cr-3 
 
FRITZ MAUTHNER
Zufallssinne
I -18

"Erst aus einer Kritik der Sprache könnten vielleicht einige Anfangsgründe einer künftigen Psychologie entstehen."

Unser neuer Begriff "Zufallssinne " stellt sich derjenigen Auffassung entgegen, die, unbewußt von Philosophen wie von den naivsten Menschen angenommen wird: daß nämlich auf der einen Seite die Welt sei, auf der anderen Seite der Mensch mit Organen für sämtliche Erscheinungen der Welt. An dieser Vorstellung ändert philosophische Schulung nicht viel. Ob der Bauer annimmt, der Handschuh passe genau auf die Hand, oder ob KANT annimmt, es passe die Hand (die Welt der Erscheinungen) in den Handschuh (den Verstand), das ist für unseren Standpunkt gleichgültig. KANT sowohl wie der Bauer meinen, Verstand und Welt passen aufeinander wie das Schneckenhaus zur Schnecke, wie die beiderseitigen Geschlechtsteile einer Tierart, wie der krumme Türkensäbel zur krummen Scheide. Nach meinem Dafürhalten rühren Jahrtausende alte metaphysische Streitigkeiten darüber, wie die Übereinstimmung zwischen Außenwelt und Innenleben zu erklären sei, nach meinem Dafürhalten rühren die ungeheueren metaphysischen Irrtümer, als da sind Theismus, Okkasionalismus und Darwinismus, davon her, daß niemand das Wesen der Zufallssinne ahnen will, daß niemand bisher ahnte, wie wenig die Welt und unsere armen fünf Sinne zueinander passen, wie vielmehr die Organismen in ihrer Lebensnot in sich diese verzweifelten fünf Sinne ausgebildet haben, um sich, das heißt ihr Leben und das ihrer Nachkommen, dem Nachbarleben anzupassen. Die Außenwelt ist ein Ozean von Wirklichkeiten und Möglichkeiten, von Elementen und Kräften, vielleicht von wirklich gewordenen Möglichkeiten. Was wissen wir davon? Nicht einmal auf dem Gebiete der handgreiflichen und hausbackenen Chemie reichen unsere Sinne für irgend eine Erkenntnis der Wirklichkeit aus. Wir unterscheiden kaum Arsenik von Zucker, wenn wir nicht die List zu Hilfe nehmen, verschiedene Sinne gegeneinander auszuspielen. Durch diese und durch andere Listen haben wir es so weit gebracht, etwa achtzig Elemente zu unterscheiden; wir empfinden die brutale Sinnlosigkeit dieser Ziffer und wissen uns doch nicht anders zu helfen und stehen wie die Ochsen vor einem neuen Tor, wenn plötzlich ein Engländer in dem verbreitetsten aller Stoffe, in der Luft, neue Elemente listig entdeckt. Nicht einmal für die Eckigkeiten und Dreckigkeiten des chemischen Atomismus langen also unsere Sinne.

Und nun gar für die Kräfte! Nach der gegenwärtigen Anschauung der Physiker gibt es da draußen irgendwo Schwingungen, überall, endlos. Wenn unsere Sinne dazu ausreichten und wenn das mit den Schwingungen genau zu nehmen wäre, wie müßte ein Kügelchen Luft von der Größe eines Tautropfens aussehen? Schwingen müßte in ihm stärker oder schwächer zu gleicher Zeit jede Wärme, jedes Licht, jeder Ton, der irgendwo gerade auf der Erde oder auf dem letzten Stern der Milchstraße seine Wellen zieht; nachschwingen müßte bis ins Unendliche jeder Ton, jede Farbe, jede Erwärmung und jede elektrische Entladung, die jemals irgendwo auf der Erde oder irgendwo auf der Milchstraße ihre unvergänglichen Wellenkreise begonnen haben. Die Schwingungen, welche in einem Luftteilchen sich chaotisch und doch harmonisch durchkreuzen, wenn in einem Konzertsaale das ganze Orchester einen komplizierten Akkord mit allen seinen Tönen und den Nebentönen aller Instrumente erklingen läßt, dieses durch keine mathematische Formel entwirrbare Durcheinander von Wellen wäre aber doch die vollkommenste Ruhe zu nennen im Vergleiche zu den kosmischen Wellenkreuzungen jenes Luftkügelchens von Tautropfengröße. Was aber nehmen unsere Sinne aus dieser Unendlichkeit der angenommenen Schwingungen wahr? Nichts wissen wir z.B. von den Schwingungen, die zwischen Ton- und fühlbaren Wärmeschwingungen die Welt erfüllen. Unsere Sinne haben zufällig kein Interesse gehabt, sich diesen Schwingungen anzupassen.

Ich will das durch das Beispiel der Wärmeschwingungen deutlicher machen. Was ist Wärme? Dem Sprachgebrauch nach bald eine Kraft (einerlei woher sie kommt), bald eine Empfindung unseres Leibes. Die exakte mechanische Wärmetheorie hat nichts daran geändert, daß "Wärme" bald eine Wärmeempfindung bezeichnet, bald ihre angenommene Ursache, bald also etwas Subjektives, bald etwas Objektives. So war es zur Zeit des Wärmestoffs, so ist es noch in den Tagen der Wärmeenergie. Von der Kraft wissen wir nichts, wir kennen nur ihre Erscheinungen. Es ist eine Erscheinung der Wärme, daß sie die Körper ausdehnt; es ist eine andere Erscheinung der Wärme, daß sie wie das Licht "Strahlen" aussendet; es ist eine dritte Erscheinung der Wärme, daß sie im lebendigen Organismus eine gewisse Empfindung erregt, die wir in unserer armen Sprache wieder nur Wärme nennen. Denken wir uns nun, unser Organismus wollte auf Wärmeeindrücke nicht so lebhaft reagieren, wie er es tut. Wüßten wir dann noch irgend etwas von der Wärme auf der Welt? Würden wir die Ausdehnung der Körper auf Wärme zurückführen? Schwerlich. Wir hätten ja kein Interesse an dieser Art von Schwingungen. Unsere wissenschaftliche List wäre durch kein Interesse angeregt worden, und die Wärme existierte nicht für uns, weil wir zufällig keinen Wärmesinn hätten.

So wurden auch die Erscheinungen der Elektrizität, abgesehen von den Spielereien mit Bernstein und anderen Harzen, bis vor kurzem nicht beobachtet, weil wir keinen Elektrizitätssinn haben. Daß wir unsere Empfindungsfähigkeit für Wärme in der Gemeinsprache nicht Wärmesinn nennen, sondern ihn mit dem sogenannten Tastsinn verwirren, rührt wieder von dem anderen Zufall her, daß für unseren Gesichtssinn (selbst mit der Hilfe des listigen Mikroskops) ein besonderes und ausgezeichnetes Organ für die Wärme nicht nachweisbar ist. Ein anderer Zufall hat es gewollt, daß die Gruppe der Tonschwingungen sich in die musikalischen Töne, die Gruppe der Lichtschwingungen sich in die Farben ordnen, während die Wärme für uns nur rohe Stärkegrade hat, aber nicht Artunterschiede wie Töne und Farben. Es ist darum nicht nur möglich, sondern meines Erachtens auch vorstellbar, daß andere Tiere wieder andere Zufallssinne haben, in denen z.B. die Wärmestrahlen in Artunterschiede auseinandergehen, während die Lichtstrahlen etwa nur nach Stärkegraden unterschieden werden. Die irdische Tierwelt mag dabei, wenn der Entwicklungsgedanke recht hat, irgendwie nur für Töne, Wärme und Licht empfänglich sein; es wären aber Organismen denkbar, die wieder für Schwingungsreihen zwischen Ton und Licht empfänglich wären, welche z.B. weder den Schlag des Hammers auf das Eisen hörten, noch das Rotglühen des Eisens sähen, dafür aber irgend etwas empfänden, wofür wir leblos sind wie der Blinde für das Licht.

Die größten Denker unter denen, welche die Wirklichkeit transzendental erklärten, sind dieser Vorstellung von Zufallssinnen nahe gekommen. Das berühmte Bild, durch welches PLATON die Unvollkommenheit der menschlichen Seele anschaulich zu machen sucht, hat mich selbst zuerst zu dem Begriffe der Zufallssinne geführt. Wie die Menschen in einer Höhle gefesselt sitzen, den Rücken gegen den Eingang der Höhle gewandt und so vor sich den Schatten der Dinge vorüberziehen sehen, die sich vor dem Eingang vorüberbewegen, so sitzt die Seele in der dunklen Höhle des Leibes und sieht die Schatten der Dinge, die durch die Öffnungen des Leibes von vorüberziehenden Dingen hineingeworfen werden. Zufällig ist die erscheinende Wirklichkeit hier, zufällig aber auch die Öffnungen des Leibes, zufällig endlich die Organisation dieser Öffnungen, der Augen und der Ohren. Diese letzte Zufälligkeit hätte PLATON zwei Jahrtausende vor DARWIN sich nicht einmal vorstellen können, abgesehen davon, daß PLATON der höheren Abstraktionen viel weniger fähig war, als man glauben sollte, wenn man sich seine Sprache in das nachhegelsche Philosophendeutsch falsch übersetzt. Der Wortrealismus PLATONs war noch naiv. Sein Idealismus (möchte ich sagen) hatte etwas Konkretes, sein Wortrealismus knüpfte gern an konkrete Worte an. PLATONs Ideenlehre war noch kein Rationahsmus. Sein Seelenbegriff braucht nicht erkenntnistheoretisch ernst genommen zu werden.

Aber KANT hätte nur einen Schritt weiter zu gehen brauchen, um das Wesen der Zufallssinne zu entdecken. Der Name KANTs ist ja geknüpft an die heute noch ungefähr gültige Lehre von der Entwicklung unseres Planetensystems, mit welcher jede mechanische Darstellung einer Entwicklungslehre beginnt. Es wäre KANTs würdig gewesen, die Ideen seines Gegenkritikers HERDER zu vertiefen und den Gedanken einer allmählichen Entwicklung des menschlichen Verstandes zu fassen. Rühmt er sich doch einmal (in der Vorrede zur zweiten Bearbeitung der Vernunftkritik), daß er mit der Aufstellung eines unerkennbaren Dings-an-sich, mit der Lehre, die Welt sei ein Geschöpf des Verstandes und seiner Anschauungs- und Denkformen, die Menschheit ebenso auf sich selbst gestellt habe wie es KOPERNIKUS durch die wahre Lehre vom Zentrum des Sonnensystems tat. In der astronomischen Weltanschauung war KANT über KOPERNIKUS und NEWTON hinausgegangen und hatte (wie nachher LAPLACE einer Anregung BUFFONs folgend) eine Entwicklung der Erde gelehrt. Es scheint uns heute fast eine architektonische Forderung, daß KANT, als er das Zentrum der Wirklichkeitswelt aus der Welt hinaus verlegte, nämlich in den menschlichen Verstand, er nun auch diesen Verstand sich entwickeln ließ, wie es jetzt, seit SPENCER, die gemeine Vorstellung geworden ist. Daß KANT diesen Schritt nicht unternahm, vielleicht auf Grund seiner Vorstellung, von Zeit und Raum nicht unternehmen konnte, ist nur mit der Einseitigkeit des Genies zu erklären. Denn indem er die Wirklichkeitswelt für ein unerkennbares Ding-an-sich erklärte, unsere Anschauungs- und Denkformen zu einer reinen Verstandesarbeit machte, ging er noch weit über eine Entwicklungslehre des Verstandes hinaus, ohne jedoch die Lehre selbst zu erfassen.

Ich wiederhole das Bild, das ich vorhin gebraucht habe. Daß die Wirklichkeit und der menschliche Geist zueinander stimmen, ist ein Rätsel, über welches nicht zu erstaunen schwer ist. Aber die Antwort, die der Bauer gibt, und die Antwort, die ein KANT gibt, stehen für einen höheren Gesichtspunkt auf gleicher Ebene. Der Handschuh paßt auf die Hand, sagt der Bauer und meint, eine höhere Intelligenz habe den Handschuh ausgesucht, habe ihn angepaßt, wie es die Handschuhmacherin tut. Die Hand paßt in den Handschuh hinein, würde ein konsequenter Platoniker sagen, weil die Hand nur die Materialisation des Handschuhs ist. KANT ist noch feiner und scharfsinniger; auch er meint eigentlich, es passe die Hand in den Handschuh, weil wir gar nicht wissen, ob der Handschuh mit einer lebendigen Hand oder mit Wolle ausgestopft sei; vielleicht ist die Größe des Handschuhs auch für das Wachstum der Hand entscheidend; genug: für unsere Vorstellung paßt schließlich doch der Handschuh auf die Hand. Hätte KANT sein Hauptwerk ausdrücklich "Kritik der menschlichen Vernunft" genannt (und er hätte dann von selbst das Adjektiv "rein" fortgelassen), so hätte ihm der Gedanke aufblitzen müssen, daß: so wie unsere Kenntnis von der Welt am Verstande, das heißt mit Hilfe des Verstandes geworden und gewachsen sei, so anderseits der Verstand an der Welt geworden und gewachsen sei.

Und wenn mich nicht alles trügt, so lag dann der Zusatz nahe: die Tore unseres Verstandes waren nicht immer dieselben, die Entwicklung des Verstandes ist eine Folge der Entwicklung unserer Sinne; Verstand ist überhaupt nur eine Abstraktion für die Komplexität unserer Sinneseindrücke, es ist nichts im Verstande, was nicht vorher in unseren sich entwickelnden Sinnen war, und die Entwicklung dieser Sinne ist ein Werk der Wirklichkeitswelt, die Sinne sind Zufallssinne. Die Tore unseres Verstandes, die Sinne, an denen jedes Ding als Wahrnehmung seinen Namen wie bei einem Torschreiber abzugeben hat, sind Breschen, welche die Wirlichkeitswelt in unser Innenleben hineingeschlagen und im Laufe der Entwicklung der Menschheit oder der Organismen erweitert hat, wenn anders wir einen Augenblick vergessen können, daß die Organismen bei der Entwicklung der Sinne nicht bloß passiv, sondern zu gleicher Zeit aktiv gewesen sein müssen. Wenn anders wir vergessen können, daß wir dem Darwinismus (dem echten, nicht dem deutschen Zerrbilde) gern den Begriff der Entwicklung und der zufälligen Entwicklung entnehmen, daß aber der Zweckbegriff noch einmal eine radikale Revision des Darwinismus nötig machen wird. Freilich hätte KANT seine Kardinalfrage, ob synthetische Urteile a priori möglich seien, mit einem Nein beantworten müssen. Dazu aber hätte KANT mehr Vorurteilslosigkeit besitzen müssen, als er besaß. Er stellte aber dem sensualistischen Satze: "Es ist nichts im Intellekt, was nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre", triumphierend mit LEIBNIZ den Nachsatz entgegen "nur nicht der Intellekt selbst". Daß der Intellekt empirisch zu begreifen sei, das war ihm noch klar; daß der Intellekt aber empirisch, das heißt durch Erfahrung erst geworden sei, das ging noch über KANTs Kraft. LOCKE, gegen welchen LEIBNIZ sich wandte, hatte das Bild gebraucht, es sei der Verstand ein weißes Blatt, auf welches die Welt durch die Erfahrung ihre Zeichen mache. KANT war sicherlich geneigt, die Sache so aufzufassen, daß die Zeichen auf dem Papier mit irgend einer sympathetischen Tinte vorher aufgemalt seien und durch die Welt erst sichtbar würden. Die gegenwärtige Weltanschauung, die des Darwinismus etwa, würde nun in dem Papier etwas erblicken wie das präparierte Papier, auf welchem die Photographen ihre Bilder aufnehmen. Wir haben, wenn wir die christliche Scholastik als die Vorgeschichte der LOCKEschen Psychologie mit hinzudenken, da die drei Irrtümer der Menschheit hintereinander: die theologische Teleologie, den Okkasionalismus und die Entwicklungslehre, wobei uns KANT als ein verfeinerter Okkasionalist, die Entwicklungslehre als eine verfeinerte Teleologie erscheint. Ich meine, daß erst der Begriff der Zufallssinne die Entwicklungslehre zwar leider nicht vollendet, wohl aber endlich unter die Sprachkritik bringt.

Der erste, der auf die Notwendigkeit einer sprachlichen Metakritik gegen KANT hinwies, mußte ohne rechte Wirkung bleiben, weil er nicht so hoch zu steigen vermochte, wie er gebaut hatte, weil er bei allem Spürsinn ein Wirrkopf war, weil ihm nur eine Empfindung für die letzten Feinheiten der Sprache gegeben, die Herrschaft über eine verständliche Sprache jedoch versagt war; es ist der alte, halb vergessene JOHANN GEORG HAMANN, KANTs Landsmann und guter Bekannter. In seiner "Metakritik über den Purismus der reinen Vernunft" stellt er konfus und doch genial die sprachkritische Forderung gegen KANT auf. Die Sprache sei das einzige, erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft, ohne ein ander Kreditiv als  Überlieferung  und  Usum,  "Es geht aber einem auch beinahe mit diesem Idol wie jenem Alten mit dem  Ideal  der Vernunft. Je länger man nachdenkt, desto tiefer und inniger man verstummt und alle Lust zu reden verliert ...  Rezeptivität der Sprache und Spontaneität der Begriffe!  - Aus dieser doppelten Quelle der Zweideutigkeit schöpft die reine Vernunft alle Elemente ihrer Rechthaberei, Zweifelsucht und Kunstrichterschaft, erzeugt durch eine ebenso willkürliche Analysis als Synthesis des dreimal alten Sauerteigs, neue Phänomene und Meteore des wandelbaren Horizonts, schafft Zeichen und Wunder mit dem Allhervorbringer und Zerstörer, dem merkurialischen Zauberstabe ihres Mundes, oder dem gespaltenen Gänsekiel zwischen den drei syllogistischen Schreibefingern ihrer herkulischen Faust - ". Sprache sei der Mittelpunkt des Mißverstandes der Vernunft mit ihr selbst; der Mißbrauch der Sprache um ihres natürlichen Zeugnisses, (so heißt es in "Golgatha und Scheblimini!") sei der gröbste Meineid und mache den Übertreter dieses ersten Gesetzes der Vernunft und ihrer Gerechtigkeit zum ärgsten Menschenfeinde, Hochverräter und Widersacher deutscher Aufrichtigkeit und Redlichkeit; gegen MENDELSSOHN spricht dabei HAMANN von einem "Schlangenbetrug der Sprache". Und gegen KANTs Vernunftbegriff heißt es wieder in der Metakritik mit erfrischendem Übermut: "Hier schnarcht der HOMER der reinen Vernunft ein so lautes Ja! wie Hans und Grete vor dem Altar, vermutlich weil er sich den bisher gesuchten allgemeinen Charakter einer philosophischen Sprache (HAMANN denkt an LEIBNIZsche, von JOHN WILKINS entlehnte Ideen, die zu keinem Ziele führten) als bereits erfunden im Geiste geträumt". Aber schon in einem Briefe von 1759 weiß HAMANN: "Ein kleiner Zusatz neuer Begriffe hat allemal die Sprache der Philosophie geändert." Wir werden uns mit dem wüst genialischen HAMANN noch mehr als einmal zu beschäftigen haben. Er war der erste, der in der Sprache den Feind erriet; aber im Kampfe gegen diesen Feind unterlag der Schriftsteller HAMANN.

Ganz und gar unter dem dämonischen Einflusse HAMANNs stand GOETHEs Freund FRITZ JACOBI, als er - JACOBI bekämpfte KANT sonst harmlos vom Standpunkte eines religiösen Gemüts - in "Allwills Briefsammlung" die erstaunlichen Worte niederschrieb, die eine Sprachkritik ausdrücklich als eine Fortsetzung von KANT verlangen, und die ich darum auch als ein Motto diesem Werke vorausstellen durfte:
    "Werde ich es sagen, endlich laut sagen dürfen, daß sich mir die Geschichte der Philosophie je länger desto mehr als ein Drama entwickelte, worin Vernunft und Sprache die Menächmen spielen ? ...

    "Dieses sonderbare Drama, hat es eine Katastrophe, einen Ausgang; oder reihen sich nur immer neue Episoden an?"

    "Ein Mann (KANT), den nun alles, was Augen hat, groß nennt, und der in seiner Größe fünfundzwanzig Jahre früher schon dastand, aber in einem Tale, wo die Menge über ihn wegsah, nach Höhen und geschmückten Bühnen - dieser Mann schien den Gang der Verwicklungen dieses Stücks erforscht zu haben und ihm ein Ende abzusehen. Mehrere behaupten, es sei nun dies Ende schon gefunden und bekannt. Vielleicht mit Recht ... Und es fehlte nur noch an einer  Kritik der Sprache,  die eine Metakritik der Vernunft sein würde, um uns alle über Metaphysik eines Sinnes werden zu lassen."
Den Begriff Entwicklung konnte KANTs Zeit kaum auf die Sprache, geschweige denn auf die Vernunft anwenden. KANT war ein bedeutender Gelehrter, auch in der Naturwissenschaft, doch da wie sonst im Banne der Sprache; so wenig er (GOETHEs Metamorphose der Pflanze erschien erst 1790, GOETHEs Beginn ernsthafter naturwissenschaftlicher Studien fällt in das Erscheinungsjahr von KANTs Kritik) an der Konstanz der Arten zweifelte, so wenig konnte er sich den menschlichen Verstand als etwas Gewordenes, als etwas Variierendes denken. Er mußte die ganze Descendenztheorie überspringen; umso bewundernswerter ist es, daß er erkannte, es stamme unsere Welterkenntnis nicht aus der Welt, sondern aus dem Verstande. Er konnte zu diesem Ergebnis nicht anders gelangen als durch eine ungeheure Kühnheit in der dialektischen Behandlung der Scholastik. Der mehr oder weniger materialistische Sensualismus der Engländer hatte eben darin geendet, daß nichts im Intellekte sei, als was vorher in den Sinnen gewesen wäre, daß es also nur Erfahrungssätze und die aus ihnen erschlossenen analytischen Sätze gebe, aber keine synthetischen Urteile a priori, das heißt, daß es überhaupt keine Sätze aus reiner Vernunft, daß es keine reine Vernunft gebe.

Gegenüber dem mechanistischen Sensualismus war es nun KANTs bedeutungsvolle Tat, auf die Selbstverständlichkeit, auf die Apriorität der Mathematik und (irrtümlicherweise) der Physik hinzuweisen, diese Apriorität aber nur für die Welt als Erscheinung zu behaupten, die Unerkennbarkeit der Welt an sich zu lehren und damit die Metaphysik zu zermalmen. Ich weiß nicht, wie man KANT ohne Zuhilfenahme der Sprachkritik ernste Widersprüche nachweisen will. Erst jetzt, wo nach einem hübschen Worte von PAULSEN der menschliche Verstand zu einem Gegenstand der Anthropologie geworden ist (aber PAULSEN meint nicht Sprachkritik), läßt sich meines Erachtens der Fehler KANTs erkennen und zugleich der Tiefsinn seiner Sätze ganz herausholen. Erst seitdem die Physiologie der Sinnesorgane und die Biologie der Organismen die Entstehung und die Funktion der Sinne genau so "widersinnisch" erklärt, wie KANT die Welt erklärt hat, können wir daran gehen, Verstand und Sinne als geworden zu betrachten und durch die weitere Einfügung des Begriffs der Zufallssinne dem Genie KANTs ganz gerecht zu werden.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906