den Hinweis auf einen Gegenstand bezeichnen soll, "weil die Zunge sich dabei im Munde vorstreckt, gerade als wollte sie irgendwohin deuten".

Wir haben gesehen, daß die drei Theorien - als wir sie bei ihrer Arbeit beobachteten - einfach vergessen hatten was ihre selbstgestellte Aufgabe war: die Entstehung der Sprache zu erklären. War die Sprache eine einheitliche besondere Erscheinung, so mußte ihr eine besondere Ursache zu Grunde liegen, was man sonst wohl eine Kraft nennt was aber zur Erklärung geboten wurde, war immer nur die armselige Mitteilung, daß der Mensch aus manchen Anlässen Töne von sich gebe. Wie aus diesen Tönen Sprache entstehe das zu erklären wurde nirgends auch nur versucht.

Auch ich werde es nicht versuchen dürfen, weil für mich alle Erklärung nur Beschreibung sein kann, weil jede Entwicklung der Sprache (wie  jede  Veränderung) doch nur die Summe wirklicher Vorgänge ist, für welche jede allgemeine Erklärung in wertlosen Abstraktionen stecken bleibt. Die Geschichte der Vorzeit läßt sich nicht beschreiben, nur träumend dichten. Und der Ursprung der Sprache ist irgendwo versteckt in den Träumen von der Vorzeit; dort oder auch hunderttausend Jahre früher. Es kommt gar nicht darauf an.

Es gibt noch andere Theorien über die Entstehung der menschlichen Sprache. Verlockend physiologisch ist die Reflextheorie.

Wenn im lebendigen Körper auf eine Erregung der sensiblen Nerven eine bestimmte Tätigkeit oder Hemmung der motorischen Nerven erfolgt, ohne daß diese Wirkung durch das Bewußtsein oder gar durch den Willen vermittelt wird, so nennen wir das eine Reflexerscheinung. Das Husten infolge von Reizung der Schleimhäute des Atmungsweges, das Verengen der Pupille auf Lichtreize, das Stocken der Herztätigkeit nach dem Genuß von gewissen Giften sind bekannte Beispiele. Aktive Erscheinungen solcher Art nennt man Reflexbewegungen. Zu diesen gehört das Lachen und das Weinen. Das Lachen als eine Reflexbewegung vor allem des Stimmorgans, das Weinen sowohl als Bewegung dieses Organs wie auch als Absonderung des Tränenstoffs. Auch viele andere Drüsenentleerungen sind Reflexbewegungen.

Die eben gegebene landläufige Definition der Reflexerscheinungen ist für uns fast wertlos, weil sie Abwesenheit von Bewußtsein oder Willen fordert und wir entschieden erklären, nicht zu wissen, was Bewußtsein oder Wille sei. Sehen wir schärfer zu, so versteckt sich auch hinter der Bezeichnung Reflexbewegung nur das Eingeständnis eines doppelten Nichtwissens. Indem wir nämlich den Schein aufrecht halten, als hätten wir die bewußten und willkürlichen Bewegungen unseres Körpers eben durch Bewußtsein und Willen - diese beiden Unbekannten - genügend erklärt, werfen wir nach bewährtem Rezepte alle anderen Bewegungen auf den großen Haufen des Unerklärten und nennen die Summe ihrer unbekannten Ursachen das Unbewußte. Ebensogut könnten wir einen neuen negativen Begriff, das "Nichtwollen" bilden und ihn zu einer wirkenden Ursache erheben.

Dieses Nichtwissen ist wie bei der Definition so auch bei den Mitteilungen über die ältesten Reflexlaute der Sprache vorhanden. STEINTHAL und LAZARUS kommen darin überein, daß zwischen den ältesten Reflexlauten der Sprache und den Sinneswahrnehmungen, durch welche sie ausgelöst wurden, eine innere Verbindung bestehe, daß der Reflexlaut die Sinneswahrnehmung nachahme, ihr verwandt sei oder dgl. Man hat dagegen eingewandt, daß der Reflexlaut doch nur das durch die Sinneswahrnehmung erregte Gefühl ausdrücke, nicht den Gegenstand der Sinneswahrnehmung, daß also der Reflexlaut der Urzeit nicht Sprache sei. Überraschung oder Verwunderung z.B. könne durch den Anblick von unzähligen neuen Gegenständen erregt werden; diese Überraschung oder Verwunderung könne auch das Tier durch einen Stimmlaut ausdrücken. Der Ruf der Überraschung oder Verwunderung sei nicht Sprache. Wir aber, die wir die Bedeutung der Situation für das Sprachverständnis kennen, sehen in diesem Einwand keine Schwierigkeit. "Löwe" ist für uns ein Wort der Sprache, obgleich erst die Situation darüber belehren kann, ob mit dem Worte das anspringende Raubtier, ob ein Löwe im Käfig, ob ein gemalter Löwe, ob ein mutiger Soldat, ob ein Gigerl, ob ein Mann Namens Löwe gemeint sei. Der Laut der Verwunderung ist nur noch weiter im Umfang seines Begriffes; er kann einen Regenbogen, er kann einen Sturm, er kann einen Löwen, er kann alles bedeuten. Er bietet der Metapher den weitesten Spielraum.

Ich möchte mir aber gern erzählen lassen, wie viele solche ursprünglichen Reflexlaute die Begründer dieser Theorie angenommen haben. Anders ausgedrückt, wie viele deutlich unterschiedene Gefühle der Mensch in so einer Urzeit ausdrücken konnte und wollte. Beim besten Willen kann ich außer der Verwunderung nur noch das Gefühl des Schmerzes und der Freude entdecken. Wir hätten dann drei Reflexlaute - den der Überraschung, den des Weinens und den des Lachens. Soll die Zurückführung der Sprache auf Reflexlaute für unsere Untersuchung einen Wert haben, so müssen wir wieder aufs neue ansetzen und die Entstehung der Sprache durch metaphorische Anwendung dieser Reflexlaute erklären. Die Entstehung der Reflexlaute selbst liegt dann weit irgendwo hinter der Entstehung der Sprache zurück.

Als ich zum ersten Male die Vorstellung faßte, es könnte sich die Entstehung der Sprache begründen lassen auf die drei einzigen Reflexlaute des Staunens, des Schmerzes und der Freude, da war mir zu Mute, wie gewiß all den anderen, welche das Rätsel des Sprachursprungs gelöst zu haben glaubten. Und meine Lösung mußte mir als die beste, als die allein richtige erscheinen, weil sie mit der Psychologie und mit der Logik sich spielend vereinigte. Die neuere Psychologie mußte dazu gelangen, die Sprache als eine nicht absichtlich angenommene Gewohnheit aus Reflexlauten herzuleiten, und da war es äußerst verführerisch, diejenigen Reflexlaute zur Grundlage zu nehmen, welche heute noch und täglich beim Kinde beobachtet werden können.

Noch wertvoller schien der Gedanke durch eine logische Betrachtung zu werden. Die drei Gefühle schienen eigentlich alles zu umfassen, was irgend den Menschen zur Äußerung oder Mitteilung veranlassen konnte. Interesse an einer Erscheinung der Wirklichkeitswelt muß der Mensch haben, wenn er auf sie durch eine Äußerung oder gar durch eine Mitteilung reagieren soll. Das völlig Gleichgültige nimmt er gar nicht wahr. Die Hauptmasse alles dessen, woran er Interesse nimmt, läßt sich am allereinfachsten in die beiden Gruppen zerlegen, die ihm Schmerz oder Freude machen. Alles andere, was ihn ohne Schmerz oder Freude interessiert, läßt sich ebenso zwanglos unter den Begriff des Neuen, des Überraschenden bringen.

Eine noch genauere begriffliche Einteilung wird Schmerz und Freude zusammenfassen unter dem Begriff des persönlichen Interesses, alles Neue unter dem Begriff des unpersönlichen Interesses. Ich hatte meine Freude an dieser Vorstellung und bemerkte dabei gar nicht, daß sie eine unpersönliche Freude war, eine reine Erkenntnisfreude, und daß dadurch der saubere logische Bau schon ins Wanken geriet.

Als ich dann viel später die Bedeutung der Metapher für die Entwicklung der Sprache begriff, erschien die Herleitung des gesamten Sprachschatzes aus den drei ursprünglichen Reflexlauten so gesichert, daß ein hübsches System darauf aufzubauen gewesen wäre. Ich halte den Gedanken jetzt noch für fruchtbar; aber die Einsicht in die Unzuverlässigkeit der geltenden Begriffe hat mich Resignation gelehrt. Die Frage nach der Entstehung der Sprache ist eine Frage nach historischen Tatsachen, die nie und nimmer mit den Begriffen des heutigen Tages ehrlich wird beantwortet werden können. Die Herleitung der Sprache aus der metaphorischen Anwendung der drei ursprünglichen Reflexlaute, denen des Staunens, des Schmerzes und der Freude, hat für mich nur noch den Wert einer reizvollen Hypothese, die, freilich Gelegenheit gibt, die Entwicklung der Sprache bei jedem einzelnen Kinde von einer besonderen Seite zu betrachten.

Der Nutzen der Sprache ist nicht identisch mit der bewußten oder unbewußten Absicht bei ihrer Ausbildung. Als das Feuer in den Dienst der Menschheit gestellt wurde, ahnte noch niemand, daß es einmal unter dem Kessel der Lokomotive zur Fortbewegung dienen werde. Es scheint uns selbstverständlich, daß die Sprache ursprünglich etwas zwischen den Menschen gewesen sei, der Zweck der Sprache die Mitteilung.

In den meisten Fällen beweist der Autor durch den Monolog nur, daß er ein elender Dramatiker sei. Unfähig, den Charakter dramatisch darzustellen, erzählt er dem Publikum, was es zu wissen nötig hat. Der seltene gute Monolog ist die dramatische Darstellung eines dem Wahnsinn ähnlichen Zustandes; WEGENER hat den echten Monolog sehr gut so erklärt,
"daß bei starker Leidenschaft wohl eine Störung des Situationsbewußtseins eintritt, das heißt daß sich die Illusion bildet, als ständen wir irgend einer Person in Haß oder Liebe, in Schmerz oder Freude, in Furcht oder Hoffnung gegenüber".
Jeder lebhafte Mensch kann an sich selbst beobachten, wie eine solche Störung des Situationsbewußtseins, wenn auch nicht gleich zu längeren Monologen, so doch zu hervorgestoßenen Worten führt.

Für meine Leser brauche ich wohl nicht hinzuzufügen, daß der ungeheuer ausgedehnte Gebrauch der Sprache, wie er bei uns Büchermenschen als Lesen vorkommt, auch nur etwas zwischen den Menschen ist. Das Buch ist Mitteilung. Ähnlich läßt es sich auffassen, wenn wir mit einer Art inneren Monologs darüber nachdenken, was wir danach in einem Buche, in einer Rede u. dgl. geordnet aussprechen wollen. Es ist die Ordnung, die Verbesserung, die Einübung einer späteren Mitteilung.

Die Sprache ist etwas zwischen den Menschen, ihr Zweck ist Mitteilung. Aber die Mitteilung kann ja nicht selbst Zweck sein, sie ist es nur beim Schwätzer. Immer wollen wir - wenn auch oft indirekt und unbewußt - das Denken und damit das Wollen des anderen Menschen nach unserem Denken und Wollen, das heißt nach unserem Interesse beeinflussen. Der Zweck der Sprache ist also Beeinflussung, Willens- oder Gedankenlenkung, mit einem Modeworte: Suggestion. Die Wirkung der Sprache auf den anderen ist verschieden; der Zweck wird nicht immer erreicht. Unterwerfung unter die Suggestion oder Auflehnung kann die Folge sein. Diese Wirkung kann ebensogut durch Handlungen als wieder durch Sprache ausgedrückt werden.

Von Wichtigkeit ist es nun, daß dieser Zweck der Sprache auch schon bei ihrer Entstehung mitgewirkt haben muß. Das Schwatzen und Erzählen ohne Not konnte erst als ein Luxus, als ein Mißbrauch der hochentwickelten Sprache eintreten.

In den Zeiten der Spracherfindung mußte die Notdurft der Verständigung noch größer sein als jetzt. Und da können wir es uns lebhaft vorstellen, wie Sprachstoff und Sprachform noch gar nicht zu trennen waren, wie Sprachstoff und Sprachform zugleich aus dem alleinigen Zweck des Sprechens hervorgingen. Wir nehmen wieder das Beispiel von dem Hungerweinen des Kindes. Als Sprachlaut kann es zunächst metaphorisch so ungleiche Begriffe umfaßt haben wie "Brust, Mutter, Hunger, satt, Schmerz, Hoffnung, Freude, trinken" usw. Daraus ergibt sich sodann, daß der Sprachlaut ebensogut an den Reflexlaut des Schmerzes, des Hungerweinens, wie an den der Freude über die gereichte Brust oder an den des! Staunens z.B. über die Schnelligkeit oder über die weiße Farbe der Brust oder über die in einem Gefäße gereichte Milch usw. anknüpfen konnte. Ein Versuch, unter diesen Möglichkeiten zu wählen, wäre womöglich noch törichter als die Bemühungen unserer Sprachwissenschaft, mit Hilfe der Etymologie zu absoluten Wurzeln einer Ursprache vorzudringen.

Die Einsicht in den Zweck des Sprechens lehrt aber für diese Urverhältnisse etwas Wichtigeres: daß nämlich jener erste Sprachlaut weder ein Nomen, noch ein Verbum, noch ein Adjektiv war, sondern schon eine Absicht, der Wunsch, dem mit Nahrungsstoff versehenen anderen, hier der Mutter, etwas zu suggerieren. Das Wesentliche an jenem ersten Sprachlaut unseres Phantasiebeispiels war das, was wir heute den Imperativ nennen oder die bittende Form und dgl. Wir können somit aus dem Zweck der Sprache vermuten, daß der Begriff einer so schwierigen Verbalform, deren psvchologische Entstehung den Grammatikern so viel zu schaffen macht, schon dem ersten Sprachlaute als sein wesentlichster Inhalt angehört hat, daß gewissermaßen die Befehlsform älter ist als der Begriff  Milch.  Denn wir können die Vorstellung von dem ersten Sprachlaut des Säuglings recht gut auf die ältesten Sprachlaute der Menschheit übertragen. Auf ganz anderem Wege ist auch M. BRÉAL dazu gelangt, im Imperativ, als dem subjektivsten Modus, die älteste Konjugationsform zu suchen.

In ähnlicher Weise ist mit dem Reflexlaut des Staunens das verbunden, was in der späteren Grammatik zum Ton und zum Begriff des Fragesatzes wurde.

Wir halten es für ganz begreiflich, daß durch Einübung der Sprachlaute als Gedächtniszeichen für Dinge die Worte entstanden seien, unser Sprachstoff. Es ist um nichts begreiflicher, aber auch um nichts weniger begreiflich, daß auch die jetzt so schwierigen Formen des Befehls, der Frage, der Möglichkeit, der Bedingung usw. den ersten Sprachlauten als ihr wesentlichster Inhalt angehörten und durch Einübung des Tons formelhaft erhalten blieben. Nur der beschränkte Alphabetismus, der die Sprachlaute des Alphabets für etwas Artikulierteres, Handgreiflicheres, Festeres hält als die Betonungen, konnte sich über diese Tatsache täuschen. In diesem Alphabetismus ist allerdings die Sprachwissenschaft bis jetzt ziemlich befangen.

Der Imperativ läßt sich eigentlich auch auf die bloßen Mitteilungen anwenden; jede Mitteilung ist zugleich ein Zwang, daher denn auch die Belästigung durch Mitteilungen, die uns unerwünscht oder gleichgültig sind. Die Satzform des Imperativs ist nur ein unbedeutendes Überbleibsel aus einer Sprechweise, welche ursprünglich als auffordernder Ton die Sprache beherrscht haben mag.

Welche Wichtigkeit der Ton, also recht eigentlich die Sprechweise für das Verbum besaß, kann man aus den sogenannten Modusformen ersehen, von welchen die Grammatik vier aufstellt und sie die Formen des Wirklichen, des Möglichen, des Wünschens und des Sollens nennt. Die Formen der Möglichkeit, des Wünschens und des Sollens (Konjunktiv, Optativ und Imperativ) gehen aber in ihrem Sinn so wirr durcheinander, daß ich die Grammatiker nicht beneide, welche die alte Ordnung aufrecht zu erhalten suchen. In einer der gangbarsten Schulgrammatiken Berlins finde ich die Erklärung, es stehe der Konjunktiv (b) in Nebensätzen, welche von Verben abhängig sind, bei denen der Erfolg der Tätigkeit ein unbestimmter ist; "solche Verben bezeichnen: ein Ahnen, Vermuten, Wünschen, Bitten, Hoffen, Fürchten, Sorgen, Streben, Hindern, Gebieten, Verbieten, Erlauben, Verdienen, Warten." Die armen Lehrer! Die armen Schüler!

Wir wissen, daß z.B. das Wünschen (um einen der verständlichsten dieser Begriffe herauszugreifen) ebensogut durch den Konjunktiv wie durch den Optativ oder den Imperativ ausgedrückt werden kann. Die Sprachform ist ganz hilflos gegenüber der psychologischen Wirklichkeit. In der psychologischen Wirklichkeit verfügt das Kind, ja selbst schon der Säugling, über den Ton oder die Sprechweise des Konjunktivs, Optativs oder Imperativs viel früher als über den referierenden Ton des Indikativs. Und alle logischen Bemühungen der Grammatiker, den Wunsch und die Möglichkeit und ähnliche Kategorien in die Modusformen des Verbums hinein zu klassifizieren, scheitern an der Psychologie des Kindes. Diese Modusformen fangen beim Kinde absolut verständlich mit dem weinerlichen oder bittenden Ton an, mit welchem es z.B. Stillung seines Hungers verlangt. Wenn das Kind zwei Jahre später mit demselben absoluten Ton Unmögliches erbittet, so ist ihm mit keiner Logik der Erwachsenen ein Unterschied begreiflich zu machen. Das Kind will z.B. den Mond in seine Händchen kriegen. Da könnte man ihm nun sagen, daß die Bedingungen des Weltlaufs der Erfüllung entgegenständen, daß es Unmögliches wünsche, daß der liebe Gott sich nicht befehlen lasse (Konjunktiv, Optativ, Imperativ). Das Kind versteht die Einwendungen nicht und bittet um den Mond, wie der blödsinnig gewordene OSWALD ALWING sagt: "Mutter, gib mir die Sonne."

Dieser kindliche Standpunkt ist aber in der Sprachform weit mehr versteckt, als man glauben sollte. Hinter allen Konjunktiven und Optativen verbirgt sich die eigensinnige Bitte des weinenden Kindes, welches als Säugling die reale Macht seines weinerlichen Tones zu erfahren geglaubt hat und ihn nun anwendet, um weitergehende Wünsche zu befriedigen. So wenig wie das Kind wissen die Menschen im Naturzustande noch von dem Unterschiede zwischen möglichen und unmöglichen Bedingungen. Die Unabänderlichkeit der Naturgesetze ist noch nicht seit dreihundert Jahren ein fester Begriff der gebildeten Welt. Bei dem gläubigen Volke ist er heute noch nicht vorhanden, und im Gebet wie im Fluche steckt die alte kindliche Bitte, welche Erfüllung erwartet.

Durch einen schwer verständlichen Witz der Sprachgeschichte ist (z.B. im Deutschen, auch im Lateinischen) gerade der Bedingungssatz, der doch im Grunde just an die logischen Schwierigkeiten erinnern sollte, die Form für den Optativ geworden. Wir müssen sagen, daß die Sprache da um Jahrhunderte hinter unserer Weltanschauung zurück geblieben ist, sowie sie in der Scheidung zwischen Adjektiv und Verbum hinter unserer Erkenntnistheorie zurücksteht. Nicht naturgemäß (wie WEGENER einmal sagt, Untersuchung Seite 188), sondern gegen die Art unserer Naturanschauung sind die Formen der Bedingungen zu den Formen des Wunsches geworden. Der Widerspruch ist so groß, daß in den Fällen, in welchen der Sprecher nicht fromm ist und die Unmöglichkeit der Erfüllung einsieht, dieselbe Sprachform des Bedingungssatzes geradezu die Bedeutung des Schmerzes, der Einsicht in die Unmöglichkeit ausdrückt. Der Bedingungssatz als Form des Optativs ist also ein Rückstand aus Zeiten, in welchen das Volk mit seinem bittenden Ton die Gottheit noch so sicher zu beeinflussen glaubte, wie das weinende Kind der Mutter gegenüber an die Erfüllung ganz unmöglicher Wünsche glaubt.

Es fließen die drei Modi der Unbestimmtheit (Konjunktiv, Optativ und Imperativ) ohnehin in der Grammatik so sehr durcheinander, wie es in dem unbestimmten Charakter dieser Formen liegt. Sie alle betreffen das Verhältnis (ich möchte sagen) eines zukünftigen Indikativs zu seinen Bedingungen. Unsere gegenwärtige Einsicht in den Weltlauf ist so kompliziert und stellt sich eine solche Unzahl von Formen dieses Verhältnisses vor, daß die Sprache eben auch unzählige Formen des Konjunktivs, Optativs und Imperativs besitzen müßte, um jedesmal der Empfindung des Sprechers kongruent zu sein. Wir werden ähnlich sehen, daß die Sprache eine Unzahl von Zeitformen aufwenden müßte, um den unzähligen Zeitverhältnissen in einer Erzählung zu entsprechen. Das vermag die Sprache ihrem Wesen nach so wenig für die Zeitformen wie für die Modusformen. Der Sprachgebrauch behilft sich ja auch recht gut mit den unlogisch einander kreuzenden Formen des Konjunktivs, des Optativs und des Imperativs. Mich will es aber bedanken, als ob die Sprache in der Verzweiflung, die Bedingungen unserer Weltanschauung nicht jedesmal neu ausdrücken zu können, in den modernen Kultursprachen gegenwärtig die Neigung zeige, den Kampf aufzugeben, auf ein kongruentes Darstellen der Weltanschauung zu verzichten und den allgemeinen Dienstmann Indikativ an Stelle der unbestimmten Formen zu setzen.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906