cr-3ra-1H. J. StörigK. VorländerG. Störring 
 
FRITZ MAUTHNER
Nominalismus und Bedeutung

...daß die Termini technici der Philosophie (nebst ihren Übersetzungen und Ersetzungen) eine einzig wahre, eine unveränderliche Bedeutung nicht haben...

Eine gute historische Darstellung vom Streite der Nominalisten und der Realisten, eine Bearbeitung, die der Bedeutung des Stoffes entspräche, gibt es bis zur Stunde nicht; wohl darum nicht, weil man geneigt ist, den ganzen gewaltigen Streit für ein scholastisches Gezänke zu halten, welches uns, tausend Jahre nach seinem Ausbruch, nichts mehr angehe. Ich will mit unzureichenden Mitteln nur zu zeigen versuchen, daß der Streit zwischen Nominalisten und Realisten bis zu diesem Tage nicht aufgehört hat, daß er nur immer neue Formen annahm, sich immer über neue Wissensgebiete ausdehnte.

Ich will kurz zeigen, daß der Streit zwischen Nominalisten und Realisten ursprünglich die alte Logik betraf; daß er dann mit der äußersten Heftigkeit in der Theologie tobte, als die Scholastik die Logik in den Dienst der Kirche zwingen wollte; daß der Nominalismus endlich dazu führte, zum ersten Male psychologische Fragen zu stellen, und so den Kampf auf das neue Gebiet der Psychologie hinüberführte; ich will ferner darauf hinweisen, daß noch jüngst, als man für und gegen den Darwinismus stritt, der alte Streit sich der Biologie bemächtigt hatte; und daß die Erkenntnistheorie, wenn sie Sprachkritik sein will, zu dem alten Streite zwischen Nominalisten und Realisten Stellung nehmen muß.

Der Aufmerksamkeit der Grammatiker konnte es nicht entgehen, daß die Worte ihrer Disziplin, daß sogar die Worte der ganz gewöhnlichen Sprache einen Inhalt geben, einen Sinn, eine Bedeutung. Der Aufmerksamkeit der Logiker konnte es wieder nicht entgehen, daß die Inhalte ihrer Begriffe und die Bedeutungen ihrer Sätze an menschliche Sprache geknüpft sind. Die Folge der einen wie der anderen Aufmerksamkeit war, daß recht früh zwischen dem Worte und seiner Bedeutung unterschieden wurde. Wie zwischen dem Sprechen und dem Denken. Das war eine tote Unterscheidung, ein anatomisches Verfahren, solange man nicht bemerkte, daß auch das lebendige Wort eine Bedeutung hat.

Tote Worte gibt es nur auf den Seziertischen der Etymologen und in den Wörterbüchern. Dann auch noch in schlechten Büchern. In der lebendigen Sprache ist das Wort von seiner Bedeutung so wenig zu trennen, wie ein lebender Organismus von seiner  Seele  zu trennen ist; wer erst weiß, daß es eine besondere Seele gar nicht gibt außerhalb der Sprache, der möchte geneigt sein, die Bedeutung die  Seele des Wortes  zu nennen.

Ein Wort, das keine Bedeutung hätte, wäre also noch kein Sprachwort, wie denn die meisten Worte eines Papageien noch keine Sprachworte sind. Jedem besonnenen Leser von Wörterbüchern muß es nun auffallen, daß man in einem größeren Artikel eines ernsthaften Wörterbuches viele Bedeutungen des Wortes findet, historisch oder logisch geordnet, aber niemals  die  Bedeutung; je kleiner und elender so ein Wörterbuch ist, desto falscher und irreführender begnügt es sich damit, eine einzige Übersetzung anzuführen,  die  Bedeutung. Was nun in den kümmerlichsten Hilfsmitteln zur Erlernung oder zum praktischen Gebrauche einer fremden Sprache offenbare Armut ist, was bei Reisen in fremden Ländern die Quelle unendlicher und oft spaßhafter Verwechslungen wird, das Bestreben nämlich, jedes Wort der einen Sprache mit  einem  Worte der anderen Sprache wiederzugeben - das war bis vor kurzer Zeit das Ideal philosophischer Lexika und des philosophischen Wortgebrauchs überhaupt.

Der Adept der Philosophie stieß während seiner Reise in das fremde Land des abstrakten Denkens bei jedem Schritte auf Fremdworte, deren Erklärung er sich zunächst aus einem philosophischen Fremdwörterbuche holte; da erfuhr er schnell und zuverlässig  die  Bedeutung aller philosophischen termini technici. Je älter der Adept wurde, je fleißiger er die Geschichte der Philosophie trieb, d.h. die Originalwerke der bedeutendsten Denker aller Zeiten las, desto deutlicher mußte ihm werden, daß die Termini technici der Philosophie (nebst ihren Übersetzungen und Ersetzungen) eine einzig wahre, eine unveränderliche Bedeutung nicht haben, daß es 'die 'Bedeutung neben den Bedeutungen gar nicht gibt.

Die neuesten philosophischen Wörterbücher, das deutsche von EISLER und das englische von BALDWIN, haben begriffen, daß die Bedeutung eines Terminus nur aus der Geschichte der Terminus kennenzulernen ist, und bringen zu dieser Geschichte von überall her reichlich Material bei; freilich bemühen sich beide Lexika allzuhäufig überdies noch 'die' Bedeutung festzustellen, als ob irgendein Begriff außer in seiner Geschichte noch einmal da wäre. Was man für die gegenwärtige Bedeutung eines Wortes ansehen mag, ist doch auch nur zu bestimmen, wenn man zwischen den miteinander kämpfenden Richtungen der Gegenwart eine Resultierende zieht und sich entschließt, diese Resultierende für die Weltanschauung der Gegenwart oder gar für die endgültige Weltanschauung zu halten. Auch die gegenwärtige Bedeutung jedes Wortes ist historisch  geworden.  Das "Wörterbuch der Philosophie", das sich ein philosophisches Wörterbuch nicht zu nennen wagte, kann jedem Versuch einer Wortgeschichte noch eine Kritik der augenblicklichen Bedeutung oder der streitenden Bedeutung hinzufügen.
LITERATUR - Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, 3Bde., Leipzig 1910/11