cr-3B. ErdmannA. MesserW. SchuppeR. HönigswaldH. Höffding 
 
FRITZ MAUTHNER
Denken
- Wörterbuch der Philosophie -

"Es ist kein Unterschied zwischen Denken und Sprechen. Es ist die gleiche Wirklichkeit, einmal von außen, einmal von innen gesehen; wie man die gleiche Kreislinie, je nach dem Standpunkt, konkav oder konvex sehen kann."

Denken ist kein Wort der philosophischen Terminologie allein; in allen Kultursprachen, wohl gewiß auch in allen Sprachen der sogen. Wilden finden wir ein Wort, das unserm genauen Begriff  denken  ungefähr entspricht. Darum ist das Wort in den Kultursprachen nicht international geworden, weder durch Entlehnung noch durch Lehnübersetzung. Im Lateinischen mag  cogitare  wirklich aus co-agitare zusammengezogen worden sein und ursprünglich  im Geiste zusammenstellen  bedeutet haben;  pensare  (von  pendere, wägen)  wurde schon im alten Latein bildlich für  abwägen, vergleichen  gebraucht, gewann aber erst in den romanischen Vulgärsprachen ( 'penser; panser, verbinden,  ist trotz der ungleichen Schreibung das gleiche Wort) die bekannte Bedeutung, im franz., ital., span., port. usw;  denken  endlich, nach GRIMM mit  danken  und  dünken  zu verbinden, wird ursprünglich den Sinn  sich erinnern  gehabt haben.

 Denken  ist also ein Wort der Gemeinsprache und ist der philosophischen Terminologie recht spät angegliedert worden, gelegentlich, wie von selbst, ohne daß es vorher zu diesem besonderen Zwecke definiert worden wäre. Es ging damit wie mit dem Wörtchen  ich,  welches ebenfalls auch noch in der primitivsten Sprache zu finden ist und nachher dennoch einer der wichtigsten Gegenstände des philosophischen Denkens werden konnte.

Noch ein drittes Wort, das alleralltäglichste, hat das gleiche Schicksal gehabt: das Hilfsverbum  sein,  das entweder als leere Copula oder als Formsilbe bei der Konjugation der Zeitwörter kaum in einem Satze fehlt, und das daneben schon seit der griechischen Philosophie zum Range des meist kritisierten Begriffes erhoben worden ist. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß diese drei Zufallswörtchen der Gemeinsprache diejenigen Begriffe bezeichnen, um welche sich alle großen Fragen der Erkenntnistheorie, der Psychologie und der Logik drehen.

Beziehen wir gar je zwei dieser problematischen Wörtchen aufeinander, was bekanntlich auf sechserlei Weise geschehen kann, so ergeben sich sechs Probleme, die ich nur kurz angeben will, weil ich das Spielerische einer solchen Problemtafel zu durchschauen glaube.
  • Setzt das Denken ein Ich voraus?
  • Gehört das Denken der Wirklichkeitswelt an?
  • Setzt das Ich ein Denken voraus?
  • Hat das Ich eine Existenz?
  • Ist die Wirklichkeit ein Produkt des Denkens?
  • Ist das Ichgefühl nicht die Wirklichkeit noch einmal?
Einige dieser Probleme werden wir aber streifen müssen.

So möchte ich mich gleich, bevor ich weitergehe, gegen den uralten Wahn wenden, daß das Denken ein Ichgefühl voraussetze. Dieser Wahn ist so tief eingewurzelt, daß er niemals widerlegt und eigentlich gar nicht erst besonders und formelhaft ausgesprochen worden ist. Die Logik schiebt ihn der Psychologie zu, die Psychologie verweist auf die Erkenntnistheorie, und die Erkenntnistheorie möchte mit psychologischen Fragen am liebsten verschont werden. Sie beschäftigt sich ja mit dem Erkennen, also mit dem richtigen Denken, nicht aber mit dem Denken überhaupt; und sie beschäftigt sich mit dem Ich nur als mit einem Gegenstande des Erkennens, nicht als mit dem Subjekte des Erkennens. Ich weiß aber, daß das Ichgefühl mit dem Denken nichts zu tun hat, daß es beim Denken ausgeschaltet ist.

Ein Beispiel anstatt einer Untersuchung. Man kann es wohl  denken  nennen, wenn ich in diesen Minuten das Verhältnis des Ichgefühls und der Denkhandlung mit allem Scharfsinn prüfe, dessen ich fähig bin. Dabei ist mein Blick so fest auf diesen einen Punkt gerichtet, daß sogar die nächst andern Fragen, die das Worte  denken  bei mir angeregt hat, zwar in Bereitschaft stehen, aber nicht auf den Fleck des deutlichsten Sehens mehr fallen. Ausgeschaltet ist ferner die Vorstellung, daß das Stück, das ich jetzt in die Feder diktiere, nur einen Teil eines größeren Ganzen bilden soll. Ausgeschaltet ist aber vor allem vollständig jede Erinnerung an Freud und Leid, an das, was das individuelle Leben ausmacht.

Das Ich ist ein Gegenstand des Denkens wie andere Gegenstände auch. Ich kann das Ich mit anderen Gegenständen assoziieren, also auch mit dem Begriffe  denken,  wenn er ein Gegenstand des Denkens geworden ist. Für gewöhnlich aber habe ich beim Denken kein Ichgefühl. Die Enge des Bewußtseins läßt das schon nicht zu. Hält ein anderer Gegenstand den Blickpunkt besetzt, so ist dort kein Platz für das breite Ichgefühl.

Man halte mit dieser Einsicht zusammen, daß der berühmte Satz  Cogito ergo sum  aus dem Ichgefühl beim Denken die neue Weltanschauung herausspinnen wollte (einerlei ob das Sein als logische Folgerung oder als unmittelbare Überzeugung aus dem ego cogito hervorging), und daß DESCARTES um dieses Satzes willen der Vater der neuen Philosophie hieß und heißt.

Das zweite der sechs Probleme, ob nämlich das Denken der Wirklichkeitswelt angehöre (und nicht etwa die Wirklichkeitswelt dem Denken), läßt mich nun auf die Klage zurückkommen, daß  denken  ein Wort der Gemeinsprache ist und darum von Hause aus noch schlechter definiert als die meisten Begriffe der philosophischen Terminologie. Der Begriff  denken  bewegt sich unbehindert auf einem weiten Gebiete, dessen Grenzen nicht ganz klar abgesteckt werden können. Das eine Extrem wird wohl am besten durch das nomen agentis bezeichnet: der  Denker:  bei diesem Worte denkt man nicht an einen Menschen, der an irgend etwas denkt, sondern man hat einen durch Kenntnisse und Scharfsinn ausgezeichneten Menschen im Sinne, der sich die Förderung der eigenen Welterkenntnis zu Lebensaufgabe gemacht hat, und der wirklich die objektive Welterkenntnis durch angestrengte Bearbeitung der Erfahrungsbegriffe oder auch nur der Sprachbegriffe nach der Meinung der Leute gefördert hat.

Er heißt also ein Denker, weil er ein Virtuose der Denktechnik ist; und die Denktechnik besteht wohl darin, daß die Erfahrung selbst und ihre begrifflichen Fixierungen (oder andere Begriffe) recht genau untersucht werden. Insofern der Denker nebenbei an die Befriedigung seiner Bedürfnisse denkt, heißt er nicht Denker; sein Denken ist par excellence die Arbeit in und mit den schwierigsten und abstraktesten Worten oder Begriffen. Man achte nun darauf, daß auch dieses obere Extrem des Wortgebrauchs keine scharf gezogene Grenze kennt; sonst würde, weil doch das Denken in diesem Sinne richtiges Denken sein soll, nicht jeder Virtuose des Denkgeschäfts ein Denker heißen, sonst hätte die Geschichte der Philosophie nicht Hunderte von kleinen Denkern anzuführen, die einst für große Denker galten, sonst müßte der Ehrentitel Denker für den Mann vorbehalten werden, der noch nicht geboren ist.

Noch unbestimmter ist die Grenze des untern Extrems. Mann und Frau sind still beisammen. Der Mann hat das Buch beiseite gelegt und blickt in die Landschaft hinaus. Die Frau fragt nach einer Weile: "Woran denkst du?" Solange er las, dachte er gewiß an das, was er las. Da fragte sie nicht erst. Jetzt war er mit seinen Gedanken vielleicht bei der Lösung eines philosophischen Problems, oder bei einer praktischen Schwierigkeit seines Berufs, oder bei einer alten Erinnerung aus seinem früheren Leben; vielleicht war diese Erinnerung aber gar kein klarer Gedanke, sondern nur eine flüchtig ausgelöste Assoziation, an die sich regellos und eigentlich gedankenlos andere und andere Assoziationen knüpften. Und alle diese Möglichkeiten meinte die Frau bei ihrer Frage mit dem Worte  denken:  Vernunftarbeit, Verstandesarbeit, ein Erinnerungsbild, ja sogar die bloße Flucht von Assoziationen faßte die Frau und faßt die Sprache unter  denken  zusammen.

In diesem Sinne gehört zum Denken jedes innere Erlebnis; so unbestimmt sind die Grenzen bei diesem Extrem des Wortgebrauchs, daß nichts im Wege steht, auch von einem Denken im Traum zu sprechen. Und so unbestimmt sind diese Grenzen, daß der Mann, wenn er ein Pedant ist, antworten kann: "Ich habe an gar nichts gedacht." Weil er vielleicht meint, ein Erinnerungsbild verdiene nicht die Bezeichnung  denken.  Aber die Sprache ist nicht so pedantisch; sie läßt uns sagen  denk dir  anstatt  stelle dir vor,  oder oft gar nur anstatt  hör mal,  sie läßt uns sagen  ich will dir denken helfen  im Sinne von: die Erinnerung schärfen; sie läßt uns  denken  im Sinne von  vorhaben  gebrauchen; in der Bedeutung von sich erinnern findet sich bei uns auch häufig: es denkt, mir denkt, mich denkt (LOGAU, SCHILLER, LESSING).

Die Zugehörigkeit des Wortes  denken  zur Gemeinsprache oder (als Folge davon) die Unbestimmtheit des Begriffs  denken  hat es so schwer gemacht, die These zu beweisen, daß Denken und Sprechen der gleiche Vorgang sei. Ich habe diesen Beweis in meiner Kritik der Sprache (I S. 176 - 232) ausführlich genug zu geben versucht. Natürlich hätte die entgegengesetzte Meinung, daß nämlich die Sprache nur ein Kleid des Denkens sei (oder wie man das sonst ausdrücken will), nicht immer wieder ausgesprochen werden können, wenn der Sprachgebrauch nicht willfährig gewesen wäre. Dehnt man den Begriff Denken weit genug aus, um die Orientierung eines Säuglings in seiner Umgebung, um die verständigen Handlungen der Tiere  denken  zu nennen, dehnt man den Begriff Denken (allgemein gesprochen) auf die Tätigkeit des Verstandes aus, d.h. auf die seelische Bearbeitung der bloßen Sinneseindrücke, dann gibt es allerdings ein Denken ohne Sprache.

Dehnt man den Begriff Sprache weit genug aus, um die Zeichensprache auch der wild aufgewachsenen Taubstummen noch Sprache zu nennen, so gibt es wiederum ein Denken ohne Lautsprache. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß der Satz  Denken ist Sprechen  cum grano salis (mit einer Brise Salz) zu verstehen sei. Aber ich bleibe dabei: ein Wort als bloßer Klang, ein Wort ohne seinen Sinn gehört nicht der Sprache an; ein Satz, der keinen Gedanken ausdrückt, gehört nicht der Sprache an. Es gibt über dem Menschendenken nicht ein höheres, absolutes Denken, an dem das Menschendenken gemessen werden könnte. Es gibt über den einzelnen Menschensprachen keine absolute Sprache, keine vollkommene Sprache. Wir können nur denken, was wir sprachlich ausdrücken können; wir können nur aussprechen, was wir gedacht haben. Und weil der Sprachgebrauch fälschlich so zwischen Denken und Sprechen unterscheidet, darum habe ich in den beiden letzten Sätzen ebenfalls unterscheiden können und müssen. Um aber nun die Identität von Denken und Sprechen ganz klar zu machen, will ich ein Beispiel, welches ich (Krt. de. Spr. I S. 232) beigebracht habe, genauer untersuchen.

Beide Verben bezeichnen bestimmte Bewegungen,  denken  und  sprechen;  daß Sprache nur eine Bewegung der Sprachorgane sei, daß auch das Auffassen oder Verstehen der gehörten Worte eng an Bewegungserinnerungen gebunden sei, das setze ich als bekannt voraus. Man kann die Bewegung der Sprachorgane bei lautlosem, aber distinktem Denken mit den tastenden Fingern am Kehlkopf fühlen (I 512-514). Wollte ich daraus allein den Schluß ziehen, daß das Denkenk Sprache sei, also Bewegung, so wäre das ein Zirkelschluß. Ist aber das Denken überhaupt, wie wir doch alle glauben, ein Vorgang im Gehirn, so kann dieser Vorgang gar nicht anders gedeutet werden als durch Bewegungen. Durch noch völlig unaufgeklärte Bewegungen der noch sehr wenig bekannten mikroskopischen Zellen des Organs. Denken und Sprechen sind Bewegungen; ich habe nur zu zeigen, daß sie die gleichen Bewegungen sind, von zwei verschiedenen Standpunkten gesehen.

Ich hätte anstatt Bewegungen auch sagen können:  Handlungen.  Bewegung ist nur ein wissenschaftlicherer Begriff. Bei einer Handlung wird gern ein Subjekt mitgedacht, ein handelnder Mensch. Ich aber wüßte nicht zu sagen, wer das Subjekt der Denkhandlung sei. Die Sprache weigert sich fast, LICHTENBERGs  es denkt  (wie  es blitzt)  auszusprechen. Wer gar sagen wollte  es spricht,  der würde vom gesunden Menschenverstande oder von der Gemeinsprache ausgelacht werden. Sonst aber hätte uns die Bezeichnung  Handlungen  einen kleinen Schritt weiter geführt. Erwähnen will ich nur noch, daß das Sprechen ganz selbstverständlich unter den Begriff der menschlichen Handlung fällt; und daß KANT (Kritik der reinen Vernunft S. 94 und S. 304) ganz beiläufig und wie etwas Selbstverständliches das Denken einen Handlung nennt, eine Handlung des Verstandes übrigens, so daß für KANT der Verstand (an dieser Stelle) zum Subjekte des Denkens wird.
"Das Denken ist die Handlung, gegebene Anschauung auf einen Gegenstand zu beziehen."
Die beiden Verben denken und sprechen bedeuten also nicht nur Bewegungen überhaupt, sondern insbesondere zweckdienliche willkürliche Menschenhandlungen; ich brauche also nicht erst meine Lehre vorauszusetzen, daß es außer der adjektivischen Welt eine ganz unwirkliche verbale Welt gibt, daß nur die Differenzialteile einer Handlung oder Bewegung wirklich sind, daß erst ein vorgestellter Zweck jedesmal die Differenzialbewegungen zu einer verbalen Vorstellung verbindet. Man mag an: graben, stricken, schreiben, gehen, denken oder sprechen dabei erinnert werden. Wirklich, in der Kette von Ursache und Wirkung wirksam, sind da immer nur die Minimalbewegungen unserer Muskeln.

Übrigens wird aus einer solchen Auffassung der Verbalbegriffe auch klar, weshalb diese Begriffe sich noch weniger genau definieren lassen als substantivische Begriffe; die Substantive lassen sich definieren aus den adjektivischen Sinneseindrücken, die zwar selbst undefinierbar, aber dafür unmittelbar gegeben sind; die Minimalbewegungen der Verbalvorstellungen sind nicht unmittelbar gegeben, sind nur erschlossen, haben darum manche Ähnlichkeit mit den Atomen, aus denen man die Körper aufgebaut hat. Wenn wir sprechen, so können wir wenigstens die makroskopischen Bewegungen dabei wahrnehmen; beim Denken ist überhaupt nichts mehr äußerlich wahrnehmbar, und die mikroskopischen Bewegungen, die das Denken ausmachen, sind gar nur eine Hypothese der Gehirnphysiologen. Die Gemeinsprache weiß nichts von alledem; die Wissenschaft hat aber, trotzdem oder weil sie das alles weiß, das Denken ebensowenig definieren können, wie die Gemeinsprache es vermochte.

Wie weit oder wie eng man den Begriff aber fassen mag, unter allen Umständen bezeichnet er einen Handlung, also eine Zweckvorstellung, eine Summe von Änderungen, an der nicht die Summe wirklich ist, sondern nur die Änderungen. Von diesen Bewegungsänderungen ist aber nicht die kleinste, nicht ein Atom, anders beim Denken als beim Sprechen. Nur die veränderte Richtung der Aufmerksamkeit dessen ist verschieden, der das eine Mal mehr auf das Ziel achtet, das andere Mal mehr auf den Weg. Und jetzt wird auch das Beispiel vom Jagen und Laufen des Hundes deutlicher werden. Auch  laufen  und  jagen  sind Verbalvorstellungen, an denen nur Minimalbewegungen wirklich sind. Vereinigt werden die Minimalbewegungen zu den Verbalvorstellungen durch eine Einheit des Zweckes; es würde zu weit führen, wollte ich hier darlegen, daß der Zweckbegriff, der bei  jagen  so deutlich ist, auch bei  laufen  das Verbum bilden hilft.

Nicht die kleinste Bewegungsänderung des Hundes, der einen Hasen verfolgt, wird dadurch anders, daß ich das eine Mal sage  der Hund läuft,  daß ich das andere Mal sage  der Hund jagt.  Ich achte einmal auf die Ortsveränderung, das andere Mal auf das bewegte Ziel. Genau so ist nicht ein Atom der Wirklichkeitswelt dadurch anders geworden, daß ich bald  ich spreche,  bald  ich denke  sage. Die Absicht, den Hasen zu kriegen, die Absicht, unter den unzähligen Assoziationen die richtige zu treffen, kann beim Jagen und beim Denken stärker oder schwächer sein; die Anstrengung beim Laufen oder bei der Wahl der Worte darum größer oder geringer; aber dieser Unterschied liegt noch innerhalb der beiden Begriffe, ist kein Unterschied zwischen Denken und Sprechen, zwischen Jagen und Laufen. Es ist die gleiche Wirklichkeit, einmal von außen, einmal von innen gesehen; wie man die gleiche Kreislinie, je nach dem Standpunkt, konkav oder konvex sehen kann.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, München und Leipzig 1910