| WALTER ESCHENBACH
Mauthner's Rezeption der Zeitgenossen
Wirkung und Rezeption MAUTHNERs waren in ganz auffälliger Weise von dem Sondercharakter seines Werks bestimmt, von der unschulmäßigen Art seines Philosophierens und Denkens, von der provokativen Form und dem ungewohnten, betont antiwissenschaftlichen Stil seiner Schriften. An der Neuartigkeit und Eigenwilligkeit dieser sprachkritischen Erkenntnistheorie, die in einem beinahe universalen Zugriff sämtliche Phänomene der menschlichen Wirklichkeitserfahrung erklären wollte, schieden sich die Geister, wobei die Rezeption gemäß dem wissenschaftlichen Anspruch seiner Studien einerseits und der häufig unwissenschaftlichen Denk- und Schreibweise andererseits auf unterschiedlichem Niveau, in gegensätzlichen Richtungen und unter ganz verschiedenen Vorzeichen verlaufen konnte.
Drei Hauptströmungen sind zu unterscheiden: die wissenschaftliche Kritik im engeren Sinn, eine populärwissenschaftlich- feuilletonistische Rezeption und eine Gruppe unkritischer, euphorischer Verehrer MAUTHNERs. Die mittlere der drei genannten Strömungen war mit Abstand am stärksten entwickelt. Sie war durch ein philosophisch- wissenschaftliches und ein zeit- und gesellschaftskritisches Allgemeininteresse gekennzeichnet.
Demgegenüber gab es jedoch - wie gesagt - auch eine Anhängerschaft MAUTHNERs, eine Art Gemeinde, bei der die blinde Gefolgschaft und Bewunderung den kritischen Sachverstand allzuhäufig verdrängten. Bei diesen Lesern konnte das Phänomen der Sprachkrise bzw. Sprachkritik zu einer veräußerlichten Modeerscheinung werden, die sich weniger durch sachgerechte Reflexion und zeitgemäßes Bewußtsein als vielmehr durch die pathetische Pose einer exaltierten Begeisterung für den Meister und dessen Ideen auszeichnete. Ein derartiges Rezeptionsgebaren ist ja in der Zeit um 1900 nicht singulär.
Gedanklicher Inhalt und sprachliche Form der Äußerungen solcher eingeschworenen MAUTHNER-Anhänger stellen die absolute Bedeutungslosigkeit ihrer rein euphorischen Urteile für die ernstzunehmende kritische Rezeptionsgeschichte bloß. ALEXANDER MOSZKOWSKI z.B. ging in einem Nachruf sogar so weit, den Nobelpreis für MAUTHNER zu beanspruchen.
"So tiefe Furchen auch MAUTHNER mit einer Hauptleistung in das Geistesleben gezogen hat, die eigentliche Zeit für sein Sprachwerk ist noch nicht heraufgezogen. Erst wenn die Scheu der Akademiker vor dem "Außenseiter" überwunden sein wird, mag es eingereiht werden in die Liste der Größten; und dann mag sich vielleicht auch ein verspätetes Bedauern der Tempelpriester darüber erheben, daß keine Universität ihn mit dem Ehrendoktor oder Professor auszeichnete, daß der Nobelpreis an ihm vorüberging"(13)
Noch überschwenglicher im Ausdruck, dabei in der Sache nebulos und ohne Aussage, äußerte sich KONRAD MÜLLER-KABOTH, als MAUTHNER 1906 Berlin verließ, um nach Freiburg umzusiedeln.
"In all dem Stechenden und Aufreizenden Berlins, in dieser Atmosphäre aus Blague, Spott und trivialer Skepsis war er der reine Atem, der wohltat, der Trunk, der belebte, ohne zu schwächen, der Einen lächeln macht - ein unverlierbarer Gewinn. Er wurde geliebt, wenn man Andere bewunderte, und wenn Andere glänzten, gab er Licht und Wärme: er war der Beste"(14).
Anstatt dem diffizilen Komplex der MAUTHNERschen Sprachkritik
mit der gebotenen Rationalität zu begegnen, trat die Faszination der Persönlichkeit
gelöst, die von MAUTHNER anscheinend ausging, die persönliche,
subjektive Geste, in den Vordergrund der Wertschätzung. MÜLLER-KABOTHs Gedenken beglückte sich
"nicht an ein paar materiellen Produkten, die, von der Persönlichkeit gelöst, der Wissbegier und einigen Bedürfnissen des Verstandes dienen, sondern es haftet an der Gebärde, die uns die Art des schöpferischen Komplexes offenbarte, am Gewand, an der Haltung, an dem oder jenen Detail, das uns mit einem Schlag oft mitten in den Reichtum einer seltenen Seele führte"(15).
An solchen Stellen schlug die Rezeption in irrationale Elemente eines ausgeprägten Persönlichkeitskultes um, die schon sehr stark an den GEORGE-Kreis erinnern.
Der Tonfall und die Wortwahl dieser Würdigung für den "größten Sprachkritiker" der Zeit sind verräterisch genug.
"Er schweigt in Wollust zu deuten und den Sinn zu erfühlen und vergißt Altes über Neuem, kategorisiert nicht, schematisiert nicht, sondern es eint sich Alles von selbst, und die große Wollust ist zugleich der große Sinn: die Eroberung des Kosmos, die Anschauung des Organischen, der Gewinn des Menschen, der Seele. (...) Und wenn er des Staunens wieder kein Ende findet, was bleibt ihm übrig, als in der Liebe zu bleiben und seine Weisheit tief ins Herz zu graben, in das große Kinderherz, dessen Schlag ein wenig schwer ist, aber alles Unreine und Ungelöste in einem warmen edlen Blute schmilzt und läutert"(16).
In der feierlichen Stimmung und verklärenden Haltung derartiger Lobeshymnen konnten Lebenspathos, Jugendstil, Mystizismus und Manierismus ihre Kapriolen schlagen, ohne eine Spur echten Verständnisses für die sprachkritische Thematik zum Ausdruck zu bringen. Derartige Zeugnisse sind zwar symptomatisch für die Zeitlage und auch bedeutsam als Dokumente einer Richtung der MAUTHNERschen Rezeption; für den Gesamtprozess der Wirkung seiner Sprachkritik sind sie jedoch keine ernstzunehmenden Quellen.
ROBERT SAUDEK, ein Journalist, der 1905 die Redaktion der Illustrierten Wochenschrift Das Leben übernommen hatte, gehörte in die allererste Reihe dieser schwärmerischen Jünger MAUTHNERs. In seinen Briefen kündigte er stets aufs neue seine Pläne zu Aufsätzen und Buchveröffentlichungen an, in denen er die poetologischen, vor allem dramaturgischen Konsequenzen aus MAUTHNERs Sprachkritik darstellen wollte(17). Schon 1903 hatte er an MAUTHNER geschrieben:
"Lassen Sie es mich sagen, Sie waren die erste Persönlichkeit, die ich als groß erkannte, das hatte ich nicht erwartet, als ich zu Ihnen kam, daher das Einverständnis"(18).
1921 bekannte er rückblickend:
"Ich war ein eitler, ehrgeiziger, dummer Junge, als ich Sie kennen lernte und als Sie Berlin verließen, war ich in Gefahr, mich ganz zu verlieren"(19).
Diese Richtung einer monumentalischen Würdigung MAUTHNERs gehört mit zum Gesamtbild seiner Rezeption. Seine Beliebtheit in theosophisch- metaphsischen Kreisen paßt ebenfalls in dieses Bild(20). Darin zeigt sich - auch auf der Ebene der Rezeption - die im Werk und in der Person MAUTHNERs angelegte Zwiespältigkeit und Widersprüchlichkeit. Er war eben auf weiten Strecken ein Literat und Feuilletonist, der ganz dem Zeitgeist und auch dessen Moden verhaftet war, sich oft sehr oberflächlich und unwissenschaftlich den schwierigsten Fragen näherte und dabei manchmal in kühne Spekulation, blinden Kritizismus oder starren Skeptizismus abglitt. Diese auffälligen oder fraglichen Eigenschaften zogen zwar eine Reihe gleichgestimmter Journalisten und Feuilletonisten sehr stark an, riefen jedoch gleichzeitig die strenge Kritik anerkannter Wissenschaftler hervor.
PAUL BARTH z.B. begann seine Besprechung in der "Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophiee und Soziologie" mit dem beinahe vernichtenden Kommentar:
"Die erste Annahme, die durch alle drei Bände hindurch geht, ist die Theorie MAX MÜLLERs, daß es kein Denken ohne Sprechen gebe. Diese These ist falsch"(21).
Der Rezensent weist eine ganze Reihe widersprüchlicher und widerlegbarer Einzelheiten in MAUTHNERs Werk hin und schließt mit einer Gesamtwertung, die ziemlich repräsentativ ist für die Annahme der MAUTHNERschen Sprachkritik innerhalb der tangierten Fachwissenschaften:
"Indessen fallen die Einzelirrtümer nicht ins Gewicht. Sie wären zu ertragen, wenn nur die Untersuchung überhaupt wissenschaftliche Haltung hätte. Diese aber fehlt eben. Die Willkür der isolierenden Abstraktion im 1.Bande ist schon gekennzeichnet worden. Aber auch im 3.Bande ist die Willkür vorherrschend. (...) Ein Feuilleton kann vieles, es kann belehren und ergötzen, es kann auch bisweilen ein Märchen erzählen, aber der Feuilletonist soll dies Märchenwelt nicht für die wirkliche ausgeben.
Schade um die große Arbeit, um mannigfache Anstrengung des Witzes und des Scharfsinnes, die MAUTHNER an sein Werk verschwendet hat. Es bleibt ein Baum, dessen Blätter im Winde rauschen, der aber nie Blüten und Früchte tragen wird"(22).
Auch in der Zeitschrift "Gesellschaft", die eine gewisse Mittelstellung zwischen wissenschaftlicher und literarischer Bewertung einzunehmen schien, hieß es:
"Überhaupt verdient das Werk in seiner Sphäre wärmste Hochschätzung. Nur zu den wissenschaftlichen Taten gehört es nicht, ragt aber aus der Flut täglicher literarischer Novitäten wohl noch lange weit hervor"(23).
LEO SPITZER, der die zweite Auflage der "Sprachkritik" aus sprachwissenschaftlicher Sicht relativ positiv besprach, bemängelte ebenfalls:
"Oft hat der Kritiker auch tote Wortgespenster, die keinen Sprachforscher von heute mehr schrecken können, mit unnützem Apparat nochmals totgeschlagen: es fällt z.B. auf, daß MAUTHNER mehr mit STEINTHAL, SCHLEICHER usw. als mit MARTY und WUNDT (mit dessen Theorien der Sprachentstehung sich die MAUTHNERs of nahe berühren) polemisiert, daß er trotz seiner Besprechung der Leistungen der Junggrammatiker manche vorjunggrammatische Anschauung festhält"(24).
Insgesamt gesehen blieb die intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit MAUTHNERs Werk größtenteils aus; wo sie ansatzweise stattfand, war sie eher ablehnend als zustimmend. Sein Name wurd in der wissenschaftlichen Diskussion über sprachphilosophische und erkenntnistheoretische Fragestellungen bereits zu Lebzeiten mehr oder weniger ignoriert.
Dieses Ausbleiben einer echten wissenschaftlichen Rezeption MAUTHNERs sagt natürlich noch nichts Endgültiges über die allgemeine Rezeptionssituation aus - speziell in literarischen künstlerischen Kreisen. Dennoch ist die ablehnende Haltung der vor allem universitätsimmanenten Fachwissenschaften doch auch wiederum ein wichtiges Indiz dafür, daß wir MAUTHNERs Bedeutung und Wirkung innerhalb der Auslösung oder zunehmenden Bewußtmachung der Sprachkritik und Sprachskepsis der Jahrhundertwende nicht gar zu hoch ansetzen dürfen.
Wenn es um die Frage der möglichen Initialwirkung MAUTHNERs innerhalb der sprachkritischen Bewegung, vor allem der wissenschaftlichen, geht, um die Priorität und die kausalen Abhängigkeiten, Einflüsse und Anregungen, so müssen wir uns stets vor Augen halten, daß bei zunehmendem Wissens- und Interessegrad des Lesers die innovatorische, faktenbereichernde, bewußtseinsverändernde Potentialität der MAUTHNERschen Thesen und Gedanken ständig abnahm.
MAUTHNERs sprachkritische Themen und Argumente lagen in der Luft; sie waren zum Großteil bereits vor dem Erscheinen seiner Schriften geäußert und diskutiert worden, und sie erschienen auch gleichzeitig und unabhängig von seinen Überlegungen in Veröffentlichungen anderer Wissenschaftler, Philosophen und Literaten.
Allein die aufmerksame Lektüre und Analyse der Werke NIETZSCHEs
konnte jedem Rezipienten der Jahrhundertwende Einblick in eine sehr fortgeschrittene
sprachkritische Grundhaltung gewähren. MAUTHNER erhielt
die Gleichzeitigkeit und Übereinstimmung seiner Ideen mit denen zeitgenössischer
Philosophen auch in vielen Briefen bestätigt.
RAOUL RICHTER z.B. schickte ihm einen Vortrag: Philosophie und Religion, den er im philosophischen Verein in Leipzig gehalten hatte, und in dem sich MAUTHNER eine ganze Reihe von Begriffen und Sätzen anstrich, die seinem eigenen Denken sehr verwandt waren(25).
HANS VAIHINGER bedankte
sich für die Zusendung des Philosophischen Wörterbuchs, indem er MAUTHNERs Kritik an den Scheinbegriffen begrüßte:
"Es deckt sich das vollständig mit dem, was ich selbst in meinem Buche ausgeführt habe, wie ich überhaupt viele Berührungspunkte zwischen uns gefunden habe"(26).
Auch RICHARD MÜLLER-FREIENFELS gestand in einem Brief:
"Gewiss sehe ich einiges anders, (...) aber im Ganzen bin ich doch auch wieder erstaunt, wie ich - z.T. auf ganz anderen Wegen - zu ähnlichen Resultaten gelangt bin, auch dort, wo von der ersten Lektüre nichts bei mir hängen geblieben war" (27).
Man muß also gerechterweise festhalten, daß die in wissenschaftlichen Kreisen anscheinend sehr weit verbreitete Etikettierung der MAUTHNERschen Sprachkritik als eines wissenschaftsgeschichtlich völlig irrelevanten, dilettantischen Versuchs eines in die falsche Fachrichtung verschlagenen Zeitungsjournalisten oder Romanschriftstellers weder dem eigenen Anspruch noch dem tatsächlichen Werkcharakter seiner theoretischen Schriften voll Rechnung trug. Eine solche voreilige Kategorisierung paßte allein zu MAUTHNERs persönlicher Berufs- und Lebensstellung, in die man seine sprachkritischen Versuche dann einfach hineinprojizierte.
Die berufssoziologische Außenseiterdarstellung MAUTHNERs - außerhalb der akademischen Professorenschaft vor allem - wirkte also sehr stark auf die Rezeptionsmöglichkeiten seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Dieses muß, so glaube ich, vor jeder gerechtfertigten textbezogenen Kritik im einzelnen gesehen werden. Außertextliche, rezeptionssoziologische Faktoren können die Wirkungsgeschichte wissenschaftlicher oder literarischer Produktionen sehr kräftig und einseitig beeinflußen.
Manche Zeitgenossen, vorwiegend Freunde MAUTHNERs, haben diese Ungerechtigkeit und Willkür der Rezeption gespürt und kritisiert. ALFRED KLAAR z.B. bedauerte, daß MAUTHNERs sprachkritisches Werk
"nicht jene Verbreitung gefunden hat, die notwendig wäre, um seine schwererarbeiteten, tiefgründigen Denkergebnisse zum Gemeingut einer größeren Menge erkenntnisdurstiger Menschen zu machen"(28).
GUSTAV LANDAUER, der engste Mitarbeiter
und einer der nächsten Freunde, glaubte, eine Diskrepanz zwischen der tatsächlichen
Wirkung MAUTHNERs und der öffentlich bekannten und
dokumentierten Betrachtung feststellen zu können.
"Was hier angedeutet wurde, die Wirkung MAUTHNERs auf die Geistes- und Naturwissenschaften, wie auch auf Kritik und Umgestaltung öffentlicher Zustände, eine Wirkung, die keineswegs identisch ist mit den gelegentlichen Stellen, wo er zitiert wird, sollte im einzelnen verfolgt und aufgezeigt werden; es sollte des weiteren als notwendige Ergänzung gezeigt werden, einmal, welche Anregungen und Bedenken MAUTHNERs die Wissenschaften unbeachtet ließen, dann welche Irrwege ihnen erspart werden können, wenn die Forscher Sprachkritik in Fleisch und Blut gehabt hätten.
Schließlich wäre eine Untersuchung lohnend, wie auch unabhängig von MAUTHNER hie und da verwandte Strömungen entstanden sind und sich wirksam gezeigt haben. FRITZ MAUTHNERs Sprachkritik ist Sauerteig, und an der Wirksamkeit des großen Werkes, das er unternommen hat, und das er weiterführt, ist alles gelegen"(29).
Dieser Kommentar, der sicherlich aus geistiger Verwandtschaft und persönlicher, nächster Nähe heraus die positiven Elemente der Wirkungsmöglichkeit und tatsächlichen Wirkung MAUTHNERs etwas überschätzte, ist doch auch wiederum ein wichtiges zeitgenössisches Dokument jener besonderen Atmosphäre und Reichweite der Rezeption MAUTHNERs, die uns heute, aufgrund der überlieferten Zeugnisse, nur noch bruchstückhaft zugänglich ist. Erhaltene schriftliche Kritiken und Rezensionen sollten stets durch solche allgemeinen Aussagen zum zeitspezifischen Horizont der Rezeption ergänzt werden.
AUGUSTE HAUSCHNER, eine Cousine MAUTHNERs, äußerte sich ganz ähnlich wie LANDAUER. Zu MAUTHNERs 60. Geburtstag schrieb sie in einem Zeitungsartikel:
"Es wäre eine schöne Festüberraschung, wenn sich FRITZ MAUTHNER nun doch ein anderer Wunsch erfüllte, wenn alle, die unter dem Einfluß der Kritik der Sprache stehen, sich auch öffentlich zu ihr bekennen wollten."
Alle, die ehrlicher durch sie geworden sind. Alle, die an ihr litten, und durch Schmerzen reifer für stumme innerliche Freuden wurden. Die Poeten die sie zu Königen erhebt. Die mehr als Dichter, die auf die Verzweiflung: daß die Wirklichkeit nicht durch Worte zu erkennen sei, die Hoffnung aufbauen, das Weltgeheimnis wortlos, seelenvoll zu fassen"(30).
An dem Hinweis auf eine verzerrte Relation zwischen der schriftlich überlieferten wissenschaftlichen Rezeption und der tatsächlichen, weit darüber hinausgehenden Wirkung und Ausstrahlung MAUTHNERs in weiten Leserkreisen erfahren wir die prinzipiellen Schwierigkeiten einer möglichst objektiven und umfassenden Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte MAUTHNERs.
Man kommt der wirklichen Rezeption nur damit näher, daß man nicht nur die wenigen wissenschaftlichen Kritiken betrachtet, sondern die Flut all jener Besprechungen miteinbezieht, die in Tageszeitungen und verschiedenen Wochenblättern erschien, wenngleich man hier wiederum sehr kritisch gegenüber vorbehaltlosen Proselyten sein muß, die MAUTHNER stets gefunden hat, und die sein Werk oft recht unkritisch verherrlicht haben.
Immerhin stoßen wir bei der Lektüre dieser Fülle nichtwissenschaftlicher Rezensionen auf einige stets wiederkehrende Themen und Motive, die uns manche Hinweise auf die Besonderheiten, Schwierigkeiten und Hemmnisse der Wirkungsgeschichte MAUTHNERs liefern. Wir können auf die einzelnen Verfasser dieser Besprechungen und Anzeigen des MAUTHNERschen Werks nicht gesondert eingehen und wollen deshalb summarisch nur dies eine hervorheben, daß es zum überwiegenden Teil Berufskollegen MAUTHNERs waren: freie Schriftsteller, Journalisten und Kritiker.
Der hohe Anteil geistesverwandter Juden bezeugt, daß wir MAUTHNERs Sprachkritik trotz ihrer weitgehenden Übereinstimmung mit dem allgemeinen, umfassenden Zeitgeist stets als Bestandteil einer spezifisch jüdisch geprägten Tradition des deutschsprachigen Geisteslebens zu betrachten haben.
Auch in den Kritiken der Literaten und Feuilletonisten taucht das Problem
der in Frage gestellten Wissenschaftlichkeit, d.h. der unwissenschaftlichen
Herkunft MAUTHNERs sehr regelmäßig und massiv auf.
HERMANN HESSE hat MAUTHNERs Philosophisches Wörterbuch in der Zeitschrift März mit den Worten angezeigt:
"Dies seltsame Wörterbuch ist ein mannigfaltiges Bekenntnis, das Bekenntnis eines konsequenten Skeptikers, und es wäre nicht gut, wenn die jungen Studenten danach lernen würden. Hingegen würde manchem Philosophieprofessor eine Dosis von diesem scharfen Kraut nicht schaden. Mancher könnte auch sehr wohl ein wenig von der sprachlichen Klarheit dieses Anklägers der Sprache und etwas von seinem stillen Witz brauchen"(31).
EGON FRIEDELL charakterisierte das letzte Werk MAUTHNERs:
"Aber ein Autor wie MAUTHNER macht einem den Anfang sehr leicht, denn er ist völlig frei von den sonderbaren Eigentümlichkeiten, durch die so viele verdienstvolle und lehrreiche Werke der Wissenschaft sich wie mit einem Stachelgitter umgeben"(32)
Am ausführlichsten ist MONTY JACOBS,
ein sehr enger Freund und Schüler MAUTHNERs, auf das
Akademikerproblem eingegangen.
"In Deutschland hat man für geistige Vielseitigkeit wenig Verständnis. Die Akademiker (...) erwiderten die Einmischung eines bekannten Tagesschriftsteller in die Philosophie mit Schweigen oder Entrüstung. Man tat ihn als Feuilletonisten ab, der die höchsten Fragen in unwürdigem Ton behandle.
In der Tat: Dieser die Sprache als Grundlage von Erkenntnissen verwerfende, als Mittel künstlerischer Wirkung hochschätzende Denker schrieb ein meisterlich klares, funkelndes Deutsch, Worte eines Menschen, die sich von dem flauen, papierenen Stil akademischer Epigonen verblüffend abhob. (...) Der Ausschluß des auch inhaltlich unbequemen Außenseiters durch die Zunft entsprach im Grunde richtigem Empfinden. Seine Tätigkeit war weniger Philosophie zu nennen als vielmehr ein Erbrechen vor dieser"(33).
So schwankte die Rezeption MAUTHNERs ständig zwischen den
beiden Polen einer überwiegend ablehnenden Haltung der offiziellen Wissenschaft
einerseits und einer engagierten Unterstützung und Propagierung durch journalistische
und literarische Kreise andererseits. Selbstverständlich gab es auf beiden
Seiten Ausnahmen, die jedoch die generelle Scheidung der beiden Rezeptionsrichtungen
nur untermauern, wie beispielsweise ERNST MACH,
der sich MAUTHNER Werk stets lobend und fördernd angenommen
hat. An seinen Sohn schrieb er einmal:
"Leider kann ich das MAUTHNERsche Buch nicht in einer Zeitschrift besprechen, da mich die Philologen als Nichtfachmann gleich zusammenhauen würden, aber in meinem nächsten Buch, auf eigenem Boden, steht dem nichts im Wege"(34).
An MAUTHNER selbst schrieb MACH bereits 1901:
"Das Werk wird langsam aber sicher seine Wirkung tun. Die Zunftgelehrten sind etwas schwerfällige Gewohnheitsmenschen. Auf 10 - 20 Jahre Überlegung kommt es Ihnen nicht gerade an"(35).
GUSTAV LANDAUER konnte kurze Zeit später zufrieden feststellen:
"Allmählich fangen ja jetzt schon die Fachgelehrten an, sich mit dem Buch zu beschäftigen und respektvoll davon zu sprechen"(36).
Die in MAUTHNERs Werk angelegte Kluft zwischen Wissenschaftsgläubigkeit und Antiwissenschaftlichkeit brach im Verlauf der Rezeptionsgeschichte erneut auf und führte zu scharfen Kontroversen. FRIEDRICH DERNBURG, der Redakteur vom Berliner Tageblatt , argumentierte zur Unterstützung seiner äuußerst positiven Kritik:
"Noch mehr aber ist bestätigend der weitverbreitete Versuch, das Buch
totzuschweigen, mit dessen Geist man ein Dutzend gelehrter Professionisten
genügend ausstatten könnte. Das, was SCHOPENHAUER
und NIETZSCHE gegenüber jahrelang erfolgreich durchgeführt
werden konnte, wird jetzt auch MAUTHNER gegenüber
gehandhabt. Ich bin nicht dazu legitimiert, den Namen von FRITZ
MAUTHNER diesen Großen unmittelbar anzufügen. Doch ich hoffe und
wünsche, daß, wie ihm jetzt ein ähnliches Schicksal bereitet werden soll,
auch ihr endlicher Sieg ihm
analog beschieden sein wird"(37).
LITERATUR - Walter Eschenbach, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, eine Untersuchung zur Sprachkrise der Jahrhundertwende, Frankfurt/Bern 1977
Anmerkungen
13)
"Berliner Zeitung" am Mittag 2.7.1923
14)
FRITZ MAUTHNER in "Kritik der Kritik", 2.Band, Heft 7 (1906) Seite 10
15)
FRITZ MAUTHNER in "Kritik der Kritik", 2.Band, Heft 7 (1906) Seite 10
16)
FRITZ MAUTHNER in "Kritik der Kritik", 2.Band, Heft 7 (1906) Seite 11
17)
In einem Brief vom 30.1. 1904 kündigte SAUDEK z.B. eine Arbeit über das "Historische Drama der Zukunft im Lichte der Sprachkritik" an. (Nachlaß) Am 3.12.1906 fragt er, ob MAUTHNER selbst schon etwas über "poetische Konsequenzen" aus seiner Sprachkritik geschrieben habe. (Nachlaß) Über Ankündigungen und einzelnen Anfragen scheint SAUDEK nicht hinausgekommen zu sein.
18)
Brief vom 6.2. 1903 (Nachlaß)
19)
Brief vom 11.5. 1921 (Nachlaß)
20)
vgl. dazu PAUL ZILLMANN, Mauthners Wörterbuch der Philosophie, in "Neue Metaphysische Rundschau", Nr.1 (ohne Datum)
21)
PAUL ZILLMANN, Mauthners Wörterbuch der Philosophie, in Neue "Metaphysische Rundschau", 48. Jhg. NF III, (1904), Seite 433
22)
PAUL ZILLMANN, Mauthners Wörterbuch der Philosophie, in "Neue Metaphysische Rundschau", 48. Jhg. NF III, (1904), Seite 438
23)
PAUL ZILLMANN, Mauthners Wörterbuch der Philosophie, in "Neue Metaphysische Rundschau", (6.12.1902) Seite 408
24)
in "Literaturblatt für germanische und romanische Philologie", XL. Jhg. Nr.7/8, Juli-August 1919, Seite 204f
25)
Vgl. dazu RAOUL RICHTER an FRITZ MAUTHNER, 14.3. 1905 (Nachlaß)
26)
HANS VAIHINGER an FRITZ MAUTHNER, 7.7.1911 (Nachlaß)
27)
RICHARD MÜLLER-FREIENFELS an FRITZ MAUTHNER, ohne Datum (Nachlaß)
28)
Sonntagsbeilage Nr. 47 zur "Vossischen Zeitung" Nr. 546, 21. November 1909
29)
"Literarische Rundschau", Beilage zum Berliner Tageblatt, 15.7.1914
30)
"Rheinisch-Westfälische Zeitung" (Essen), 18.11. 1909
31)
Zeitschrift "März", 25.7.1911
32)
"Der Atheismus im Abendland", in "Neues Wiener Journal", 1.8.1920
33)
Vossische Zeitung, 22.11.1929
34)
ERNST MACH an seinen Sohn LUDWIG, 4.12.1901 (Dieser Brief befindet sich im Nachlaß MAUTHNERs)
35)
ERNST MACH an FRITZ MAUTHNER, 24.12.1901 (Nachlaß)
36)
MAUTHNERs Werk, in "Die Zukunft", 1904, Seite 456
37)
Das Buch der Skepsis, in "Berliner Tageblatt", 4.1.1903
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