cr-3 Die Drei Bilder der Welt    
 
MONTY JACOBS
Mauthners Letztes Wort

"Ein Fragment, kein abgeschlossenes Werk bietet diese Gabe aus Fritz Mauthners Hinterlassenschaft. Aus ihr ist der letzte Aufschwung, die ungetrübte Klarheit seines Geistes zu erkennen."

Kurz vor seinem 70. Geburtstag hat Fritz Mauthner seinen letzten Willen niedergeschrieben, "in ruhigem Ernste, ohne Trauer und ohne Feierlichkeit", wie er im einleitenden Satze versichert.

In diesem Schriftstück erwies er mir die Ehre, mich zum Verwalter seines literarischen Nachlasses einzusetzen. "Besonders," so heißt es im Testament, "bitte ich ihn, das kleine Büchlein  Drei Bilder der Welt - Mein letztes Wort in meiner Lebensarbeit an der Kritik der Sprache - herauszugeben, falls es bis dahin eine Gestalt angenommen haben sollte, die eine Herausgabe gestattet."

Der Schöpfer der Sprachkritik hätte - das sei gleich im voraus bemerkt - die Gestalt, die seine letzte Schrift seit der Niederschrift dieses Testaments angenommen hat, bestimmt nicht druckreif gefunden. Denn in seinem Nachlaß fanden sich nur Konvolute und einzelne Blätter mit ängeren und kürzeren Fragmenten, noch ungesichtet, ungeordnet, ungefeilt. Äußere und innere Gründe haben den Emsigsten aller Geistesarbeiter am Abrunden dieses Buches verhindert.

Zunächst waren die Schaffensstunden seiner letzten Jahre vollauf durch das ungeheure Unternehmen ausgefüllt, mit dem der Siebzigjährige, in Zeiten deutscher Not, die Jüngeren beschämte. Buchstäblich auf dem Schmerzenslager, im Krankenhause zu Konstanz hat er, mit unerhörter Anspannung des Willens, sein vierbändiges Werk "Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande" zu Ende gebracht. Vermummt im Talar des Historikers, spricht auch hier natürlich der Sprachkritiker in einer Arbeit, die ihm unter den Händen wuchs, und die alle Geisteskräfte seiner letzten Jahre aufzuzehren schien.

Aber wer in diesen Jahren vertraute Einkehr im Glaserhäusle halten durfte, in Mauthners Meersburger Zufluchtsstätte, einsam im Walde, hoch oben über den Weinbergen, die sich zum Bodensee hinabsenken, der erfuhr, daß die "Geschichte des Atheismus" andere Pläne vielleicht hemmen, aber nicht ersticken konnte. In seinem Studio, einem Atelierhause im Garten, von dem eine Art Zugbrücke zum winzigen Wohnhause hinüberführt, las er Freunden wohl in einer guten Stunde Proben aus seinen "Drei Bildern der Welt" vor.

Ein Denker wie FRITZ MAUTHNER, dem der Zweifel am Wort zur Natur geworden war, ein Sprecher, der jede Silbe auf der Goldwaage wog, hat sich nicht gescheut, diese Schrift sein Vermächtnis zu nennen. Er liebte sie mit einer Leidenschaft, der die Resignation einen schmerzlichen Reiz lieh. Ein müder, verzichtender Blick war in seiner letzten Lebenszeit die Antwort auf die Frage nach dem Fortschreiten seines "letzten Worts".

Vielleicht stürzte er sich gerade deshalb Hals über Kopf in die Fron des historischen Werks, weil er fühlen mochte, daß der Kraft seines Alters die letzten Höhen seines Lebensgedankens nicht mehr zugänglich waren?

Denn auf die höchsten Gipfel der Sprachkritik, in die dünnste Luft der Metaphysik führen die "Drei Bilder der Welt". Viele Fäden verknüpfen sie mit seinem "Wörterbuch der Philosophie" und bald nach der Beendigung dieses Werks mag die Arbeit begonnen haben. Ein Brief aus seinem letzten Herbst, datiert Krankenhaus Konstanz, 10. Oktober 1922, bezeugt wohl das späteste Schaffen am Fragment. Eine harmlos gemeinte Bemerkung in einem meiner Briefe ging ihm, nach seinem Bekenntnis, im Kopfe herum. "Das Nachdenken aber," so schrieb er mir, "führte dazu, daß ein Stück für meine  Drei Bilder der Welt  entstand.  Schämen, bereuen, sollen  und dergleichen gehört der verbalen Welt an, kann sich nur auf Handlungen beziehen; da aber schämen, bereuen, sollen usw. der Welt des wirklichen Werdens ebenfalls nicht angehört, so gibt es eine verbale Scheinwelt, die der Scheinwelt der substantivischen Welt vollkommen entspricht. Sie sehen, lieber Freund, wenn ich einmal sterbe, so muß man meine "Sprachkritik" extra totschlagen."

Der Sprachkritiker FRITZ MAUTHNER konnte für die Erkenntnis der Welt keine andern als sprachliche Kategorien finden. In drei Welten mußte er sie gliedern:  Substantiv, Adjektiv, Verbum.  Die substantivische Welt, das ist die Welt der Mystik, der Mythologie, der bloßen Erscheinung, das ist die Abstraktion der  -heiten, -keiten, -schaften.  PLATON ist ihr Erfinder; Geschichte, Jurisprudenz, Theologie sind ihre Wissenschaften. Die adjektivische Welt, das ist das Reich des Sensualismus, des Materialismus, der Kunst, die sogenannte wirkliche Welt von Stoff und Kraft, in den Grenzen der Naturwissenschaften. Die verbale Welt ist die Welt der Bewegung, Wirkung, Tätigkeit, mit verborgenen Zwecken, mit Sinneseindrücken, die zu Kräften und Energien werden, das Reich des Heraklit.

Nicht ein Nebeneinander dieser drei Welten gilt es zu sehen. Sondern die Aufgabe heißt: die Weltbetrachtung auf wechselnde Weise einzustellen, um die gegebene Welt bald als Summe von Sinnes eindrücken, bald als eine Ordnung von Dingen, bald als eine Reihe von Veränderungen zu erkennen.

Als alter Feind aller Esperantoträume verwirft MAUTHNER den Versuch, für seine drei Kategorien drei getrennte Sprachen zu erfinden. So bleibt am Ende doch nichts anderes als die schmerzliche Weisheit der Sprachkritik, daß der Menschensprache nur ein Reichtum an Bildern, aber keine Erkenntnis zugänglich sei. Im Drang, die drei Bilder der Welt zu einem wahren Bilde zu vereinigen, mitten in diesem Drange verstummt die Leidenschaft des erkennenden Geistes in Traum, Wunsch, Sehnsucht.

Aufgang zum Glaserhäusle in Meersburg
Aufgang zum Glaserhäusle in
Meersburg, Oktober 2000


Ein Fragment, kein abgeschlossenes Werk bietet diese Gabe aus FRITZ MAUTHNERs Hinterlassenschaft. Aus ihr ist der letzte Aufschwung, die ungetrübte Klarheit seines Geistes zu erkennen. Deshalb allein schon war die Bedingung des Testaments erfüllt, deshalb war die Veröffentlichung gerechtfertigt. Die Resignation ließ diese Schrift nur langsam vorschreiten, aber erst der Tod ließ sie stocken. So bleibt sie FRITZ MAUTHNERs Verehrern heilig als sein letztes Wort, als sein Vermächtnis.

Für das Sichten, für die Anordnung und Reihenfolge der Blätter muß der Herausgeber die Verantwortung übernehmen. Dem MAUTHNERschen Texte wurden nur, zur Gliederung des Fragments, Überschriften der einzelnen Bruchstücke hinzugefügt. Wiederholungen, wie die mehrfach erläuterte Kritik des KANTschen Ding an sich, konnten getrost stehen bleiben, da sie stets neu formuliert schienen. Unfertiges wurde ausgemerzt.

Ob sich die Kettenglieder würdiger auf eine Schnur hätten reihen lassen, das mag die MAUTHNERforschung entscheiden. Sie soll ja nun eine Stätte finden, in MAUTHNERs Glaserhäusle, hoch oben in den Weinbergen um die verzauberte Stadt Meersburg. Eine Stätte, die niemand ehrfürchtiger und verständnisvoller bereiten kann als Frau HEDWIG MAUTHNER, die Daseinsgefährtin des Denkers im Dienste seines Lebenswerkes, im Dienste einer schöpferischen Skepsis.
LITERATUR - Fritz Mauthner, Die Drei Bilder der Welt - ein sprachkritischer Versuch, (aus dem Nachlaß hrsg. von Monty Jacobs), Erlangen 1925