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HUBERT SCHLEICHERT
Kritische Betrachtungen
über Mauthners Sprachkritik

(und nicht nur seine)
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"Ist es nicht seltsam, wie inhaltsleer das Wort "Sprachkritik" geworden ist?"

Kritik naiver Deduktionen

    Die meisten Menschen leiden an dieser geistigen Schwäche, zu glauben, weil ein Wort da sei, müsse es auch das Wort für Etwas sein; weil ein Wort da sei, müsse dem Worte etwas Wirkliches entsprechen. Wie wenn jede Verwitterung in einem Steine der Abdruck einer Pflanze sein müßte! (...)

    Wie z.B. wenn ganz moderne Forscher immer noch die Seele, den Zweck, den Organismus, das Leben, den Tod, oder aber die Sprache, die Kategorien, die Wurzeln zu definieren suchen, bloß weil die Worte vorhanden sind. (...)

    Noch weit mehr als im gemeinen Sprachgebrauch wird in den Wissenschaften ein Fetischismus mit Worten getrieben (...) Für den Arzt sind die einzelnen Krankheiten persönliche Kräfte (...), die er bekämpft. Für den Naturforscher werden die Arten zu Personifikationen, trotz DARWIN (...)
Derartige Auslassungen MAUTHNERs sind möglicherweise beeindruckend, aber als Beschreibungen des wirklichen Umgangs der Menschen mit der Sprache sind sie falsch. Es mag sein, daß das primitive Deduktionsschema "Jedes Wort steht für ein Ding" vorübergehend während des kindlichen Spracherwerbs benützt und später gelegentlich bei dem Versuch, eine fremde Sprache zu entschlüsseln, herangezogen wird. Aber der erwachsene Sprecher weiß sehr wohl, daß ein derart simples Deduktionsschema höchst unsicher, d.h. der Struktur unserer Sprache nicht angemessen ist. Mit irgendeinem Defekt oder Mangel der Sprache hat das nichts zu tun.

Viele, aber keineswegs alle, Sprachen besitzen morphologisch unterscheidbare Wortarten. Nach einer überaus naiven Theorie läßt sich nun aus den morphologischen Merkmalen eines Wortes etwas über dessen Bedeutung ableiten. Weibliche Endungen bedeuten Weibliches, Zeitwörter Tätigkeiten, Substantiva Substanzen.
    (...) im Dienste der menschlichen Interessen entstanden sind diejenigen Kategorien, die sich in der Grammatik ausprägen. Der Mensch hat in seiner Sprache die Welt nach seinem Interesse geordnet. (...) Das Substantiv bezeichnet Dinge (...)
Tatsächlich entspricht keine Sprache dieser Welt dieser simplen Theorie. Darauf weist MAUTHNER hin:
    Immer besteht die Anstrengung eines philosophischen Kopfes darin, sich teilweise von dem Netz der alten Kategorien zu befreien. (...) Ich werde an vielen Stellen darauf hinweisen, daß die Kategorien unserer Sprache nicht mehr mit unserer gegenwärtigen Welterkenntnis zusammenstimmen, daß wir z.B., was die Physik als Bewegungen zu erkennen geglaubt hat, nach wie vor in Adjektiven und Verben unterscheiden.
Es ist aber zu sagen, daß in Wirklichkeit kein Mensch jemals auf die Idee gekommen ist,  den  Ofen für männlich und  die  Heizung für weiblich zu halten, die Erdrotation für eine Substanz oder Schlafen für eine Tätigkeit. So simpel gehen wir mit der Sprache nicht um, und vermutlich ist der Mensch auch früher niemals so simpel mit der Sprache umgegangen. Deshalb ist es für die sprachliche Verständigung ziemlich belanglos, Wörter welcher Kategorie man benützt. Aber nicht nur MAUTHNER meinte, hier sei massive philosophische Aufklärung nötig. Z.B. sagt GILBERT RYLE von der von ihm bekämpften Philosophie des Geistes
    Sie stellt Tatsachen des Geisteslebens so dar, als gehörten sie zu einem bestimmten logischen Typ oder einer Kategorie (...) während sie in Wirklichkeit zu einer anderen gehören.
Hier wird vorausgesetzt, daß man gewohnt sei, aus der grammatischen Kategorie, zu der ein Wort gehört, ohne weiteres auf Eigenschaften des von ihm Bezeichneten zu schließen. Da dem tatsächlich aber nicht so ist, ist die Frage, zu welcher Kategorie ein Ding oder eine Tatsache "wirklich" gehöre, nicht interessant.

MAUTHNER schreibt:
    Wir dürften also seit LOCKE oder doch seit HELMHOLTZ nicht mehr sagen, "der Baum ist grün", sondern "der Baum grünt mich". Ich schlage die Änderung nicht vor. Doch mag man ruhig Witze darüber reißen und lachen (...) Was ich sagen wollte, ist das, daß die Eigenschaften der Körper, die nach der alten Sprache durch die Kopula mit einem Subjekt verbunden werden oder (was dasselbe ist) von ihnen in intransitiven Verben ausgesagt werden (der Baum grünt, die Blume duftet), daß diese Eigenschaften, sage ich, nach der neueren Einsicht durch transitive Verben ausgedrückt werden müßten. Der Baum grünt  mich,  die Rose duftet  mich,  wie  mich  das Feuer wärmt. (...)
Umgekehrt hat MAUTHNER aber auch gegen die transitiven Verben was einzuwenden:
    Und doch liegt in allen diesen transitiven Verben der Begriff des Bewirkens und ist in diese Verben zu einer Urzeit hineingekommen, als die Kausalität noch ein ganz mythologischer Begriff war. (...) Heute sucht man hinter den transitiven Verben nicht mehr eine Gottheit, wohl aber einen nackteren Fetisch, den Kraftbegriff. Und solange kein Gelehrter weiß, was Kraft oder Energie oder Bewirken oder Kausalität ist, solange steckt die Mythologie im Transitiven.
Aber das ist nicht überzeugend; weder schließen wir von jedem transitiven Verb blindlings auf ein Bewirken, noch macht es Sinn, den Gebrauch transitiver Verben zu verbieten, solange es keine endgültige Theorie des Bewirkens gibt. Es zieht jedermann aus dem Satz "Der Baum ist grün" gerade jene Schlüsse, die seinem Wissen entsprechen - und was will man mehr?

Der naive Realist hält Grün für eine objektive Eigenschaft der Dinge an sich, der kritische Geist weiß, daß Atome und Moleküle nicht grün oder rot sind, der Physiker weiß, daß meinem Grün-Erlebnis auch auf Seiten des Baumes etwas entspricht usf. Es ist nicht nötig, bei jeder neuen wissenschaftlichen Erkenntnis die grammatischen Kategorien der Wörter zu verändern, denn niemand zieht aus diesen Kategorien in naiver Weise, d.h. ohne sein sonstiges Wissen zu Hilfe zu nehmen, irgendwelche Schlüsse. Nicht die Sprache ist schlecht, sondern die der Sprachkritik zugrundegelegte Sprachphilosophie ist lebensfremd und zu primitiv.

In "Die drei Bilder der Welt" meint MAUTHNER, dreierlei Urtypen der Erkenntnistätigkeit unterscheiden zu können, die er "substantivisch", adjektivisch" und "verbal" nennt. Dagegen ist nichts einzuwenden, und die Benennungen "substantivisch" etc. sind plastisch und einprägsam. Mit  grammatischen  Kategorien haben solche Grundfunktionen des Erkennens aber wenig zu tun, wie MAUTHNER selbst ausdrücklich erklärt:
    Die Einteilung der drei Welten nach den wichtigsten Redeteilen der Grammatik ist also selbstverständlich nur  cum grano salis  (nicht ganz wörtlich) zu verstehen.
Damit hat MAUTHNER selbst bereits jene simple Deduktionstheorie der Sprache für falsch erklärt, die er an vielen anderen Stellen seiner Sprachkritik zugrundelegt und ohne die diese Kritik gegenstandslos wird. Es gibt ja auch Sprachen, die keine Unterscheidung in die dem Europäer vertrauten Wortarten kennen. Diesen Sprachen, z.B. dem Chinesischen, fehlt gar nicht, sie sind aber auch nicht irgendwie "logisch vollkommener" als andere.

Ein chinesisches Sprichwort hat kein grammatikalisches Geschlecht, deshalb kann man daraus keine falschen Schlüsse auf das biologische Geschlecht des Bezeichneten ziehen. Aber ein chinesisches Schriftzeichen besteht aus einer Anzahl von Strichen, so daß man z.B. das naive Deduktionsschem aufstellen könnte: je mehr Striche ein Schriftzeichen hat, desto komplexer ist das von ihm Bezeichnete. Kein vernünftiger Chinese ist jemals auf eine solche Idee gekommen, genau wie kein vernünftiger Europäer blindlings Folgerungen aus dem grammatikalischen Geschlecht zieht.

Einen ähnlichen Kampf gegen Windmühlen hat übrigens zur gleichen Zeit auch der österreichische Philosoph ADOLF STÖHR (1855-1921) geführt. Bei ihm hieß die Verführung des Denken durch die Sprache "Glossomorphie". Systematisch gesehen handelt es sich wieder um eine naive Deduktion, die von grammatischen Kategorien zu Eigenschaften des realen Geschehens übergeht, z.B. nach dem Schema "Verben bezeichnen Tätigkeiten". Diesem Verfahren hält STÖHR entgegen:
    Ich tue nicht, wenn ich sehe oder höre, sondern Farben oder Töne sind da. Die Sprache zwingt mich aber zum bildlichen Ausdrucke, als ob ich etwas täte (...)

    Glossomorph ist auch die Annahme einer Tätigkeit des Träumens, des Vergessens. Wo die Metapher der Tätigkeit gröber ist, dort verschwindet endlich die Glossomorphie. So glaubt man nicht mehr an die Tätigkeit des fallenden Baumes oder des schlafenden Menschen. Die Sprache zwingt uns sogar, von der Tätigkeit des Erleidens zu reden. Was tut der Mensch, wenner etwas erleidet? Er übt die Tätigkeit des Erleidens aus.
Wieder bleibt dunkel, wer denn jemals ernsthaft nach einem solchen Schea verfahren ist. Stellt nicht erst die philosophische Sprachkritik derart naive Deduktionen auf, um sie anschließend wieder zu verwerfen? Anläßlich der Welthilfssprache  Esperanto  schreibt MAUTHNER
    Unter gesellschaftlichen Mißständen leiden unzählige Menschen, unter der Mangelhaftigkeit der Sprachen leiden nur die Sprachphilosophen.
- ein Satz, der sich auch auf MAUTHNERs eigene Sprachkritik anwenden ließe.


Die Heiligkeit der Alltagssprache

Daß man keine philosophischen Einsichten gewinnen kann, indem man die Bedeutung von wohletablierten Ausdrücken willkürlich ändert, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Aber daß es auch Bereiche gibt, in denen kaum ein Begriff wirklich eine klare Bedeutung besitzt, wird jedermann klar, der sich mit der "Philosophie des Geistes" befaßt.

In welcher Beziehung stehen etwa Sprache, Denken, Bewußtsein, Gedächtnis zueinander? Können Tiere denken oder sprechen? MAUTHNER hat sich mit diesem Problemkomplex ausführlich und geistreich auseinandergesetzt. Dabei betont er mehrfach, daß derartige Fragestellungen immer von der Bedeutung der benützten Begriffe abhängen:
    Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprechen und Denken wird so zu einem Wortstreit, wird abhängig von der Definition des Begriffs "Denken", die wir uns freilich bemühen müssen dem Sprachgebrauch anzupassen.
MAUTHNER versucht jedoch keineswegs, eine solche Definition anzugeben, auch nicht ansatzweise. Weit eher gefällt er sich darin, auf die Inkonsequenzen des alltäglichen Sprachgebrauchs hinzuweisen oder mit Begriffen zu "jonglieren". So sagt er z.B. bezüglich des Verhältnisses der Begriffe "Bewußtsein" und "Gedächtnis", es
    erscheint uns bald als das Gedächtnis, bald das Bewußtsein als der höhere Begriff, der den anderen mit umfaßt (...) diese beiden schwebenden Begriffe (...)
Anläßlich der Untersuchung des Wahrheitsbegriffes meint MAUTHNER:
    Auch die Begriffe wahr, gewiß und richtig wirren ein wenig durcheinander. Nicht einmal diese Verwirrung nützt uns.
Man könnte solche nihilistischen Behauptungen eventuell akzeptieren, wenn sie bloß als Deskription des alltäglichen Wortgebrauchs gemeint wären. Aber MAUTHNER versucht zugleich, eine (durchaus interessante) Theorie über das Verhältnis von Denken, Sprechen und Bewußtsein zu entwickeln. Diese Theorie wird von ihm jedoch geradezu lustvoll vernebelt, indem er immer wieder auf die Unklarheit, Ungenauigkeit und Veränderlichkeit aller Begriffe des mentalistischen Vokabulars hinweist.

Die für jede Erkenntnis zuvorderst nötigen Präzisierungen der alltäglichen Begriffe hat er niemals versucht, denn die Sprache  soll  scheitern, Erkenntnis  soll  unmöglich sein. Man hat oft den Eindruck, das Wort "Sprachkritik" sei nur noch eine Umschreibung für die vage, aber nachhaltige Unzufriedenheit eines Intellektuellen mit dem Intellekt; zur Darstellung dieser Unzufriedenheit bietet er die ganze Kraft seines Intellekts auf.


Selbsterkenntnis der Sprache sei nicht möglich

Logische Genauigkeit war nicht MAUTHNERs Sache. Deshalb konnte er einen seiner Kritikpunkte nur sehr verschwommen formulieren, nämlich daß Sprachkritik unmöglich sei, weil hier ein Fall von Selbstanwendung vorliege. Einmal liest man
    Soll aber Philosophie "Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes" sein, so ist sie einfach nicht möglich. Der der "menschliche Geist" ist die Summe der menschlichen Sprache (...) Selbsterkenntnis der Sprache ist aber entweder eine sinnlose Wortzusammenstellung oder es bedeutet die aussichtslose Sehnsucht, mit Hilfe der Sprache in die Tiefe der Sprache einzudringen.
MAUTHNER führt das Thema der Selbstanwendung aber nicht weiter, sondern springt in der Folge sogleich zu einem anderen Gedanken weiter, wie er dies so oft tut. Ein anderes Mal spricht er von "Grenzen der Sprache" und, daß wir quasi vor der Aufgabe stünden,
    mit eigenen Händen den Stuhl aufzuheben, auf welchem wir sitzen.
Aber es läßt sich niemals näher über die Probleme der Selbstanwendung der Sprache aus. Einmal behauptet er, die physiologischen Psychologen könnten Beobachtungen über die dem Sprechen vorangehenden bzw. zugrundeliegenden neurologischen Prozesse "nicht gut sprachlich unterbringen". Es scheint, daß MAUTHNER bei dieser Behauptung an das Problem der Selbstanwendung gedacht hat, denn er setzt hinzu
    Es ist ganz natürlich und gerecht, wenn die Sprache verrückt wird, sobald man sie auf Vorgänge anwenden will, die im Menschengehirn eben erst zur Sprache oder zum Denken führen. Ein Spiegel soll sich nicht selbst spiegeln wollen.
Dem steht die Tatsache entgegen, daß die Sprache der Neurologie eine ganz gewöhnliche und keine "verrückte" ist. Allgemeiner hat eine vollausgebildete Sprache die erstaunliche Eigenschaft, daß man in ihr alles, somit auch über sie selbst sprechen kann. Es gibt keine "Tiefen der Sprache", die sprachlich nicht ausdrückbar wären.


Die Sprachkritik im "Atheismus"

MAUTHNER wollte seine große Geschichte des Atheismus im Sinne seiner Sprachkritik aufgefaßt wissen, als Geschichte des Wortes "Gott". Der "Atheismus" ist ein grandioses Werk, aber die gelegentlich eingestreuten Hinweise auf eine Kritik der Sprache sind nicht überzeugen und wirken wie rhetorische Pflichtübungen. MAUTHNER belegt z.B. jede Überlegung über die Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit von Wörtern mit dem Terminus "Sprachkritik". Einige einschlägige Stellen mögen dies belegen. Einmal freut sich MAUTHNER über den Philosophen LEOPOLD ZIEGLER:
    Überall Wasser auf meine Mühlen: der gründliche Nachweis, daß die Grundbegriffe der mechanistischen Wissenschaften, die sich selbst für Welterklärungen halten, nur Mythologien sind über die Wörter oder Götter: Masse, Bewegung, Stoff, Atom usw.
Was ist dies mehr als bloß journalistischer Pessimismus? War nicht allen Denkern stets klar, daß es sich hier um schwierige Begriffe handelt, deren Inhalte sich mit zunehmenden empirischen Wissen ändern oder bereichern werden? Ist es eine "Mythologie", wenn man Ortsveränderungen durch das  Substantivum  "Bewegung" bezeichnet?

Im Zusammenhang mit den sogenannten Gottesbeweisen schreibt MAUTHNER:
    Für die Kritik der Sprache verflüchtigen sich alle diese Gottesbeweise (am wahrnehmbarsten der ontologische) zu einem fernen Lachen über den Betrug der feierlichen Worte. Das Dasein eines Wortes bietet keine Gewähr für das Dasein des Wortinhalts.
Das Letztere stimmt freilich, nur hat wohl noch nie jemand ernsthaft das Gegenteil behaupten wollen. Man kann natürlich die Einsicht, daß es keine Einhörner gibt, als Sprachkritik bezeichnen. Dann wäre auch die Ersetzung des Begriffes des  Phlogistons  durch den des Sauerstoffs, der aufklärerische Kampf gegen den Hexenwahn, und überhaupt jede Berichtigung einer Lüge oder eines falschen Satzes Sprachkritik. Und was wäre dann  nicht  Sprachkritik? (Dann aber hat es immer schon Sprachkritik gegeben, und MAUTHNER dürfte nicht bei allen anderen Autoren das Fehlen einer solchen Kritik monieren.)

Einmal spricht MAUTHNER
    von dem sprachkritischen Gedanken, daß die Sprachen von jeher durch Metaphern gewachsen sind, daß also die menschliche Sprache ihrem Wesen nach metaphorisch ist und der Wirklichkeit entsprechen kann.
Im "Atheismus" wird das ohne nähere Erläuterung hingeworfen, aber man sucht sie auch in den anderen Werken vergeblich. Im "Wörterbuch" kommt "Metapher" z.B. nicht vor. Was kann an einer Metaper irritieren? Höchstens wieder nur dies, daß jemand zu einer falschen Deduktion verleitet wird. Etwa so: Wir sprechen von einer Längge der Zeit, benutzen also eine räumliche Metapher; folglich muß die Zeit wohl auch eine Breite haben, und wenn es Zeitstrecken gibt, gibt es wohl auch Zeitflächen, etc. Aber wer hat jemals derartigen Unsinn behaupten wollen?

Schließlich sei noch eine Bemerkung MAUTHNERs über GOETHE, den er so sehr verehrte, erwähnt. Von dem alten GOETHE schreibt MAUTHNER:
    (...) ähnlich wie VOLTAIRE beschließt er jetzt viele Briefe mit einer Umgehung des Gottesnamens ("den besten Geistern" oder "allen wohlwollenden Dämonen", anstatt "Gott befohlen"). Er wird immer sprachkritischer.
Ist es nicht seltsam, wie inhaltsleer das Wort "Sprachkritik" geworden ist? (Und wäre diese Feststellung ihrerseits gar wieder Sprachkritik?) Es wurde seit MAUTHNER ach so viel über Sprachkritik gesprochen - aber nie sieht man die Sprachkritik  am  Werk.


Was bleibt vom sprachkritischen Unternehmen?

Am Ende der "Beiträge" faßt MAUTHNER seine Sprachkritik zusammen:
    So steht denn die Menschheit mit ihrer unstillbaren Sehnsucht nach Erkenntnis in der Welt, ausgerüstet allein mit ihrer Sprache. Die Worte dieser Sprache sind wenig geeignet zur Mitteilung, weil Worte Erinnerungen sind und niemals zwei Menschen die gleichen Erinnerungen haben. Die Worte der Sprache sind wenig geeignet zur Erkenntnis, weil jedes einzelne Wort umschwebt ist von den Nebentönen seiner Geschichte. Die Worte der Sprache sind endlich ungeeignet zum Eindringen in das Wesen der Wirklichkeit, weil die Worte nur Erinnerungszeichen sind für die Empfindungen unserer Sinne und weil diese Sinne Zufallssinne sind, die von der Wirklichkeit wahrlich nicht mehr erfahren als eine Spinne von dem Palaste, in dessen Erkerlaubwerk sie ihr Netz gesponnen hat.
So muß die Menschheit ruhig daran verzweifeln, jemals die Wirklichkeit zu erkennen.

Wir haben aber gesehen, daß alle diese Vorwürfe gegen die Sprache sich teils als harmlos herausstellten, teils auf Mißverständnissen beruhen. Daher gibt es keinen Grund zur Verzweiflung. Die Sprache ist viel besser als der Ruf, den sie bei den Philosophen genießt. Vielleicht kommt dies daher, weil kaum jemand soviel Unfug mit ihr getrieben hat, wie die Philosophen.

Wenn also auch die Vorwürfe gegen die Sprache allesamt nicht zu rechtfertigen sind, so ist doch klar, daß die Sprache als solche nicht gegen Mißbräuche gesichert werden kann. In einer vollständigen, nicht bloß rudimentären, Sprache lassen sich z.B. immer auch falsche Sätze oder Sinnlosigkeiten formulieren. Dies sind nicht einfach "Entgleisungen", sondern Konsequenzen aus der Flexibilität der Sprache. Deshalb sollte man mit der Sprache besonnen und kritisch umgehen. Worauf es ankommt, ist "das Sprechen auf seinen Ladenwert hin zu beurteilen, wie MAUTHNER es so treffend ausdrückt. An der Sprache gibt es nicht zu kritisieren, umso öfter freilich an ihrem Gebrauch, sonderlich durch Philosophen.
LITERATUR - Hubert Schleichert, Kritische Betrachtungen über Mauthners Sprachkritik, in Leinfellner/Schleichert (Hrsg), Fritz Mauthner - Das Werk eines kritischen Denkers, Wien/Köln/Weimar 1995