Fritz Mauthner's Kritik der Sprache - I I -
Die Sprache ist nach MAUTHNERs überraschend glücklichem Wort eine Art von Spielregel, die nur in dem Kreise derjenigen gilt, die sich über sie geeinigt haben. "Die Sprache ist nur ein Scheinwert wie eine Spielregel, die auch um so zwingender wird, je mehr Mitspieler sich ihr unterwerfen, die aber die Wirklichkeitswelt weder ändern noch begreifen will. In dem weltumspannenden und fast majestätischen Gesellschaftsspiel der Sprache erfreut es den einzelnen, wenn er nach der gleichen Spielregel mit Millionen zusammen denkt, wenn er z.B. für alte Rätselfragen die neue Antwort "Entwicklung" nachsprechen gelernt hat, wenn das Wort Naturalismus Mode geworden ist, oder wenn die Worte Freiheit, Fortschritt ihn regimenterweise aufregen. Von starken Naturen, welche den Menschenmassen in diesern Weltgesellschaftspiel die Worte zurufen, wird Geschichte gemacht." (Kr. d. Spr. 25.)Was kümmert es die Wirklichkeit, dass die Menschen es nützlich gefunden haben, ihre Eindrücke irgendwie zu ordnen und zu benennen, um sich in dem bunten Chaos, das sie umgibt, zurechtzufinden, allerlei, was sie interessierte, weil es ihren Bedürfnissen diente, leichter zu merken und es sich gegenseitig mitzuteilen? An dem praktischen Nutzen der Sprache in dem grossen Kampfe der werdenden Menschheit um ihre Erhaltung und Fortentwicklung zweifelt niemand. Ohne die Sprache wäre die Entstehung dessen, was man Kultur oder Zivilisation zu nennen pflegt, so gut wie undenkbar. Sie muss bei dem gewaltigen Vorgang der Menschwerdung eine entscheidende Rolle gespielt haben. Denn sie erleichterte dem Menschen ja nicht bloss die Orientierung in der ihn umgebenden, von tausend Gefahren bevölkerten Wirklichkeitswelt, sondern sie allein ermöglichte es ihm auch, nützliche Erfindungen und Entdeckungen im Gedächtnis festzuhalten und durch Mitteilung und Ueberlieferung von Geschlecht zu Geschlecht fortzupflanzen. Die Sprache ist so gleichsam das gemeinsame Gehirn, das gemeinsame Denkorgan der Menschheit, das Sammelbecken, in das alle die tausend und Millionen Sinneseindrücke und Wahrnehmungen zusammenfliessen, die im Laufe der Jahrtausende von Menschen gemacht worden sind. Sie ist der Erbschatz der Erinnerungen der Menschheit. Mit Erkenntniszwecken freilich hat das gemeinsame Gehirn der Menschen von Haus aus so wenig zu tun wie das individuelle. Im Kampf mit der Not des Lebens ist die Sprache genau ebenso entstanden wie Sinneswerkzeuge und Gehirn. Das gemeine Interesse war es, dem sie diente und von dem sie in ihrem Wesen beeinflusst wurde. Nur was den Menschen interessierte, nahm sie auf und bewahrte sie. Und nachdem sie einmal entstanden war und als mehr oder minder festgewordene Gewohnheit von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben wurde, da zwang sie den einzelnen mit ihrer tyrannischen Macht. Er musste nun denken wie die gemeinsame Sprache es wollte, die er mit ihren erstarrten Begriffen von den Vorfahren ererbt hatte. Was sich in dieser gemeinsamen Sprache nicht vorfand, das existierte zunächst nicht für ihn. Hatte er mit genialem Blick irgend etwas draussen in der Wirklichkeitswelt völlig neu gesehen, anders als alle anderen, und wollte nun dieses neu erschaute Etwas sprachlich ausdrücken, um es den Genossen mitzuteilen, so weigerten sich die alten überlieferten Worte, solch "entartetes", der geltenden Spielregel widersprechendes Erkennen aufzunehmen. Er musste mit gewaltiger Geistesanstrengung die Spielregel ändern. "Die geistige Geschichte wird von Ausnahmsmenschen gemacht, welche nicht in die Welt passen, welche abseits vom Spiele die Welt anders betrachten, als die Vorgängermassen sie betrachtet haben und als die ererbte Sprache es verlangt, von Menschen, welche, erblos und eigen, die Welt neu zu erkennen glauben und sich's kaum eingestehen dürfen, dass auch sie mit Aufopferung ihres Lebens nichts weiter ersonnen haben als nur kleine Abänderungen der Spielregeln für das Gesellschaftsspiel der Welt. Man kann sie auch betrachten als zufällige Variationen, welche die feste Erblichkeit der Art durchbrechen und vielleicht zu einer leisen Abänderung der Art beitragen werden. Sie wissen wenig anzufangen mit dem Gemeineigentum der Sprache, und die Gesellschaft, die Gemeine, weiss nicht viel mit ihnen anzufangen." (Kr. d. Spr. 12, 26.)Die Sprache ist nichts anderes als ein System von Gedächtniszeichen, sie ist wesentlich klassifikatorisch. Unsere Sinneseindrücke haben die Eigenschaft, zu beharren, sich bis auf weiteres im Geiste zu behaupten, auch nachdem der äussere Gegenstand aufgehört hat, auf unsere Sinne zu wirken. Mit anderen Worten: Wir haben Erinnerungen. Diese Erinnerungen aber würden chaotisch durcheinanderfluten, sich gegenseitig stören und auslöschen, in einem wüsten, zusammenhanglosen Geflimmer untergehen, wenn wir sie nicht irgendwie ordnen und fixieren könnten. Nun beruht jede Erinnerung auf einer Vergleichung. Es gibt keine Erinnerung, ohne dass zwei Eindrücke verglichen werden, ein gegenwärtiger und ein Vergangener. Auf diese Weise allein ist ja ein Wiedererkennen möglich. Die Vergleichung ergibt vielfache Aehnlichkeiten zwischen den Eindrücken, und ähnliche Eindrücke fassen wir zusammen und binden sie an ein Lautzeichen. So entstehen die Worte oder Begriffe. Nicht durch die vielberufene Abstraktion. Nicht so, dass wir bewusst und sauber die "unwesentlichen" Merkmale eines Dinges ausscheiden, um nur die "wesentlichen" übrig zu behalten, die dann den Begriff ausmachen oder die Allgemeinvorstellung. Es gibt keine Allgemeinvorstellungen, sondern nur Worte, die zusammenfassende Zeichen für eine Menge ähnlicher Eindrücke sind. Wenn ich "Baum" sage, so taucht in meiner Erinnerung nicht etwa ein allgemeiner Baum auf, der völlig unvorstellbar ist, sondern ich denke mir entweder, ein sehr häufiger Fall, gar nichts dabei, gebe das Wort wie eine abgegriffene Scheidernünze nur eben weiter, so gut wie vorstellungslos, oder ich denke mir einen ganz bestimmten Baum, etwa eine Buche, oder es schwirren in meinem Kopfe eine ganze Menge flüchtiger Erinnerungsbilder verschiedener Bäume wirr und unfassbar durcheinander. Damit ist schon gesagt, dass Wort und Begriff zusammenfallen, dass zwischen ihnen kein fassbarer Unterschied ist, was man freilich nur dann klar einsehen kann, wenn man nicht etwa, in beliebter Manier, Begriff und Vorstellung oder Erinnerungsbild verwechselt. "Ich weiss nicht, was der Begriff eigentlich ausser dem Worte noch ist, in der psychologischen Wirklichkeit ist, wenn man es einmal wagt, von seiner Bedeutung für die Subsumptionslogik abzusehen. Wir begreifen, wenn wir eine neue Vorstellung mit älteren Vorstellungen vergleichen, und bei dieser Vergleichung zu dem Glauben: an einen logischen oder ursächlichen Zusammenhang kommen. Dieser Zusammenhang wird von uns, durch eine Art Induktionsschluss aus der Wirklichkeit, aus der Unzahl aller möglichen Assoziationen herausgeholt, die sich an die neue Vorstellung knüpfen können.Daraus folgt weiter, dass Denken und Sprechen dasselbe ist, wenn wir nämlich das vieldeutige Wort "denken", das im weitesten Sinne jede psychische Tätigkeit überhaupt bezeichnet, auf das begriffliche, abstrakte Denken einschränken. Und das müssen wir, wenn nicht die ganze Frage in einen zwecklosen, völlig unfruchtbaren Wortstreit ausarten soll. Wer Lust hat, möge immerhin auch die Orientierung des Säuglings und des Tieres in der umgebenden Wirklichkeitswelt, ja selbst schon die verstandesmässige Bearbeitung der Sinneseindrücke, die unbewusste Beziehung der Sinnesempfindung auf einen äusseren Gegenstand ein Denken nennen und dann mit Recht von sprachlosem Denken reden. Das kann uns hier nicht stören. Es stört uns auch nicht, dass der Sprachgebrauch nach wie vor zwischen Denken und Sprechen unterscheidet, dass Denken und Sprechen durch feinste, fast unfassbare Nuancen getrennt bleiben. Für uns kommt es nur darauf an, dass begriffliches Denken eben ein Denken in Begriffen, d. h. in Worten ist, also ein Sprechen, ein inneres Sprechen. Man hat beobachtet, dass bei distinktern Denken oder innerem Sprechen die Sprachorgane merkbar bewegt werden, dass diese Bewegung, namentlich bei gewissen Lauten, besonders bei dem Konsonanten R, äusserlich am Kehlkopf fühlbar wird. Sprechen und Denken sind ein und dieselbe Bewegung oder Handlung, das eine Mal von aussen, das andere Mal von innen gesehen. Achten wir mehr auf die Bewegung der Sprachorgane und des Gehirns, so sagen wir "Sprechen". Achten wir mehr auf das Ziel der Bewegung, das Auffinden und Treffen des bestimmten Gedankens, der bestimmten. Assoziation, der wir zustreben, so sagen wir "Denken". MAUTHNER hat das an einem vortrefflich gewählten Beispiel deutlicher zu machen gesucht. Die Sätze "der Hund läuft" und "der Hund jagt" scheinen auf den ersten Blick recht Verschiedenes auszudrücken. Und doch sind die wirklichen Bewegungen des Hundes beim Laufen wie beim jagen ganz genau dieselben. Wir achten nur das eine Mal mehr auf den Weg, den er zurückgelegt, das andere Mal mehr auf das Ziel, dem er zustrebt. Im "Wörterbuch" hat MAUTHNER dieses Beispiel folgendermassen erläutert: "Beide Verben bezeichnen bestimmte Bewegungen, denken und sprechen; dass Sprache nur eine Bewegung der Sprachorgane sei, dass auch das Auffassen oder Verstehen der gehörten Worte eng an Bewegungserinnerungen gebunden sei, das setze ich als bekannt voraus. Man kann die Bewegung der Sprachorgane bei lautlosem, aber distinktem Denken mit den tastenden Fingern am Kehlkopf fühlen. Wollte ich daraus allein den Schluss ziehen, dass das Denken Sprache sei, also Bewegung, so wäre das ein Zirkelschluss. Ist aber das Denken überhaupt, wie wir doch alle glauben, ein Vorgang im Gehirn, so kann dieser Vorgang gar nicht anders gedeutet werden als durch Bewegungen. Durch noch völlig unaufgeklärte Bewegungen der noch sehr wenig bekannten mikroskopischen Zellen des Organs. Denken und Sprechen sind Bewegungen; ich habe nur zu zeigen, dass sie die gleichen Bewegungen sind,von zwei verschiedenen Standpunkten gesehen.Diese Erkenntnis nun, dass Denken und Sprechen oder, substantivisch ausgedrückt, Vernunft und Sprache, zusammenfallen, die zentrale Erkenntnis der MAUTHNERschen Skepsis, ist von ungeheurer, von umwälzender Tragweite, sie revolutioniert die Philosophie, die für uns ja nichts anderes mehr als Erkenntniskritik ist. Durch sie wird mit einern Male der verhängnisvollen Unklarheit ein Ende gemacht, die in "der" Sprache nur das "Kleid", das mehr oder minder kostbare, besser oder schlechter sitzende Kleid eines übermenschlichen, übersprachlichen, absoluten Denkens sah. Dieses vergottete Denken mochte dann durch sein irdisches, materielles Kleid oder Werkzeug, die Sprache, wohl irgendwie behindert sein, von Haus aus war es berufen und befähigt zur Welterkenntnis. Und dieses übermenschliche Denken war auch überall wesentlich dasselbe, mochte es seine Weltgedanken in noch so verschiedenen, der Lautgestalt und dem Bau nach noch so weit auseinanderliegenden Sprachen ausdrücken. Es gab über den Einzelsprachen so etwas wie eine Uebersprache eine philosophische Grammatik. Die Menschen mussten, wenn sie leben und sich erhalten wollten, sich in der unendlichen, unübersehbaren, verwirrenden Mannigfaltigkeit der wirklichen Dinge einigermassen zurechtfinden. Deshalb erfanden sie sich die ordnende, Klassen, Arten, Gattungen schaffende Sprache. Sie bemerkten ungefähre Aehnlichkeiten zwischen den Dingen und banden sie an Wortzeichen. In dem chaotisch durcheinanderflimmernden Wirrwarr der Erinnerungsbilder und Assoziationen waren diese Wortzeichen Knoten, Stationen, Ruhepunkte. Aber sie können ihrer ganzen Entstehungsweise nach eben nur Erinnerungshilfen, niemals Erkenntniswerkzeuge sein. Sie fassen nur armselige, willkürlich herausgehobene Bruchstücke der unübersehbaren Wirklichkeit. Nach subjektiven Interessen herausgehobene Bruchstücke. Die Worte geben niemals klare, festumgrenzte Anschauung, sondern nur schwebende, unbestimmte, verschwimmende Erinnerung an zahllose Sinneseindrücke. Sie haben niemals feste Konturen. Das macht sie zwar zu wundervollen Werkzeugen der Dichtung, der Wortkunst, da sie zum Ausdruck schwebender Stimmungen und dunkler Gefühle ihrem ganzen Wesen nach wie geschaffen sind, das macht sie aber zu unbrauchbaren Werkzeugen der Erkenntnis, weil sie das Wirkliche ewig nur umkreisen, ohne es fassen zu können: der natürliche Begriff wird niemals zum logischen Idealbegriff. Wäre es uns möglich, mit den Worten der Sprache einen natürlichen Weltkatalog zu schaffen, ein Fächerwerk, in das die Wirklichkeit hineinpasst, dann hätten wir auch eine Welterklärung. Denn um die natürliche Zusammengehörigkeit der Dinge zu finden, müssten wir in ihr Wesen eindringen, was uns ewig versagt bleibt. Der Weltkatalog, den die Sprache schaffen kann, bleibt ewig ein vorläufiger, der durch jede neue Beobachtung wieder umgestossen wird. Wir sind geneigt, die Einteilung des Wirklichen in leblose und lebendige Wesen, in Mineral-, Pflanzen- und Tierreich für natürliche, im Wesen der Dinge begründete Einteilungen zu halten und kommen dann in arge Verlegenheit, wenn sich Uebergangsformen zeigen, die wir weder da noch dort unterbringen können. Wenn der Kristall vorübergehend lebendig wird, wenn Wesen entdeckt werden, die weder Pflanzen noch Tiere zu sein scheinen. Der Begriff der Ordnung ist eben ein eminent menschlicher Begriff, von dem wir gar nicht wissen können, ob ihm etwas und was ihm in der Natur entsprechen mag. Ich lasse über diese erkenntniskritisch grundlegende Frage MAUTHNER selbst reden: "Die wichtigste Frage der Erkenntnistheorie, immer die gleiche, erhält nun die Form: Gibt es in der Natur die Ordnung, den ordo; den eine instinktive Neigung des Verstandes in die Natur hineindisponiert, hineinverlegt?Die Worte sind nur Erinnerungshilfen, und deshalb kann es niemals einen Erkenntnisfortschritt in Worten geben. Wenn wir reden, wenn wir Worte gebrauchen, so drehen wir uns ewig tautologisch im Kreise. Sagen immer nur, was wir schon wissen, was uns entweder von den Vorfahren überliefert worden ist, oder was wir selbst beobachtet haben, niemals aber gelangen wir mit Worten zu neuen Erkenntnissen. Sie geben immer nur her, was in sie hineingesteckt worden ist, sie sind nur für den verständlich, der die Sachen, die sie bezeichnen, schon kennt. Es gibt eigentlich nur Nominaldefinitionen, nur Worterklärungen. Keine Realdefinitionen oder Sacherklärungen. Man müsste denn die neuen Beobachtungen so heissen, die alten Worten einen veränderten, bereicherten Inhalt geben. Wer etwas neu erkennen, Fortschritte in der Erkenntnis der Wirklichkeit machen will, der muss sich in die sprachlose Anschauung der vorsprachlichen Einzeldinge versenken. Sprachlos geht ihm das Neue auf. |