cr-3Das GlaserhäusleHarriet Straub 
 
MANFRED BOSCH
Meersburg schätzt aber seine großen Toten ...
Annäherung an die Schriftstellerin Harriet Straub

"Hedwig Mauthner, die edle Frau mit dem scharfen Verstande und dem gütigen Herzen, die das einsame Häuschen zu dem machte, was es heute ist und bleiben soll, zu einer Insel des Friedens, zu einer Stätte geistiger Arbeit und Forschung."

HEDWIG MAUTHNER, die edle Frau mit dem scharfen Verstande und dem gütigen Herzen, die das einsame Häuschen zu dem machte, was es heute ist und bleiben soll, zu einer Insel des Friedens, zu einer Stätte geistiger Arbeit und Forschung.Kaum anderswo ist das Wort vom  Genius loci  zutreffender als beim Glaserhäusle, jenem abseits gelegenen Haus am westlichen Rand Meersburgs. Schon die DROSTE war oft mit LEVIN SCHÜCKING hierher gegangen und in der damaligen Schenke eingekehrt; im Gedicht "Die Schenke am See" hat sie dem Ort ein poetisches Denkmal gesetzt: im Wissen um die Vergänglichkeit allen Glücks. Eben dieses Glaserhäusle ist dann zu Beginn unseres Jahrhunderts für HARRIET STRAUB (1872-1945) und FRITZ MAUTHNER (1849-1923) der Ort geworden, an dem sie ein spätes Glück fanden. 1909 hatten die beiden das Haus erworben, und "die folgenden fünf Jahre bis zum Ersten Weltkrieg waren die glücklichsten und produktivsten des Paares." (1) Wenige Jahre zuvor hatten die beiden sich in Freiburg kennengelernt. Der Sprachskeptiker FRITZ MAUTHNER, der sich, angewidert, von Berlin und dem großstädtischen Kulturbetrieb abgewandt hatte, und die Ärztin HEDWIG SILLES-O'CUNNINGHAM, wie sie seit ihrer zweiten Ehe hieß.

1872 in Emmendingen geboren, hatte MARIA HEDWIG LUITGARDIS STRAUB in Zürich und Paris Philosophie und Medizin studiert; danach war sie für ungefähr zehn Jahre im Auftrag der französischen Regierung in der Sahara als Ärztin tätig gewesen. Jetzt, in Meersburg, unterstützte sie MAUTHNER, den sie 1910 heiratete, bei dessen Arbeit am  Wörterbuch der Philosophie;  jetzt entstanden auch ihre Erzählungen, so "etwa jene Dorfgeschichten, die 1912 im renommierten Verlag Georg Müller unter dem Titel  Rupertsweiler Leut'  erschienen." (2) Im Jahr darauf wurden die  Zerrissenen Briefe  veröffentlicht, in denen Straub "beinahe alle überkommenen Gewißheiten der abendländischen Zivilisation" kritisch hinterfragte. "Nicht von ungefähr sind die  Zerrissenen Briefe  meistenteils im Gestus von Aufkündigung und Abrechnung gegenüber lieb- oder einfach auch nur selbstverständlich gewordenen Übereinkünften geschrieben, die doch meist nur Bequemlichkeiten des Denkens darstellen." (3) Der Erste Weltkrieg beendete diese produktive Idylle. HARRIET STRAUB arbeitete, bis zur völligen psychischen Erschöpfung, in einem Konstanzer Krankenhaus, in der Verwundetenpflege. Die nationale Begeisterung, der HARRIET STRAUB wie FRITZ MAUTHNER erlagen, zerrüttete überdies manche Freundschaft mit früheren Weggefährten. (4) "Eine dauerhafte Rückkehr zum unbeschwerten Glück der Vorkriegszeit war dem Paar" jedenfalls "nicht mehr vergönnt." (5) Zwar publizierte STRAUB auch nach 1918, aber lediglich vereinzelte Aufsätze und Essays; schließlich stürzte sie der Tod MAUTHNERs, 1923, in eine "Lebensmüdigkeit" (6), wie sie später einem Freund gestand.

Dazu kam dann bald noch die qualvolle Sorge um den Erhalt des Glaserhäusles: Nachdem sie Mitte der 20er Jahre Opfer eines Hochstaplers geworden war, konnte sie die Zwangsversteigerung nur mit Mühe abwenden - und mit fremder Hilfe. Zumal sich ihre wirtschaftliche Situation nach 1933 weiter verschlechterte, da ihr, als Witwe eines Juden, die Rente aberkannt wurde. GERHART HAUPTMANN, der ihr damals eintausend Mark spendete, schrieb sie im Dankesbrief:
    "Sie kennen ja unser kleines Märchenhaus, nicht daß ich es lassen sollte war das Schwere, ich werde es ja doch bald verlassen, wenn ich endlich zur Ruhe gehen darf, daß es aber unter Spott und Verachtung als Judenhaus in Banausenhände kommen sollte, das machte mich elend. Nun glückt es mir dank Ihrer Hilfe und noch einiger Freunde FRITZ MAUTHNERs, es definitiv frei zu machen und es nun in sichere Hut zu geben. Auch wenn ich nicht mehr da bin, wird es bleiben als das, was es ist, ein Heim für Menschen, die in der Stille arbeiten wollen." (7)
Das Dritte Reich zu überleben, gelang ihr einzig durch die Unterstützung des Stadtpfarrers WILHELM RESTLE. Dieser hatte das Glaserhäusle 1928 erworben und HARRIET STRAUB gleichzeitig das lebenslange Wohn- und Nutzungsrecht zugesichert. Beiden wurde das Haus mit seinem  verträumten  Garten zunehmend zur Oase inmitten einer barbarischen, geistfeindlichen Umwelt.

Eine gewisse  Geistlosigkeit  nahm HARRIET STRAUB schon vor 1933 wahr, spürbar in dem Essay "Die Droste in Meersburg, den sie 1930 über die Tagung der Droste-Gesellschaft verfaßte. Die Borniertheit, mit der die "Verwalter und Nutznießer des Ruhmes" die DROSTE als katholische Dichterin vereinnahmten, widerten sie ebenso an wie "die moderne Radauzeit", die von Meersburg mehr und mehr Besitz ergriff. In der Konsequenz zog sich STRAUB zurück - auf sich selbst: auf die eigene Rezeption der DROSTE, auf die ungestillte Sehnsucht nach dem "Idealstädtchen", das ihr Meersburg wohl war und sein sollte.


Die Droste in Meersburg
    "Meersburg ist ein sehr merkwürdiges Städtchen, es könnte sogar ein Idealstädtchen sein, um das Deutschland beneidet werden könnte, wenn der Geist, der dort ... oder sagen wir mal der Wein, der dort wächst, nur um ganz wenige Grad 'süffiger' wäre. So ist ein bissel viel Säure und Radau da zu Hause, und das verdirbt die Traumstimmung, die geistige Atmosphäre, die der Dreiklang großartiger Weite von See und Alpenblick, trutziger Historie der alten Burg und behaglicher, bürgerlicher Winkelgassen und Stadttore uns sonst vermitteln würde."
An stillen Nebeltagen oder auch in mondscheinhellen Herbst- und Winternächten, da schüttelt Meersburg die moderne Radauzeit ab, und man sieht die DROSTE durch die mit Nebelfetzen behangenen Tore huschen. Das alte Mütterchen mit dem dichwattierten Rock und dem großen Dreiecktuch, so wie's die bekannten ältesten Leute, die aber jetzt auch schon alle gestorben sind, noch gesehen haben in ihrer Jugend und uns schilderten, als wir damals nach Meersburg zogen und Umfrage hielten nach lebendigen Erinnerungen an die toten Berühmtheiten, nach DROSTE, LASSBERG und dem genialen MESMER.

Meersburg schätzt aber seine großen Toten, wenigstens soweit sie zur Vermehrung des Fremdenverkehrs beitragen. DROSTE und LASSBERG, die in der nördlichen Ecke des Friedhofs ihren letzten Schlaf schlafen, haben ihre feststehende Zugkraft. LASSBERG war zwar so nebenher, mit und wegen der DROSTE, der berühmte Schwager der berühmteren DROSTE, aber immerhin, man weiß doch: Germanist, GRIMM- und UHLAND-Freund, Nibelungenhandschrift und überhaupt ...

MESMER, da weiß man schon bedeutend weniger, Magnetismus, Wunderkuren, so etwas wie ein Scharlatan, aber es war einmal viel Aufhebens um ihn, damals, als er in der großen Welt lebte, in Wien und Paris. Ja, und dann hat er den eigenartigen Grabstein! Jeder, der den Friedhof besucht, stutzt über den dreikantigen Block, der da, fast in der Mitte, neben dem großragenden Kreuz, den Blick anzieht. Wer liegt da? Was bedeutet die Glasschale, violett opalisierend, und die merkwürdigen Zeichen auf den Kanten? Also, immerhin eine Sehenswürdigkeit, wert, am Eingange zum Friedhof auf der Blechtafel erwähnt zu werden, die den Fremden sagt, was sie hier zu suchen haben. Auf derselben Blechtafel steht immer wieder mit Bleistift in ungelenken oder zierlichen Handschriften die Frage: Wo liegt FRITZ MAUTHNER? Aber diese Fragen werden sorgfältig immer wieder wegradiert, denn noch ist MAUTHNER nicht zugkräftig genug, um auf der Blechtafel des Ruhmes erwähnt zu werden. Und außerdem hat er, wie ein Stadtrat auf Anfrage eines Besuchers sagte, auch kein sehenswertes Denkmal (er hat nämlich auf seinen Wunsch nur eine Holztafel mit seinem Namen), warum sollen die Leute denn da zu seinem Grabe wollen.

Da Geister undiszipliniert sind, zum steten Ärger aller Nichtgeister, und sich gar nicht um Einschachtelungen in bestimmte Wertkategorien zu kümmern pflegen, gibt es glaubwürdige Zeugen, die behaupten, vom Obertor her, zwischen Bären und Löwen (Meersburger Wirtshäuser) und unter dem Rathaustore durch nach dem Schänzeli zu die DROSTE Arm in Arm mit MESMER und MAUTHNER gesehen zu haben, und wer ihnen still nachschlich, der konnte sie da an der vorspringenden Mauer stehen sehen, still zum Säntis hinübergrüßend. Lebhaft ist der Meinungsaustausch, nur verstehen konnte der Lauscher nichts, wortlos schienen sie sich zu verständigen.

Soweit dieser Essay von HARRIET STRAUB. Es sind  gemischte  Äußerungen - nicht nur über "die DROSTE in Meersburg", sondern auch über Meersburg. Äußerungen, gemischt mit Kritik und Zuneigung zugleich. Treuester Freund ihrer letzten Lebensjahrzehnte war WILHELM RESTLE (1884-1980), der "Stadtpfarrer", wie er in Meersburg allgemein genannt wurde, seit 1923 hier tätig.
    "Über umfassende Bildung und profundes literarisches Wissen verfügend, war RESTLE mit Philosophen, Künstlern und Schriftstellern befreundet." befreundet." (8)
Es waren seine Initiative und sein Engagement, daß der Innenraum der Stadtpfarrkirche in den Jahren 1938 bis 1940 neu gestaltet wurde. Bemerkenswert, in unserem Zusammenhang, auch die kenntnisreichen Studien zu DROSTE und ihrem  Nachleben  in Meersburg, die RESTLE publizierte publizierte (9), muten sie doch wie ein historisch fundierter Nachhall jener Essays an, welche die Schriftstellerin HARRIET STRAUB ihrer  großen  Kollegin gewidmet hatte. Als sie am 20. June 1945 "vom Menschsein erlöst" (so die Inschrift auf dem Grabstein) wurde -
"es will scheinen, als hätten ihre letzte Lebenskraft gerade noch ausgereicht, sie ans Ufer der nach- nazistischen Zeit zu tragen, mit deren Anbruch sie die endgültige Rettung des Glaserhäusle gesichert wähnen durfte -, verfaßte er (WILHELM RESTLE) für das  Bodenseebuch  den einzigen, indes besonders schönen und verständigen Nachruf." Nachruf." (10) Zum Abschluß dieser kleinen Annäherung an die Schriftstellerin HARRIET STRAUB sei er hier abgedruckt.

Hedwig Mauthner
(Ein Nachruf von Wilhelm Restle)

Hedwig Mauthner geb. Straub, die Witwe des Sprachphilosophen Fritz Mauthner, ist am 20. Juni 1945, über 73 Jahre alt, im Glaserhäusle zu Meersburg gestorben. Ihr Lebensweg war ungewöhnlich. Sie besuchte die Gymnasialkurse für Frauen, die Helene Lange in Berlin eingerichtet hatte. Wie schwierig war damals noch das Frauenstudium! In Zürich gehörte sie zum Kreis um den Philosophen Avenarius. In Paris machte sie ihr medizinisches Examen, und die französische Regierung stellte sie sofort als erste Ärztin an, um die gesundheitlichen Verhältnisse der Beduinenstämme in der Sahara zu erforschen. Ihr Aufenthalt in der Wüste wurde beendet durch ihre Heirat mit einem Mitgliede der englischen Pairsfamilie O'Cunningham. Von England führte sie ihr Weg nach Stockholm und Kopenhagen und zuletzt nach Freiburg. Hier lernte Harriet Straub - das war ihr Schriftstellername - Fritz Mauthner kennen. Er hatte sich von Berlin zurückgezogen, um ganz seinem Lebenswerk - der Kritik der Sprache - leben zu können. Fritz Mauthner hat an mehr als einer Stelle der fleissigen, entsagungsvollen Mitarbeit seiner Frau gedacht und was noch mehr ist: er hat den mystischen Ausklang seines sonst so radikalen Skeptizismus von ihr empfangen. Der Aufenthalt in Meersburg brachte es mit sich, daß sie sich auch mit Droste-Hülshoff beschäftigte. Als im Jahre 1914 die letzte der Zwillingstöchter von Josef Lassberg starb und der Nachlassverwalter, ein ehemaliger Fabrikant, die Öfen tagelang mit Papieren heizte, die aus dem Nachlass derTöchter stammten, suchte Hedwig Mauthner zu retten, was zu retten war, und so birgt das Glaserhäusle noch so manche Schätze von der Droste und ihrem Freundeskreis. Selbst eine der ersten Abschriften des "Geistlichen Jahres" der Droste wurde dem Feuer entrissen.

Ihr erstes Buch erschien im Georg Müller Verlag 1912 ("Rupertsweiler Leut") 1914 folgten "Zerrissene Briefe". Ihr letzter Wunsch war, das Glaserhäusle, "die Schenke am See", in seiner Eigenart zu erhalten. Wie hätte sie sich gefreut, wenn sie noch hätte erfahren können, daß die Badische Regierung in Freiburg das Glaserhäusle wegen seiner hohen kulturellen Bedeutung unter besonderen Schutz genommen hat. Hier im Glaserhäusle ist nicht nur die große Dichterin Anette lebendig geblieben, wie sie mit ihrem Levin im Garten sitzt und voll ahnender Sehnsucht hinüberschaut zum Säntis und hin ab zum See: hier lebt auch Fritz Mauthner nach, der in täglich 14stündiger Arbeit all die Wortschälle und Phrasen zertrümmerte, die die Menschen immer wieder betören und in unsägliches Unglück stürzen; hier waltet auch weiter Hedwig Mauthner, die edle Frau mit dem scharfen Verstande und dem gütigen Herzen, die das einsame Häuschen zu dem machte, was es heute ist und bleiben soll, zu einer Insel des Friedens, zu einer Stätte geistiger Arbeit und Forschung.
LITERATUR - Manfred Bosch, Meersburg schätzt aber seine großen Toten, in Franz Schwarzbauer - Meersburg, Spaziergänge durch die Geschichte, Friedrichshafen 1999
    Anmerkungen
    1) Manfred Bosch, "Ins Freie will ich" Harriet Straub / Hedwig Mauthner und das Glaserhäusle in Meersburg, Marbach 1996, Seite 4
    2) Manfred Bosch, Bohème am Bodensee, Literarisches Leben am See von 1900 bis 1950, Lengwil 1996, Seite 221-226. - siehe ferner: Manfred Bosch "... und nicht fliehen vor erkannten Wahrheiten" - Hedwig Mauthner als Harriet Straub; in: Glaserhäusle, Heft 12 / 1991, Seite 5-9
    3) Manfred Bosch, Bohème am Bodensee, Literarisches Leben am See von 1900 bis 1950, Lengwil 1996, Seite 223
    4) Siehe beispielhaft: Gustav Landauer - Fritz Mauthner, Briefwechsel 1890-1919. Bearb. von Hanna Delf, München 1994
    5) Manfred Bosch, "Ins Freie will ich" Harriet Straub / Hedwig Mauthner und das Glaserhäusle in Meersburg, Marbach 1996, Seite 10
    6) So 1930 in einem Brief an einen Freund; zit. nach: Manfred Bosch, "Ins Freie will ich" Harriet Straub / Hedwig Mauthner und das Glaserhäusle in Meersburg, Marbach 1996, Seite 11.
    7) Am 9. 6. 1933 zit. nach Manfred Bosch, "Ins Freie will ich" Harriet Straub / Hedwig Mauthner und das Glaserhäusle in Meersburg, Marbach 1996, Seite 12f
    8) Manfred Bosch, "Ins Freie will ich" Harriet Straub / Hedwig Mauthner und das Glaserhäusle in Meersburg, Marbach 1996, Seite 13f
    9) Einen Teil seiner Aufsätze und Reden gab W. Restle unter dem prosaischen Titel "Das Meersburger Droste-Büchlein", Meersburg 1966, heraus
    10) Manfred Bosch, "Ins Freie will ich" Harriet Straub / Hedwig Mauthner und das Glaserhäusle in Meersburg, Marbach 1996, Seite 14