cr-3Gustav Landauer - Skepsis und Mystik 
 
MAX KRIEG
Fritz Mauthner -
Skepsis und Mystik


Mauthners Kritik der Sprache
Sprache und Wirklichkeit
"Die Neigung des Wortes zur Personifikation, zur Vermenschlichung des Wirklichen ist unüberwindlich. Worte sind Götter, sind Fetische."

Seit es eine Erkenntniskritik gibt, wird die Möglichkeit der Erkenntnis (mit menschlichen Mitteln) nicht mehr naiv vorausgesetzt, sondern ganz ernsthaft die Vorfrage gestellt: Ist Erkenntnis (mit menschlichen Mitteln) überhaupt möglich? Wirklich ganz ernsthaft? Dann müsste man doch ehrlich und aufrichtig auch mit der Eventualität rechnen, dass sich die  Unmöglichkeit  menschlicher Welterkenntnis herausstellen könnte. Das aber scheint die Mehrzahl unserer "Philosophen" eben nicht zu tun. Denn sonst dürfte doch nicht diejenige Anschauung, der die Unmöglichkeit menschlicher Welterkenntnis einleuchtet, von seiten der Zunft immer noch gewissermassen geächtet und verfemt sein.

Gewiss, es ist seit KANT nun einmal leider unumgänglich, wenn auch vielleicht unbequem und misslich, die erkenntniskritische Vorfrage zu stellen. Aber genau genommen, ist das eigentlich nur Formsache. Denn in der Tiefe ihres Gemüts ist die überwiegende Mehrzahl der "Philosophen" eben doch von vornherein überzeugt, dass es synthetische Urteile a priori, allgemeingültige Sätze oder Werte, absolute Wahrheiten oder wie man das nennen will, geben  müsse. 

Die Antwort auf die erkenntniskritische Vorfrage steht von vornherein fest. Denn wohin sollte es führen, wenn bei all dem mühsamen Philosophieren schliesslich gar nichts herauskäme, wenn unser gepriesenes Wissen sich wirklich und wahrhaftig als Nichtwissen entpuppte? Dann hätten ja der Relativismus und Skeptizismus recht. Das aber wäre gegen alle Ordnung und von Staat und Kirche nicht zu dulden.

Es ist das nicht hoch genug anzuschlagende Verdienst FRITZ MAUTHNERs, mit der unbestechlichen Wahrhaftigkeit und dem seltenen Mute der Ueberzeugung, der ihm eignet, das philosophische Recht des Zweifels verfochten, ja den Zweifel philosophisch geadelt zu haben. Dem "metaphysischen Bedürfnis" und allen Bedürfnissen überhaupt zum Trotz ehrlich und entschlossen zu zweifeln, zu resignieren, ist von jeher das Merkmal der freiesten Geister gewesen.

Auch im Lebenswerk KANTs sind die skeptischen Bestandteile die wertvollen und bleibenden. Der Zweifel adelt, weil er befreit. Nicht ein Ausdruck des Unvermögens ist er, ganz im Gegenteil die stärkste Geistestat, ein Ausdruck des Stolzes, des grossen, echten Stolzes, der es verschmäht, immer wieder zu versuchen, was über die Kraft ist, über Menschenkraft.

Mit der dogmatischen Skepsis freilich, wie sie sich besonders in der antiken Philosophie ausgeprägt hat, darf die Lehre MAUTHNERs nicht verwechselt werden. Der dogmatische Skeptiker hält sein Nichtwissen für beweisbar, es wird ihm zum Dogma, das er mit rabulistischen Argumentationen zu stützen sucht. Den Wahrheitsbegriff aber nimmt er ungeprüft hin, er ist ihm ein Ideal, dessen Berechtigung nicht bestritten wird, das nur für unerreichbar gilt. Der sprachkritischen Skepsis aber ist Wahrheit ein  Wort  wie andere Worte, ja eines der überflüssigsten und inhaltlosesten.
    "Wer so nicht nur die Wahrheit je zu finden verzweifelt, sondern sie gar als positiven Begriff ablehnt, der wird leicht der Schule der Skeptiker zugewiesen werden. Ich will gern ein  Skeptiker  heissen. Mir scheint aber dennoch ein ernsthafter Unterschied zu bestehen zwischen der skeptischen Schule (welche den Wahrheitsbegriff nicht analysiert, ihn herkömmlich als ein Ideal der Erkenntnis betrachtet, um dann eigentlich nur zu behaupten, der Mensch sei für dieses Ideal nicht reif) und der Sprachkritik, (welche mit dem Worte Wahrheit wie mit so vielen anderen Worten nichts anzufangen weiss)." (Wörterbuch II, 559)

    " Wahr  ist auch das Innenleben der Tiere, nur dass sie bekanntlich nicht sprechen, auch wohl die Frage nach der Wahrheit gar nicht stellen und aus diesen beiden Gründen gar nicht dazu kommen, den überflüssigsten Begriff der Menschensprache, welchen diese Sprache für ihren höchsten hält, besonders zu fassen, ihre Empfindung gewissermassen zu beniesen und zu dem, was ist, extra und noch einmal  ja  zu sagen. Es  donnert.  Auch das Tier weiss es. Der Mensch aber, der homo insipiens, nickt noch dazu. ja! Es hat gedonnert. Wahrlich. Amen." (Wörterbuch II, 557.)

    "Die Negativität des Wahrheitsbegriffs findet sich unzählige Male im besseren Sprachgebrauch ausgedrückt, wo  wahr  nicht eine phantastische Uebereinstimmung mit der Wirklichkeit, sondern einen bewussten Gegensatz bezeichnet zu:  falsch, scheinbar, eingebildet, erdichtet.  "Wahrheit" folgte dem Sprachgebrauch und bildete sich in einen Gegensatz um zu: Fabel, Märchen, Gerücht, Dichtung. Dichtung und Wahrheit." (Wörterbuch II. 558.)
MAUTHNER hat den nahen Zusammenhang, ja die Identität scheinbar so disparater Begriffe wie Wahrheit und Glaube glänzend aufgewiesen. Der Zweifler hat die Wahrheit nicht, wer aber glaubt, der glaubt eben an Wahrheit. Glauben heisst ja doch nichts anderes als für wahr halten. Wortgeschichtlich betrachtet, enthüllt es sich als ein verstärktes Loben ( gi-louben), also ein Gutheissen, Bejahen, ein Feststellen der logischen "Wahrheit". Wahrheit ist immer nur ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit. Was so wahrscheinlich ist, dass es uns einleuchtet, das halten wir für wahr.

Ein anderes als dieses rein subjektive Kriterium der Wahrheit gibt es nicht. Wahrheit ist sprachlich, weil sie nur im Urteil gefunden werden kann, andere als sprachliche Urteile aber nicht denkbar sind. Ein Satz ist wahr, wenn das Prädikat im Subjekt schon enthalten ist, Wahrheit ist Tautologie. Alle Wahrheit ist relativ, muss relativ sein, da all unsere Erkenntnis doch nur eine Relation ist zwischen dem Ich und seinem Gegenstand. Es gibt nicht Wahrheit an sich, absolute Wahrheit, sondern nur Wahrheit für mich, relative Wahrheit.

Der Kernpunkt der MAUTHNERschen Skepsis, der Punkt, wo sie die Erkenntniskritik der Engländer, vor allem HUMEs aufnimmt und zur Sprachkritik weiterbildet, besteht in dem entschlossenen Verzicht auf alle Metaphysik, in der folgerichtigen Zurückführung aller Philosophie auf Psychologie und nichts als Psychologie. Auch KANT schien sich ursprünglich darauf beschränken zu wollen, die Metaphysik zu vernichten, d. h. die Unvereinbarkeit menschlicher Denkformen mit der Wirklichkeit darzutun, fiel aber, von einer unstillbaren Sehnsucht deutschen Geistes verlockt, schliesslich doch wieder in Metaphysik und Systematik zurück.

Seine Nachfolger vollends bauten unbekümmert um alle Warnungen einer skeptischen Erkenntniskritik fröhlich Systeme auf, und SCHOPENHAUER verkündete laut, dass es mit der angeblichen Unerkennbarkeit des Dinges-an-sich ein für allemal zu Ende sei. Das von ihm so giftig und so witzig verspottete "Absolutum" spielte ihm den Possen, als Weltwille verkappt in seinem System die alte Rolle ruhig wieder aufzunehmen, und heute versteckt es sich in den erkenntnisfremden, aber willensverwandten Wertbegriffen. Diesen Irrgängen gegenüber lautet die Parole FRITZ MAUTHNERs: Zurück zu HUME! Zurück zur skeptischen, d.h. rein psychologischen Erkenntniskritik.

Machen wir Ernst mit der Erkenntnis, dass wir von einem Ausser-uns nichts wissen, dass wir in aller Welt nichts haben als unsere seelischen Erlebnisse, als Eindrücke und Erinnerungen, die die Sprache aus Bequemlichkeitsgründen, um sie überschaubar zu machen an Erinnerungszeichen bindet, zu Worten oder Begriffen zusammenfasst, dann stellt sich ganz natürlich der umwälzende Hauptgedanke MAUTHNERs ein, dass unser bewusstes Denken, unsere gesamte "Weltanschauung", um den anspruchsvollen Ausdruck zu gebrauchen, identisch sei mit der Sprache. Erkenntniskritik wird zur Sprachkritik, wird zu der Aufgabe, den "Schlangenbetrug" der Sprache zu durchschauen, die Grundprobleme menschlicher Weltauffassung, all die verzweifelten Fragen, die sich an die obersten Erkenntnisbegriffe knüpfen, nicht etwa zum so und so vielten Male zu "lösen", sondern als das zu erkennen, was sie sind, als sprachliche Fragen, als Wortstreitigkeiten.

Ist unser gepriesenes Denken nichts anderes als Sprechen oder Erinnern, dann kann es keinen Fortschritt im Denken geben, dann können auch die höchsten Bestrebungen der stärksten Denker niemals über eine Neuordnung, eine Neugruppierung der in der Sprache niedergelegten menschlichen Erinnerungen hinausführen. Ist die deduktive Logik eine Illusion, gründen sich all unsere Begriffe nicht auf die künstliche, von der Schullogik erfundene Abstraktion, sondern auf den einzig natürlichen Erkenntnisvorgang der Induktion, die aber ihrem Wesen nach ewig unvollständig bleibt, so sind unsere vielberufenen Gesetze, zu denen wir die Begriffe auseinanderfalten, blosse Hypothesen, vorläufige Annahmen, die oft genug durch eine von der Beobachtung entdeckte Gegeninstanz umgestossen werden und niemals zur Gewissheit erhoben werden können.

Aber selbst wenn das möglich wäre, so würden diese Gesetze nichts erklären, weil sie keine Wirklichkeiten, sondern immer nur der zusammenfassende Ausdruck unerklärter Regelmässigkeiten sind. Worte können niemals Erkenntnis vermitteln, weil sie unfassbar sind, weil ihre unübersehbare, ins Dunkel der Urzeit sich verlierende Geschichte wie ein undurchdringlicher Nebel über ihnen lagert. Aber selbst wenn dieser Nebel sich jemals lichten würde, wenn wir eine vollständige Geschichte der Sprache, ihres Laut- und Bedeutungswandels von der Urzeit an besässen, so würde uns das doch nichts helfen, weil nicht nur die Sprache sich ewig ändert, sondern auch die Wirklichkeit, die sie fassen will, niemals stillsteht. Ewig jagt das kreisende Wort hinter der kreisenden Wirklichkeit her. Worte wachsen, d. h. sie springen von Metapher zu Metapher, von Bild zu Bild, und so wird die Sprache ein einziger ungeheurer Anthropomorphismus, der, je mehr er sich entwickelt, desto weiter von der Wirklichkeit abführt.

Die Neigung des Wortes zur Personifikation, zur Vermenschlichung des Wirklichen ist unüberwindlich. Worte sind Götter, sind Fetische. Denn wie im Fetisch der hilfreiche, wunderwirkende Gott oder Geist verborgen wohnt, so steckt in jedem Wort, in jedem Gattungsbegriff, jedem Artnamen ein Gott, ein Geist, der unserem heimlichen Glauben nach die Art verursacht, ihre gleichbleibende Form bewirkt. Von diesem tiefeingewurzelten Aberglauben an das Wort, von diesem Wortfetischismus, der sich immer wieder beim Wort wie bei einem allkräftigen Zauber beruhigt, der eine Erklärung zu haben meint, wenn er ein Wort hat, von diesem Wortaberglauben möchte uns die Sprachkritik endlich erlösen.

Das ist freilich unendlich schwer, ja im Grunde vielleicht unmöglich, solange keine Aussicht besteht, uns von dem letzten Anthropomorphismus, von der unentrinnbaren Vorstellung der Ursache zu befreien. Unsere heutige Wissenschaft glaubt die Mythologie endgültig überwunden zu haben, seitdem sie durch die darwinistische Entwicklungslehre, wie allgemein angenommen wird, von der Teleologie, von der allzu menschlichen Zweckvorstellung befreit und rein kausal, rein ursächlich geworden ist. Nur dass auch im Entwicklungsbegriff, wie wir gesehen haben, die alte Teleologie steckt, nur dass auch die Ursache ein blosses Bild ist, hergenommen von der menschlichen Absicht, der zweckmässigen menschlichen Handlung. Die Ursache bewirkt die Wirkung, wie mein Wille und zuletzt die Muskelkraft meines Arms eine Veränderung in der Aussenwelt bewirkt. Die Ursache hat eine Absicht, eine Tendenz, sie will etwas, sie will die Wirkung.

In der Wirklichkeit aber findet sich nicht  Ursache  noch  Wirkung,  sondern nur die Zeitfolge von Veränderungen. Diesen letzten Anthropomorphismus einzusehen, dürfte dem von Kausalitätsinstinkt besessenen Menschen am allerschwersten werden. Hier, bei der Zersetzung des Ursachbegriffs, verlangt die MAUTHNERsche Skepsis eine Erhebung über die Mythologie der Sprache, die zunächst nur wenigen ausführbar sein wird.

MAUTHNER weiss natürlich ferner recht wohl, dass streng genommen eine Kritik der Sprache mit den Mitteln der Sprache unmöglich ist, dass wir Gefangene des Wortes bleiben müssen, weil wir uns unmöglich mit Worten vom Wort befreien können. Er geht der letzten Furchtbarkeit keineswegs feig aus dem Wege, der mehr als tragischen Einsicht, dass eine Lebensarbeit voll übermenschlichen Ringens im tiefsten Grunde vergeblich sein soll. Sie ist nach unserer festen Ueberzeugung, die vielleicht der ein und andere Leser dieses Schriftchens mit uns teilt, in Wirklichkeit nicht vergeblich. Denn wenn wir auch Gefangene bleiben müssen, so ist es doch schon viel, zu  wissen,  dass wir es sind und warum wir es sind.

Wenigstens für den, dem Erkenntnis um ihrer selbst willen, und sei sie noch so furchtbar, über alles geht, und nur dem so gearteten Menschen ist Philosophie überhaupt zugänglich. Denn Philosophie ist weder Broterwerb noch geistreiches Spiel für müssige Stunden, sondern eine verzweifelt ernste Sache. Wen nie die Erkenntnisnot in brennenden Schmerzen geschüttelt hat, der lasse seine Hände davon. Er wird, MAUTHNER so wenig wie irgendeinen echten Philosophen verstehen können. Aus MAUTHNERs Lebenswerk blickt uns trotz aller stolzen Resignation die Erkenntnisnot in wahrhaft tragischer Grösse entgegen. Seinem Wahrheitsmut verdanken wir es, dass wir in den höchsten Fragen nicht mehr die Narren und Knechte der Sprache zu sein brauchen, wenn wir nur wollen.

Resignation, Entsagung, Verzicht auf die Sprache, der Freitod alles Denkens und Sprechens ist das letzte Wort der MAUTHNERschen  Skepsis,  nicht aber der Lehre MAUTHNERs überhaupt. Sonst dürften wir ihn nicht zu den grossen Skeptikern rechnen. Denn alle wahrhaft grossen Skeptiker sind  Mystiker  gewesen. Wo der Gedanke, wo das Wort endet, wo das Schweigen beginnt, da beginnt die Mystik. Mystik ist inbrünstiges Erfassen der dem Denken, dem Wort unerreichbaren Wirklichkeit mit dem Gefühl. Solange wir denken, vorstellen, gibt es, streng genommen, für uns eben nur unsere Vorstellung, keine davon getrennte, dahinter stehende Wirklichkeit. Solange wir nur denken, gibt es die Welt nicht zweimal, das eine Mal als Erlebnis, das andere Mal als Erlebtes, das eine Mal als Erscheinung, das andere Mal als Ding-an-sich.

Hier fallen Wirklichkeit und Vorstellung restlos zusammen. Aber wir denken nicht nur, wir  leben  vor allem, wir  sind,  und als lebende, fühlende, atmende, handelnde Wesen sind wir ja  mitten in der Wirklichkeit,  die unabhängig ist von aller menschlichen Vorstellung, sind wir ein Teil dieser Wirklichkeit. Nicht denkend, wohl aber lebend und handelnd erfassen, verstehen wir sie. Keinem grossen Skeptiker ist es je eingefallen, die Wirklichkeit, in der wir atmen und leben, zu leugnen, nur als unerkennbar galt sie ihm.

Indem wir die Welt  denken,  vorstellen, ist sie  ausser  uns, als unser Gegenstand, unsere  Vorstellung.  Indem wir die Welt  erleben,  ist sie  in uns,  als  Wirklichkeit.  Das wahre  principium individuationis  ist das Denken, d.h. die Sprache mit ihren Worten. Die Sprache spaltet das ewig-Eine in Gott und Welt, in Wesen und Erscheinung, in Ursache und Wirkung, in Ich und Nichtich, in Subjekt und Objekt, in Geist und Körper. Die Sprache allein schafft Unterschiede, wie sie Widersprüche schafft, die Sprache allein schafft getrennte Einheiten, Individuen. Wohl kann auch der Mystiker der Sprache nicht entraten wenn er nachträglich das Unsagbare sagen, das Unmitteilbare mitteilen möchte.

Das  mystische Erlebnis  selbst aber ist sprachlos, wortlos, unmitteilbar und gerade darum wirklich. Die Ekstase ist Schweigen, weil sie das Bewusstsein verlöscht, das Ich vernichtet, den Unterschied aufhebt zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten. Die Ekstase kennt kein Werden mehr, nicht den Fluss der Zeit, nicht Vergangenheit noch Zukunft, sondern nur ewig ruhendes Sein , immer gleiche Gegenwart. Die Erkenntnis muss sich müde rennen, todmüde, weil hinter jedem Warum ein anderes steht, weil die Kette der Fragen wie die Kette der Kausalität nie abreisst. Ihre Sehnsucht ist unerfüllbar, sie wird deshalb zur Todessehnsucht und muss sich schliesslich, um einen trügerischen Ruhepunkt zu finden, beim Wort beruhigen.

Wirklichen Frieden gibt allein der entschlossene und endgültige Verzicht auf das Wort, das Schweigen der Ekstase, des mystischen Allgefühls. Unvergleichlich schlicht und schön hat MAUTHNER das Erlebnis des modernen, des skeptischen Mystikers in dem dichterischen Schluss des Artikels "Mystik" im "Wörterbuch der Philosophie" geschildert, den ich zur Erbauung des Lesers hierher setze:
    "Ich will es versuchen, wieder einmal das Unsagbare zu sagen, mit armen Worten auszusprechen, was ich etwa frommen Ungläubigen zu geben habe an nominalistischer Mystik, an skeptischer Mystik. Eindringen in die Psychologie der theologischen Mystik muss - so meine ich - zu solcher  Kontemplation  führen, über  cogitatio  und  meditatio  hinweg. Wir drücken es anders aus, wir meinen es ebenso, wie man's vor sechshundert Jahren meinte.

    Die Welt ist nicht zweimal auf der Welt. Es gibt nicht den Gott neben der Welt, es gibt nicht die Welt neben dem Gott. Pantheismus hat man diese Ueberzeugung genannt, pedantisch auch wohl (um den persönlichen Gott scheinbar zu retten): Panentheismus. Warum nicht? Es sind ja nur Worte. In der höchsten mystischen Ekstase empfindet das Ich, dass es Gott geworden ist. ANGELUS SILESIUS und ECKHARTs Beichtkind Kathrei haben das empfunden. Warum nicht? Soll ich um Worte streiten?

    Seit zehn Jahren lehre ich: das Ichgefühl ist eine Täuschung, die Einheit des Individuums ist eine Täuschung. Wenn ich nicht Ich bin, trotzdem aber bin, dann darf ich wohl auch von allen anderen Wesen glauben: sie sind nur scheinbar Individuen, sie unterscheiden sich nicht von mir, ich bin Eins mit ihnen, sie und ich  binnen  Eins. Sind das bloss philosophische Wortfolgen? Spiele der Sprache? Nein. Was ich erleben kann, ist nicht mehr bloss Sprache. Was ich erleben kann, das ist wirklich. Und ich kann es erleben, für kurze Stunden, dass ich nichts mehr weiss vorn  principium individuationis,  dass der  Unterschied  aufhört zwischen der Welt und mir. Dass ich Gott geworden bin. Warum nicht?

    Freilich, die oberste Tugend aller bessern Religionen und Morallehren hält nicht stand in solchen Stunden der Ekstase. Was ist denn noch Güte für einen Menschen, der nichts mehr weiss vom  principium individuationis? Güte ist Aufgeben der eigenen Individualität, ist aber Anerkennung der fremden. "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst." Nicht mehr. Habe ich mein eigenes Selbst nicht mehr, dann hat es auch mein Nächster nicht. Wer noch gut ist, ist noch nicht frei. In den heiligen Stunden der Ekstase ist man nicht gut. Güte ist nicht möglich ohne  Unterscheid.

    Der Unterscheid des Geschlechts. Weil du alt geworden bist? Einerlei. Vielleicht ist darum Mystik, das Aufhören alles Unterschieds, die Weisheit der Greise. Das Motiv der Liebe hat seine Kraft verloren. Und legt sich still ins Grab neben das Motiv der Güte.

    Der Unterscheid von Mein und Dein. Du willst ja nichts, gar nichts. Du bist ja froh. Und das Motiv des Hungers hat seine abscheuliche Kraft verloren, für die kurze Stunde der Ekstase. Du denkst gar nicht daran, den Hasen drüben zu schiessen, dem Baume da seine Frucht zu nehmen. Du lachst. Tausendfältig um dich kriechen und schwirren Würmer und Insekten, im Banne der Liebe und des Hungers. Spinnen und Fliegen. Sie wissen's nicht besser. Da! Wieder ein Käfer. Verliebt und hungrig. Armesle! Und du weisst nicht, du ekstatischer Mensch, selbst Armesle, dass du unaufhörlich, regelmässig den Sauerstoff der Luft einsaugst, der doch auch leben wollte, der sich doch auch für einen hielt. Armer Sauerstoff! Weil er so dumm ist, sich für einen zu halten.

    Der Unterscheid der Menschen hört auf, der schwerste Unterscheid, und mit ihm verliert das Motiv der Eitelkeit seine Kraft. Du hast es nie für möglich gehalten, jetzt aber, in dieser heiligen kurzen Stunde, hast du es erfahren: die Menschen können dir nicht mehr wehe tun, weil du sie auf einmal so ansiehst, als wären sie Tiere, oder Pflanzen, oder Regentropfen. Oder die Wellen des Stromes da unten, des Ganges oder des Rheins. Der Hund kann dich beissen, der Baum kann dich im Sturze erschlagen, die Wellen können dich hinunterziehen. Aber weh tun kann dir niemand und nichts, seitdem die Motive der Liebe, des Hungers, der Eitelkeit schweigen. Was kümmert es den Mond, wenn ihn der Hund anbellt?

    Was kümmert es dich, wenn die Tiermenschen, die Pflanzenmenschen, die Wellenmenschen vor dir etwas bellen oder rauschen? Die Armen, jedes von ihnen glaubt noch, es wäre eins. jawohl. So lange, bis auch über die anderen deine Stunde kommt und aller, aller Unterscheid aufhört. Wie er jetzt aufgehört hat zwischen dir und der Sonne. Gelt? Schwester Sonne, Messer  lo frate Sol,  wir gehören zusammen? Wer Liebe, Hunger und Eitelkeit nicht mehr kennt, der ist Sonne, Gott, Grashalm.

    Habe ich dir nicht einmal noch von anderen Motiven menschlichen Lebens gesprochen als von diesen drei argen? Nicht vom Wissensdurst und von dem Ruhebedürfnis, der Todessehnsucht? Schweigen jetzt auch die, in der seligen kurzen Stunde der Ekstase?

    Sie schweigen beide. Sie werden geschweigt. Du willst ja nichts, gar nichts, nicht einmal wissen willst du mehr. Weil du erfahren hast, dass auch der Unterscheid zwischen dem Wissenden und dem Wissbaren vergangen ist mit dem Unterscheide zwischen dir und der Welt. Du hast erfahren, dass du nicht zum Wissen eingerichtet bist, die Welt nicht zum Gewusstwerden. Ist ja alles nur so ein bisschen Herumfahren, wie eine Raupe um ihr Blatt herumfährt. Du hast keinen Durst mehr nach dem bisschen Wissen, das andere Leute getrunken und wieder ausgespien haben; du weisst, dass es ein Wissen der letzten, tiefsten Gründe nicht gibt. Dich dürstet nicht nach Pfütze.

    Und gar das Ruhebedürfnis schweigt, weil du ruhig geworden bist, ganz ruhig, wohl gar tot. Du willst ja nichts. Und wie die  doctissima ignorantia  dein abgründiges Wissen ist, besser als das ausgespiene Wissen aller Weisen der Vorzeit, so ist deine Ruhe jetzt lebendiger als alle deine alte Vitalität, dein Tod jetzt lebendiger als all dein früheres Handeln.

    Alle Motive des Lebens schweigen dir. Da. Noch nicht still? Mörder! Räuber! Jetzt erst bemerkst du es, dass du mit jedem Atemzuge Luft schluckest, um dich mit dem Sauerstoffe der Luft zu nähren, der doch so gerne selber leben und einer sein möchte. Mörder! So willst du noch etwas. So hast du noch nicht getan nach deiner Erkenntnis. So bist du noch nicht ruhig. So bist du gar nicht einmal gut, du Mörder des Sauerstoffs.

    Du tust nach deiner Erkenntnis. Du atmest nicht einmal mehr. Und du bist endlich eins geworden mit der Welt, welche einst Gott genannt worden ist, eins geworden mit dem Bruder Sol, der einst ein Gott genannt worden ist. Schön ist's. Tausend Farben, tausend Töne. Harmonie. Himmlische Heerscharen. Auch die Heiligen, die du für ein Märchen hieltest, fehlen nicht. Sie sammeln sich um dich und flüstern dir stumme Worte zu. An ihren geschwiegenen und schweigenden Worten errätst du, wie sie einst hiessen im Scheine des Lebens.

    CAKHIA MUNI, der BUDDHA, flüstert mit dir, und FRANZISKUS und GOETHE und der NOVALIS und MEISTER ECKHART und ein Bauer lacht dazu und schreit: Es kann dir nix g'schehn! Selbst die grösst' Marter zählt nimmer, wann's vorbei is! Ob d' jetzt gleich sechs Schuh tief da unterm Rasen liegst, oder ob d' das vor dir noch viel tausendmal siehst - es kann dir nix g'schehn! Du g'hörst zu dem all'n und dös all g'hört zu dir! Es kann dir nix g'schehn!'

    Hätte er doch nicht so laut geschrien. Seine Menschenstimme legt sich wie ein Alp auf deine Brust. Luft! Du willst nicht, aber du musst. Nur einen Atemzug. Mörder!

    Unsinn. Das ist ja das Leben. Nehmen, was man braucht. Leben wollen. Vorüber ist die kurze Stunde heiliger Mystik. Du bist zurückgekehrt zum Scheine des Lebens, zu seinen Motiven, zu seinem Wissen. Armesle." (Wörterbuch II, 131 ff.)
So enthüllt sich uns der notwendige Zusammenhang zwischen Sprachkritik und Mystik. Sprachkritik ist der Weg zur Mystik. Wir wundern uns deshalb auch nicht mehr über die grosse Liebe MAUTHNERs zu den alten deutschen Mystikern, vor allen zu MEISTER ECKHART. Der radikale Atheist des zwanzigsten Jahrhunderts meint es im Grunde wirklich ebenso wie der frömmste Christ und Gottesgelehrte des vierzehnten. Wenn er auch Gott leugnet, so leugnet er doch nicht das Göttliche im Menschen und in der Natur. Wenn er das Wort Religion aus der Sprache verbannen möchte, weil es zu eng mit Vorstellungen verknüpft ist, denen wir für immer entwachsen sind, so will er deswegen nicht das religiöse Gefühl von der Erde vertilgen.

MAUTHNER ist zu gross, um ein Mensch ohne Ehrfurcht zu sein. Gerade weil er wahrhaft entsagt hat, gerade weil er aufgehört hat, über die Kraft zu wollen, weil er so tief erkannt hat, dass und warum es in alle Ewigkeit vergeblich sein muss, das Unergründliche in Worten einfangen zu wollen, gerade deshalb ist seine Andacht zum Unergründlichen so stark und innig. "Schön bis zur Heiligkeit!" so hat eine grosse deutsche Dichterin, MARIE von EBNER-ESCHENBACH, seinen BUDHHA treffend charakterisiert, worin er die Religion des Schweigens mit Dichterkraft verklärt. Wenn wir den Sprachkritiker bewundern, müssen wir den Mystiker lieben, weil er uns den Höhenweg zeigt, der zum Frieden führt.
LITERATUR - Max Krieg, Fritz Mauthners Kritik der Sprache, Eine Revolution der Philosophie, München 1914