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FRITZ MAUTHNER
krank
- Wörterbuch der Philosophie -

"Es gibt keine Krankheiten, es gibt nur kranke Menschen. Für die Erkenntnistheorie wie für den Arzt."

Krankheit, oft nur der Gegensatz von Kraft, ist wie der Begriff  Kraft  aus einer menschlichen Empfindung hergenommen. Beide Begriffe gehören eigentlich nur der adjektivischen Welt an und sind in der substantivischn Welt unserer Sprache unvorstellbar. Trotzdem es fast eine unübersehbare Wissenschaft gibt, die die Kräfte berechnet, und trotzdem es einen kleinen Ausschnitt aus der Zoologie gibt, nach der Einrichtung unserer Universitäten freilich eine ganze Fakultät, die sich mit den sogenannten Krankheiten der Menschen beschäftigt. Es gibt keine Krankheiten in der Wirklichkeitswelt; es gibt nur Menschen, die sich krank fühlen; oder die nach dem Urteile von Sachverständigen krank genannt zu werden verdienen.

Auch Tiere und Pflanzen werden in der Menschensprache krank genannt. Wendet man den Begriff (früher geschah das noch häufiger) auf unorganische Dinge oder Verhältnisse an, auf die Mauern eines Hauses, auf den Ackerboden, auf die Vermögenslage (die dann  saniert  werden muß), so ist man sich nach dem gegenwärtigen Sprachgebrauche der Bildlichkeit des Ausdrucks wohl bewußt. Spricht man aber von  kranken  Tieren, spricht man gar von  kranken  Pflanzen, so beachtet man nur selten, daß der Ausdruck anthropomorph ist, daß man besonders Pflanzen mitunter deshalb  krank  nennt, weil sie den menschlichen Zwecken mangelhaft dienen; so nennt man gezüchtete Blumen leicht  degeneriert,  sobald sie in ihre gesunde Naturform zurückgekehrt sind.

 Krank  ist ein Menschenbegriff, aber ein unverständlicher und ein gefährlicher dazu, gefährlich für den Gedankengang des Wald- und Wiesenarztes, der nach dem Wunsche des Kranken und nach seinem eigenen Glauben von Krankheiten befreien soll. So ein Arzt hat auf der Schule gelernt, die komplexen Erscheinungen, die an einem kranken Menschen wahrzunehmen sind, unter dem Namen einer bestimmten Krankheit ( Krankheitsbild  ist schon ein besseres Wort) zusammen zu fassen, d.h. die Diagnose zu stellen, und das für diese bestimmte Krankheit jeweilig gebotene Heilmittel vorzuschreiben.

Ein Ölbild ist durch Übermalung entwertet worden; der Fachmann wird gerufen, um die nach ästhetischen Menschenbegriffen schädlichen Farben zu entfernen; er wendet nach Vorschrift seine verdünnten Säuren an, die schädlichen Farben verschwinden, aber mit ihnen oft genug die hochgeschätzten Farben des alten Bildes. So bekämpft der gewöhnliche Arzt auch das Bild einer Krankheit.

Der Protest gegen den Gebrauch des Wortes  Krankheit  ist natürlich nicht so gemeint, daß auch das Abstraktum zu vermeiden wäre; immer hat es in der Wirklichkeit kranke Menschen gegeben, und diese hatten in ihrer Sprache immer das Recht, ihren elenden Zustand, ihre Schmerzen oder ihre Schwäche, einen Zustand des Krankseins, der  Krankheit,  zu nennen; dieser Begriff hat keine eigentliche Mehrzahl, die personifizierten  Krankheiten,  die man seit Jahrtausenden für die Ursachen ihrer Symptome angesehen hat, sind ein einer Mehrzahl da. Kranke Menschen hat es wohl immer gegeben; und kranke Menschen haben sich wohl immer nach Ärzten gesehnt, um sich heilen, oder wenigstens trösten zu lassen; die Ärzte aber erst waren es, die in ihrer ganz anderen Sehnsucht, die ärztliche Kunst für eine Wissenschaft auszugeben, die Symptome geordnet, in Abteilungen und Unterabteilungen gebracht, nach der Anatomie, nach der Ätiologie (Lehre von den Ursachen der Krankheiten) oder nach sonst etwas klassifiziert und so die verschiedenen Krankheiten benannt haben. Um nicht zu sagen: erfunden.

Die Krankheitsbilder des menschlichen Organismus sind nicht einmal ungefähr nach Arten zu klassifizieren wie die Organismen; kranke Menschen haben nach alter Sitte einen Namen wie gesunde Menschen auch; man hielt es wohl für bequem, auch den Krankheitszuständen dieser Menschen besondere Namen zu geben, oft genug Vor und Zunamen. Auch glaubt die Polizei nicht auskommen zu können, wenn nicht Menschen und Krankheiten Namen haben.

Der elende Zustand eines kranken Menschen, seine Schmerzen, seine Schwäche usw. verhalten sich zu seinem kranken Körper, wie sich die Seelenvorgänge zum Gehirn verhalten; die personifizierten Krankheiten haben aus dem Sprachgebrauche auszuscheiden wie die einstigen Seelenvermögen verschwunden sind. Auch um die  Geisteskrankheiten  steht es nicht anders;  krank  ist nur der Körper, ist nur das Organ; seine Funktionen, wie Gedächtnis,  Sprache,  Vorstellungen usw. sind unbrauchbar, schwach, gelähmt usw., können nur bildlich  krank  genannt werden.

Und noch schwerer als sonst lassen sich die Grenzen zwischen der  geistigen  Gesundheit und Krankheit ziehen, weil die Symptome sich noch schwerer klassifizieren lassen. Dem Juristen gar, der sich so häufig an den Irrenarzt wenden muß, um zu erfragen, an welcher Geisteskrankheit ein Individuum leide oder ob es im strengen Wortsinne  geisteskrank  sei, ist mit der Antwort in unzähligen Fällen nicht gedient, weil der Jurist immer willkürlich oder doch künstlich definierte Begriffe zu bearbeiten hat, der Arzt aber solche strenge Begriffe oft nur bieten kann, wenn er der Natur Gewalt angetan hat.

Weil es nun kranke Menschenkörper gibt und elende Zustände kranker Menschen, nicht aber in der Wirklichkeitswelt Krankheitswesen als Ursachen dieses Krankseins der Menschen, dieser Zustände, darum sind alle Definitionen der  Krankheit  seit jeher so schlecht ausgefallen. Ich will mich mit der Kritik der einzelnen Definitionen nicht aufhalten. Nur auf den berühmten SYDENHAM möchte ich hinweisen, der schon im 17. Jahrhundert den Gedanken aussprach, Krankheiten seien Gesundungsprozesse, durch die der Organismus Schädlichkeiten auszustoßen sich bestrebe; die Konsequenz war, daß der Arzt nur die Schädlichkeiten zu bekämpfen hätte, die Prozesse oder die Krankheiten eigentlich zu fördern. Die moderne Homöopathie ging von den gleichen Anschauungen aus und viele Naturheilmethoden ebenfalls.

In einer der Spirallinien des Fortschritts ist das, was an der Medizin Naturwissenschaft ist, weiter und weiter gediehen; Anatomie, Physiologe und Biochemie sammeln Kenntnisse, von denen die alten Ärzte keine Ahnung hatten; aber zu einer brauchbaren Definition des Krankheitsbegriffs ist die Naturwissenschaft dennoch nicht gelangt, weil es Krankheitswesen als Ursachen von Krankheitserscheinungen nicht gibt.

Die schärfste Kritik an dem Krankheitsbegriffe hat vor etwa 50 Jahren VIRCHOW geübt, der Begründer der Zellularpathologie, da er das Kranksein in die Atome des Organismus verlegte, in die Zellen. Bessere Sachkenner mögen darüber entscheiden, ob er nicht das Kind mit dem Bade ausschüttete, als er auch das Adjektiv  krank  lieber auf die Zellen angewendet wissen wollte als auf die Menschen, als er sagte: "Die Krankheit zerstört alle Illusionen über die substantielle  Einheit  des Organismus." Jedenfalls hat VIRCHOW den Weg geebnet für die neue Lehre: es gibt keine Krankheiten, es gibt nur kranke Menschen. Für die Erkenntnistheorie wie für den Arzt.

Neuerdings hat ein genialischer Arzt, der nicht als Arzt sein will, diese These auch in der Theorie verfochten: SCHWENNINGER in seinem Büchlein "Der Arzt" (S.54ff.) Wohl schon unter dem Einflusse sprachkritischer Ideen schrieb er (1906):
"Wenn der Arzt überhaupt nichts heilen kann, Krankheiten kann er nicht einmal behandeln ...  Krankheit  ist eine Abstraktion, eine Sprachvorstellung, die nur in der Welt der Gedanken eine Berechtigung auf Vorhandensein hat ... die Namengebung für solche Abstraktionen nehmen wir mittels eines Sprachkunststückes vor, das ein Eigenschaftswort zu einem Hauptworte macht. Wir schaffen dem neuen, ideellen Gegenstand, dem Begriff, seinen Namen durch grammatikalische Kennzeichnung; durch besondere Wortbildung. Wir sprechen nicht mehr von roten Gegenständen, sondern von der Röte, nicht mehr von kranken Menschen, sondern von Krankheit ... Was stets so Krankheit genannt wird, ist nichts weiter als ... ein Hauptwort gewordenes Adjektiv, das die Betrachtung an kranken Menschen zu einem Namen für eine Gegenständlichkeit erhoben hat; für eine Gegenständlichkeit, an deren tatsächliches und leibhaftiges Vorhandensein man einst glaubte, da man von einem  Ens morbi,  einem Krankheitswesen fabelte ... Es ist nicht gleichgültig, ob die Ärzte wähnen, Krankheiten behandeln zu müssen, oder ob sie bewußt ihre Tat einsetzen, um der Behandlung kranker Menschen willen."
Ich habe schon (Kr.d.Spr.II S. 425) darauf hingewiesen, daß die Wissenschaft den Krankheitsbegriff einfach und unverändert aus der Gemeinsprache herübergenommen habe, daß auch die Definition unmöglich sei: Krankheit ist der anormale Zustand oder das anormale Verhalten der Organe.
"Kein Mensch versteht unter Krankheit ein anormales Verhalten, solange es nicht schmerzhaft oder gefährlich ist."
Was den kranken Menschen an seinem Zustande interessiert, das ist immer nur der Schmerz oder das Übelbefinden, das Nachlassen seiner Kräfte oder die Störung in seiner Arbeit, endlich die Lebensgefahr; der Name seiner Krankheit interessiert den kranken Menschen gar nicht, wenn er nicht zufällig Arzt oder ein halbgebildeter Laie ist.

Ich habe schon gesagt, daß die Krankheiten der Menschen noch viel weniger genau nach Arten zu klassifizieren und zu benennen sind als die Pflanzen und Tiere; ein LINNÈ der Nosologie wäre gar nicht möglich. Dazu kommt, daß die Namen der Krankheiten wie andere Wörter auch ihre Zufallsgeschichten haben, bald von irgendeinem Symptom hergenommen sind, bald den elenden Zustand überhaupt, also  jede  Krankheit bezeichnen.

Beispiele für die erste Gruppe wären:  Krebs,  womit GALENOS auf eine entfernte Ähnlichkeit der Adernzeichnung mit den Füßen eines Flußkrebses hinweisen wollte;  Tuberkulose,  nach dem Vorkommmen von kleinen Knötchen oder Tuberkeln, man erinnere sich gar, daß nach einer sehr wahrscheinlichen Vermutung (PLUG: "Syphillis oder Morbus Gallicus?") der Name  Syphillis  nach dem Namen des Schäfers SYPHILUS gebildet worden ist, des poetischen Helden des Lehrgedichts "De Syphilide, sive Morbo Gallico", das FRACASTRO zu Verona im Jahre 1530 herausgab und in dem er die chauvinistischen Namen der Krankheit (wie  morbus gallicu,  ma de Naples) durch einen mythologischen ersetzen wollte.

Beispiele für die zweite Gruppe wären:  Kachexie,  das wörtlich  schlechtes Befinden  heißt und das wirklich auch im Munde des gelehrten Arztes nicht viel mehr bedeutet;  Phthisis,  was wir genau mit  Schwindsucht  übersetzen, paßt ebenso auf jede den Organismus mehr und mehr schwächende Krankheit.

Damit bin ich bei der Wortgeschichte von  Krankheit  und  krank  angelangt. Das griechische  nosos  wird mit seiner interessanten Sippe auf eine sogenannte Wurzel zurückgeführt, die intransiv  verschwinden  bedeutet, transitiv  verderben.  Das lat.  morbus  (Krankheit) mit seiner ungeheuren Sippe, an der MAX MÜLLER einmal seinen etymologisierenden Scharfsinn bis zur Grenze der Karikatur geübt hat, erinnert an  mors  (Tod). Unser  krank  kommt erst im Mittelhochdeutschen vor und bedeutet da, ebenso wir ursprünglich im Neuhochdeutschen, kraftlos, besonders  gelähmt  infolge von Wunden, wie heute noch in der Weidmannsprache; die altgermanische Bezeichnung für unsern Begriff  krank  war  siech,  das wahrscheinlich wieder auch etymologisch mit  schwach  zusammenhängt.

Ein chirurgisches Buch aus dem 16. Jahrhundert sagt ganz prägnant: der Arzt müsse unterscheiden, ob der Sieche krank oder stark sei; wir müßten das heute ausdrücken: ob der Kranke schwach oder kräftig sei. Man kann vermuten: in einer alten harten Zeit interessieren die Menschen sich weniger für die Schmerzen einer Wunde oder für die Lebensgefahr, als für den Zustand, in dem sie zu Kampf oder Flucht unkräftig geworden waren, wie ein weidwundes, krankes Tier. Noch merkwürdiger scheint mir die entsprechende Wortgeschichte der romanischen Sprachen, wie sie DIEZ kurz angedeutet hat; italienisch  malato,  französisch  malade  heißt provenzialisch  malapte,  und diese Form scheint auf  male aptus  hinzuweisen,  untauglich,  und entspricht ziemlich genau unserem  unpäßlich  ( aptus  = passend).

In großen Zügen gesehen vollzog sich also die Wortgeschichte dergestalt, daß der Aberglaube der Gemeinsprache den Krankheitsbegriff erfand als eine personifizierte Ursache des Kräfteverfalls, des Siechtums, des Krankseins, daß die Gemeinsprache das Gefühl dieses Zustandes, insbesondere für das Gefühl der Schwäche, das Adjektiv  krank  bildete, daß die Ärzte mit der Entwicklung ihrer Kunst dieses Adjektiv auch auf andere Symptome als das der Schwäche anwandten, und daß die Gemeinsprachen am Ende jeden Zustand als krank bezeichneten, den Ärzte zu behandeln bereit waren; schließlich klassifizierten die Ärzte die zahlreichen Symptome in recht ungenaue Größen und nannten die personifizierten Ursachen der Symptomgruppen mit den Namen bestimmter Krankheiten, um endlich gegenwärtig die Ungenauigkeit der Symptomgruppen und die Bildhaftigkeit oder Wesenlosigkeit des Krankheitsbegriffs begreifen zu lernen.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, München und Leipzig 1910