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MAX KRIEG
Fritz Mauthner -
Sprache und Wirklichkeit


Mauthners Kritik der Sprache
Skepsis und Mystik
"Die ewig personifizierende Menschensprache freilich ist gar sehr geneigt, aus Notwendigkeit und Zufall wieder Götter zu machen, ein allwissendes Fatum, das alles vorhersieht und vorherbestimmt."

Eine doppelte Wirklichkeit glauben wir zu kennen, eine innere und eine äussere, die Seelen und die Körper, Natur und Geist. Bei genauerem Hinsehen muss uns klar werden, dass wir von den Dingen der Aussenwelt eigentlich nur ihre unseren Sinnen zugänglichen Eigenschaften kennen, was wir sehen, hören, riechen, schmecken und tasten. Nur Sinneseindrücke, unmittelbar gegenwärtige und erinnerte, gibt es für uns. Wir wissen von einem Apfel, der vor uns auf dem Tische liegt, nichts, als dass er rund und rot ist, süss oder sauer schmeckt, so oder so duftet, und dass er mehr oder weniger schwer unsere Hand drückt, wenn wir ihn halten. Wenn wir nun diese Gruppe von Sinneseindrücken, die uns in der seelischen Wirklichkeit allein gegeben ist, mit einem zusammenfassenden Wort bezeichnen, wenn wir "Apfel" sagen und in dem Apfel einen Körper, ein Ding, eine Substanz sehen, so sind wir schon von der Wirklichkeit abgewichen, so stehen wir schon mitten in der Mythologie. Die Sprache, unsere Sprache, hat uns gezwungen, den Eigenschaften eine Unterlage (Subjekt, Substanz) zu geben, einen Träger. Zu der allein wirklichen  adjektivischen Welt  eine unwirkliche  substantivische Welt  zu gesellen.

Der alte Nominalismus, der der ausgehenden Scholastik, erkannte, dass die Gattungsbegriffe unwirklich seien. Das Individuum galt ihr als real. Die Sprachkritik geht weiter, ihr gilt auch das Individuum, das greifbare Einzelding als unwirklich. Weil unser vom Interesse gelenktes Gedächtnis, um im Wirrwarr der Eindrücke nicht unterzugehen, Gruppen gleichzeitiger oder ähnlicher Eindrücke mit Worten zusammenfasst, glauben wir Dinge, Einzeldinge, Individuen zu erkennen. Der Begriff der Individualität, der Einheit ist ein menschlicher Begriff, ist sprachlich. Sein Urbild die vorausgesetzte Einheit unseres Bewusstseins, das menschliche Ichgefühl. Weil unser Gedächtnis Eindruck an Eindruck, Erinnerung an Erinnerung reiht und es uns so ermöglicht, die Reihe zu überblicken, halten wir uns für ein Individuum, für ein Ich, das von allem Nicht-Ich streng geschieden sei. Nach dem Bilde des menschlichen Ichs sind alle anderen Individuen oder Dinge geschaffen.

Und weiter- die Dinge da draussen wirken auf uns, sie bewirken unsere Eindrücke, sie sind nicht bloss Sachen, sondern auch Ur-sachen. Und hier stossen wir auf das zweite, grosse Mythologem der Sprache. Wir erfahren, erleben fortwährend Veränderungen, die in der Zeit aufeinander folgen. Weiter nichts. Unser Denken aber oder unsere Sprache zwingt uns nicht nur, die Veränderungen an Dinge zu heften, die sich verändern, an ein Bleibendes, Unveränderliches, das ja die Veränderung erst erkennbar macht, sondern es zwingt uns auch, die aufeinanderfolgenden Veränderungen in Zusammenhang zu bringen, den Anfangszustand Ursache, den Endzustand  Wirkung  zu nennen und uns vorzustellen, dass die Ursache die Wirkung irgendwie erzeugt oder hervorbringt. Wie, das wissen wir freilich nicht. Und auch hier wieder gestalten wir die Aussenwelt nach dem Bilde des eigenen Seelenlebens, wir vermenschlichen sie. Wir handeln, wir wirken auf die Aussenwelt ein, wir bearbeiten sie, gestalten sie um nach unseren Zwecken. Das Begleitgefühl unseres Handelns nennen wir unseren Willen.

Eine Art von Willen schreiben wir dann unbewusst auch den Dingen zu, sofern sie Ursachen sind, sofern sie etwas bewirken. Dieser seelische Vorgang spiegelt sich im Tätigkeitswort, im  Verbum.  Wenn wir handeln, etwa eine Grube graben, so sind wirklich nur die minimalen Bewegungen unseres Körpers, unserer Muskeln, aber das Einheitsbedürfnis der Sprache fasst diese Handlungsdifferentiale unter dem Gesichtspunkt des Zweckes, dem sie dienen, zu einem Tätigkeitsbegriff zusammen, zu dem Verbum "graben". Nach Analogie der Verba für menschliche Handlungen werden dann diejenigen gebildet, die Naturvorgänge und selbst Zustände bezeichnen.

So schleicht sich der Zweckbegriff, der von der menschlichen Absicht herstammt, in die Natur ein. Der Kausalität haftet, und nicht nur auf dem Gebiet des organischen Geschehens, von Haus aus etwas Teleologisches an. Wie denn MAUTHNER darauf aufmerksam gemacht hat, dass der Begriff der Richtung, der gerichteten Kraft als der Oberbegriff angesehen werden könnte, der Ursache und Zweck, Kausalität und Teleologie verbindet. So entsteht eine zweite unwirkliche Welt, die  verbale Welt  nach dem Urbild der menschlichen Zwecke.

Die Erkenntnis von dem durchweg bildlichen Charakter der Sprache, von der Unmöglichkeit, mit Worten an die Wirklichkeit heranzukommen, lässt uns von vornherein erwarten, dass auch der höchste und unentbehrlichste Begriff menschlicher Weltauffassung und -erklärung einer schärferen Prüfung nicht standhalten wird, dass er anthropomorphisch, metaphorisch sein wird, wie alle anderen Erfahrungsbegriffe. Schon das Wort  Ursache  verrät den Zusammenhang mit dem von uns als unwirklich erkannten Substanzbegriff.
    "Der Widerspruch im Veränderungsbegriff scheint durch das Ichgefühl gelöst. Ich erlebe nur Veränderungen, aber ich bin, mein Ich ist, ist das Subjekt dieser Veränderungen, ist das Bleibende, das sich ändert. Und so mag die täuschende Vorstellung des Ich das Vorbild geworden sein, nach dem das menschliche Denken oder Sprechen die Substantive aller Sprache gebildet hat, die Subjektträger der Veränderungen, die Unwirklichkeiten, an die die Sprache die adjektivischen Wirklichkeiten hängt. Unser Denken kann an das Weltgeschehen nicht heran, weil das Weltgeschehen aus Veränderungen besteht, und die menschliche Sprache Subjekte dieser Veränderungen verlangt: Worte, Götter." (Wörterbuch II, 519.)

    "Was wir unser Leben nennen, das ist - wie gesagt - Wahrnehmung von Veränderungen. Wir wissen nichts ausser den Veränderungen, wir wissen nichts von den Subjekten oder Objekten der Veränderung. Nun muss aber auch das gesagt werden: dass unser Leben oder gar unser Denken ohne die Hypothese von Veränderungs-  trägern  keinen Sinn hätte. Versuchen wir es, uns das Spiel der Atome in einem Körper oder das Spiel der Veränderungen im Wettlauf vorzustellen, ohne Subjekte des Erlebens und ohne Einheiten des Geschehens, so ist dieser Versuch eine Selbsttäuschung. Wie eine Schneeflocke im Schneegestöber, ohne bewusste Ursache oder Wirkung hin und her getrieben, wäre der Mensch. Er hätte kein Weltbild, er hätte keine Welt. Er hätte auch keine Sprache für seine Welt." (Wörterbuch II, 524.)
Der Zweck, oder allgemeiner gesprochen, die Richtung auf ein - sei es auch nur örtliches - Ziel bindet die unzähligen minimalen Wirklichkeitsvorgänge zu Einheiten zusammen, die das Zeitwort ausdrückt. Was das aber ist, was im Naturvorgang, im organischen wie im unorganischen, dem Zweck in der menschlichen Handlung entspricht, das Richtunggebende, anscheinend Teleologische, das wissen wir nicht. Wir nennen es organische Form und Naturgesetz, ohne es damit zu erklären. Wir können die Richtung des fallenden Steins ebensowenig begreifen wie die Zweckmässigkeit oder "Zielstrebigkeit" einer Pflanzen- oder Tierform.
    "Was wir allein wahrnehmen, das sind die  adjektivischen  Veränderungen. Das  Sein,  das sich ändert, die  Substantive,  sind und bleiben uns ewig unbekannt. Aber  verändern  ist ein Verbum, und wir wüssten alles, wenn wir dahinter kämen, was uns zwingt, eine Reihe von Veränderungen zu der Einheit eines Verbums zu verbinden. Die echtesten und gewiss ältesten Verben, die Verben des Handelns, werden erst durch die Vorstellung eines menschlichen Zweckes gebildet;  graben, stricken, weben, ackern  usw. sind zwecksetzende Zusammenfassungen mikroskopischer Aenderungen; jeder Moment gibt im Kinematographen ein Zustandsbild, erst das Gehirn des handelnden Menschen oder des Zuschauers macht einen Vorgang daraus.

    Nach diesen  Verben  des Handelns sind die Verben gebildet, die Vorgänge in der Natur ausdrücken wie:  regnen, wachsen, welken, fallen, fliessen  usw. usw. Auch bei ihnen besteht der Vorgang aus unzähligen Veränderungen, von denen keine einzelne den Vorgangscharakter zeigt, die zusammen erst, durch ein einigendes Band gebunden, zu Verben werden. Was ist das, was beim Verbum des Handelns deutlich ein menschlicher Zweck ist? Was wir bei den Vorgängen der organischen Natur noch mit Zwecken vergleichen und teleologisch nennen? Und was bei den Vorgängen in der unorganischen Natur unter dem Namen  Gesetz  (oder ähnlich) die gewiesene, gerichtete Form erhält, ohne die die Gesamtvorstellung eines Verbums nicht möglich ist? Wer das wüsste! Es ist aber nicht wissbar, weil Menschensprache nicht an die innere Natur herankann. Weil wir mit den Worten der Sprache an die Wirklichkeitswelt nicht heran können, am wenigsten heran können von allen drei Seiten zugleich.

    Ich meine das so: die Veränderungen, die allein uns die Wirklichkeitswelt vermitteln, gehen in unsere Wahrnehmung durch das Tor der Sinne, immer an einen Ort gebunden, immer äusserlich lokalisiert wie innerlich; es sind die wahrnehmbaren Veränderungen der adjektivisehen Welt, die unsere Sprache mit Adjektiven benennt: grün, hart, süss, laut usw. Wollen wir dieses Bild der Welt nacheinander verfolgen, die Vetänderungen mit dem Faden der Zeit fortspinnen, so verlassen uns unsere Sinne, ihr Tor schliesst sich, und nur noch unser Gedächtnis hilft uns vor- und rückwärts, indem es die Einzelerinnerungen als Zwecke oder gar als Gesetze aneinanderreiht; das sind die unsichtbaren, aber gewollten oder gefürchteten Veränderungen der  verbalen Welt,  die wir mit Verben, d. i. ganz richtig mit Zeitwörtern benennen.

    Wollen wir endlich die schöne Welt des sinnlichen Scheins zugleich mit der gewollten oder gefürchteten Welt der verbalen Menschenzwecke und Naturgesetze zugleich auffassen, Raum und Zeit miteinander verweben und das Gewebe bewundern, so hilft uns die logisch erschlossene Hypothese der Dingwelt; so lassen wir Raum und Zeit sich zur Kausalität verflechten, die Dinge werden zu substantivischen Ursachen der Sinneseindrücke, werden zu Subjekten und Objekten der verbalen Vorgänge, und wir haben eine substantivische Welt, die wir mit Substantiven benennen, welche wir gröblich die Hauptworte nennen. (Wörterbuch II, 525f.)
Wir kennen den Begriff der Kausalität auch unter der Form der Naturgesetzlichkeit, und auch in dieser Gestalt müssen wir ihn als bildlich erkennen, als Menschenwerk. Das Wort Naturgesetz verrät ja seinen metaphorischen Charakter sogar sehr deutlich, wenn wir einen Augenblick unsere Aufmerksamkeit schärfen. Es wird uns dann sofort klar, dass die Gesetzesmetapher aus einer sehr menschlichen Sphäre, der der Sitte und des Brauchs, des Rechts stammt. Gesetze setzen einen Gesetzgeber voraus. Wenn man also nicht mehr an einen persönlichen Gott glaubt, der die Natur geschaffen und ihr Gesetze vorgeschrieben hat, so muss man die Natur personifizieren und sie sich selbst Gesetze geben lassen. Die Natur wird autonom, das Naturgesetz ist ihr nicht mehr äusserlich, sondern innerlich, wird aber in jedem Fall als etwas Wirkliches, Wirkendes, Zwingendes vorgestellt, nach dem der einzelne Naturvorgang sich richtet, dem er gehorcht.

Und doch muss uns die einfachste Besinnung lehren, dass die sogenannten Naturgesetze nicht als etwas Wirkliches den Erscheinungen vorausgehen, sie gleichsam kommandieren, sondern dass sie den Erscheinungen erst nachfolgen als menschliche Abstraktionen, als Zusammenfassungen von regelmässig auftretenden Aehnlichkeiten, von Regelmässigkeiten, die in den Naturvorgängen beobachtet worden sind. Gesetz und Ordnung, die so gern zusammen genannt werden, sind Menschenbegriffe, in der Natur gibt es weder Ordnung noch Gesetzlichkeit, sondern nur Notwendigkeit. Eine Notwendigkeit, von der wir, eben weil sie wirklich ist, nicht wissen, was sie ist.

Wir müssen uns hier vor einer verhängnisvollen Verwechslung dieser unmenschlichen Notwendigkeit, die wirklich, also eigentlich namenlos und völlig unerkennbar ist, mit dem menschlichen Begriff der Notwendigkeit hüten. Der Menschenbegriff der Notwendigkeit ist ein Wort wie alle Worte, ist nicht wirklich. Er ist ein relativer, ein negativer Begriff wie sein Gegenbegriff, der Zufall. Notwendig ist, was nicht anders sein kann. Die menschliche Vorstellung der Notwendigkeit negiert einfach den Glauben, dass es Wirkungen ohne zureichende Ursache gebe, negiert den Zufall. Während der Zufall wieder die Notwendigkeit negiert, d.h. eine für uns erkennbare Notwendigkeit. Zufällig erscheint uns, wofür wir keine Ursache wissen. Die ewig personifizierende Menschensprache freilich ist gar sehr geneigt, aus Notwendigkeit und Zufall wieder Götter zu machen, ein allwissendes Fatum, das alles vorhersieht und vorherbestimmt. Notwendigkeit im Sinne der MAUTHNERschen Skepsis ist zufällige, d. h. gesetzlose oder unerkennbare Notwendigkeit. Alles Geschehen ist notwendig, also zufällig. Das Werden in der Natur und erst recht das, was wir mit einem lächerlich anspruchsvollen Wort die Weltgeschichte nennen.

Auch unsere Sinnenwelt, die adjektivische Welt unserer Eindrücke die der Wirklichkeit am nächsten steht, ist schon Täuschung, normale Täuschung, denn nicht nur die Worte, auch schon die Eindrücke sind blosse Zeichen, sind ihrem innersten Wesen nach symbolischer oder sprachlicher Art. Die Kette schliesst sich, es gibt kein Entrinnen. Man könnte ja sagen, die Naturwissenschaft habe doch das Ding-an-sich erkannt in den Wellenbewegungen der Luft und des Aethers, die erst durch unsere spezifischen Sinnesenergien in Erscheinungen verwandelt werden, in Farben und Töne.

Aber es gehört wahrlich nur wenig Scharfsinn dazu, um diese Wellenbewegungen selbst als Erscheinungen zu erkennen, soweit sie nämlich, wie die Vibrationen der Stimmgabel, sichtbar gemacht werden können. Uebrigens sind diese tonerzeugenden Vibrationen schon Metaphern, Bilder, hergenommen von den Wasserwellen. Unsere Sinne, die ,einzigen Boten, die uns Nachricht geben von der Wirklichkeit, treffen, auch wenn wir sie mit dem schärfsten "Mikroskop oder Teleskop bewaffnen,- auf Erscheinungen und immer nur auf Erscheinungen. ja, es ist eigentlich unphilosophisch, von etwas zu reden, was den Erscheinungen entspricht. Die Sprache allein ist es, die die Welt zweimal setzt, sie zerspaltet in Erscheinungen und ein Etwas, das erscheint.

Wir können mit unseren Sinnen und unserer Sprache nicht an die Aussenwelt heran, aber dafür ist uns doch wohl die Innenwelt, die Welt der Seele um so besser bekannt? Gibt es auch kein Wissen von einer Aussenwelt, so gibt es doch Psychologie? Gewiss ist alles menschliche Wissen in dem Sinne rein psychologisch, dass es restlos aus Eindrücken und Erinnerungen besteht, also durch und durch metaphorisch und anthropomorph sein muss. Darin besteht ja gerade der Kern der Sprachkritik.

Aber Psychologie im Sinne einer Erkenntnis der Seele, der seelischen Vorgänge gibt es nicht. Wir haben nur Sinne für die Aussenwelt, unser Erkenntnisapparat ist einseitig nach aussen gerichtet, unser Denken oder unsere Sprache muss deshalb wesentlich materialistisch, sensualistisch sein. Hinter dem Sieb der Sinne ist alles sinnisch. Für eine Seele, für innere Vorgänge haben wir kein Organ. Nur in dunklen, unmitteilbaren Gefühlen erfassen wir unsere inneren Zustände, in das Licht der Erkenntnis treten sie nicht.

Daher denn auch das alte Elend der Psychologie. Sie ist eine Wissenschaft ohne Gegenstand und ohne Terminologie. Die Seele ist ja nur ein substantivierender Ausdruck für den Zusammenhang unserer Erlebnisse; der durch das Gedächtnis hergestellt wird. Sie ist eine Gottheit oder ein Gespenst wie andere Götter und Gespenster. Und die Sprache der Psychologie strotzt förmlich von Mythologemen. Die sogenannten Seelenkräfte, wie  Vernunft, Verstand, Wille, Gefühl, Gedächtnis  und wie sie alle heissen, sind ja nur Metaphern, Bilder, Götter. wie alle Kräfte. Wie die Schwerkraft die Erscheinungen des Falles, so regieren die Seelenkräfte die Seelenvorgänge. In Wahrheit sind sie zusammenfassende Begriffe, Abstraktionen, die nichts erklären. Und mit diesen Abstraktionen quält sich die Psychologie fruchtlos, in allem Wesentlichen ergebnislos.

Aber auch wenn sie entschlossen die alten Seelenvermögen der Popularpsychologie beiseite schiebt, und sich auf die Untersuchung der Elemente des Seelenlebens, der Empfindungen beschränken will, ist die Psychologie übel daran. Denn diese Empfindungen sind, als Elemente gefasst, leider wiederum blosse Abstraktionen, sind in Wirklichkeit überaus kompliziert. In Wirklichkeit gibt es keine Empfindung ohne Wahrnehmung und Gefühl. Wir täuschen uns, wenn wir die seelischen Erlebnisse deshalb für einfach halten, weil wir sie vorläufig nicht weiter zerlegen, weil wir das unendlich feine Netzwerk ihrer Ursachen nicht ergründen können. Die physiologische Psychologie vollends ist in ihrem Materialismus nichts anderes als ein unbewusstes Bekenntnis zur Unmöglichkeit der Psychologie.
    "Auch die Psychologie der Seelenlehre muss die Sprache als Werkzeug benutzen. Da sie aber gleichzeitig als ihren Gegenstand diejenigen Begriffe zu prüfen hat, auf denen die Sprachschöpfung beruht, da die Psychologie wesentlich die Kunde vom menschlichen Innenleben, also vorzüglich vom Denken oder Sprechen ist, - so hängt sie in der Luft, wie die Erde seit KOPERNIKUS. Nur dass wir in der Psychologie heute noch keine Gesetze kennen, die die Antipoden (Empfindung und Wille) binden, und darum über das Gefühl der Verwunderung noch nicht hinausgekommen sind.

    Wir finden in der Sprache Gattungsbegrffe vor, wie Empfindung und darunter Gesicht, Gehör usw., wie Gedächtnis, wie Wollen und darunter Lust, Schmerz usw., und weil wir die Sprache beim Denken nicht los werden können, weil wir die alten Schachteln für ehrwürdiger halten als ihren Inhalt, darum sind wir geneigt, alle diese Seelenkräfte zu mythologischen Ursachen unserer Seelenzustände zu machen. Es ist, als ob wir das Flussbett, das der Fluss sich doch erst gegraben hat, die Ursache des Flusses nennen wollten.

    Die neueren Psychologen, wie WUNDT geben das zwar ungefähr zu; aber sie arbeiten unter Vorbehalt mit den mythologischen Begriffen so lange weiter, bis sie und die Leser den Vorbehalt vergessen haben. Sie wissen wohl, dass der Seelenbegriff nur ein X ist, die Unbekannte, von der sie innere Beobachtungen aussagen. Aber sie befreien sich nicht hinlänglich von der alten Sprache, um deren persönlichen Seelenbegriff fallen zu lassen und zu sagen:  es empfindet, es denkt, es will,  wie sie doch längst anstatt ZEUS donnert sagen gelernt haben -  es donnert. 

    Wie aber sich von der alten Sprache befreien, wenn diese, zugleich ungeeignet für wissenschaftliche Arbeit, doch zugleich das einzige Werkzeug der Wissenschaft ist? Und in der Psychologie Werkzeug und Objekt dazu? Muss ich's erst wieder durch das nächste Beispiel belegen? Auf Empfindungen und Wollungen wird unser Innenleben zurückgeführt. Die soll Psychologie zuletzt erklären. Womit? Mit Empfindungen und Wollungen. Was sind das für Dinge? Keine Dinge. Hypostasen [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp], Abstraktionen, von Verben gebildet. Diese Verben glauben wir zu verstehen: wir empfinden, wir wollen. Erst im folgenden wird ganz deutlich werden, was ich hier dennoch vorwegnehmen muss:  es gibt keine Verbaldinge in der Wirklichkeit. 

    Darum auch können die physiologischen Psychologen ihre kleinen Beobachtungen nicht gut sprachlich unterbringen, weil die Nerven alles direkter und besser wissen als die Nervenbesitzer, welche sich den Dingen indirekt auf dem bildlichen Wege der Sinnesorgane nur nähern. Auf die Nervensubstanz wirken Gravitation, Chemismus, Wärme, Licht, Elektrizität, und wie man das Leben sonst klassifiziert hat, direkt; die Nerven empfinden diese Dinge so oder so und haben trotz KANT und dem Ding-an-sich vielleicht recht, vielleicht auch nicht. Wir aber kennen die Natur allein unter diesen Worten, gewissermassen nur brieflich, und quälen uns ab, zu begreifen, wie diese Namen, diese Unbekannten, auf die Nerven wirken können. Den Nerven aber sind es vielleicht Blutsverwandte, die sie begrüssen und küssen, deren Namen sie aber nicht wissen, weil die Natur erst von den Menschen getauft worden ist.

    Es ist ganz natürlich und gerecht, wenn die Sprache verrückt wird, sobald man sie auf die Vorgänge anwenden will, die im Menschengehirn eben erst zur Sprache oder zum Denken führen. Ein Spiegel soll sich nicht selbst spiegeln wollen." (Kr. d. Spr. I, 319 ff.)
Durch die Psychologie geht die unselige Spaltung, die die Sprache in die ewig einheitliche Wirklichkeit hineinträgt, die Spaltung unserer Innenwelt in Erleben als verbalen Vorgang und in Erlebnis als substantivische Hypostase. Die Welt ist nur einmal da. Wir aber, um sprechen oder denken zu können, müssen sie scheiden und sondern in innere und äussere Welt, in Subjekt und Objekt, in Seele und Leib, in Erscheinung und Ding an sich, in wirkende und gewirkte Natur.

Subjekt und Objekt sind Worte, korrelative Begriffe der Menschensprache, und sie verlieren jeden Sinn, wenn das eine vom anderen losgelöst und etwa zur Ursache des anderen gemacht wird. Es gibt nur ein Objekt für ein Subjekt, und Objekt ist nur, was einem Subjekt gegenübersteht.
LITERATUR - Max Krieg, Fritz Mauthners Kritik der Sprache, Eine Revolution der Philosophie, München 1914