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ALOIS RZACH
Fritz Mauthner

"Seine Absicht geht dahin, das langsame Erlöschen des Gottesglaubensdarzustellen und überhaupt eine Geschichte der Freidenkerei zu bieten."

FRITZ MAUTHNER, der in weiten Kreisen bekannte und geschätzte Schriftsteller, schneidige Kritiker und scharfsinnige Philosoph, erblickte am 22. November 1849 in Horitz,einem Städtchen auf dem historischen Boden der Gefilde von Königgrätz, das Licht der Welt. Sein Vater, ein wohlhabender Fabrikant, übersiedelte sechs Jahre später mit seiner Familie nach Prag, wo Fritz Mauthner am Neustädter, später (von 1866 bis 1869) an dem berühmten Kleinseitner Gymnasium die Mittelschulstudien absolvierte. Manches Erlebnis aus jener Zeit, das auch für die Kenntnis der allgemeinen und politischen Verhältnisse in Prag nicht ohne Wert ist, hat MAUTHNER in seinen "Erinnerungen", die im Jahre 1918 erschienen, niedergelegt, wenngleich, wie er mitunter selbst fühlt und der Autor dieses Lebensbildes bestätigen kann, einzelne Vorkommnisse ihm nicht mehr ganz treu im Gedächtnis geblieben sind.

Nachdem MAUTHNER im Juli 1869 das Maturitätsexamen mit vorzüglichem Erfolge abgelegt hatte, bezog er im Herbste dieses Jahres die Prager, damals noch ungeteilte Universität, um sich, allerdings ohne jede innere Neigung, dem Studium der Rechte zu widmen. Kaum daß er nach dessen Beendigung an einem Rechtsfall in einer Advokatenkanzlei tätigen Anteil genommen, der für ihn der einzige blieb, sagte er der, wie er bemerkt (Erinnerungen I, 161), ihm "verhaßten" Juristerei für immer ab, um Schriftsteller zu werden.

Mehr als die Rechtswissenschaft hatten ihn auf der Hochschule andere Gebiete angezogen: so hatte er sich eifrig einem engeren Kreis strebsamer Jünger angeschlossen, die sich um BENNDORF versammelten, als dieser im Sommer 1872 als Vertreter der damals neu errichteten Lehrkanzel der klassischen Ärchäologie seine Vorlesungen begann. Nicht minder beteiligte sich MAUTHNER an den Bestrebungen der Sektion für Philologie, Literatur und Kunst, welche dazumal innerhalb der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten begründet wurde.

Als in den ersten Maitagen des Jahres 1872 in dem wieder gewonnenen Straßburg die feierliche Eröffnung der Universität vor sich ging, entsandte die Prager deutsche Studentenschaft eine Abordnung von 20 Kommilitonen dahin, zu denen auch MAUTHNER zählte. Bei einer Festfahrt nach St. Odilien bot sich den Pragern, welche herzlichste Aufnahme gefunden hatten, Gelegenheit eine begeisternd Ansprache BRUNO AUERBACHs zu vernehmen: es war der Dichter, dem MAUTHNERs erste Skizze in seiner Schrift "Nach berühmten Mustern" gilt.

Noch in demselben Jahre (1872) erschien sein Erstlingswerk, ein Sonettenkranz, in dem er in jugendlich überschwenglicher Art, aber mit unleugbarem Talent, die befreiende Tat der großen Französischen Revolution feiert. Eine Zeitlang an dem Prager "Tagesboten" als Feuilletonist tätig, versuchte sich MAUTHNER damals auch auf dem Felde des Dramas. Ein etwas verworrenes Stück mit sozialem Hintergrunde "Anna" erlebte am 23. Mai 1874 eine Aufführung am Deutschen Landestheater in Prag, an welcher hervorragende Künstler des trefflichen Schauspielensembles jener Zeit beteiligt waren. Von anderen dramatischen Arbeiten ist etwa "Die leidige Geldfrage" zu erwähnen (1876), ein einaktiges Proverb mit lebendigem Dialog. Indes war diese literarische Gattung nicht diejenige, wo ihm besondere Lorbeeren erblühen sollten, seine Begabung lag auf anderem Gebiete.

Begreiflicherweise zog es ihn nach einem größeren Wirkungskreise: er ging deshalb 1876 nach Berlin, wo er sich bald bei mehreren Zeitschriften, wie dem Berliner Tageblatt, dem Deutschen Montagsblatt und derm Schorerschen Familienblatt schriftstellerisch betätigte. Hier ward ihm auch der erste große literarische Erfolg beschieden (1878). Dank seiner starken kritischen Veranlagung verstand er es sich in die Denkart einer ganzen Reihe deutscher Autoren so sehr einzufühlen, daß er köstliche Proben von Parodien ihrer Schreibweise zu liefern vermochte.

Diese Sammlung, ursprünglich in Form von Feuilletons veröffentlicht, erschien unter dem zum geflügelten Worte gewordenen Titel "Nach berühmten Mustern". Sie fand sofort allgemeinen Beifall, so daß von den beiden Bändchen, die sie umfaßte, eine Unmenge Auflagen notwendig wurden. Mehrere dieser Parodien, wie zum Beispiel die nach AUERBACH, FRANZOS, SACHER-MASOCH, RICHARD WAGNERund DUBOIS-REYMOND können als wahre Kabinettsstücke ihrer Art bezeichnet werden.

Ähnlichen Genres ist der hübsche "Dilletantenspiegel" (1884), eine travestierende Nachbildung von HORAZens Brief an die Pisonen, an ein "kunstbeflissenes Fräulein" gerichtet, worin der Verfasser auf moderne literarische Zustände eingeht.

Feine Ironie erfüllt die "Aturenbriefe" (2.Auflage, 1885). Der verschollene Stamm der Aturen, der auf dem Grunde eine fabelhaften Vulkans Poxlpotoxl haust, kennt das Lügen nicht. Da ein zufällig zu ihnen hinabgerutschter Berichterstatter davon sprach, soll ein auf die Oberwelt entsandter Jüngling Näheres darüber berichten. Die mancherlei Erfahrungen, die er bereffes des seltsamen Wesens der Erdenbewohner macht, wie ihre Sucht nach "Tugend", die mit dem gelben Metall und den bunten Steinen, mit denen die Aturenkinder spielen identisch ist, oder ihre Harthörigkeit gegenüber anderen bei dem gleichzeitigen Bestreben selbst möglichst viel zu reden, all dies ist in drolliger Weise erzählt. Montesquieus 'Lettres persanes' waren hier Vorbild.

Scharfsichtige Beobachtungen aus dem Leben, mit humorvollen Pointen gewürzt, enthalten auch die Skizzen "Aus dem Märchenbuch der Wahrheit" (1895), die eine Neuauflage der Essais darstellen, welche der Verfasser ursprünglich unter dem Titel "Lügenohr" (so nach einem der Stücke benannt) im Jahre 1892 als "Fabeln und Gedichte in Prosa" erscheinen ließ.

Nicht minder Gutes findet sich in einer weiteren Sammlung von Aufsätzen, die MAUTHNER unter der Bezeichnung "Credo" im Jahre 1886 herausgab. Zweier davon, die besonders gelungen sind, möge hier kurz gedacht werden. Die erste dieser Skizzen ist eine witzige Travestie auf die Schülerszene aus GOETHEs Faust, und zwar im Versmaße der Urschrift. Die Begegnung eines studentischen Fuchses mit dem "Zeitungsteufel" in Faustens Maske vor der Türe einer Redaktion gibt Anlaß zu einem amüsanten Gespräch über Journalistik.

Ein zweites Stück, voll köstlicher Laune, schildert, wie JAQUES OFFENBACH und der Spötter 'HEINRICH HEINE, die beide ihren Gräbern in Paris entstiegen sind, einen Ausflug in den Hades unternehmen. Der Maestro dirigiert, durch einen Trunk Lethe angeregt, dionysische Weisen, bis die ganze Unterwelt in tolle Extase gerät. Der Spuk zerrinnt, als er unvorsichtig Zweifel wagt an der Existenz des Göttergesindels.

Das starke Talent für Satire, die in allen diesen und einzelnen minder wertvollen Arbeiten (wie Schmock, 1888 gegen die Pseudoliteraten) hervortritt, fand einen abgeklärten Ausdruck in den feinsinnigen "Totengesprächen" nach LUKIANs Art (2. Auflage, 1906). Mit warmherziger Empfindung schildert der Verfasser in einer dieser Skizzen, wie LUDWIG ANZENGRUBER im Jenseits auf Antrag hervorragender Dramatiker unter lebhafter Zustimmung namentlich des Aristophanes unter die Schar der seligen Dichter aufgenommen wird.

In ehrfürchtig behagliche Stimmung versetzt uns eine KANTfeier in den himmlischen Gefilden, die nach Art der platonischen Dialoge mit der Behandlung eines philosophischen Themas "Über den Nachruhm" verknüpft wird. SOKRATES fällt die Entscheidung: Nachruhm ist wertlos, bedeutsam aber die Nachwirkung, die große Geister noch auf späte Geschlechter üben, auch wenn sie selbst namenlos geworden sind.

Diesen literarischen Leistungen MAUTHNERs, die sämtlich dem parodisch-satirischen Genre angehören, gegenüber steht seine reiche Betätigung auf dem Gebiete der Novelle und des Romans. Schon im Jahre 1879 behandelte er in der Erzählung "Vom armen Franischko" die Erlebnisse eines Kesselflickers, der aus dem primitiven Dasein seiner dörflichen Heimat in die verwirrende Großstadt versetzt wird; von allen Seiten stürmen Eindrücke auf den einfachen Menschen ein, welche die durch die Kultur geschaffenen Verhältnisse seinem staunenden Auge enthüllen.

Bald (1881) folgten "Die Sonntage der Baronin", eine Rahmendichtung, deren Inhalt Erzählungen bilden, die ein Freundeskreis im Hause einer Baronin während der Badezeit in Ostende abwechselnd vorträgt. Fragen, welche die Gesellschaft und soziale Aufgaben betreffen, werden hier ebenso berührt wir Probleme der Weltordnung und des religiösen Empfindens. Im selben Jahre veröffentlichte MAUTHNER einen Roman aus Jung-Berlin, "Der neue Ahasver", in dem er, wie er 'Erinnerungen' I, 308 bemerkt, seine eigenen inneren Kämpfe und seelischen Wandlungen darlegen wollte.

Eine besondere Stellung in seinem Schaffen nehmen die Romane ein, die er, angeregt durch die Beriner gesellschaftlichen Verhältnisse, in der Art s den Zeitgenossen vorlegte, den er indes weder in der Konzeption noch in der Durchführung des Ganzen erreicht. Es sollte das Treiben der Weltstadt in seinen Vorzügen sowohl wie in seinen dunklen Seiten eine wahrheitsgetreue Schilderung erfahren.

Unter dem gemeinsamen Titel "Berlin W" erschienen während der Jahre 1886, 1888, 1890 drei Romanbände "Quartett", "Fanfare" und "Villenhof", in denen er mit ehrlicher Offenheit in die damalige Berliner Gesellschaft des Westens hineinleuchtet. So wird zum Beispiel im zweiten Teile das Zeitungswesen und Unwesen, "Ein Gemisch von Hohem und Niederem" trefflich geschildert; mit überlegener Ironie zeigt der Verfasser, wir man durch Tamtam und Reklame nicht bloß Geld, sondern auch Ruhm zu gewinnen vermag. Der Gegensatz zwischen echtem Kunstempfinden des wahren Talentes und der Hohlheit streberischer Afterkunst gelangt im dritten Bande zu überzeugendem Ausdrucke.

Der "Fanfare" verwandt ist "Die bunte Reihe" (1896): es ist die Kette einer gewissen verlotterten Berliner Gesellschaft, die sich skrupellos gegenseitig zu egoistischen Zwecken die Hände reicht, in deren Bann ein ehrlicher mäßig veranlagter Stadtschullehrer, der Autor eines biblischen Dramas "Das hohe Lied", bittere Erfahrungen durchzumachen hat, um endlich den Ausblick auf ein bescheidenes Glück zu gewinnen.

Die Leistungen MAUTHNERs auf dem Felde des modernen Romans gipfeln in seinem Werke "Kraft" (zuerst 1894 in zwei Bänden erschienen). Er schildert darin den Seelenkampf zweier edler Naturen, die mit ungewöhnlicher Anspannung inmitten schwerer Fährlichkeiten sich selbst meisternd den ihnen - allerdings mit Hinwegsetzung über landläufige sittliche Anschauungen - als gangbar erscheinenden Weg zum Glücke zu finden wissen. Bei aller revolutionären Kühnheit der ethischen Argumentation macht dieses Seelendrame auf den Leser starken Eindruck.

Weniger bedeutsam blieben einzelne andere Arbeiten, wie der humoristische Roman "Geisterseher" (1894), worin der spiritistische Unfug gegeißelt wird. Die okkulte Welt hatte MAUTHNER übrigens schon früher (1891) in den "Bekenntnissen einer Spiritistin" berührt.

Auf dem Boden der alten Heimat MAUTHNERs, in Böhmen, spielt die Erzählung "Der letzte Deutsche von Blatna" (1887). Die nationalen Kämpfe in diesem Lande während der Siebziger- Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts machen die Vereinigung zweier Liebender, eines Deutschen und einer Tschechin, schließlich unmöglich. Eine anders gestaltete lebendige Schilderung leidenschaftlicher nationaler Überstiegenheit enthält die Geschichte "Die böhmische Handschrift".

Auch dem historischen Roman hat sich MAUTHNERs Feder zugewandt: in mancher Hinsicht sind einzelne der handelnden Personen Träger seiner eigenen Anschauungen.

Die "Xanthippe" (1884), des SOKRATES viel gelästerte Gattin, stellt er im Gegensatze zu der landläufigen Meinung als eine sympathische Frau hin, die, ohne dem hohen Gedankenfluge ihres Gatten folgen zu können, als wackere Genossin seinem Hauswesen vorsteht. Bei verschiedenen Gelegenheiten jedoch, wie zum Beispiel der Aufführung der aristophanischen Wolken, in denen SOKRATES verspottet wird, offenbart sich ihr echtes menschliches Empfinden, am wahrsten bei dem Tode der Weisen.

In einem anderen Roman aus der Antike ist wiederum eine Frau, wenn auch in mehr passiver Weise, in den Mittelpunkt des Geschehens gestellt, "Hypatia", die Tochter des Mathematikers THEON, die eine Zeitlang den Lehrstuhl der platonischen Philosophie in Alexandria inne hatte. Tatsächlich soll in diesem Werke, das MAUTHNER zu einem Gegenstück des "gleichnamigen frömmelnden Romans von KINGSLEY" gestalten wollte (Vgl. Atheismus II, 437), der Kampf der sterbenden antiken Weltanschauung gegenüber dem Aufstieg des Christentums in der stets brodelnden Weltstadt geschildert werden.

Philosophisch gehalten ist "Der letzte Tod des Gautama Buddha" (3.Auflage 1913), worin die Lehre BUDDHAs "des Vollendeten" in eindrucksvollen poetischen Szenen und gewählter Sprache dargelegt wird.

Das Beste aus diesen dem schöngeistigen Gebiete angehörigen Schriften, die MAUTHNER vielfache Anerkennung einbrachten - darunter die Ernennung zum korrespondierenden Mitglied seitens der 'Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste' in Prag (1891) - ist in einer bei der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart erschienenen Anthologie "F.M.s ausgewählte Schriften" in sechs Bänden zusammengefaßt.

Seit Beginn des Jahres 1891 hatte sich MAUTHNER als Mitherausgeber am "Magazin für die Literatur des In- und Auslandes" beteiligt und vom Herbste 1895 ab auch die Redaktion der Theaterkritik und des Feuilletons beim "Berliner Tageblatt" übernommen. Diese Beziehungen löste er, als er im Jahre 1905 nach Freiburg im Breisgau übersiedelte; einige Jahre später, im Sommer 1909, schlug er in Meersburg am Bodensee seinen Wohnsitz auf, wo er fortan im sogenannten "Glaserhäusle" seinen Studien lebte.

Seit den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts hatte er sich mit aller Kraft der gelehrten Forschung zugewendet. Seit langem gewohnt, die Dinge mit kritischem und skeptischem Scharfblick zu beobachten und zu werten, hatte er auch in der "Sprache" ein willkommenes Objekt seines Studiums erkannt und ging daran sich in eine kritische Analyse der Spracherscheinungen zu versenken. Die Ergebnisse dieser seiner Untersuchungen reiften zu einem in verschiedener Hinsicht bemerkenswerten Werke, das zuerst im Jahre 1901 und 1902 veröffentlich, wiederholt neu aufgelegt wurde.

Es sind die "Beiträge zu einer Kritik der Sprache", welche drei Bände füllen. Im ersten Teile, "Sprache und Psychologie" behandelt der Verfasser das Wesen der Sprache, ihren Wert und ihre Bedeutung. An sich eine Tätigkeit des Menschen wie das Atmen oder Gehen, vermöge die Sprache, das sie nur Bilder vermittle, bloß eine 'Fata morgana' der Wirklichkeit oder Welterkenntnis vorzuspiegeln; deshalb könne man nur durch eine Kritik der Spracherscheinungen zu einiger Klarheit der Weltanschauung gelangen. Diese Unfähigkeit der Sprache ein wahres Weltbild zu vermitteln, wird im zweiten Band "Zur Sprachwissenschaft" abermals betont: Neues köne nicht gesagt, sondern nur wahrgenommen werden.

Hier wird auch das "Sprachgefühl" erläutert: von einem solchen kann bei einer künstlich geschaffenen Sprache, die der Verfasser grundsätzlich ablehnt, keine Rede sein. Manchen Widerspruch wird die in einem Abschnitte des dritten Teils "Zur Grammatik und Logik" vorgetragene Lehre von der Identität des Sprechens und Denkens erfahren, zumal schon der Sprachgebrauch zwischen diesen beiden Begriffen einen deutlichen Unterschied macht. Mit Hilfe der Sprache könne man, dies ist das Ergebnis der ganzen Untersuchung, in das Wesen der Wirklichkeit nicht eindringen, da ihre Worte nur Erkennungszeichen für die Empfindung der Sinne seien, diese selbst aber bloß Zufallssinne.

Ergänzende Zusätze zu diesem Werke enthält das Büchlein "Die Sprache" (in der Sammlung sozial-psychologischer Monographien "Die Gesellschaft", Band IX). Hier wird das Verhältnis der Sprache zur Sitte, Sittlichkeit, Erziehung und Religion sowie zur Politik und zum Rechte, Volke und Völkerverkehre dargelegt. Gute Bemerkungen über Lehnwörter und Sprachpurismus werden jedem Leser willkomen sein. Wiederum wendet sich der Verfasser gegen alle Bestrebungen, ein künstlich allgemeines Idiom zu schaffen, indem er in schönen Worten die Liebe zur Muttersprache preist, die "wir mit Sehnsucht und Eifersucht lieben, viel leidenschaftlicher als wir gewöhnlich wissen". Eine künstliche Universalsprache könne man zwar achten, aber nicht lieben, ebensowenig wie man ein sauberes Skelett zu umarmen wünsche.

In das Gebiet der Sprachkritik gehört auch eine unvollendete Schrift, deren Veröffentlichung MAUTHNER nicht mehr erlebte; sie wurde aus seinem Nachlaß durch MONTY JACOBs in Erlangen 1925 in der vorgefundenen unfertigen Fassung herausgegeben. In den hier vorliegenden Essais unter dem Titel "Die drei Bilder der Welt" geht der Verfasser von seiner wiederholt ausgesprochenen Überzeugung aus, daß wir von dem verwickelten Erscheinungskomplex der Welt nur sprachliche Bilder besitzen.

Er stellt die Frage, ob man nicht je nach der Einstellung unserer Wahrnehmung aus dem Kontakt einer substantivischen, adjektivischen und verbalen Kategorie (Aussagemöglichkeit, MAUTHNERs seltsamer Ausdruck "Aussäglichkeit" wird nicht nach jedermanns Geschmack sein) ein einigermaßen einheitliches Weltbild gewinnen könne. Im ersten Falle sei ein Erscheinung, ein Schein verborgen, die adjektivische Welt betone die Eigenschaften der Dinge, das heißt die Wirkung der Schwingungen auf die Sinne, während die verbale Welt Zweck und Absicht enthalte, die sich beim "Geschehen" offenbaren. Geistreiche Auseinandersetzungen wie über das "Ich" oder über die Klassifikation der Wissenschaften bilden nebst anderem den weiteren Inhalt der fragmentarischen Entwürfe in dieser posthumen Schrift.

Nebst den sprachkritischen Untersuchungen nahm den Forscher in den späteren Jahren seines Schaffens die Abfassung eines "Wörterbuches der Philosophie" (erschienen 1910) sehr in Anspruch. In diesem Werke, das sich an alle Gebildeten wendet, geht er von der Ansicht aus, es stecke in der Geschichte eines jeden Wortes auch eine Monographie zur Geschichte der Menschheitskultur. In diesem Sinne unterzieht er eine große Anzahl von Begriffen von philosophischer und sozialer Bedeutung eindringender Zergliederung, um sie in sachkundigen Erläuterungen dem Verständnisse des wissensdurstigen Lesers nahezubringen.

In den letzten Lebensjahren war es MAUTHNER vergönnt, seine bedeutende Leistung auf historisch-philosophischem Gebiete der Vollendung entgegenzuführen. Auf tiefschürfenden und eindringenden Studien beruht sein, wie er selbst es in der Vorrede nennt, "niederreißendes" Buch über den "Atheismus und seine Geschichte im Abendlande", dessen Veröffentlichung mit dem ersten Bande im Jahre 1920 begann, um mit dem vierten Bande im Todesjahre des Verfassers 1923 abgeschlossen zu werden.

Seine Absicht geht dahin, "das langsame Erlöschen des Gottesglaubens" darzustellen und überhaupt eine Geschichte "der Freidenkerei" zu bieten. Wie man sich auch zu den vielfach vehementen Anschauungen MAUTHNERs stellen mag, eines wird jeder Leser dem "geistigen Rebellen" (wie er sich selbst IV, 300 bezeichnet) zugestehen, daß er von seinem negativen Standpunkte aus alle einschlägigen Fragen mit großer Gründlichkeit behandelt aht. Das Werk gibt ebenso Zeugnis von des Verfassers erstaunlicher Belesenheit und Vertrautheit mit den Literaturen der europäischen Kulturvölker wie von seinem kritischen Scharfsinn.

Das Altertum schließt MAUTHNER bei der Behandlung seines Themas aus, da man von einer Geschichte des Atheismus bei der dazumal herrschenden Gedankenfreiheit nicht sprechen könne und es zudem keinerlei bestimmte theologischen Dogmen gegeben habe. Deshalb genügt es ihm auf die Lehren einiger antiker Philosophen, wie zum Beispiel des EPIKUROS einzugehen, die nachmals in der Zeit des Humanismus und der Aufklärung nachgewirkt haben. Erst mit der Einführung einer Reichsreligion in der konstantinischen Epoche habe die Behandlung des Problems zu beginnen.

In einer längeren Reihe von Abschnitten wird nun eine hauptsächlich in kulturhistorischer Beziehung wertvolle Darstellung der mit dem Gegenstande zusammenhängenden geschichtlichen und literarischen Erscheinungen im Mittelalter und in der Neuzeit gegeben, die über manche bisher dunkle Dinge neues Licht verbreitet.

Glanzpunkte der Untersuchung bilden die Abschnitte über den Hexenglauben und seine Bekämpfung, über PARACELSUS; GIORDANO BRUNO und die Urheber der philosophischen Staatsromane THOMAS MORUS (Utopia) und CAMPANELLA (Città del Sole), über den Skeptiker und Pessimisten BAYLE, über die Bedeutung SPINOZAs, mit dem sich MAUTHNER auch in einem eigenen im Jahre 1906 publizierten Werkchen "Spinoza" beschäftigt hatte, sowie über den merkwürdigen Pantheisten TOLAND.

Vortrefflich gelingt es dem Verfasser die Wirksamkeit der Vorläufer der französischen Revolution, die zu mächtigem Umsturz der Weltanschauung führte, darzulegen. Nicht minder weiß er die Bedeutung der zwei "Obherren des deutschen Geisteslebens" GOETHEs und KANTs, für die Befreiung der Geister zu werten. Der Abschluß des bedeutsamen Werkes gilt den letzten hundert Jahren. Hier sind es besonders die Franzosen AUGUSTE COMTE, RENAN, ZOLA, ANATOLE FRANCE, der Engländer JOHN STUART MILL, die deutschen Philosophen SCHOPENHAUER und LUDWIG FEUERBACH sowie der "Alleszermalmer" MAX STIRNER (Johann Kaspar Schmidt), deren Wirken zu eingehender Erwägung lud.

Aber auch mit manchem Vertreter der schönen Literatur setzt sich der Verfasser betreffs der von ihm berührten Probleme auseinander, um am Schlusse seines Werkes noch die erst nach dem Umsturze von 1918 erschienene Arbeit des ehemaligen Pfarrers GÖHRE "Der unbekannte Gott, Versuch einer Religion des modernen Menschen" einer kritischen Besprechung zu unterziehen. MAUTHNER selbst bekennt sich zu einer "gottlosen (agnostischen) Mystik", indem der der Religion nicht in der Wissenschaft, sondern in der Kunst, besonders in der Poesie, eine "wohnlichere und ihrem Wesen angemessenere" Heimstätte bereiten möchte.

Nach dem Erscheinen des letzten Bandes dieses Werkes schloß der Forscher die Augen am 29. Juni 1923. Seine ungewöhnliche Begabung und seine tiefschürfenden Studien auf weiten Gebieten, sein stürmisches Suchen nach Erkenntnis der Wahrheit sichern ihm die Hochschätzung der Nachwelt, mag er auch durch seine oft sehr radikalen Anschauungen zu Widerspruch reizen.

Von lächelnder literarischer Satire ausgehend hat er in seinen zahlreichen Erzählungen und Romanen zu den mannigfachen Fragen, die der Bestand der menschlichen Gesellschaft, ihr Streben und Ringen, aufgibt, mit regem Eifer Stellung genommen, um dann, auf der Höhe des Lebens zu streng wissenschaftlichen Problemen greifend, ohne zünftiger Philosoph oder Historiker zu sein, wertvolle Ergebnisse gelehrter Forschung auf dem Felde der Sprachkritik und Philosophie niederzulegen, die vielfach auch der Kultur- und Religionsgeschichte dienen.
LITERATUR - Alois Rzach, Fritz Mauthner, in Neue Österreichische Biographie, 1815-1918, 1. Abt. Biographien, Bd.8, Wien 1926, Seiten 144-151