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FRITZ MAUTHNER
Vorwort zur 2. Auflage

Ein gründlicher Fachmann, den ein Kollege mahnte, sich mit den Gedanken meiner Sprachkritik auseinander zu setzen, rief in menschlich begreiflicher Entrüstung aus: "Soll ich meine Kollegienhefte verbrennen?" Ich möchte darauf nicht gern mit einem einfachen "Jawohl" antworten."

Ich vertraue, ich habe einen Richtweg geschlagen zu einer Philosophie. Zu Erkenntniskritik, welche Kritik der Sprache ist. Andere mögen nachrücken, mögen versuchen, in der gleichen Richtung eine via regia zu bahnen zur Erkenntniskritik, die nur Kritik der Sprache sein kann. Oder gibt es eine solche bequeme via regia zur Philosophie ebensowenig wie zur Mathematik?

Das Erscheinen der zweiten Auflage sagt, daß viele Einzelne tapfer meinem unbequemen Richtwege schon folgen.

Zwischen der Bearbeitung dieser zweiten Auflage und der Drucklegung der ersten liegen nur fünf Jahre. Doch zwischen der heutigen Stunde und der Niederschrift oder gar der Konzeption vieler Ausführungen liegt eine viel längere Zeit, nicht selten eine Zeit von mehr als 30 Jahren. Manches Urteil, manche Wortfolge aus der ersten Niederschrift wenn unverändert stehen geblieben, mit denen ich unzufrieden war. So war es mir wie eine Befreiung, bei Gelegenheit der Umarbeitung, hier eine Vorstellung revidieren, dort ein hartes Wort gegen Menschen tilgen zu können. Nur in den Grundgedanken brauchte ich nirgends nachzugeben; in meiner Sache, in der unpersönlichen Vertretung meiner sprachkritischen Lehren, bin ich eher noch härter geworden.

In dem großen Haufen von Besprechungen meines Werkes finde ich nur fünf oder sechs Aufsätze, deren Verfasser eine Beziehung zu meinen Gedanken hergestellt haben. Ganz abgesehen natürlich davon, ob diese Beziehung freundlich oder unfreundlich war. Die Hauptmasse der Besprechungen ging an den Grundgedanken des Werkes vorüber. Daß die Kritik der Sprache ein Beitrag zur Erkenntnistheorie, ein philosophisches Werk sei, dieser kleine Umstand sogar war den meisten Kritikern entgangen. Wie denn mein Werk, weil im Titel das Wort  Sprache  vorkommt, in Bibliotheken und Katalogen unter der Rubrik Philologie steht. Einige fachmännische Kritiker, welche philosophischen Inhalt ahnten, weil sie ganze Kapitel nicht verstanden, bewiesen durch ihre philosophische Kritik, daß sie in ihren philosophischen Studien über die übliche Beschäftigung mit dem kleinen SCHWEGLER nicht hinausgekommen waren.

Für jeden aufklärenden, rügenden, mäßigenden Hinweis der Männer, die auf meinem Boden standen oder ihn betraten, war ich aufrichtig verpflichtet. Denen, die meine Sprache nicht verstehen wollen oder nicht verstehen können, würde mich auch eine Antwort nicht verständlich machen.

Nur auf zwei Vorwürfe möchte ich schon hier antworten. Für diejenigen, welche nur das Vorwort lesen wollen und nicht das Buch. Denn beide Vorwürfe würden doch wohl durch das Buch besser entkräftet als durch einleitende Versicherungen. Die zwei Vorwürfe - daß ich kein Fachmann sei und daß ich nur Negation, nur nihilistische Skepsis biete und kein positives erkenntnistheoretisches System.

Auf den Vorwurf, kein Fachmann zu sein, möchte ich gerne, langsam emporsteigend, wie von drei oder vier wachsenden Stockwerken aus, antworten. Nur daß ich mich auf dem niedersten Stockwerk zurückhalten muß, das Gelächter zu dämpfen, das laut und übermütig hervorbrechen will. Ich habe nämlich den Vorwurf, kein Fachmann zu sein, auch von solchen fachmännischen Beurteilern vernommen, die meine Untersuchung wertvoll, nützlich, anregend finden, und dann beinahe wohlwollend hinzufügen: "Nur schade, daß er kein Fachmann ist!" Im Sinne solcher Herren bin ich nämlich wirklich kein Fachmann. Ich habe keinen Lehrauftrag. Mir wird für meine Arbeit keine Berufung und kein Titel. In dem wissenschaftlichen Betriebe, wie er nicht nur auf den Hochschulen des deutschen Sprachgebiets seit langer Zeit üblich ist, habe ich kein regelrechtes curriculum vitae hinter mir und keine Karriere vor mir. Im Sinne so wohlwollend bedauernder Herren bin ich wirklich kein Fachmann. Ich kenne nicht die lokalen Verhältnisse der einzelnen Universitäten des deutschen Sprachgebiets und ihrer Fakultäten. Kenne aus der Praxis nicht die Polytechnik der Universitäten. Ich habe das alles nicht studiert, ich hatte niemals Zeit dafür. Ich bin kein Fachmann. Noch schlimmer. Von vielen Gelehrten, deren Arbeiten ich auf ihren Wert prüfen mußte, weiß ich armer Autodidakt wahrhaftig nicht, in welcher Universitätsstadt sie leben, ich weiß von dem oder jenem nicht, ob er überhaupt noch lebt, ob er noch zu berücksichtigen ist. Das deutlichste Zeichen des Dilettantismus. Denn ein Dilettant ist, wer seine Arbeit aus Liebe tut, aus Liebe zur Arbeit, eben zu der Arbeit, die er tut.

Ich steige etwas höher, werde etwas ernsthafter und fahre fort. Gewiß, ich bin nicht Fachmann in den vielen Wissenschaften, die ich zur Begründung und zur Exemplifizierung meiner Gedanken heranziehen mußte. Ich bin kein Fachmann auf dem Gebiete der Logik, Mathematik, Mechanik, Akustik, Optik, Astronomie, Pflanzenbiologie, Tierphysiologie, Geschichte, Psychologie, Grammatik, indischer, romanischer, germanischer, slawischer Sprachwissenschaft u.s.w. u.s.w. Ich habe vor vielen Jahren einen Überschlag gemacht. Ich brauchte für meine Arbeit Kenntnisse aus 50 bis 60 Disziplinen, in welche gegenwärtig Welterkenntnis auseinanderfällt. Für jede dieser Disziplinen braucht ein fähiger Kopf mindestens 5 Jahre, um sich auch nur die Grundlagen fachmännischen Wissens anzueignen. Ich hätte also etwa 300 Jahre rastloser Arbeit nötig gehabt, bevor ich mit der Niederschrift meiner eigenen Gedanken beginnen durfte; denn meine Gedanken haben die Unbequemlichkeit, daß sie die Möglichkeit von Welterkenntnis nicht durch das Mikroskop einer einzigen Disziplin betrachten.

Ich bin nicht arbeitscheu. Ich hätte ja gern die 300 Jahre darangesetzt, wie man denn bei einer Aufgabe von solcher Größe das Maß des menschlichen Lebens nicht in Betracht zu ziehen pflegt. Aber ich sagte mir: Es ist das Schicksal wissenschaftlicher Disziplinen - einige wenige ausgenommen -, daß ihre Sätze und Wahrheiten selbst nicht 300 Jahre alt werden, daß ich also nach 300jähriger Arbeit immer nur in der zuletzt studierten Disziplin Fachmann gewesen wäre, ein Dilettant in den Disziplinen, deren Studium auch nur 10 oder 20 Jahre zurücklag, ein Ignorant in allen übrigen. So mußte ich mich entschließen, auf Fachmännischkeit in allen Hilfswissenschaften meiner Arbeit zu verzichten; mußte mich bescheiden, in dreimal neun schweren Jahren aus allen diesen Hilfswissenschaften eben nur so viel Kenntnisse anzueignen, als mir gerade für die Erreichung meiner Aufgabe nötig schien.

Meiner Aufgabe. Ich hatte eine. Ich bin kein Fachmann. Eine selbstgestellte, große neue Aufgabe, die Kritik der Sprache. Und ich steige in meiner Antwort wieder etwas höher und will ganz ernsthaft sein. Wollte ich meinen Gedanken, daß Welterkenntnis durch die Sprache unmöglich sei, daß eine Wissenschaft von der Welt nicht sei, daß Sprache ein untaugliches Werkzeug sei für die Erkenntnis, - wollte ich diesen Gedanken, erschöpfend und überzeugend, klar und lebendig, nicht logisch und wortspielerisch, wachsen lassen und darstellen, so mußte ich als Kritiker der Sprache eben diese Sprache kennen in ihren Tiefen und Höhen, mußte dem Volke aufs Maul sehen können und den Forschern folgen können in ihr Ringen um die wissenschaftlichen Begriffe. Auf allen Gebieten wissenschaftlicher Arbeit mußte ich die Prinzipien der Arbeit, der Methode, die besondere Logik oder Sprache verstehen lernen. Und keiner der kleinen Kärrner auf irgend einem der beschränkten Arbeitsgebiete hat in seiner Gottähnlichkeit vielleicht so stark wie ich das Gefühl empfunden: Die Prinzipien und die besondere Sprache jeder Disziplin sind nicht völlig zu verstehen ohne Durcharbeitung des gesamten Schutt- und Arbeitsfeldes. Nicht mehr lachend, in bitterster Resignation mußte ich mir jeden Tag sagen, daß ich nicht gern bei den Prinzipien stehen blieb, daß ich gern weiter gedrungen wäre, nicht bloß ein Spaziergänger in den Wissenschaften. Aber ich durfte nicht verweilen, wenn ich meine Arbeit leisten wollte. Bei keiner Disziplin durfte ich als Fachmann verweilen. Ich habe keine Rechenschaft darüber zu geben, ob mir das leicht fiel oder schwer.

Nur will es mir scheinen, daß diese Arbeit, die meine eigene war und meine eigene Aufgabe dazu, doch nicht ganz fruchtlos war, daß aus dieser Arbeit mindestens zu den vielen anderen Disziplinen, in denen ich nicht Fachmann bin, eine neue Disziplin hinzugekommen ist. Kritik der Sprache. Die Schriften mehren sich, in denen von Kritik der Sprache als von einem neuen wissenschaftlichen Gebiete die Rede ist. Daß von den neuen Fachleuten dieser neuen Disziplin der eine die Priorität für sich in Anspruch nimmt, weil er vor Jahren einmal geschrieben hat: "Ja ja, die Sprache!", - daß der andere die Kritik der Sprache hoch stellt und mich selbst sehr niedrig taxiert: das tut doch eigentlich nichts zur Sache. Ich glaube immerhin in dem neuen Fache, auf dem neuen, ungerodeten Boden fleißig vorgearbeitet zu haben; und wenn ich ehrgeizig wäre, so könnte ich den Wunsch aussprechen, für die Disziplin, die ich geschaffen habe, als etwas wie ein Fachmann angesehen zu werden. Es ist aber ganz recht und eigentlich fast teleologisch verwendbar, daß das erst später geschehen wird.

Und da ich die Frage der Priorität nun einmal heiter gestreift habe, so will ich gleich gewissenhaft, fast pedantisch, einige Schriften anführen, in denen der Gedanke oder doch die Wortfolge "Kritik der Sprache" schon zu finden war. Auf HAMANN, FRITZ JACOBI und HEBBEL ist im Werke selbst schon gebührlich hingewiesen. Ein Schulprogramm von Dr. BUSSE (Berlin 1844, Real-Gymnasium) ist überschrieben: "Über Kritik der Sprache". Ein sehr lesenswerter Essay (fast ein Buch) von R. HAYM (Artikel  Philosophie  in ERSCH und GRUBERs Enzyklopädie, 1848) bringt gegen das Ende folgende Sätze. Indem die Gebilde der Spekulation auf ihrem (der Sprache) Boden erwachsen, sind sie zunächst aus ihr zu erklären und auf sie zu reduzieren. Die Sprache wird dadurch das nächste Kriterium für die Kategorien der Spekulation. Die vergleichende Grammatik wird für die neue Philosophie das Gegenstück der Logik in der alten und die Kritik der Vernunft verwandelt sich in die Kritik der Sprache." Eine Doktor-Dissertation von SIEGMUND LEVY (Bonn 1868) betitelt sich: "KANTs Kritik der reinen Vernunft in ihrem Verhältnis zur Kritik der Sprache". Bei BUSSE und LEVY wird niemand einen Schimmer von dem finden, was meine Leser mit mir unter "Kritik der Sprache" verstehen. Das überraschende Wort HAYMs ist aus seiner gründlichen Beschäftigung mit HAMANN, HERDER und HUMBOLDT zu erklären.

Nicht so sicher fühle ich mich bei der Abweisung des zweiten Vorwurfs: daß ich kein positives, kein rundes System biete und daß ich unsystematisch darstelle. Denn ein unbesiegbar schmerzliches Gefühl sagt mir, daß wenigstens der zweite Teil dieses Vorwurfs nicht unberechtigt sei. Das hängt gewiß mit den eben vorgetragenen Tatsachen zusammen. Ein besserer Kopf, dessen Wissen nicht Stückwerk wäre, der die Studienarbeit von 300 Jahren, ohne zu altern oder zu sterben geleistet hätte und die Frucht dieser Arbeit unveraltet als präsentes Wissen besäße, ein solcher Kopf hätte sich nie wiederholt, hätte sich nie widersprochen, hätte nie einen Umweg gemacht, hätte fein ordentlich alle Belege auf sein Paragraphenwerk verteilt. Ich bin da nur wenig ironisch. Ich kenne die Schwächen meines Werks, die wahrscheinlich die Schwächen meiner Arbeitsweise sind. Meiner subjektiv notwendigen, für diese meine Aufgabe vielleicht objektiv notwendigen Arbeitsweise. Ich bin mir bewußt, viel freier von der Sprache zu sein, als mein Buch sein kann. Ein großes Haus zu bauen hatte ich mir vorgesetzt, aus einem neuen Material, in einem neuen Stil. Jede Linie des neuen Stils hatte ich selber zu zeichnen, jeden Stein des neuen Materials hatte ich selbst aus einem Felsen zu brechen. Ich weiß, ich weiß es am besten, daß die Architektur des Ganzen arg dabei gelitten hat. Mag ein glücklicherer Nachfolger das echte Material und die ehrliche Zeichnung zu, einem symmetrischen Bau verwenden. Da - die Tonne für die fachmännischen Walfische.

Die saubere Systematik der Darstellung gebe ich also preis. Nicht aber gebe ich die Verpflichtung zu, ein System zu bieten in der Kritik der Sprache.

Das war ja der tragische Fluch großer Philosophen, daß sie sich von falschen Vorbildern bestimmen ließen, ein System zu bringen in die flackernden Flammen ihrer Gedanken. Ein Fluch, der lächerlich wurde in den Bestrebungen der Geschichtschreiber von Philosophie, der ordentlichen Männer, die System bringen wollten in die Folge von Systemen. Die Veden bieten kein System. Orient? PLATON bietet kein System, der Grieche. Steckt ein System in der Welt, die unsere Sprachen verstehen und beschreiben wollen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Gewiß aber steckt in der Welt kein menschliches, kein wissentliches, kein sprachliches System. Noch hat man die Pflanzen, noch hat man die Tiere nach keinem natürlichen System geordnet. Nur nach einem künstlichen, menschlichen, sprachlichen. Steckte in dem Zusammenhang aller Stoffe und Kräfte ein menschliches Weltsystem und könnten wir mit den Begriffen und Urteilen der armen Menschensprache an die Stoffe und Kräfte der Natur heran, dicht heran, zum Greifen nahe, daß wir die Erscheinungen mit den Zangen unserer Worte fassen könnten, - ja, dann besäßen wir freilich ein adäquates System der Welterkenntnis durch Sprache. Die Untersuchung aber, die eben die ewige Unnahbarkeit zwischen Wort und Natur beweisen wollte und bewiesen hat, die Untersuchung, die ein menschliches, ein sprachliches System in der Welt nicht zu erblicken vermag, kann kein System der Welterkenntnis bieten, kann darum vielleicht nicht einmal von der Darstellung des Verhältnisses Systematik verlangen.

Jedermann hat die Fehler seiner Vorzüge. Glücklich genug, wenn ich die Vorzüge meiner Fehler gehabt habe.

Wer Sprachkritik treiben will, ernsthaft und radikal, den führen seine Studien unerbittlich zum Nichtwissen. Der Forscher auf kleinem Gebiete muß sich auf die Forschungsergebnisse der Nachbargebiete verlassen. Gerade aber auf die Grundbegriffe, auf die Prinzipien oder Elemente der großen Wissensgebiete ist kein Verlaß. Unbewiesen sind die obersten Sätze der Mathematik und der Mechanik, der Chemie und der Biologie. Undefiniert sind alle obersten Begriffe. Und mit diesen obersten Sätzen und Begriffen muß die Sprachkritik arbeiten. Daher mag es kommen, daß die Männer keine Systematiker waren, die in ihrer Weltanschauung zuerst sprachkritische Ahnungen äußerten. VICO und WILHELM v. HUMBOLDT waren keine Systematiker.

Der genialische Sprachkritiker HAMANN haßte und verachtete die Eitelkeit, gleich Systeme zu machen".
"Diejenigen Studierenden, deren Bücher allezeit sehr richtig gestellt sind, in deren Stube es allezeit ordentlich und aufgeräumt aussieht, so, daß jedes seinen eigenen Nagel hat, haben eine gewisse Art von Einbildungskraft, welche dem Verstande und dem Gedächtnisse ganz zuwider ist."
Der ausgezeichnete Menschenkenner HUART hat diesen Satz geschrieben, der junge Gelehrte LESSING hat ihn so übersetzt. In der halbverschollenen "Prüfung der Köpfe".

Ein System also kann Sprachkritik nicht sein, ihrem Wesen nach nicht. Nur der Vortrag meiner Gedanken hätte wohl - wie gesagt - ordentlicher werden können, wenn ich über einen bessern Kopf verfügte als den meinen.

Und auch manche Überhebung des Ausdrucks wäre besser fortgeblieben. Ich verfüge aber auch über kein reineres Herz als das meine.

Es gab in den Monaten der Umarbeitung hochmütige Stunden, in denen ich die Macht fühlte, erdenfeste und erdennahe Mystik mit himmelheiterer und himmelferner Skepsis zu verbinden, in denen ich meine Aufgabe gelöst zu haben glaubte: Unmöglichkeit von menschlicher Welterkenntnis zu lehren. Denn unsere vielgerühmte Beherrschung der Natur ist nur Ausbeutung der Natur, ohne Verständnis. Wie das Altertum seine Sklaven ausbeutete, ohne das Menschliche in ihnen zu erkennen. Ein Lehrer mußte kommen, Achtung vor dem wimmernden Menschen zu predigen. Unser Geständnis des Nichtwissens wird Achtung vor der sprachlosen Natur lehren.

Es gab demütige Stunden, in denen alle aufreibende Arbeit an sprachkritischen Aufgaben nur geringwertig erschien gegen die Tätigkeit von Männern, die kämpfend im Leben stehen, gegen das Bemühen der Naturwissenschaft, der Menschheit mehr Lebensfreude, einem armen Kinde ein dickeres Butterbrot zu verschaffen.

Und ich könnte nicht einmal sagen, ob die hochmütigen oder die demütigen Stunden die bessern waren.

Ich könnte nach so ernsten und erregenden Stunden der Selbstprüfung und Zerknirschung, der Selbstgerechtigkeit und Beichte nicht in die Niederungen einer persönlichen Antikritik hinabsteigen. Die Antworten wären zu leicht. Ein unbeträchtlicher Gelehrter, der noch nie einen eigenen Gedanken vorgetragen, der immer nur aus den Büchern ansehnlicherer Forscher seine Büchlein systematisch zusammengezupft hat, wirft mir vor, viele meiner Urteile über heute angesehene Herren seien absprechend. Ich möchte ihm nicht gern erst erwidern: Absprechen ist nicht so leicht wie Abschreiben.

Ein gründlicher Fachmann, den ein Kollege mahnte, sich mit den Gedanken meiner Sprachkritik auseinander zu setzen, rief in menschlich begreiflicher Entrüstung aus: "Soll ich meine Kollegienhefte verbrennen?" Ich möchte darauf nicht gern mit einem einfachen "Jawohl" antworten.

An dieser Stelle, wo Persönlichstes zu Worte gekommen ist, wollte ich noch Zweien danken, ohne deren starke und schlichte Hilfe ich einige Jahre von Krankheit und Arbeit schwerlich überstanden hätte. Nennen darf ich aber nur meinen Bruder Gustav, der mir öffentlichen wie privaten Dank bei Lebzeiten verwehrt hätte; jetzt aber ist er seit vier Jahren tot. Und den andern Dank, der im ersten Vorwort zu Worte kam, möchte ich erneuern.

Freiburg i. B., im Sommer 1906.
Fritz Mauthner.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906