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FRITZ MAUTHNER
Logokratie

"Die Schlagworte dieser Führer oder Staatsmänner sind nun darum so gefährliche Waffen, weil die Zeitgenossen nur selten unterscheiden können, ob die lebendigen Gedanken, oder ob tote Scheinbegriffe ihre Macht ausüben."

Ich verstehe unter Logokratie die nicht genügsam bekannte Tatsache, daß die Macht, der die Menschen mehr gehorchen, als irgendeiner anderen Macht, die Macht der Worte ist. Man achte darauf, daß auch dort, wo die Menschen unter einer Aristokratie oder unter einer Demokratie zu leben vermeinen, diese sogenannten Regierungsformen nur suggestive Worte sind, daß es eine Herrschaft der Besten so wenig je gegeben hat wie eine Herrschaft des Volkes. Logokratie kann unter dem Namen jeder Regierungsform herrschen, ihrem Wesen nach ist sie Pöbelherrschaft oder Ochlokratie.

Bei dem politischen Mißbrauch der Worte denkt man gewöhnlich zunächst an die Worthändler in unseren Zeitungen und Parlamenten. Man übersieht dabei, daß die kleinen Journalisten und Parteiredner gar keine Machtfaktoren sind, weil sie eben nur Worte zusammenstellen, die von ihren Lesern oder von ihrer Partei gewünscht werden: daß aber die starken Publizisten und Parlamentarier, die wirklich an der Geschichte mitarbeiten, die Worte schon als politisches Werkzeug gebrauchen.

Die Schlagworte dieser Führer oder Staatsmänner sind nun darum so gefährliche Waffen, weil die Zeitgenossen nur selten unterscheiden können, ob die lebendigen Gedanken, oder ob tote Scheinbegriffe ihre Macht ausüben. Wir glauben heute zu wissen, daß die mächtigsten Schlagworte des Mittelalters (Statthalterschaft Christi, Hexen) Scheinbegriffe waren, aber nur wenige unter uns sind frei genug, um zu verstehen, daß auch unsere Schlagworte: Absolutismus, Liberalismus, Freiheit, Zukunftsstaat, etc. Scheinbegriffe sind. Die "Realpolitik" (das Wort ist etwa zehn Jahre älter, als die Einführung dieser Politik durch Bismarck) will sich eigentlich nur der Herrschaft der toten Ideen, der veralteten Worte entgegenstellen, und gegenüber der Berufung auf die überwundene Vergangenheit und auf die unbekannte Zukunft das Recht der Gegenwart behaupten. Müßte man diesen Gegenwartsstandpunkt genau nehmen, so stünde es schlimm um die Realpolitik und man könnte ihr mit einigem Scheine des Rechts vorwerfen, daß sie sich, daß sie sich auf den Gegenwartsstandpunkt des Tieres stelle und auf den Vorzug des Menschen verzichte, Ideen von Gegenwart und Zukunft zu bilden.

Glücklicherweise ist auch der Begriff der Realpolitik nur ein ungenaues Wort; auch sie knüpft an die letzte Vergangenheit an und denkt an die nächste Zukunft. Wohl aber wird der Mensch just durch die Begriffssprache, die ihn vom Tier unterscheidet, rettungslos der Logokratie unterworfen. Seine Sprache, die ihn von der Macht der zeitlichen und räumlichen Gegenwart vielfach befreit, macht ihn wieder zum Sklaven der Vergangenheit. Er müßte denn mit einem unverhältnismäßigen Kraftaufwande Sprachkritik treiben und jedesmal das Wort, das ihn beherrschen will, nach seiner Herkunft, nach seinem Rechte zur Macht fragen; Sprachkritik ist in dieser Beziehung Rebellion gegen Logokratie.
LITERATUR - Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, 3Bde., Leipzig 1910/11