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FRITZ MAUTHNER
Sprache der Poesie
I -08

"Doch die höchsten Poesien
Schweigen wie der tiefste Schmerz;
Nur wie Geisterschatten ziehen
Stumm sie durchs gebrochne Herz."

Der Dichter kann nie etwas anderes tun, als von der Alltagssprache ausgehen. Was in den Worten historisch und symbolisch an reichen Vorstellungen mit enthalten ist, das kann er nützen. Was aber in neu erfundenen Akkorden und Dissonanzlösungen noch namenlos hin und her schwebt, was in noch namenlosen Farbennüancen über den neuen Bildern flimmert und schimmert, ebenso, was die Wissenschaft dunkel ahnt, das ist noch nicht reif für die Sprache der Wortkunst, weil es eben noch nicht Sprachmaterial ist, weil die Vorstellung noch nicht unwillkürlich an die Schallwellen des Wortes geknüpft ist. Hier ist das Dilemma, die Antinomie: nur die Gemeinsprache ist für den Dichter Material; aber nur der ist ein Dichter, dessen Individualsprache reicher, stärker oder tiefer ist als die Gemeinsprache.

So wird selbst der naturalistische Symbolist leider häufig nur zum Sprachvirtuosen, der sich abmüht, das Unsagbare zu sagen. Nur selten wird es ihm gelingen, die Sprache um ein Wörtchen zu bereichern. Der große Dichter unserer Zeit wäre eben der, der die neuen Vorstellungen von Musik, Malerei und Wissenschaft in solche Worte umsetzen könnte, daß sie gleich Worte der poetischen Sprache würden. Mit dem Stammeln und Lallen und Klangnachahmen ist nicht viel getan. Klarheit wäre das erste Erfordernis jeder brauchbaren Sprache, der Kellnersprache, der Forschersprache und der Poetensprache. Aber mit der Klarheit allein wird ein Wort noch nicht poesiefähig. Wie der Mensch alles Erbe seiner Ahnen unbewußt mit sich trägt, so ist jedes Wort der Poetensprache bereichert von seiner eigenen Geschichte und von den Symbolen der Geschichte. In tiefstem Grunde unterscheidet sich die Sprache der Poesie und der Prosa nur dadurch, daß die Poesie die Worte in der Fülle ihres historischen Reichtums gebraucht, die Prosa in der Magerkeit ihres Tageswertes. Und darum kann nur derjenige ein Sprachschöpfer sein, ein Mehrer der Poetensprache, der für die neuen Stimmungen Worte findet, besondere Worte von scheinbar historischer Prägung, Worte von symbolischer Fülle.

Daraufhin geprüft sind gerade die konsequenten Naturalisten arm. Auf die konventionelle Sprache wollen sie verzichten, eine neue zu schaffen sind sie außer stande; und so werden manche, jetzt viel bewunderte Geruchs-, Geschmacks-, Gesichts- und Tonsinfonien des Übergangsnaturalismus dereinst belächelt werden als die Schöpfungen einer Zeit, in welcher die Poesie aufhören wollte eine Wortkunst zu sein.

LESSINGs Laokoon wäre darum wieder ein recht zeitgemäßes Buch. Nachdem die Maler jahrzehntelang der Poesie ins Handwerk gepfuscht haben und auf unzähligen Genrebildern irgend einen Schwank, ein Abenteuer, kurz etwas Aussprechliches erzählten, ahmt jetzt wieder die Poesie, die der ganz Modernen, die neue realistische Malerei nach, namentlich darin, daß sie mit einem bedeutenden Wortaufwande die Konturen verwischt. So wie die Maler sich bemühen, durch Auflösung der scharfen Umrisse das Flimmern und Zittern des Lichts wiederzugeben, so möchten auch die Dichter als Affen der Mode Gestalten ohne Umriß schaffen, vor allem aber in den Schilderungen von Landschaften und Seelenzuständen mit den Malern wetteifern.

Die Maler haben insofern recht, als sie durch unbestimmte Farbeneindrücke die Fehler unseres Sehorgans nachahmen wollen; freilich REMBRANDT war den modernsten auch darin überlegen. Und es kann wohl eine Zeit wiederkommen, wo die Malerei einen Ruck von einem weitsichtigen Maler erhält, während jetzt die kurzsichtigen den Weg weisen.

Die Dichter aber haben jedenfalls unrecht, wenn sie die Grenzen zwischen Poesie und Malerei so gröblich verkennen. Zu den Unterscheidungsgründen der Grenzen, die LESSING vornehmlich aus den Stoffen und dem Zeitmotiv gezogen hat, kommt wohl noch als wichtigster der Unterschied der Kunstmittel.

Wenn meine Grundgedanken richtig sind, dann ist das Wort ohnehin so flimmernd und zitternd, so schwebend, daß es feste Umrisse überhaupt nicht bietet. Jeder einzelne Begriff ist ein á peu prés (fast), und dieser Fehler verstärkt sich natürlich in ungeheurer Steigerung durch die Kombinationen der Sprache im Satze. Wenn GOETHE von Mahadöh in dem schönsten deutschen Gedichte sagt:
    "Als er nun herausgegangen,
    Wo die letzten Häuser sind"
so spricht er mit seinem Kunstmittel der Sprache alles aus, was aussprechlich ist. Dabei bleibt aber die Vorstellung so unbestimmt, daß der Leser oder Hörer sich sowohl die letzten Häuser als auch den Gang des Gottes innerhalb der angedeuteten Stimmung frei ausmalen kann. Und wenn hundert Maler die Stelle illustrieren (ein gräßliches Wort) wollten, so würden sie hundert verschiedene Auffassungen haben können, von denen keine falsch sein müßte.

Wollte nun ein Moderner GOETHE übertrumpfen und z.B. das Bummelhafte oder Nachdenkliche des Gottesganges, dann wieder die Unbestimmtheit zwischen Stadt und Land (die letzten Häuser) durch konturlose Worte dämmernd malen, so würde er sinnlos handeln. Unsere bestimmtesten Worte sind so schwebend, daß die Poesie eben durch ihr einziges Kunstmittel von selbst so stimmungsvoll wird, wie die Malerei erst durch Aufwendung von raffinierter Kunst.

Die Poesie hat immer zitternde Umrisse, solange sie Poesie bleibt.

Gründlicher als durch Naturalismus und Symbolismus und alle übrigen kleinen Neuerungen der Technik kann die Poesie in unserer Zeit durch die neuen Stoffe umgewandelt werden, deren sie sich bemächtigt hat. Von den drei Gewalten, die uns lenken, Hunger, Liebe und Eitelkeit, waren der älteren Poesie nur die Illusionen bekannt, insbesondere die Illusionen der Liebe. Will man das Schaffen von ZOLA u.s.w. auf eine Formel bringen, so wird man sagen können: die drei Gewalten seien ihrer Illusionen entkleidet worden, und insbesondere die Liebe habe aufgehört, den Mittelpunkt der dichterischen Phantasie zu bilden. Der Kampf ums Dasein gibt die tragischen, der Markt der Eitelkeiten die komischen Stoffe der neuen Zeit.

Fragt man einen Schüler oder einen Schulmeister, was ein Begriff sei, so wird er etwa antworten: eine Allgemeinvorstellung, die von Einzelvorstellungen "abstrahiert" sei. Wir haben - nach solchen Schulmeistern - unzählige Einzelverstellungen von Bäumen, wir kennen Tannen, Eichen, Nußbäume u.s.w., wir kennen viele Arten Tannen, von jeder Art wieder unzählige Individuen. Wir ziehen nun von diesen Bildern nach der landläufigen Lehre - das Zufällige ab: die Größe, die Farbe, die Form der Blätter u.s.w. und erhalten so die Allgemeinvorstellung, den Begriff.

Daß es so nicht in unserem Kopfe zugehe, das hat schon der phantastische BERKELEY gegen LOCKE behauptet, und zwar sehr scharf. Er könne sich nicht ein Dreieck vorstellen, das nicht eine bestimmte Form habe, spitz-, recht- oder stumpfwinklig sei.

Daß unsere Allgemeinvorstellungen oder Begriffe durch Abstraktionen entstehen, das kann man bei hohlen Nüssen wie: Tugend, Unsterblichkeit u. dgl. den Leuten einreden. Sowie aber die Wirklichkeitswelt verglichen wird, dürfte es ohne Beweis einleuchten, daß es eigentlich Allgemeinvorstellungen gar nicht gibt, daß es in unserem Gedächtnis nur ähnliche, ineinander fließende, verwaschene Vorstellungen gibt, die in Vorrat hinter dem Begriff stehen, und aus denen die Phantasie immer diejenigen hervorlangt, die sie gerade braucht oder die ihr die unbewußte Assoziation zuführt.

Wobei nicht zu vergessen ist, daß nur wenige Menschen beim Wortgebrauch es auch für nötig halten, den einzelnen Begriff oder das Wort jedesmal aus dem Vorrat der Vorstellungen zu speisen und sie so lebendig zu machen oder zu erhalten. Der gewöhnliche Romanleser (wie der sudelnde Schreiber) stellt sich bei Sätzen wie. "Die Pferde trabten durch die Heide" gar nichts vor, und wenn er die ihm wohlbekannten Worte dennoch zu verstehen glaubt, so kommt es daher, daß eben der Voratellungsvorrat hinter den Begriffen steht, wie die unendliche Melodie des WAGNERschen Orchesters hinter den gesungenen Worten, und daß unbewußt bei "Pferd", traben", "Heide" irgend etwas Nebelhaftes mitklingt. Daher die vielen albernen Romanphrasen, die den Spaß des Kladderadatsch machen. "Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und streckte dem Grafen die aristokratisch feine Rechte entgegen." Das kann der Sudler nur schreiben, weil er den Begriff ohne Vorstellung gebraucht. Und dabei ist er doch gewiß noch phantasiereicher als sein Leser, als Peter und Paul.

Ebenso vorstellungslos gebraucht die Wissenschaft ihre Worte, nur daß sie sie mit einer gedankenlosen Zuversicht wie unveränderliche mathematische Zeichen anwendet. "Das Pferd ist ein Säugetier", wird fast ohne jede Vorstellung gesagt.

So geht es beim gewöhnlichen Wortgebrauch des Schwätzers und des Gelehrten zu. Anders wird es, wenn die Sprachforschung oder eine Verlegenheit uns zwingt, grelles Licht auf einen Begriff oder ein Wort fallen zu lassen; wir fühlen dann, wie sich eine Fülle von Einzelvorstellungen vor das Nadelöhr unseres Bewußtseins drängt, bereit, hindurchzugehen und den Begriff lebendig zu machen. Wir können dann rasch sehr viel nacheinander vorstellen und haben die Selbsttäuschung einer Allgemeinvorstellung.

Da nun aber die Erinnerung an eine Einzelvorstellung wohl verblassen und verschwimmen, aber niemals sich recht eigentlich mit einer anderen verbinden kann, so scheint ein Zustandekommen ehrlicher Allgemeinvorstellungen oder Begriffe geradezu unmöglich. Was ist es nun, was uns doch in uns als Allgemeinvorstellung oder Begriff,  außer  uns als Wort so wohl bekannt ist?

Eine Vermischung, wie sie sonst im Träumen stattfindet, und wie sie im Wachen nur möglich ist durch Mitwirkung der sogenannten Phantasie, der dichterischen Phantasie, welche ja mit dem Träumen so viele Ähnlichkeit hat. Ohne diese Mitwirkung war keine Sprache, war kein einziger Begriff möglich. Ein dichterisches Genie war, wer in Urzeiten zuerst seine Einzelvorstellungen von Tannen, Eichen u.s.w. durch das Lautzeichen "Baum" festhalten konnte, und nur wieder eine Art dichterischer Phantasie knüpft heute noch an das Wort "Baum" lebhafte Vorstellungen.

Dabei stimmt es gut zu meiner Lehre, daß nämlich die Sprache durch Metaphern entstanden ist und durch Metaphern wächst, wenn dichterische Phantasie die Worte immer wieder ergänzen und beleben muß.

Die Darlegung kann auf die späteren Ergebnisse dieser Sprachkritik (im 11. Kap. des II. Bandes) leider noch gar keine Rücksicht nehmen. Der Leser, der du Werk nicht zum zweitenmal gelesen hat - das wäre ein leeres Buch, das nicht zweimal gelesen werden müßte -, wird auch mit dem Begriffe der Zufallssinne noch nicht viel anzufangen wissen. Aber er wird es mit Zustimmung aufgenommen haben, wie ohne Entfernung vom LESSINGschen Standpunkte schon die überragende Stellung der Poesie den anderen möglichen Künsten gegenüber und wie die Unwahrheit in der Überschätzung des Dramas angedeutet werden konnte. Nun aber werden wir lernen, was alle Theorie der Künste aufs neue ins Wanken bringt: wir lehren ja, daß unsere fünf Sinne Zufallssinne sind und daß unsere Sprache, aus den Erinnerungen dieser Zufallssinne entstanden und durch metaphorische Eroberungen auf alles Erkennbare ausgedehnt, niemals Anschauung der Wirklichkeit zu geben vermag.

Die vorerst noch paradoxe Vorstellung, daß unsere Sinne Zufallssinne sind, läßt den höheren Wert der Wortkunst noch heller hervortreten. Wie erst das Wort oder der Begriff die verschiedenen Eigenschaften substantivisch zusammenfaßt, welche die einzelnen Sinne gewissermaßen vorhistorisch, ja vormenschlich als Wirkungen z.B. der Nachtigall wahrgenommen haben, wie das Wort Nachtigall für die Phantasie mehr leistet als die Erinnerung an eine der Beobachtungen, deren Ursache sie ist, so leistet die Poesie mehr als eine andere Kunst, ja mehr als die Summe aller anderen Künste. Denn wie unsere ganze Welterkenntnis nicht aus Deduktion, sondern aus Induktion entstanden ist, aus einer unvollständigen Induktion, wie es doch nur Stichproben aus der Wirklichkeitswelt waren, aus denen wir uns das Bild der Welt zusammensetzten, so vereinigt die Wortkunst die Daten der Zufallssinne zu einem Bilde, das durch seine Übereinstimmung mit sich selbst, d.h. durch die Möglichkeit seiner widerspruchslosen Wiederholung, doch mehr als Zufall zu sein scheint.

Aber diese hohe Tätigkeit der Wortkunst, die als Bild der Wirklichkeitswelt auch noch alle Versuche einer wissenschaftlichen Erkenntnis übertrifft, hat ihre Grenze an der Fähigkeit der Sprache, Anschauungen zu geben. Nicht nur die ältere Ästhetik, von ARISTOTELES bis LESSING, hoffte durch Worte eine Nachahmung der Natur herstellen zu können; das Wort Nachahmung gebraucht man nicht mehr, aber kein Dichter oder Ästhetiker scheint daran zu zweifeln, daß Bilder der Wirklichkeitswelt deutlich durch Worte hervorzurufen sind. VISCHER sagt zwar: "Wer die Kunst auf die Naturnachahmung stellt, erklärt sie für Spiel"; nachher spielt er ein wenig mit dem Worte "Spiel". Wir aber haben erfahren, daß Worte nicht Bilder geben und nicht Bilder hervorrufen, sondern nur Bilder von Bildern von Bildern. Wir kommen im praktischen Leben, dem Kellner gegenüber, mit den Worten der Sprache so gut aus, daß wir gewöhnlich übersehen, wie unfähig die Sprache ist, ihre letzten Absichten zu erreichenJedes einzelne Wort ist geschwängert von seiner eigenen Geschichte. Jedes einzelne Wort trägt in sich eine endlose Entwicklung von Metapher zu Metapher. Wer das Wort gebraucht, der könnte vor lauter Fülle der Gesichte gar nicht zum Sprechen kommen, wenn ihm nur ein geringer Teil dieser metaphorischen Sprachentwicklung gegenwärtig wäre; ist sie ihm aber wieder nicht gegenwärtig, so gebraucht er jedes einzelne Wort doch nur nach seinem konventionellen Tageswerte, als Spielmarke, und gibt mit diesen Spielmarken nur einen imaginären Wert, gibt niemals Anschauung.

Bevor ich weitergehe, möchte ich durch einige Äußerungen GOETHEs zeigen, wie nahe er einer solchen erkenntnistheoretischen Auffassung war. In einem seiner Sprüche in Prosa (951) sagt er:
"Nicht die Sprache an und für sich ist richtig, tüchtig, zierlich, sondern der Geist ist es, der sich darin verkörpert; und so kommt es nicht auf einen jeden an, ob er seinen Rechnungen, Reden oder Gedichten die wünschenswerten Eigenschaften verleihen will: es ist die Frage, ob ihm die Natur hierzu die geistigen und sittlichen Eigenschaften verliehen hat. Die geistigen: das Vermögen der An- und Durchschauung; die sittlichen: daß er die bösen Dämonen ablehne, die ihn hindern könnten, dem Wahren die Ehre zu geben."
Es scheint mir, daß ich diesen tiefsinnigen Spruch trotz des argen Wortes Geist für mich in Anspruch nehmen kann; was GOETHE meint, ist doch offenbar: nicht auf die Worte kommt es an, die jemand in seinen "Rechnungen, Reden oder Gedichten" (die Dreiteilung ist köstlich) gebraucht, sondern auf die den Worten zu Grunde liegenden psychologischen Vorgänge, die wir nicht mehr in geistige und sittliche zu unterscheiden brauchen, sondern in seine erworbene Erfahrung und in seinen angeborenen Charakter.

Diese Untersuchung wäre auf der Stelle beendet und entschieden, wenn wir uns der theoretischen Führung von MAURICE MAETERLINCK anvertrauen wollten.

Das heilige Schweigen ist sonst auch bei anderen Völkern im Sprichwort und in den Versen einsamer Dichter gefeiert worden. In Deutschland haben einst die Mystiker, dann später die Romantiker (NOVALIS) die heimliche Stimme des Schweigens verstehen gelehrt. Der ehrliche JUSTINUS KERNER, Romantiker und Mystiker zugleich, hat das Gefühl in recht hübsche Verse gebracht.
    "Poesie ist tiefes Schmerzen
    Und es kommt das echte Lied
    Einzig aus dem Menschenherzen,
    Das ein tiefes Leid durchglüht.
    Doch die höchsten Poesien
    Schweigen wie der tiefste Schmerz;
    Nur wie Geisterschatten ziehen
    Stumm sie durchs gebrochne Herz" ...
Leidenschaftlicher ist HEINRICH v. KLEIST, auf manchem Gebiet ein wilder Gegner des Rationalismus. Er schreibt in verzweifelter Journalistenzeit:
"Wenn ich beim Dichten in meinen Busen fassen, meinen Gedanken ergreifen und mit Händen, ohne weitere Zutat, in den Deinigen legen könnte, - so wäre, die Wahrheit zu gestehen, die ganze innere Forderung meiner Seele erfüllt."
(Da tönt doch tiefere Sehnsucht, als aus SCHILLERs Sprache der Seele.) Seit einiger Zeit haben auch die Franzosen, die berühmtesten Causeurs oder Schwätzer der Erde, die Heiligkeit des Schweigens empfinden gelernt, wie es scheint, unter dem Einfluß englischer und skandinavischer Schriftsteller, denen sie nach der großen Niederlage eine gute Wirkung auf den Charakter und auf die Vermehrung der Nation zutrauten. Bei einem feinfühligen Vollblutfranzosen wie MAUPASSANT ist eine solche Andacht zum Schweigen nur vorübergehende Stimmung. Bei MAETERLINCK wird diese Andacht zu einer Religion, und weil er ein Dichter ist und dennoch das Schweigen höher stellt als die Worte, so entsteht die eigentümliche Poesie, die bald rührend, bald komisch ist wie das schlafende Schweigen oder wie das unfertige Lallen eines Kindes.

MAETERLINCKs Poesie ist für mich ein Symptom dafür, daß die Überzeugung von der Wertlosigkeit der Sprache in der Luft liegt, wie man sagt, daß auch ganz unphilosophische Köpfe unabhängig voneinander zu ahnen anfangen, wie die Menschen mit all ihnen ungeheuren Wortschatz einander nicht mehr sagen können, als auch ein Blick, ein Seufzer oder eine Geste aussprechen könnte. Das Seltsame und in der Tat Komische dabei ist nur, daß die Poesie Wortkunst und nichts als Wortkunst ist und nun dennoch auf die geläufige Sprache erwachsener Menschen verzichten will. Bei einem Poeten wie MAETERLINCK ist diese verstummende Poesie immerhin beachtenswert; er empfindet eben mehr, als seine Sprache auszudrücken gestattet. Bei seinen armen Nachahmern, weiche ein Gefühl über die Sprache hinaus nur heucheln, wird dieses kindische Lallen zu einer lächerlichen Verirrung der Mode.

In einem kleinen Aufsatz über das Schweigen hat MAETERLINCK sowohl die Tiefe seiner Andacht als die Grenzen seines Denkens verraten. Ich entnehme ihm einige Sätze, welche seiner Überzeugung von dem Unwert der Sprache hübschen Ausdruck geben.
"Man muß nicht glauben, daß die Sprache jemals der wirklichen Mitteilung zwischen den Wesen diene. Die Worte können die Seele nur in der gleichen Weise vertreten, wie z.B. eine Ziffer im Kataloge ein Bild bezeichnet; sobald wir uns aber wirklich etwas zu sagen haben, sind wir gezwungen zu schweigen.... Wir reden nur in den Stunden, wo wir nicht leben, in den Augenblicken, wo wir unsere Brüder nicht wahrnehmen wollen und wo wir uns in einer großen Entfernung von der wirklichen Welt empfinden. Und sobald wir sprechen, verrät uns irgend etwas, daß irgendwo göttliche Pforten sich schließen. Auch sind wir sehr geizig mit dem Schweigen; und die Unklügsten unter uns schweigen nicht mit dem ersten besten .... Ich denke hier nur an das aktive Schweigen; es gibt aber auch ein passives Schweigen, welches nichts ist als der Reflex des Schlummers, des Todes oder des Nichtseins. ... Sobald zwei oder drei Menschen sich begegnen, denken sie nur daran, den unsichtbaren Feind zu verscheuchen; denn die meisten gemeinen Freundschaften lieben keinen anderen Grund als den Haß gegen das Schweigen. ... Sobald die Lippen schlafen, erwachen die Seelen und gehen ans Werk; denn das Schweigen ist voll, von Überraschungen, von Gefahren und von Glück. . . . Willst du dich wahrhaft einem Menschen hingeben, so schweige: und wenn du Furcht davor hast, dich mit ihm auszuschweigen, so flieh ihn; denn deine Seele weiß bereits, woran sie ist.... Wir kennen uns noch nicht, schrieb mir jemand, den ich vor allen liebte, wir haben noch nicht gewagt, zusammen zu schweigen.... Man wägt die Seelen im Schweigen, wie man das Gewicht von Gold und Silber in reinem Wasser prüft; und die Worte, welche wir aussprechen, verdanken ihren Sinn nur dem Schweigen, in welchem sie sich baden."
Immer kehrt der Gedanke wieder, daß zwei menschliche Wesen einander durch die Sprache nichts Wesentliches sagen können. über diese ethisch-poetische Betrachtung der Sprache gelangt MAETERLINCK nicht hinaus; niemals kommt ihm auch nur von ferne der Einfall, es werde sich durch die Sprache auch Erkenntnis nicht ausdrücken lassen. Mit dem naiven Vertrauen eines Dichten verachtet er die Sprache nur, soweit er selbst mit ihr zu tun ist, traut ihr aber auf fremdem Gebiet alle möglichen Fähigkeiten zu. Ein klarer Denker ist er nicht. Und so ist es kein Wunder, daß er auf seinem eigensten Gebiete den Fehler begeht; durch welchen die menschliche Sprache für die Erkenntnis überhaupt unfähig geworden ist, ich meine nicht geworden nach einem früheren besseren Zustande, sondern geworden von Anfang an.

Wie nämlich die menschliche Sprache in Bildern entstand, aus Bildern geworden ist, und wie insbesondere in den Wissenschaften der Schein, welchen wir die Gesetze, die Ursachen u.s.w. nennen, von nun in die Wirklichkeit hinein personifiziert ist, so wird dem Dichter MAETERLINCK das Schweigen selbst zu einer Personifikation, zu etwas Wirklichem, zu einer positiven Macht. Lächelnd rächt sich die Sprache an ihrem Verächter und läßt ihm das einzige Wort, bei welchem ein Nichtdichter ganz sicherlich an keine Personifikation denken kann, läßt ihm das Schweigen zu einem mystischen Etwas, zu einer Gottheit, werden. Das kommt wohl davon, daß auch MAETERLINCK nicht stolz genug ist, um ehrlich zu schweigen, daß er eitel genug ist, über das Schweigen zu reden. Eitel? So eitel wie diese Sätze. Nicht prahlerisch; eher vergeblich.

Für diesen eitlen Gebrauch der falschen Sprache finde ich bei MAETERLINCK kein besseres Beispiel als (in dem Drama  Aglavaine und Sélysette)  einen Satz, der je nach der Stimmung des Lesers zum Nachdenken oder zum Lachen auffordern kann: "Il n'y a rien de plus beau qu'une clef, tant qu'on ne sait pas ce qu'elle ouvre." Das Schönste auf der Welt ist also ein Schlüssel, solange man nicht weiß, was er aufschließt. Man könnte MAETERLINCKs Sprache nicht plastischer zeichnen, man könnte sich nicht feiner über sie lustig machen. Er predigt das Schweigen, aber sein Predigen ist natürlich Sprache. Er lehrt, daß die Sprache die Menschen trenne, anstatt sie zu verbinden, daß sie zwischen den Menschen sei, aber nicht als eine Brücke, sondern als eine Wand. Sehr schön, und ich berufe mich gern darauf, daß diese Abwendung von der Sprache durch ihn eine Sekte zu bilden beginnt. Doch - wie gesagt - in der poetischen Praxis spricht er, zwischen den Worten, wie er meint, aber die Poeten aller Zeiten haben ihr Bestes immer zwischen den Worten hören oder lesen lassen. Und so kehren wir zu der ersten Frage zurück: Gewähren uns die Worte, selbst in der Sprache der Poeten, irgendwelche Anschauung? Fassen wir die beiden extremsten Fälle ins Auge. Der Dichter soll einmal das Unsagbarste ausdrücken wollen, eine Landschaftsstimmung, das andere Mal das Sagbarste, einen sogenannten konkreten Gegenstand.

Für den ersten Fall denken wir an SCHILLERs Gedichtanfang: "Es lächelt der See." Daß das Lächeln des Sees eine Metapher sei, wird uns jeder Schuljunge sagen: Gemeint sei eine gewisse Heiterkeit des Landschaftsbildes. Die kürzeste Besinnung belehrt uns aber, daß Heiterkeit noch dieselbe Metapher ist; die Natur ist nicht heiter, nur die Menschen können es sein. Das Lächeln bedeutet also weiter nur Helligkeit.

Mit der Helligkeit allein ist es aber auch nicht getan. Stellen wir uns vor, wir stehen am Ufer des Sees unter der glühenden Sonne eines Julimittags, so empfinden wir nicht die Stimmung der Heiterkeit, weil die Hitze unserer Empfindung näher liegt als die Beleuchtung. Nun aber der "See", was sagt uns dieses Wort? Vor allem jedem nur das, was er einmal erlebt hat. Es kann ein See in der Ebene, es kann ein See im Hochgebirge sein, ein kleiner oder ein großer See, ein See im Walde oder ein baumloser See, ein See mit Menschenstaffage oder ohne solche, ein grüner oder ein blauer See, der schwarze See von Plöckenstein u.s.w. Gibt aber "es lächelt der See" auch nur eine dieser möglichen Anschauungen? Ich glaube, nein. Der Dichter selbst, besäße er diese lebhafte Malerphantasie, wäre ein Maler und kein Dichter geworden. Und vollends der Leser oder Hörer wird nur in Ausnahmsfällen die Anschauung an ein bestimmtes Landschaftsbild in sich "aufgeregt" finden und dann wahrscheinlich der Dichtung gar nicht mehr folgen können. Was in ihm geweckt wird, das ist eine ganz unbestimmte Empfindung; an das Wort See allein schon ist durch jahrhundertlangen Gebrauch eine Stimmung geknüpft, das Wort löst nicht die Seeanschauung aus, sondern - besonders in der Seelensituation des Poesieaufnehmens - nur diese Seestimmung, die zuinnerst eine metaphorische Anwendung des Seebildes auf menschliche Gefühle ist und die durch die Verbindung mit der deutlicheren Metapher "lächeln" nur differenziert wird.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906