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FRITZ MAUTHNER
Witz
II-37

"Jede Metapher ist witzig. Die gegenwärtig gesprochene Sprache eines Volkes ist die Summe von Millionen Witzen, ist die Pointensammlung von Millionen Anekdoten, deren Geschichte verloren gegangen ist."

Kehren wir von diesem Ausfluge in die Geschichte der Erkenntnistheorie zu unsrem metaphorischen Bedeutungswandel zurück.

Wir denken bei der Metapher zunächst an die Dingworte. Es gibt kaum ein geschichtlich verfolgbares Wort, das uns nicht ein gutes Beispiel geben würde. Das Wort erobert auf dem Wege der Metapher einen immer weiteren Kreis und verblaßt dabei in seinem Inhalt oder seinem Sinn. Das ist der gewöhnlichste Fall. Die französische Anrede  monsieur  mußte den ehrenden Sinn von  monseigneur  (senior) auf alle Welt ausdehnen, umso weit zu verblassen, wie wir es kennen. Die Bedeutung Herr (das deutsche Wort, ahd. hêriro, ebenso ein Komparativ wie  senior)  oder "vornehmer Herr" war wiederum eine Metapher von der Ältestenwürde; diese wieder von der bloßen Altersbezeichnung. Die Anwendung des Wortes auf das Alter scheint uns eine relative Urbedeutung, ist aber sicherlich wieder eine Metapher gewesen.

Beim Verbum ist das Abblassen der metaphorischen Anwendung noch hübscher zu beobachten, weil es unter unseren Augen unaufhörlich neue Sprachveränderungen zur Folge hat; Der regelmäßige Gang ist so, daß das Verbum, welches ursprünglich nur einem bestimmten Subjekte parallel ging, zuerst mit ausdrücklicher Hervorhebung des Bildes auf ein anderes Subjekt angewendet wird, daß später die ausdrückliche Vergleichung unterbleibt, aber die Metapher dem Sprachgefühl noch vorschwebt, und daß endlich die Metapher aus dem Bewußtsein schwindet und man von einem wirklichen Sprachgebrauche reden kann. Auch da müßte eine allwissende Sprachgeschichte von Jahrtausend zu Jahrtausend zurück die Metapher immer weiter und weiter jagen. Unsere unwissende Sprachgeschichte kann nur da einsetzen, wo der Zufall unserer Erkenntnis es gestattet. So ist irgend einmal das Wort "ausbrechen" mit dem Subjekt "Feuer" parallel gesetzt worden. Ein Dichter mag dann zuerst metaphorisch gesagt haben "der Krieg ist wie ein Feuer ausgebrochen" oder "das Kriegsfeuer ist ausgebrochen". Der Krieg im Lande war damals besonders durch brennende Häuser kenntlich gemacht. Dann kam eine Zeit, wo man noch das Bildliche des Ausdrucks "der Krieg ist ausgebrochen" mitverstand; jetzt nennt man diese alte Metapher einfach den Sprachgebrauch und denkt gar nicht mehr an das Feuer. Beim Erlernen fremder Sprachen ist dieser Parallelismus von Subjekt und Prädikat die schwierigste Sache; natürlich, weil in jedem solchen Sprachgebrauch eine ganze lange Metapherngeschichte verborgen ist. Unsere deutschen Worte "reiten", "fahren" sind jetzt auf bestimmte Fortbewegungsarten eingeschränkt; hinter dem gegenwärtigen Sprachgebrauch steckt eine individuelle Metaphergeschichte, die sich an die Kulturgeschichte anlehnt. Ist man auf diesen Zusammenhang erst aufmerksam gemacht worden, so gibt es kaum eine gegenwärtige Anwendung des Tätigkeitswortes, die nicht auf ihre metaphorische Entwicklung hin betrachtet werden könnte.

Besonders wichtig ist dabei, auf solche Fälle zu achten, wo das Prädikat in einer bestimmten Anwendungsart zu einem neuen Subjekt wurde. Denn wir müssen uns ja den Ursprung der Sprache so denken, daß die Prädikate (ich meine jetzt die psychologischen Prädikate) die ersten Worte waren, weil ja nach unserer Lehre in einer Urzeit das psychologische Subjekt oder die gegenwärtige Situation sprachlich so wenig ausgedrückt wurde, wie wenn wir heute "Feuer" rufen. Wird z.B. das eben erwähnte Wort "ausbrechen" auf die Kelter angewandt, so kann heute noch ein neues Wort "Ausbruch" entstehen, das eine bestimmte Weinsorte bezeichnet. Ein nettes Beispiel bietet das lateinische Wort  dens  (Zahn), wenn es anders wirklich etymologisch so viel heißt wie der Essende. Es wäre dann eine deutliche Metapher gewesen, solange man es als Prädikat gebrauchte, auf die scharfen Knochen im Munde hinwies und von ihnen aussagte, daß sie die eigentlich Essenden sind, "Beißerchen". In irgend einer vorhistorischen Zeit hatte man dann Veranlassung, diesen Sprachgebrauch aus dem Prädikat ins Subjekt zu verwandeln und das Dingwort war fertig. Geht nun der metaphorische Bedeutungswandel weiter, so wird wieder der heute gewöhnliche Sinn des Wortes (Zahn = dens) entweder im Sinn behalten oder nicht. In "Zahn der Zeit" müssen wir das Bild immer ausdrücklich nennen. In der Metapher "die Zähne weisen" wird die Metapher mitverstanden. Spricht aber ein Arbeiter von den Zähnen eines Rades, so ist die metaphorische Anwendung vollständig zum Sprachgebrauch geworden und die bewußte Metapher ist verschwunden.

So führt der Weg der Sprache von der dichterischen oder freien Metapher zu der gewöhnlichen oder notwendigen Verbindung, wie er im sogenannten Sprachgebrauch vorliegt. Dafür bietet die Geschichte jeder einzelnen Sprache ein einziges großes Beispiel. Wer die Sprache historisch überblickt, sieht überall ein Abblassen der metaphorischen Anwendung in dem Augenblicke, wo die Metapher aus dem Sprachgefühl verschwunden ist. Dieses Abblassen kann sich sogar auf den Ton der Sprache erstrecken. Es kann der Befehlston den Sinn einer Frage erhalten; wie umgekehrt der bittende oder fragende Ton den Sinn eines Befehls gewinnen kann. So wenn ich in einen Buchladen trete und höflich nach einem bestimmten Buche frage; der Buchhändler errät, daß ich dieses Buch zu kaufen wünsche. Zu solchen gewissermaßen verstärkenden Anwendungen des Sinnes will der Ausdruck "verblassen" nicht recht stimmen; er ist auch nicht gut gewählt, weil er selbst wieder eine mangelhafte Metapher ist und von einem sichtbaren Bilde auf eine Art Werturteil ausgedehnt worden ist.

Jede Metapher ist witzig. Die gegenwärtig gesprochene Sprache eines Volkes ist die Summe von Millionen Witzen, ist die Pointensammlung von Millionen Anekdoten, deren Geschichte verloren gegangen ist. Man muß sich in dieser Beziehung die Menschen der Sprachschöpfungszeit noch witziger vorstellen als heutige Witzbolde, die von ihren Witzen leben. Man könnte sogar allgemein behaupten, daß der Mensch um so witziger sei, je unwissender er ist, was ja dem Wesen des Witzes gar nicht widerspricht. Der Witz nimmt entfernte Ähnlichkeiten wahr. Nahe Ähnlichkeiten konnten sofort durch Begriffe oder Worte festgehalten werden. Der Bedeutungswandel besteht in den Eroberungen dieser Worte, in der metaphorischen oder witzigen Ausdehnung des Begriffs auf entferntere Ähnlichkeiten. Und diese entfernteren Ähnlichkeiten fallen bekanntlich dem Fremden eher auf als dem Kenner. Der Europäer findet alle Chinesen einander ähnlich, der Stadtmensch alle Kühe, der Fremde alle Familienmitglieder. Unwissenheit macht witzig. Unkenntnis findet rasch Ähnlichkeiten. Ich erfahre es an mir selbst, daß mir Ähnlichkeiten in Melodien auffallen, wo der Musiker weiß, daß ich von der zufälligen Gleichheit zweier verbundener Töne getäuscht worden bin.

Man komme mir nicht wieder mit der Schikane, daß jeder einzelne Witz, jede einzelne Metapher in der Geschichte des Bedeutungswandels notwendig gewesen sei, daß also dahinter ein Gesetz stecken müsse. Auch der Lauf eines Baches ist in dem Sinne notwendig, als jeder kleinste Wassertropfen dem Gesetz der Schwere gehorcht und darum der Bach, die Summe seiner Tropfen, diesen und keinen andern Lauf nehmen müsse. Mag man immerhin die Schwere gesetzlich nennen. Der Lauf des Baches ist dennoch zufällig, gerade in Beziehung auf die Schwerkraft. Immer wieder muß ich davor warnen, Notwendigkeit mit Gesetzmäßigkeit zu verwechseln. Und die Geschichte des Sprachwandels ist noch weit unregelmäßiger. Sie gleicht viel eher der Figur, welche verschüttetes Wasser auf einem Tische zeichnet. Auch da gehorcht jeder Tropfen dem Gesetze der Schwere, die Figur ist dennoch zufällig.

Und wenn wir überlegen, welcher ungeheuerliche Bedeutungswechsel gar in den unselbständigen Sprachteilen, z. B. den Flexionen und Präpositionen vorhanden ist, mit welcher Kühnheit der Metapher unsere Genitivform oder unsere Präposition "in" um sich greifend die entlegensten Beziehungen bezeichnet, so werden wir auch von hier aus die Zufälligkeit nicht nur des Sprachstoffs, sondern auch der Sprachform erkennen.

Ich erinnere dabei an den Bedeutungswandel des Wortes "Witz". Witz kommt von Wissen her und bedeutet im Mittelhochdeutschen noch ausschließlich so viel wie Verstand; in Mutterwitz, Aberwitz, Wahnwitz liegt noch diese Bedeutung zugrunde. LUTHER versteht unter Witz noch durchaus Verstand; auch bei LESSING und GOETHE findet sich das Wort noch in diesem Sinne. Doch nahm es im 18. Jahrhundert allmählich die Bedeutung des französischen "esprit" an und besagt weiter in der gegenwärtigen Sprache entweder eine gewisse humoristische Geistesrichtung oder ihre einzelnen Äußerungen. Definiert wird dieser Witz gewöhnlich als das Vermögen, Ähnlichkeiten, besonders entfernte, leicht und schnell aufzufassen und sie dann auf eine belustigende Art darzustellen. Beim ungesuchten guten Witz liegt aber der Humor gar nicht in der Darstellung, sondern eben nur in dem Hinweis auf die entfernte Ähnlichkeit. Da nun aber der Verstand, wie wir gesehen haben, selbst beim Wahrnehmen nichts anderes tut, als Ähnlichkeiten entdecken, so ist der Bedeutungswandel des Wortes  Witz  wieder einmal eine metaphorische Anwendung des alten Wortes, diesmal die Anwendung auf einen Spezialfall, auf den der entfernteren Ähnlichkeit.

Im Englischen liegt die Sache noch klarer, weil das entsprechende Wort "wit" den Sinn unseres Witz angenommen hat, ohne den älteren Sinn Verstand oder Scharfsinn aufzugeben. So oder so ist der Witz der Vater alles metaphorischen Bedeutungswandels; wir müssen nur einsehen, daß der unbewußt vergleichende Witz, der uns belustigt, eine und dieselbe Geistestätigkeit ist, je nachdem sie auf nähere oder entferntere Ähnlichkeit angewandt wird. Es liegt in der Natur der menschlichen Entwicklung, daß das Vergleichen immer raffinierter geworden ist, daß wir immer witziger geworden sind; auch die Spindel in einer heutigen Spinnfabrik ist raffinierter, witziger als das Werkzeug in der Hand der Spinnerin.

Insofern Witz ein geistreiches Erkennen von entlegenen Ähnlichkeiten ist, ist er natürlich eine Metapher, je nach Umständen eine Metapher, die sich durch Neuheit oder Keckheit auszeichnet. Wie man das Wort Witz im 18. Jahrhundert gebrauchte, war der Witz oder der vergleichende Verstand der eigentliche Vater der Sprache. Wie wir das Wort jetzt gebrauchen, beeinflußt der Witz die Sprache immer noch weit mehr, als es den Anschein hat. Würden wir die Geschichte der Sprachen genauer übersehen und wären wir gar imstande, in die Seele der Zeiten hineinzublicken, welche Sprachveränderungen vornahmen, so würden sich uns unendlich viele Scherze als Anreger von Bedeutungswandlungen ergeben. Eine der mächtigsten von diesen Kräften ist derjenige Scherz, der in der Rhetorik unter dem Namen  Ironie  bekannt ist. Sagen wir von jemandem, dessen Intelligenz wir z.B. beurteilen sollen, er sei ein guter Mensch, so ist für jeden Hörer die komplizierte Ironie verständlich, welche ungefähr darin liegt, daß wir auf die Frage gar nicht antworten und, indem wir ihn in einer Beziehung loben, einen Tadel in anderer Beziehung durchblicken lassen. Diese Redensart "ein guter Mensch" wird immer noch als Ironie empfunden. Kommt es aber eines Tages dazu, daß diese Redensart die jetzige Bedeutung von "gut" überdauert, so würden wir unter "ein guter Mensch" ohne jede Ironie "ein Dummkopf" verstehen, und nur die Sprachgeschichte könnte uns lehren, daß der Witz den Bedeutungswandel veranlaßt habe.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906