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MAX KRIEG
Fritz Mauthner's
Kritik der Sprache

- I I -

Sprache und Wirklichkeit
Skepsis und Mystik
"Wer etwas neu erkennen will, der muss sich in die sprachlose Anschauung versenken. Sprachlos geht ihm das Neue auf."

Die Sprache ist nach MAUTHNERs überraschend glücklichem Wort eine Art von Spielregel, die nur in dem Kreise derjenigen gilt, die sich über sie geeinigt haben.
"Die Sprache ist nur ein Scheinwert wie eine Spielregel, die auch um so zwingender wird, je mehr Mitspieler sich ihr unterwerfen, die aber die Wirklichkeitswelt weder ändern noch begreifen will. In dem weltumspannenden und fast majestätischen Gesellschaftsspiel der Sprache erfreut es den einzelnen, wenn er nach der gleichen Spielregel mit Millionen zusammen denkt, wenn er z.B. für alte Rätselfragen die neue Antwort "Entwicklung" nachsprechen gelernt hat, wenn das Wort  Naturalismus  Mode geworden ist, oder wenn die Worte  Freiheit, Fortschritt  ihn regimenterweise aufregen. Von starken Naturen, welche den Menschenmassen in diesern Weltgesellschaftspiel die Worte zurufen, wird Geschichte gemacht." (Kr. d. Spr. 25.)
Was kümmert es die Wirklichkeit, dass die Menschen es nützlich gefunden haben, ihre Eindrücke irgendwie zu ordnen und zu benennen, um sich in dem bunten Chaos, das sie umgibt, zurechtzufinden, allerlei, was sie interessierte, weil es ihren Bedürfnissen diente, leichter zu merken und es sich gegenseitig mitzuteilen? An dem praktischen Nutzen der Sprache in dem grossen Kampfe der werdenden Menschheit um ihre Erhaltung und Fortentwicklung zweifelt niemand.

Ohne die Sprache wäre die Entstehung dessen, was man Kultur oder Zivilisation zu nennen pflegt, so gut wie undenkbar. Sie muss bei dem gewaltigen Vorgang der Menschwerdung eine entscheidende Rolle gespielt haben. Denn sie erleichterte dem Menschen ja nicht bloss die Orientierung in der ihn umgebenden, von tausend Gefahren bevölkerten Wirklichkeitswelt, sondern sie allein ermöglichte es ihm auch, nützliche Erfindungen und Entdeckungen im Gedächtnis festzuhalten und durch Mitteilung und Ueberlieferung von Geschlecht zu Geschlecht fortzupflanzen. Die Sprache ist so gleichsam das gemeinsame Gehirn, das gemeinsame Denkorgan der Menschheit, das Sammelbecken, in das alle die tausend und Millionen Sinneseindrücke und Wahrnehmungen zusammenfliessen, die im Laufe der Jahrtausende von Menschen gemacht worden sind. Sie ist der Erbschatz der Erinnerungen der Menschheit.

Mit Erkenntniszwecken freilich hat das gemeinsame Gehirn der Menschen von Haus aus so wenig zu tun wie das individuelle. Im Kampf mit der Not des Lebens ist die Sprache genau ebenso entstanden wie Sinneswerkzeuge und Gehirn. Das gemeine Interesse war es, dem sie diente und von dem sie in ihrem Wesen beeinflusst wurde. Nur was den Menschen interessierte, nahm sie auf und bewahrte sie. Und nachdem sie einmal entstanden war und als mehr oder minder festgewordene Gewohnheit von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben wurde, da zwang sie den einzelnen mit ihrer tyrannischen Macht.

Er musste nun denken wie die gemeinsame Sprache es wollte, die er mit ihren erstarrten Begriffen von den Vorfahren ererbt hatte. Was sich in dieser gemeinsamen Sprache nicht vorfand, das existierte zunächst nicht für ihn. Hatte er mit genialem Blick irgend etwas draussen in der Wirklichkeitswelt völlig neu gesehen, anders als alle anderen, und wollte nun dieses neu erschaute Etwas sprachlich ausdrücken, um es den Genossen mitzuteilen, so weigerten sich die alten überlieferten Worte, solch "entartetes", der geltenden Spielregel widersprechendes Erkennen aufzunehmen. Er musste mit gewaltiger Geistesanstrengung die Spielregel ändern.
"Die geistige Geschichte wird von Ausnahmsmenschen gemacht, welche nicht in die Welt passen, welche abseits vom Spiele die Welt anders betrachten, als die Vorgängermassen sie betrachtet haben und als die ererbte Sprache es verlangt, von Menschen, welche, erblos und eigen, die Welt neu zu erkennen glauben und sich's kaum eingestehen dürfen, dass auch sie mit Aufopferung ihres Lebens nichts weiter ersonnen haben als nur kleine Abänderungen der Spielregeln für das Gesellschaftsspiel der Welt. Man kann sie auch betrachten als zufällige Variationen, welche die feste Erblichkeit der Art durchbrechen und vielleicht zu einer leisen Abänderung der Art beitragen werden. Sie wissen wenig anzufangen mit dem Gemeineigentum der Sprache, und die Gesellschaft, die Gemeine, weiss nicht viel mit ihnen anzufangen." (Kr. d. Spr. 12, 26.)
Die Sprache ist nichts anderes als ein System von Gedächtniszeichen, sie ist wesentlich klassifikatorisch. Unsere Sinneseindrücke haben die Eigenschaft, zu beharren, sich bis auf weiteres im Geiste zu behaupten, auch nachdem der äussere Gegenstand aufgehört hat, auf unsere Sinne zu wirken. Mit anderen Worten: Wir haben Erinnerungen. Diese Erinnerungen aber würden chaotisch durcheinanderfluten, sich gegenseitig stören und auslöschen, in einem wüsten, zusammenhanglosen Geflimmer untergehen, wenn wir sie nicht irgendwie ordnen und fixieren könnten. Nun beruht jede Erinnerung auf einer Vergleichung. Es gibt keine Erinnerung, ohne dass zwei Eindrücke verglichen werden, ein gegenwärtiger und ein Vergangener. Auf diese Weise allein ist ja ein Wiedererkennen möglich. Die Vergleichung ergibt vielfache Aehnlichkeiten zwischen den Eindrücken, und ähnliche Eindrücke fassen wir zusammen und binden sie an ein Lautzeichen.

So entstehen die Worte oder Begriffe. Nicht durch die vielberufene Abstraktion. Nicht so, dass wir bewusst und sauber die "unwesentlichen" Merkmale eines Dinges ausscheiden, um nur die "wesentlichen" übrig zu behalten, die dann den Begriff ausmachen oder die Allgemeinvorstellung. Es gibt keine Allgemeinvorstellungen, sondern nur Worte, die zusammenfassende Zeichen für eine Menge ähnlicher Eindrücke sind. Wenn ich "Baum" sage, so taucht in meiner Erinnerung nicht etwa ein allgemeiner Baum auf, der völlig unvorstellbar ist, sondern ich denke mir entweder, ein sehr häufiger Fall, gar nichts dabei, gebe das Wort wie eine abgegriffene Scheidernünze nur eben weiter, so gut wie vorstellungslos, oder ich denke mir einen ganz bestimmten Baum, etwa eine Buche, oder es schwirren in meinem Kopfe eine ganze Menge flüchtiger Erinnerungsbilder verschiedener Bäume wirr und unfassbar durcheinander.

Damit ist schon gesagt, dass Wort und Begriff zusammenfallen, dass zwischen ihnen kein fassbarer Unterschied ist, was man freilich nur dann klar einsehen kann, wenn man nicht etwa, in beliebter Manier, Begriff und Vorstellung oder Erinnerungsbild verwechselt.
"Ich weiss nicht, was der Begriff eigentlich ausser dem Worte noch ist, in der psychologischen Wirklichkeit ist, wenn man es einmal wagt, von seiner Bedeutung für die Subsumptionslogik abzusehen. Wir begreifen, wenn wir eine neue Vorstellung mit älteren Vorstellungen vergleichen, und bei dieser Vergleichung zu dem Glauben: an einen logischen oder ursächlichen Zusammenhang kommen. Dieser Zusammenhang wird von uns, durch eine Art Induktionsschluss aus der Wirklichkeit, aus der Unzahl aller möglichen Assoziationen herausgeholt, die sich an die neue Vorstellung knüpfen können.

Umhergetrieben von den unendlich vielen Wellen dieses Meeres von Assoziationen müssen wir etwas Festes haben, um (es ist schwer zu sagen) uns festhalten zu können oder die brauchbare Vorstellung festzuhalten; dieses Feste ist das Wort. Wie in unserer Erkenntnis der realen Wirklichkeitswelt die sogenannten festen Körper die Mittelpunkte der (von uns allein wahrgenommenen) Eigenschaften sind, so sind in unserem geistigen Leben die Worte die relativ festen Mittelpunkte von Assoziationen und Vorurteilen, die Menschen vor uns gebildet haben. Die Worte sind die Hilfen oder die Ruhepunkte bei dem schwierigen psychologischen Geschäfte des Begreifens." (Wörterbuch I, 99.)
Daraus folgt weiter, dass Denken und Sprechen dasselbe ist, wenn wir nämlich das vieldeutige Wort "denken", das im weitesten Sinne jede psychische Tätigkeit überhaupt bezeichnet, auf das begriffliche, abstrakte Denken einschränken. Und das müssen wir, wenn nicht die ganze Frage in einen zwecklosen, völlig unfruchtbaren Wortstreit ausarten soll. Wer Lust hat, möge immerhin auch die Orientierung des Säuglings und des Tieres in der umgebenden Wirklichkeitswelt, ja selbst schon die verstandesmässige Bearbeitung der Sinneseindrücke, die unbewusste Beziehung der Sinnesempfindung auf einen äusseren Gegenstand ein Denken nennen und dann mit Recht von sprachlosem Denken reden. Das kann uns hier nicht stören.

Es stört uns auch nicht, dass der Sprachgebrauch nach wie vor zwischen Denken und Sprechen unterscheidet, dass Denken und Sprechen durch feinste, fast unfassbare Nuancen getrennt bleiben. Für uns kommt es nur darauf an, dass begriffliches Denken eben ein Denken in Begriffen, d. h.  in Worten  ist, also ein Sprechen, ein inneres Sprechen. Man hat beobachtet, dass bei distinktern Denken oder innerem Sprechen die Sprachorgane merkbar bewegt werden, dass diese Bewegung, namentlich bei gewissen Lauten, besonders bei dem Konsonanten R, äusserlich am Kehlkopf fühlbar wird. Sprechen und Denken sind ein und dieselbe Bewegung oder Handlung, das eine Mal von aussen, das andere Mal von innen gesehen.

Achten wir mehr auf die Bewegung der Sprachorgane und des Gehirns, so sagen wir "Sprechen". Achten wir mehr auf das Ziel der Bewegung, das Auffinden und Treffen des bestimmten Gedankens, der bestimmten. Assoziation, der wir zustreben, so sagen wir "Denken". MAUTHNER hat das an einem vortrefflich gewählten Beispiel deutlicher zu machen gesucht. Die Sätze "der Hund läuft" und "der Hund jagt" scheinen auf den ersten Blick recht Verschiedenes auszudrücken. Und doch sind die wirklichen Bewegungen des Hundes beim Laufen wie beim jagen ganz genau dieselben. Wir achten nur das eine Mal mehr auf den Weg, den er zurückgelegt, das andere Mal mehr auf das Ziel, dem er zustrebt.

Im "Wörterbuch" hat MAUTHNER dieses Beispiel folgendermassen erläutert:
"Beide Verben bezeichnen bestimmte Bewegungen,  denken  und  sprechen;  dass Sprache nur eine Bewegung der Sprachorgane sei, dass auch das Auffassen oder Verstehen der gehörten Worte eng an Bewegungserinnerungen gebunden sei, das setze ich als bekannt voraus. Man kann die Bewegung der Sprachorgane bei lautlosem, aber distinktem Denken mit den tastenden Fingern am Kehlkopf fühlen. Wollte ich daraus allein den Schluss ziehen, dass das Denken Sprache sei, also Bewegung, so wäre das ein Zirkelschluss. Ist aber das Denken überhaupt, wie wir doch alle glauben, ein Vorgang im Gehirn, so kann dieser Vorgang gar nicht anders gedeutet werden als durch Bewegungen. Durch noch völlig unaufgeklärte Bewegungen der noch sehr wenig bekannten mikroskopischen Zellen des Organs. Denken und Sprechen sind Bewegungen; ich habe nur zu zeigen, dass sie die gleichen Bewegungen sind,von zwei verschiedenen Standpunkten gesehen.

Ich hätte anstatt Bewegungen auch sagen können: Handlungen. Bewegung ist nur ein wissenschaftlicherer Begriff. Bei einer Handlung wird gern ein Subjekt mitgedacht, ein handelnder Mensch. Ich aber wüsste nicht zu sagen, wer das Subjekt der Denkhandlung sei. Die Sprache weigert sich fast, LICHTENBERGs  es denkt  (wie  es blitzt)  auszusprechen. Wer gar sagen wollte  es spricht,  der würde vom gesunden Menschenverstande oder von der Gemeinsprache ausgelacht werden. Sonst aber hätte uns die Bezeichnung  Handlungen  einen kleinen Schritt weiter geführt. Erwähnen will ich nur noch, dass das Sprechen ganz selbstverständlich unter den Begriff der menschlichen Handlungen fällt; und dass KANT (Kr. d. r. V., Seiten 94 und 304) ganz beiläufig und wie etwas Selbstverständliches das Denken eine Handlung nennt, eine Handlung des Verstandes übrigens, so dass für KANT der Verstand (an dieser Stelle) zum Subjekte des Denkens wird. Das Denken ist die Handlung, gegebene Anschauung auf einen Gegenstand zu beziehen.

Die beiden Verben denken und sprechen bedeuten also nicht nur Bewegungen überhaupt, sondern insbesondere zweckdienliche willkürliche Menschenhandlungen; ich brauche also nicht erst meine Lehre vorauszusetzen, dass es ausser der adjektivischen Welt eine ganz andere unwirkliche verbale Welt gibt, dass nur die Differenzialteile einer Handlung oder Bewegung wirklich sind, dass erst ein vorgestellter Zweck jedesmal die Differenzialbewegungen zu einer verbalen Vorstellung verbindet. Man mag an: graben, stricken, schreiben, gehen, denken oder sprechen dabei erinnert werden. Wirklich, in der Kette von Ursache und Wirkung wirksam, sind da immer nur die Minimalbewegungen unserer Muskeln.

Uebrigens wird aus einer solchen Auffassung der Verbalbegriffe auch klar, weshalb diese Begriffe sich noch weniger genau definieren lassen als substantivische Begriffe; die Substantive lassen sich definieren aus den adjektivischen Sinneseindrücken, die zwar selbst undefinierbar, aber dafür unmittelbar gegeben sind; die Minimalbewegungen der Verbalvorstellungen sind nicht unmittelbar gegeben, sind nur erschlossen, haben darum manche Aehnlichkeit mit den Atomen, aus denen man die Körper aufgebaut hat. Wenn wir sprechen, so können wir wenigstens die makroskopischen Bewegungen dabei wahrnehmen; beim Denken ist überhaupt nichts mehr äusserlich wahrnehmbar, und die mikroskopischen Bewegungen, die das Denken ausmachen, sind gar nur eine Hypothese der Gehirnphysiologen. Die Gemeinsprache weiss nichts von alledem; die Wissenschaft hat aber, trotzdem oder weil sie das alles weiss, das Denken ebensowenig definieren können, wie die Gemeinsprache es vermochte.

Wie weit oder wie eng man den Begriff aber fassen mag, unter allen Umständen bezeichnet er eine Handlung, also eine Zweckvorstellung, eine Summe von Aenderungen, an der nicht die Summe wirklich ist, sondern nur die Aenderungen. Von diesen Bewegungsänderungen ist aber nicht die kleinste, nicht ein Atom, anders beim Denken als beim Sprechen. Nur die veränderte Richtung der Aufmerksamkeit dessen ist verschieden, der das eine Mal mehr auf das  Ziel  achtet, das andere Mal mehr auf den  Weg.  Und jetzt wird auch das Beispiel vom jagen und Laufen des Hundes deutlicher werden. Auch  laufen  und  jagen  sind Verbalvorstellungen, an denen nur Minimalbewegungen wirklich sind. Vereinigt werden die Minimalbewegungen zu den Verbalvorstellungen durch eine Einheit des Zweckes; es würde zu weit führen, wollte ich hier darlegen, dass der Zweckbegriff, der bei  jagen  so deutlich ist, auch bei  laufen  das Verbum bilden hilft.

Nicht die kleinste der Bewegungsänderungen des Hundes, der einen Hasen verfolgt, wird dadurch anders, dass ich das eine Mal sage der Hund läuft, dass ich das andere Mal sage  der Hund jagt.  Ich achte einmal auf die Ortsveränderung, das andere Mal auf das bewegte Ziel. Genau so ist nicht ein Atom der Wirklichkeitswelt dadurch anders geworden, dass ich bald ich  spreche,  bald  ich denke  sage. Die Absicht, den Hasen zu kriegen, die Absicht, unter den unzähligen Assoziationen die richtige zu treffen, kann beim jagen und beim Denken stärker oder schwächer sein; die Anstrengung beim Laufen oder bei der Wahl der Worte darum grösser oder geringer; aber dieser Unterschied liegt noch innerhalb der beiden Begriffe, ist kein Unterschied zwischen Denken und Sprechen, zwischen jagen und Laufen. Es ist die gleiche Wirklichkeit, einmal von aussen einmal von innen gesehen; wie man die gleiche Kreislinie, je nach dem Standpunkt, konkav oder konvex sehen kann." (Wörterbuch I, 178 ff.)
Diese Erkenntnis nun, dass Denken und Sprechen oder, substantivisch ausgedrückt, Vernunft und Sprache, zusammenfallen, die zentrale Erkenntnis der MAUTHNERschen Skepsis, ist von ungeheurer, von umwälzender Tragweite, sie revolutioniert die Philosophie, die für uns ja nichts anderes mehr als Erkenntniskritik ist. Durch sie wird mit einern Male der verhängnisvollen Unklarheit ein Ende gemacht, die in "der" Sprache nur das "Kleid", das mehr oder minder kostbare, besser oder schlechter sitzende Kleid eines übermenschlichen, übersprachlichen, absoluten Denkens sah.

Dieses vergottete Denken mochte dann durch sein irdisches, materielles Kleid oder Werkzeug, die Sprache, wohl irgendwie behindert sein, von Haus aus war es berufen und befähigt zur Welterkenntnis. Und dieses übermenschliche Denken war auch überall wesentlich dasselbe, mochte es seine Weltgedanken in noch so verschiedenen, der Lautgestalt und dem Bau nach noch so weit auseinanderliegenden Sprachen ausdrücken. Es gab über den Einzelsprachen so etwas wie eine Uebersprache eine philosophische Grammatik.

Die Menschen mussten, wenn sie leben und sich erhalten wollten, sich in der unendlichen, unübersehbaren, verwirrenden Mannigfaltigkeit der wirklichen Dinge einigermassen zurechtfinden. Deshalb erfanden sie sich die ordnende, Klassen, Arten, Gattungen schaffende Sprache. Sie bemerkten ungefähre Aehnlichkeiten zwischen den Dingen und banden sie an Wortzeichen. In dem chaotisch durcheinanderflimmernden Wirrwarr der Erinnerungsbilder und Assoziationen waren diese Wortzeichen Knoten, Stationen, Ruhepunkte. Aber sie können ihrer ganzen Entstehungsweise nach eben nur Erinnerungshilfen, niemals Erkenntniswerkzeuge sein. Sie fassen nur armselige, willkürlich herausgehobene Bruchstücke der unübersehbaren Wirklichkeit. Nach subjektiven Interessen herausgehobene Bruchstücke.

Die Worte geben niemals klare, festumgrenzte Anschauung, sondern nur schwebende, unbestimmte, verschwimmende Erinnerung an zahllose Sinneseindrücke. Sie haben niemals feste Konturen. Das macht sie zwar zu wundervollen Werkzeugen der Dichtung, der Wortkunst, da sie zum Ausdruck schwebender Stimmungen und dunkler Gefühle ihrem ganzen Wesen nach wie geschaffen sind, das macht sie aber zu unbrauchbaren Werkzeugen der Erkenntnis, weil sie das Wirkliche ewig nur umkreisen, ohne es fassen zu können: der natürliche Begriff wird niemals zum logischen Idealbegriff.

Wäre es uns möglich, mit den Worten der Sprache einen natürlichen Weltkatalog zu schaffen, ein Fächerwerk, in das die Wirklichkeit hineinpasst, dann hätten wir auch eine Welterklärung. Denn um die natürliche Zusammengehörigkeit der Dinge zu finden, müssten wir in ihr Wesen eindringen, was uns ewig versagt bleibt. Der Weltkatalog, den die Sprache schaffen kann, bleibt ewig ein vorläufiger, der durch jede neue Beobachtung wieder umgestossen wird. Wir sind geneigt, die Einteilung des Wirklichen in leblose und lebendige Wesen, in Mineral-, Pflanzen- und Tierreich für natürliche, im Wesen der Dinge begründete Einteilungen zu halten und kommen dann in arge Verlegenheit, wenn sich Uebergangsformen zeigen, die wir weder da noch dort unterbringen können. Wenn der Kristall vorübergehend lebendig wird, wenn Wesen entdeckt werden, die weder Pflanzen noch Tiere zu sein scheinen. Der Begriff der Ordnung ist eben ein eminent menschlicher Begriff, von dem wir gar nicht wissen können, ob ihm etwas und was ihm in der Natur entsprechen mag. Ich lasse über diese erkenntniskritisch grundlegende Frage MAUTHNER selbst reden:
"Die wichtigste Frage der Erkenntnistheorie, immer die gleiche, erhält nun die Form: Gibt es in der Natur die Ordnung, den  ordo;  den eine instinktive Neigung des Verstandes in die Natur hineindisponiert, hineinverlegt?

An der Existenz einer Ordnung in der verbalen Welt ist nicht zu zweifeln. Wir können gar nicht anders als ordnend erkennen, wenn wir überhaupt erkennen wollen.

Und es trifft sich gut für diese Betrachtungsweise, dass der Zweck, den wir (Kr. d. Spr. III, Seite 59) als die Ursache der ältesten Verbalbildung begriffen haben, dem Ordnungsbegriffe ganz besonders zugrunde liegt; die Sprache hat die Wirklichkeitswelt geordnet oder klassifiziert, um von den Dingen sprechen zu können; wir haben gelernt, dass sogar die Möglichkeit der Wahrnehmung von Tönen, Farben, Wärmegraden usw. darauf beruht, dass der menschliche Organismus und vorher der tierische, die Weltvibrationen durch die spezifischen Sinnesenergien zweckvoll ordnen lernte; die natürliche Ordnung der Dinge, vornehmlich der Organismen, mit der die künstliche Ordnung so gern zusammenfallen möchte, ist ohne ein teleologisches Ordnungsprinzip nicht zu fassen, so energisch auch der Darwinismus die Teleologie zu bekämpfen sucht. Ein tieferes Eindringen in den alten Zweckbegriff allein könnte die verbale Welt aufklären und ohne Rückschritt über den Darwinismus hinausgelangen.

Dass es in der adjektivischen Welt, in unsern unmittelbaren Wahrnehmungen, keine Ordnung gebe, das wird jedermann zugeben; was die Sprache in adjektivischer Form unter einem ordentlichen Essen, Menschen, Professor usf. versteht, das hat nur noch entfernten, sehr metaphorischen Zusammenhang mit der geistigen Tätigkeit des Ordnens.

Aber in der substantivischen Welt, in der Welt der Metaphysik oder Mystik, da wollen auch denkende Menschen den Ordnungsbegriff nicht preisgeben. Es gibt ja eine Ordnung der Dinge in Raum und Zeit, nach welcher Ordnung ein Ding nicht anders (zur selben Zeit) und nicht anderswo (im Raum) sein kann, als es ist. Die denkenden Menschen wollen nicht zugeben, dass das System von Sätzen (in der logischen Deduktion) und das System von Begriffen (in der naturwissenschaftlichen Klassifikation) nur zweckmässig sei, heuristisch zweckmässig meinetwegen, dass aber beim Entstehen der Dinge weder irgendeine Ordnung noch irgendein System mitgewirkt haben könne: weil nur der Zweck ordnet, der Menschenzweck, Zweck aber der Natur fremd ist, welche nur Ursachen  kennt,  d. h. nicht kennt, aber - die Sprache versagt - durch Wirkungen ahnen lässt. Neuerdings hat STUMPF es glänzend dargelegt: Gesetze allein können in der Natur nichts hervorbringen.

Ich habe schon einmal (SPINOZA Seite 48) auf die bewundernswerten Worte hingewiesen, mit denen SPINOZA die Begriffspaare gut und schlecht, warm und kalt, schön und hässlich, Ordnung und Unordnung für menschliche Begriffsbildungen erklärt. Nachdem die Menschen sich eingeredet hatten, die Welt und der Weltlauf sei ihretwegen da, mussten sie an jedem Dinge dasjenige für das Wichtigste und Wertvollste halten, was ihnen am nützlichsten oder angenehmsten war. Das Fragen nach Zweckursachen müsse schliesslich immer zurückflüchten zu einem Willen Gottes, diesem Asyl der Unwissenheit. Damit hat SPINOZA meines Erachtens den Ordnungsbegriff für immer aus der Erfahrungs-Welt hinausgeworfen, in die substantivische Welt hinein; die reale und die substantivische Welt sind nämlich Gegensätze, was man sich merken sollte." (Wörterbuch II, 220 ff.)
Die Worte sind nur Erinnerungshilfen, und deshalb kann es niemals einen Erkenntnisfortschritt in Worten geben. Wenn wir reden, wenn wir Worte gebrauchen, so drehen wir uns ewig tautologisch im Kreise. Sagen immer nur, was wir schon wissen, was uns entweder von den Vorfahren überliefert worden ist, oder was wir selbst beobachtet haben, niemals aber gelangen wir mit Worten zu neuen Erkenntnissen. Sie geben immer nur her, was in sie hineingesteckt worden ist, sie sind nur für den verständlich, der die Sachen, die sie bezeichnen, schon kennt. Es gibt eigentlich nur Nominaldefinitionen, nur Worterklärungen. Keine Realdefinitionen oder Sacherklärungen. Man müsste denn die neuen Beobachtungen so heissen, die alten Worten einen veränderten, bereicherten Inhalt geben. Wer etwas neu erkennen, Fortschritte in der Erkenntnis der Wirklichkeit machen will, der muss sich in die sprachlose Anschauung der vorsprachlichen Einzeldinge versenken. Sprachlos geht ihm das Neue auf.
LITERATUR - Max Krieg, Fritz Mauthners Kritik der Sprache, Eine Revolution der Philosophie, München 1914