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WALTER ESCHENBACH
Fritz Mauthner
und die Kommunikationskrise

I I

Die Sprachkrise des 19. Jahrhunderts
Das Problem der Abstraktion
Das Problem der Geschichtlichkeit
Sprache und Denken
Überwindung der Sprachkrise
Wirkungsgeschichte Mauthners
"Gespräche nehmen allem, was ich denke, die Wichtigkeit, den Ernst, die Wahrheit."

Auch in MAUTHNERs Briefen fanden wir an einer Stelle ein Zeugnis dieser autobiographischen Kommunikationskrise. Am 13. August 1892 schrieb er an seine Cousine AUGUSTE HAUSCHNER:
    "Die Kürze meiner Briefe verstimmt Dich. Wer aber wie ich seit mehr als 20 Jahren von dern Unfähigkeit überzeugt ist, mit Worten Stimmungen auszudrücken, der schweigt gern da, wo andere Menschen zu sprechen anfangen. Und gar Briefe! Die menschliche Sprache wankt und wackelt wie Flammerie und geschrieben ist sie auch nicht mehr als gefrorene Flammerie"(16).
Die Leistung des sprachskeptischen Künstlers FONTANE bestand darin, daß er nach der Sichtbarmachung der jeweiligen Sprachhindernisse nach neuen Möglichkeiten sprachlicher Zwischenmenschlichkeit suchte und diese auch aufzeigte. Bei MAUTHNER hingegen droht oft die Gefahr, daß er gleichzeitig mit dem Aufzeigen der sprachlichen Gefährdung intersubjektiver Verstehensprozesse die eigene Kommunikation mit dem Leser oder Rezipienten stört, indem er Positionen errichtet und Argumentationsweisen benutzt, über die ein allgemeiner Konsensus kaum mehr möglich ist.
    "Es ist möglich, sich zu isolieren und mit einer Skepsis, die sich kein Jota abdingen läßt, alle Voraussetzungen des gewöhnlichen, auf soziale Übereinstimmungen hinzielenden Denkens abzulehnen; aber die allmächtige Entwicklung flutet über solche nicht anpassungswilligen Einzelnen hinweg, (...). Bekanntlich gibt es schikanöse Standpunkte, mit denen man unweigerlich Recht behält und ebenso unweigerlich aus dem Kreise zweckmäßiger Diskussionen ausgestoßen wird. (...) Nicht immer ist MAUTHNER von solcher fruchtloser Unwiderlegbarkeit frei zu sprechen"(17)
In manchen Dramen GERHART HAUPTMANNs steigert sich die Problematik des Gesprächs zu einer absoluten Krise der verbalen Verständigung, ja, zur totalen Sprachlosigkeit. Formen der stammelnden stockenden Rede finden sich ebenso wie das tatsächliche Verstummen, ein echtes Unvermögen zur sprachlichen Artikulation.
    "Bei HAUPTMANN scheint die Ohnmacht der Sprache immer schon vorausgegeben zu sein. Man kann sich mit ihrer Hilfe wohl über das Faktische, die täglichen Bedürfnisse verständigen; aber sobald der Mensch darüber hinaus sich mitteilen will, hört eine eigentliche Verständigung auf; es bleibt bei subjektiven Gebärdungen, da das tiefere Lebensgeschehen seinen eigenen Bedingungen folgt"(18).
HAUPTMANNs Figuren leiden wiederholt an der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen , sich sprachlich auszudrücken und mitzuteilen.
    "Die Ohnmacht der Sprache erweist sich an der Unmöglichkeit, sich zu verständigen, so daß es gelegentlich heißt:  Das ist ja die alte Leier ...: ich versteh dich nicht ... du verstehst mich nicht. . Wohl scheint es einen Augenblick, als wollten sich alle Verkrampfungen lösen; aber dann schlägt die Sprache doch wieder in den Affektausbruch um. Nur solange man auf die Sprache verzichtet, scheint eine Annäherung möglich; die Hilflosigkeit der Worte läßt erkennen, wie wenig die Menschen durchschauen, was mit ihnen geschieht"(19).
Trotz verschiedener Ausgangspositionen und Blickrichtungen und trotz der unterschiedlichen Motivierung und Funktionalisierung gelangten MAUTHNER und HAUPTMANN doch zu einer übereinstimmenden Kernfrage der Sprachproblematik: wo liegen die Grenzen einer rein sprachlichen Verständigung zwischen den Menschen, und wie erweist sich die Ohnmacht der Sprache innerhalb der Kommunikationssituation?

Sprachtheorie und Dichtung haben sich auch an dieser Stelle in der Situation um 1900 berührt. Die dramatische Form, die herkömmlicherweise den monologischen und dialogischen Sprech- und Redeweisen den höchsten Rang einräumte, mußte von nun an in verstärktem Maße Raum bieten für die Darstellung extremer Kommunikationskrisen, gescheiterter Dialoge, vergeblicher Versuche sprachlicher Verständigung. Verbales Verkennen und Mißverstehen und selbst das Abbrechen von Gesprächen waren in der Dichtung nichts absolut Neues.

Bereits in KLEISTs Dramen kann man diese Art der Sprachkrise antreffen. Während es aber dort ganz besondere Situationen einer Bewußtseinskrise sind, hat sich die Ohnmacht der Sprache in HAUPTMANNs Stücken radikal verschärft und gewissermaßen in der Basis der dramatischen Form festgesetzt. Die Stummheit der Dialoge kennzeichnet bei ihm die absolute Resignation in der Frage der verbalen zwischenmenschlichen Verständigung. Der dramatische Text wandert von der gesprochenen Szene zusehends in die geschriebenen Bühnen- und Personenanweisungen; Autorenbewußtsein und -sprache treten in differenzierte Ergänzung bzw. Kontrastierung zum dramatischen Dialog.
    "In dem Hin und Her von stummer Szene, hilflosem Reden und gesteigerten Affektäußerungen entfaltet sich die tiefere dramatische Spannung. So erkennt man die Bedeutung des HAUPTMANNschen Dramas nicht schon an den sozialen Themen und milieugebundenen Figuren, sondern erst an dieser eigentümlichen Sprachbehandlung, die alles Reden zur Geste maach und es in die mimische Bewegung hineinholt. (...) Es genügt in dieser Dramatik, daß alle Versuche der Menschen, sich zu verständigen, nur wieder an den Punkt führen, wo sie sich nicht mehr verstehen, wo sie auf die Sprache verzichten, sich in ihre Affekte verschließen und die Bedingtheiten ihres Lebens übermächtig werden lassen"(20).
Die Sprachskepsis des Dramatikers GERHART HAUPTMANN verweist ganz ähnlich wie die theoretischen sprachkritischen Erwägungen MAUTHNERs vom gesprochenen Wort, genauer gesagt: vom nicht mehr zustandegekommenen Gespräch, auf die Gesprächs situtation,  auf den vor- bzw. außersprachlichen Kontext, der die sprachlichen Formen umgibt und bedingt. Erst im Zusammenwirken von Mimik, Gestik und Bühnenanweisung kann sich in HAUPTMANNs Stücken eine Ebene der Verständigung zwischen Sprecher und Hörer, Autor und Leser ergeben, die allein aufgrund der sprachlichen Aussagen nicht mehr zustandekommen kann. MAUTHNER beschrieb diesen Sachverhalt aus sprachtheoretischer Sicht:
    "Wir müssen annehmen, daß sehr lange ihre ( der Menschen ) Worte nur den Gesten zu Hilfe kamen, bis das Verhältnis sich umkehrte und die Gesten den Worten zu Hilfe gekommen sind"(21).
Für die Dichtung der Jahrhundertwende wurden literarische Konsequenzen aus dieser Kommunikationskrise entscheidend, die MAUTHNER nicht vollzog. Die wichtigste war, daß man die Dichtung selbst, das eigene literarische Sprechen, in den Gesamtzusammenhang der gestörten Kommunikation mit einbezog. Man reflektierte die eigene Sprachform mit, und das bedeutete, daß das Motiv des unechten und echten Gesprächs sich nicht nur auf ein inhaltliches Element beschränkte, sondern auf die Beziehung zwischen Autor und Leser, literarischem Werk und Rezipient erweitert wurde.

Das Bewußtsein in einer Verständigungskrise wird damit zu einer Bedingung und zu einem Antrieb der schriftstellerischen Arbeit, die nur noch in der selbstreflexiven Infragestellung und Überprüfung des mit ihr erfolgenden zwischenmenschlichen Verstehensprozesses ihre Aussagegültigkeit erlange kann. FRITZ MARTINI sieht den Beginn dieser veränderten Kommunikationssituation, in der sich der moderne Autor befinde, bezeichnenderweise in der literarischen Situation der Jahrhundertwende.
    "ARNO HOLZ ist als erster programmatisch bewußt davon fern, jene innere Übereinstimmung mit seinem Leser, d.h. mit einer breiten geistig-seelisch verwandten Bildungsgemeinschaft zu suchen, wie es etwa noch für die Erzählhaltung THEODOR STORMs, WILHELM RAABEs oder Theodor Fontanes trotz ihrer Kritik an ihren Zeitgenossen charakteristisch ist. Ihre Prosa ist beständig auf die Kontaktnahme mit dem Leser gerichtet, und sie entwickelt aus ihr heraus eine bestimmte Offenheit der Form. HOLZ dagegen fordert von seinem Leser, daß er ihm in das Wagnis dieses Experiments hinein folge, (...)"(22).
Der erschwerte Verständigungs- und Verstehensprozeß in der Dichtung seit 1900 ist also als Ausdruck einer umfassenderen, allgemeineren Kommunikationskrise zu begreifen, die sich beim sprachbewußten Schriftsteller in Form einer literarischen Sprachskepsis zuspitzte. RILKEs "Malte Laurids Brigge" ist hierfür eines der frühesten und vorbildlichsten Beispiele.
    "Dieser Erzähler will keine Konzessionen an den Leser; er sucht nichtdie Kommunikation mit ihm, sondern ist allein in der Sache sich selbst zugewandt und bleibt, mit Verkürzung der unumgänglichen Überleitungen auf das Notwendigste, ganz bei ihr und bei sich selbst. Er denkt nicht daran, Brücken zu leichterem Verständnis hin zu bauen"(23).
ROBERT MUSIL wiederum hat an einer Stelle bekannt:
    "Ich habe ein geringes Mitteilungsbedürfnis: Eine Abweichung vom Typus des Schriftstellers" (...) allen meinen Schöpfungen fehlt das:  Du mußt es hören  "(24).
Wie sehr sich diese Kommunikationskrise zwischen Dichter und Publikum zuspitzen und radikalisieren konnte, beweist der Fall FRANZ KAFKAs, der zwar singulär, aber doch nicht ohne Bezug zur Zeit dasteht. Bei ihm wurde das Sprachhindernis zu einem echten biographischen existentiellen Problem. Am 3. Juli 1913 schrieb er in sein Tagebuch:
    "Gespräche nehmen allem, was ich denke, die Wichtigkeit, den Ernst, die Wahrheit"(25).
Auch sein Schreiben - so paradox das für ein dichterisches Werk klingen mag - trägt noch Züge eines antikommunikativen, monologischen Sprachgefühls, wie er es in einem Brief bezüglich der mündlichen Rede beschrieb:
    "Mir widerstrebt das Reden ganz und gar. Was ich auch sage ist falsch in meinem Sinn. (...) Ich bin deshalb schweigsam, nicht nur aus Not, sondern auch aus Überzeugung. Nur das Schreiben ist die mir entsprechende Form der Äußerung, und sie wird es bleiben, auch wenn wir beisammen sind"(26).
Ein ergänzendes Wesenselement dieser literarischen, bzw. literarisierten Kommunikationsproblematik ist aber bei den meisten Schriftstellern das die Kritik der Sprache relativierende und ergänzende Sprachvertrauen, das trotz aller Einschränkungen am offenen Gespräch und aufrichtigen Dialog festhält, weil es sich als integriertes Komplementärelement der Sprachskepsis versteht. Sprachmißtrauen und Sprachzuversicht sind in der Dichtung um 1900 immer noch die beiden Grundkonstanten einer ambivalenten Sprechhaltung, deren Haupteigenschaft, die Skepsis, eindeutige Schlußfolgerungen und Gesamturteile verhindert.

HOFMANNSTHAL und SCHNITZLER beispielsweise, deren geschärftes Sprachbewußtsein dem Kommunikationsmittel Sprache an vielen Stellen kritisch und mißtrauisch gegenüberstand, betonten auf der anderen Seite immer wieder die Wichtigkeit der sprachlichen Verständigung und Mitteilung die Notwendigkeit der dialogischen Vermittlung zwischenmenschlicher Beziehungen. "Reden ist Menschheit", heißt es in HOFMANNSTHALs  Turm  und: "Mit Reden kommen die Leut zusammen"(27)

WITTMANN schreibt über die Sprache als "das soziale Element" bei HOFMANNSTHAL:
    "Die Wirklichkeit des Zwischenmenschlichen ist im Wortlosen nicht lebensfähig und bleibt auf das Wort als das große Medium zwischen Ich und Du angewiesen: (...) Was die Vereinigung der Liebenden zunächst in Frage stellt, das ist einerseits die Unangemessenheit des Wortes, sein Unvermögen, das  Eigentliche  in eine Form zu fassen, die der inneren Wahrheit der Empfindung entspricht, andererseits jedoch die unvermeidbare Bindung ans Sprachliche, die Notwendigkeit des Sichaussprechens: die Liebe bleibt auf das Wort angewiesen"(28).
Auch ARTHUR SCHNITZLER hebt die Notwendigkeit der Sprache - trotz seiner skeptischen Grundeinstellung ihr gegenüber - in einem Aphorismus zur Verständigungsproblematik hervor:
    "Wenn alle Dialektik versagt, so hört man zuweilen gewissermaßen als letztes Argument: Was sind Worte? Wer dergleichen ausspricht, hatte niemals das Recht, eine Diskussion zu beginnen. Worte sind gewiß nicht alles, es gibt immer noch etwas zwischen den Worten, hinter den Worten - aber all dies Unaussprechliche bekommt ja erst einen Sinn dadurch, daß die Worte da sind, und durch die verschiedene Distanz, das verschiedene Verhältnis, das es eben zu den Worten hat"(29).
Wir können und müssen also auch im Bereich des Komplexes der Kommunikationsproblematik feststellen, daß die Vertreter der literarischen Sprachskepsis um 1900 eine flexiblere und differenziertere Denkweise als MAUTHNER vertraten, die der Ambivalenz des Sprachlichen innerhalb des intersubjektiven Kommunikations- und Verstehensprozesses gerechter wurde als dessen starre und einseitige Verzichterklärungen, die alle positiven Möglichkeiten und Wirkungen der verbalen Aussprache und Verständigung einer skeptizistischen Resignation zum Opfer brachten.
LITERATUR - Walter Eschenbach, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, eine Untersuchung zur Sprachkrise der Jahrhundertwende, Frankfurt/Bern 1977
    Anmerkungen
    16) Brief an AUGUSTE HAUSCHNER, hrsg. von MARTIN BERADT und LOTTE BLOCH-ZAVREL, Berlin 1929, Seite 30f
    17) PAUL MONGRÉ (Pseudonym für Prof. FELIX HAUSDORF) in "Neue deutsche Rundschau" 1903, Seite 1253
    18) PAUL BÖCKMANN, Der Naturalismus Gerhart Hauptmanns, in "Deutsche Dramen von Gryphius bis Brecht", Ffm 1965, Seite 281f (Zuerst abgedruckt in: Gestaltprobleme der Dichtung, Bonn 1955
    19) PAUL BÖCKMANN, Der Naturalismus Gerhart Hauptmanns, in "Deutsche Dramen von Gryphius bis Brecht", Ffm 1965, Seite 282
    20) PAUL BÖCKMANN, Der Naturalismus Gerhart Hauptmanns, in "Deutsche Dramen von Gryphius bis Brecht", Ffm 1965, Seite 283
    Zur Sprachskepsis HAUPTMANNs ingesamt vgl. auch: THEODOR ZIOLKOWSKI, Gerhart Hauptmann and the problem of language, in "Germanic Review" 38 (1963), Seite 295-306. Wohl nicht zufällig weist ZIOLKOWSKI in diesem Zusammenhang auch auf MAUTHNERs Sprachkritik hin. "In modern times, however, the writer is convinced that traditional language (...) has actually lost its efficacy as a means of communication. This view was expressed at the turn of the century in its most radical form by FRITZ MAUTHNER..." (aaO. Seite 297) 21) Beiträge II, Seite 267
    22) LOTHAR WITTMANN, Sprachthematik und dramatische Form im Werk Hofmannsthals, Stuttgart 1966, Seite 111
    23) FRITZ MARTINI, Das Wagnis der Sprache, Interpretation deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn, Stuttgart 1964, Seite 111
    24) FRITZ MARTINI, Das Wagnis der Sprache, Interpretation deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn, Stuttgart 1964, Seite 162
    25) ROBERT MUSIL, Werke, Band II, Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hg. von Adolf Frise. Hamburg 1955, Seite 453f
    26) FRANZ KAFKA, Briefe an Felice, Gesammelte Werke, Hrsg. von Erich Heller und Jürgen Born, Frankfurt 1967, Seite 448. KAFKA erkennt zwar in seinem Eigenverständnis das Schreiben als Alternative zur Abneigung gegen das Sprechen. Aber wir wissen, daß auch sein Schreiben stets von dem Zweifel begleitet war, ob es von irgend jemandem außer ihm selbst verstanden werden könne. Wohl kein Schriftsteller hat diese antikommunikative, monologische und selbstquälerische Sprachhaltung literarisiert wie Kafka. Schreiben war ihm zwar der einzige Ausweg aus der Sprach- und Kommunikationskrise; aber beide Krisen gingen in seine literarische Schreibweise ein und prägten und bestimmten deren Gesicht.
    27) HUGO von HOFMANNSTHAL, Aufzeichnungen zu "Die Idee Europa" und "Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation", aus "Werke", Hrsg. von HERBERT STEINER, Frankfurt/Main 1951, Seite 68
    28) HUGO von HOFMANNSTHAL, Dramen IV, aus "Werke", Hrsg. von HERBERT STEINER, Frankfurt/Main 1958, Seite 24
    29) LOTHAR WITTMANN, Sprachthematik und dramatische Form im Werk Hofmannsthals, Stuttgart 1966, Seite 124