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FRITZ MAUTHNER
Vergleichung
I -28

"Auf der gefälligen Annahme der Gleichheit beruht unser ganzes geistiges Leben."

Haben wir nämlich eingesehen, daß das gesamte Gedächtnis des Menschengeschlechtes oder das Denken oder die Sprache ein Vergleichen ist (wobei, wie wir sahen, Ähnliches schon gleich genannt wird), so läßt sich alle Denktätigkeit in zwei ungeheure Gruppen einteilen, welche ich allerdings nur ungenau beschreiben kann, weil ich die entsprechenden Begriffe dem gewohnten Sprachgebrauche gemäß anwenden muß. Die beiden Gruppen sind etwa durch die Worte klassifizieren und wiedererkennen zu kennzeichnen; in der ersten Gruppe werden unmittelbar gegebene Eindrücke oder unmittelbar gegebene und erinnerte Eindrücke so lange verglichen, bis die Dispositionen zu ihrer Erneuerung sich - man kann wohl sagen - vereinigen und eine abgekürzte Formel für alle Dispositionen vorliegt: ein Wort, ein Begriff ; in der zweiter Gruppe wird ein unmittelbarer oder ein erinnerter Eindruck oder bereits eine abgekürzte Formel für ein System von Eindrücken mit einer anderen Formel verglichen. Jede Klassifikation oder Begriffsbildung ist eine Gleichung, bei welcher wir infolge langer Einübung das Gleichheitszeichen nicht mehr brauchen; jedes Wiedererkennen oder Urteilen ist auch formen einer Gleichung, in welcher wir das Subjekt mit dem Prädikat, den Begriff mit seiner Definition u.s.w. ausdrücklich gleichsetzen. Die unzähligen Fälle, in denen die Kopula "ist" nicht eigentliche Identität, sondern Unterordnung aussagt, sind keine Ausnahmen, denn sie lassen sich sehr einfach auf eine Gleichung zurückführen. Das Pferd ist ein Säugetier" heißt so viel wie "Das Pferd = eines von den Säugetieren." Auf der gefälligen Annahme der Gleichheit beruht unser ganzes geistiges Leben.

Dürfen wir nun nicht von einer objektiven Gleichheit sprechen, sondern nur von dem subjektiven Gefühle der Gleichheit, haben wir erkannt, daß physiologische oder psychologische Veränderung der Begriff ist, unter welchem sich das Gefühl der Gleichheit und der Ungleichheit scheidet, so sehen wir auf den ersten Blick, daß wir die beiden Endzustände einer Bewußtseinsänderung, die uns einen noch so kleinen Ruck gibt, unähnlich oder ungleich nennen, und daß wir je nach der Schärfe unserer Organe die beiden Endzustände einer Bewußtseinsänderung, die uns keinen Ruck gibt, Zustände, die uns ähnlich erscheinen, gleich nennen. Absolute Gleichheit ist eine Abstraktion des mathematischen Denkens. In der Wirklichkeitswelt gibt es nur Ähnlichkeit. Gleichheit ist starke Ähnlichkeit, ist ein relativer Begriff. Von der Schärfe der Sinnesorgane oder weiter des wissenschaftlichen Denkens, in letzter Instanz von der Aufmerksamkeit oder dem Interesse hängt es ab, wie weit z.B. eine Klassifikation getrieben wird, ob wir den Begriff Pferd als tiefste Unterart kennen oder Pferderassen unterscheiden, oder Unterrassen, oder gar jedes einzelne Pferd, wie der, Wachtmeister die Pferde seiner Schwadron kennt.

Auf Ähnlichkeit, nicht auf Gleichheit ist alles Klassifizieren oder die Sprache aufgebaut, auf Ähnlichkeit, nicht auf Gleichheit all unser Urteilen oder die Anwendung der Sprache. Alle Logik aber, auch die Algebra der Logik, geht von dem mathematischen Begriff der Gleichheit aus und ist darum eine gefährliche Wissenschaft. Um nicht zu weit abzuschweifen, sei nur kurz erwähnt, daß auch der Begriff oder das Gefühl der Kontinuität aus dem Gefühle der Ähnlichkeit allein entsteht. Ich will das nur bildlich ausdrücken. Ein geübtes Ohr wird vom tremolierenden Singen verletzt, von Tönen also, welche durch ein Beben der Stimme unterbrochen werden; ein unmusikalischer Mensch empfindet das Tremolieren vielleicht gar als eine Schönheit. Hier ist die Einheit durchbrochen und doch die Kontinuität gewahrt. In mikroskopischer Wirklichkeit besteht aber jeder Ton aus einzelnen Stößen; es wird immer tremoliert. Und in mikroskopischer Wirklichkeit ist ganz gewiß der eine Stoß nicht genau gleich dem anderen, sondern nur ähnlich. Wir hören aber diese Ähnlichkeit so sehr als Gleichheit, daß wir überhaupt nur einen Ton hören. Alles Klassifizieren unserer Begriffsbildung, ja unserer Wahrnehmung leidet an dem "gleichen" Fehler.

Ist somit alle Tätigkeit des Gedächtnisses nur ein Vergleichen, ein geheimnisvolles Vergleichen präsenter Nervenerregungen mit Nervendispositionen, welche freilich wieder in anderem Zusammenhange allein Erinnerungen genannt werden, ist dieses Vergleichen eigentlich nur ein bequemes Gleichnennen ähnlicher Eindrücke, so kann es gar nicht anders sein, als daß das Ergebnis dieses Gedächtnisses, nämlich die Entstehung und die Anwendung des Gesamtgedächtnisses oder der Sprache, sich mit einem à peu près behilft und niemals zu einer mathematisch exakten Grundlage des Weiterdenkens dienen kann. Wir sind aber nach den bisherigen Ergebnissen imstande, die sprachkritische Untersuchung der durcheinanderschwebenden Begriffe  Gedächtnis  und  Bewußtsein  um eine kleine Strecke weiter zu verfolgen.

Wir können jetzt sagen, daß jede Erinnerung eine Aktion ist und zwar eine Bewußtseinsänderung, welche zwei Nervenzustände vergleicht. Dies gilt wenigstens für das bewußte Gedächtnis. Und es ist nicht meine Schuld, sondern Schuld der Sprache, wenn ich hier das Bewußtsein, welches nur Gedächtnis von einem anderen Gesichtspunkte ist, diesem Gedächtnisse bald zu bald abspreche. Wenn wir nun vorhin gesehen haben, daß es ein passives Gedächtnis gar nicht gibt, so dämmert vielleicht die Überzeugung auf, daß die bisherige Psychologie irrte, wo sie zunächst an eine Reproduktion von Sinneseindrücken glaubte, in letzter Zeit aber nur vorsichtig bemerkte, wie das Gedächtnis für Beziehungen, d.h. für Bewußtseinsänderungen stärker sei als für einzelne Wahrnehmungen. Ich fürchte sehr, daß wir ein solches Gedächtnis für einzelne Wahrnehmungen gar nicht besitzen, sondern nur eines für Beziehungen, daß jede Erinnerung eine Tätigkeit ist, eine Bewegung, durch welche wir eben von einem Bewußtseinszustand zum anderen übergehen. Kehren wir zu unserem Beispiel von der Melodie zurück. Auch guten Musikern ist es unmöglich, einen bestimmten einzelnen Ton passiv in ihrem Gedächtnisse zu haben; es ist ihnen aber sogar auch schwer oder unmöglich, den bestimmten einzelnen Ton mit absoluter Sicherheit in ihrer Kehle oder auf der Violine zu bilden. Sie lassen sich den ersten Ton auf einem gutgestimmten Klaviere anschlagen. Sodann aber bilden sie die Melodie, also die Bewegung zu den weiteren Tönen mit voller Sicherheit. Wir können diese bekannte Erscheinung allgemein so ausdrücken, daß das Wesen des Gedächtnisses in der Assoziation besteht, d. h. doch wohl in der Bewegung auf einem bereits zurückgelegten Wege. Gehörveränderungen und die mit ihnen aufs innigste verwandten Zeitvergleichungen sind ganz besonders stark assoziierbar und reproduzierbar.

Dieser Umstand allein würde nun wieder begreiflich machen, warum das Gedächtnis der Menschheit oder die Sprache sich überall hörbare Zeichen, unsere Worte, für ihre Zwecke gewählt hat. Wir haben eben gezeigt, welche Bedeutung die Aktivität des Gedächtnisses für den Menschen und seine Sprache habe. Sprachmittel konnte nur ein Sinneseindruck sein, den wir beliebig erzeugen können. Wir können uns in Tönen erinnern, weil wir Töne bilden können.

Emanzipieren wir uns also für einen Augenblick von unserem Sprachgebrauch, auch dem sogenannten wissenschaftlichen Sprachgebrauch, wie man sich jedesmal vom Sprachgebrauche der Gegenwart emanzipieren muß, wenn man auch nur um Haaresbreite über das Begreifen der Gegenwart hinausgelangen will. Wir haben dann meines Erachtens die Stellung entdeckt, welche die Sprache als Mittelglied zwischen dem Gedächtnis und dem Bewußtsein einnimmt. Die beiden Abstraktionen Gedächtnis und Bewußtsein bezeichnen für unseren kritischen Standpunkt ein und dieselbe Tatsache; Erinnerungen sind nur Tatsachen des Bewußtseins, Bewußtseinszustände sind nur Tatsachen des Gedächtnisses. Was wir als ein Ich kennen, dürfen wir mit gleichem Rechte die Kontinuität des Gedächtnisses, wie die Kontinuität des Bewußtseins nennen. Aber je nachdem wir unsere Aufmerksamkeit mehr auf das Zurückerinnern oder mehr auf den augenblicklichen Bewußtseinsinhalt lenken, erscheint uns bald das Gedächtnis, bald das Bewußtsein als der höhere Begriff, der den anderen mit umfaßt. Bald ist das Gedächtnis der höhere Begriff, der einerseits das gesamte bewußte Denken, anderseits alles unbewußte Seelenleben mit seinen Instinkten und automatischen Gewohnheiten bezeichnet; bald ist das Bewußtsein der höhere Begriff, der einerseits alles noch irgend bewußte Gedächtniswerk umfaßt, anderseits alle die täglich neuen Erfahrungen, welche noch nicht in daß Gedächtnis eingetreten sind. Wobei nicht zu übersehen ist, daß nur derjenige Inhalt unseres Bewußtseins, der vom Gedächtnisse apperzipiert wird, für unser geistiges Leben Bedeutung hat. Es scheint mir nun gewiß zu sein, daß diese beiden schwebenden Begriffe in der Sprache allein ihren Halt haben. Alles ganz oder halb bewußte Gedächtnis des Menschengeschlechts bis herab zum letzten Individuum ist in der Individualsprache jedes einzelnen Menschen niedergelegt, und zum Bewußtsein kommt jedem Einzelmenschen, in den hellen Blickpunkt des Bewußtseins tritt nur, was sich mit Worten ausdrücken läßt.

Und in der menschlichen Sprache liegt zugleich das ewige Bestreben, Gedächtnis und Bewußtsein zu versöhnen. Nämlich so: wenn man auf der höchsten Stufe des uns bis jetzt möglichen Vorstellens unterscheiden will zwischen Gedächtnis und Bewußtsein, so muß man sagen, daß das Bewußtsein die martervollsten und übermenschlichsten Anstrengungen macht, sich von der Herrschaft der Instinkte zu befreien und jedem neuen Eindrucke gegenüber frei, d.h. von der Entwicklungsgeschichte unabhängig die Überlegenheit des Individuums zu behaupten, das Ich der zwingenden Umwelt frei gegenüberzusetzen; daß das Gedächtnis die unabweisbare Tendenz hat, durch Einübung der Aktionen, in welchen alle Erinnerungen bestehen, automatisch, d.h. instinktiv zu werden. Gedächtnis und Bewußtsein aber müssen sich an die Sprache klammern. Die Sprache nun ist der instinktive Teil unseres Denkens oder Gedächtnisses und der unbewußte instinktive Teil des Bewußtseins. Das Denken muß entarten, muß sich vom jeweiligen Sprachgebrauch emanzipieren, wenn es als stolzes Selbstbewußtsein über das Gedächtnis hinausgelangen will.

Ist dem wirklich so, so verlieren die beiden Begriffe Bewußtsein und Gedächtnis, die uns abwechselnd mit ihrer Gleichheit und ihrer Ungleichheit genarrt haben, zugleich ihre Schärfe und ihren Wert. Wir bemerken dann nur noch in der Geschichte des menschlichen Geistes sowohl, wie in den unbedeutendsten Vorkommnissen dieser Geschichte, z.B. in unseren täglichen Geistesgewohnheiten, eine Tendenz, die auf Arbeitsersparnis hinausläuft und die wir je nach unserem Interesse bald Bewußtsein, bald Gedächtnis nennen. Das Gedächtnis hat überall die Tendenz, ein automatisches Gedächtnis, also eine Art Instinkt zu werden. Wer voll Noten spielen lernt, muß zuerst die einzelnen Notenzeichen und ihre Gruppierungen dem Gedächtnisse einprägen. Wir übersehen dabei gern, daß der Anfang dieses Auswendiglernens da ist, wenn das Notenzeichen in unser Bewußtsein eintritt, was ein sehr komplizierter Vorgang ist. Hat ein Schüler sich die Notenzeichen. schnell gemerkt, so loben wir sein gutes Gedächtnis. Ist der Schüler später ein Virtuose geworden, so hören wir auf, seine Kenntnis der Notenzeichen unter den Begriff des Gedächtnisses zu fassen. Er verbindet das Sichtbare Zeichen mit dem entsprechenden Tone und dann wieder mit der entsprechenden Fingerbewegung so automatisch, wie beim normalen Menschen die komplizierten Bewegungen des Gehens oder des Essens automatisch geworden sind.

Das Gehen und das Essen sollten wir unter die Instinkte rechnen; auch das Notenlesen würde instinktmäßig genannt werden, wenn es allgemein ererbt und nicht von einzelnen Menschen mühselig erworben würde. Automatisch ist es beim guten Klavierspieler sicherlich. Automatisch wird bei ihm jedoch auch unter Umständen das Auswendigspielen eines langen Stückes. Auch da neigt die Sprache dazu, von einem gedankenlosen Spielen zu reden, d.h. doch wohl von einem Spielen ohne Bewußtsein, ohne Besinnung, ohne bewußte Gedächtnisarbeit. In solchen Fällen hat das Gedächtnis sein Ziel erreicht, es hat sich selbst überflüssig gemacht, wie man das von einer guten Regierung verlangt. Noch auffallender ist dieser Weg bei solchen Übungen, die von größeren Menschengruppen oder die von  allen  Menschen angestellt werden. Das Bücherlesen geschieht heutzutage von allen gebildeten Menschen ohne Besinnung, ohne Gedächtnisarbeit. Das Wort Gedächtnis wenden wir dabei nur noch auf das besondere Auswendiglernen ganzer Stellen an. Das Gehen geschieht instinktiv, nachdem das Gehenlernen überwunden worden ist; wer später tanzen lernt, muß wieder Gedächtnisarbeit verrichten, bis auch das Tanzen automatisch wird. Das Essen geschieht instinktiv; wer aber später einen Fisch, eine Auster nach der jeweiligen Sitte essen lernen will, muß sein Gedächtnis anstrengen, bis ihm das Fischessen, das Austernessen zur leichten Gewohnheit, bis es automatisch wird.

Man wird wohl einsehen, daß wir da überall mit dem abstrakten Worte Gedächtnis nicht auskommen können. Unter Gedächtnis stellt man sich immer noch etwas wie eine Kraft vor, die Vorstellungen wiederholt, die mühsam einübt; und doch erkennen wir jetzt die Mühelosigkeit, das automatische Wiederholen als dasjenige, was erst Gedächtnisarbeit heißt. Und wieder vergißt die Sprache das Wort Gedächtnis anzuwenden, sobald das Ziel erreicht ist und das Gedächtnis gut funktioniert. Der Grund liegt darin, daß jeder Anfang der Einübung mühsam, also bewußt vor sich geht und daß wir, auf diese Mühsamkeit oder Bewußtheit aufmerksam geworden, die Arbeit von der Mühelosigkeit, das Bewußtsein vom Gedächtnis trennen. Ich muß freilich gestehen, daß eine solche sprachkritische Betrachtung nahe an den sprachlichen Nihilismus hinführt, weil wir da von den einzig wirklichen physiologischen Vorgängen nichts wissen und alle Begriffe für die psychologischen Vorgänge schwanken, was dann allerdings natürlich ist.

Wir haben vorhin gesehen, daß alles Gedächtniswerk oder Denken ein Vergleichen ist, jedes Vergleichen eine Bewußtseinsänderung, bei welcher wir eine Art von Ruck als Beziehung der Ungleichheit und das Ausbleiben des Rucks als eine Beziehung der Ähnlichkeit oder Gleichheit empfinden. Der Ruck weckt unser Bewußtsein oder vielmehr er ist ein Zustand, den wir einen Bewußtseinszustand nennen. Vielleicht ist alle Tätigkeit des Gedächtnisses ein Bemühen unseres egoistischen Organismus, diesen Ruck abzuschwächen. Alles Wachstum des menschlichen Geistes, welches doch real nur im Wachstum der Individualgeister bestehen kann, vollzieht sich also in einer ewigen Gegenbewegung: jede ungewöhnliche oder uneingeübte Wahrnehmung wird mit einer Anstrengung oder mit Bewußtsein apperzipiert und behufs Klassifikation dem Gehirnschatze übergeben, welcher, insofern er ein lebendiges Ganzes ist, Gedächtnis heißt; und dieses lebendige Ganze macht sich sofort an die Arbeit, die Benützung der neuen Wahrnehmung unbewußt oder automatisch zu machen, Arbeit zu ersparen.

Ist schon das Lesen für uns Büchermenschen eine automatische Tätigkeit, so ist das Sprechen fast völlig so automatisch und instinktiv wie das Essen. Stumme Menschen rechnet man in das Gebiet der Pathologie, wie man Menschen ohne Speiseröhre dahin rechnen würde; daß solche Menschen aus Mangel an Nahrung zu Grunde gehen müßten, ist ein relativer Zufall, der die Ähnlichkeit nicht aufhebt. Daß die Sprache nur innerhalb einer Volksgenossenschaft brauchbar ist, dürfte denn doch auch in der Kunst des Essens eine Analogie haben; man denke sich einen städtischen Robinson, ohne Robinsons romanhaften Scharfsinn, auf eine kleine Insel verschlagen, die ihm weder Vogeleier noch Muscheln, noch Lamamilch zur Nahrung böte und deren nahrhafte Wurzeln und anderes dergleichen er nicht kännte; er würde sich mit der Natur nicht verstehen und so wenig essen können, als ein Deutscher in China sprechen kann. In normalen Fällen jedoch übt der Mensch die Kunst seiner Muttersprache so automatisch wie die Kunst des Essens. Er hat jedes Wort mit einer gewissen Arbeit, mit einem gewissen Bewußtsein lernen müssen, um es nachher unbewußt zu gebrauchen; wir können wohl nicht daran zweifeln, daß ihm dieses Lernen durch eine ererbte Anlage erleichtert worden ist, durch ererbte Instinkte in den Nervenbahnen. Zwischen dem Sprachgebrauche der italienischen Bäuerin, welche etwa das Vaterunser als Strafpensum zum hundertsten Male hundertmal aufsagt, und dem Gebrauch der Sprache bei einem Philosophen, der ein altes Wort neu definiert oder zu einem neugefundenen Begriffe ein passendes Wort findet, liegen unendlich viele Gradunterschiede der Intelligenz, der geistigen Arbeit.

Wir haben ja eben erfahren, daß es auch in der Kunst des Essens solche Gradunterschiede gibt; wer die Austerngabel erfunden hat, hat die Technik des Essens bereichert. Aber alle Gradunterschiede zwischen der Bäuerin und dem Philosophen lassen sich auf den einen Unterschied zurückführen, daß die Bäuerin und mit ihr bis hoch hinauf alle studierten Geschäftsleute, Pfarrer, Lehrer, Richter, Ärzte, wenn sie sich nicht freiwillig anstrengen wollen, die Sprache oder das Gedächtnis der Menschheit aus Arbeitsscheu oder im unbewußten Dienste der nach Arbeitsersparnis drängenden sogenannten Kultur, automatisch gebrauchen, - daß dagegen der Philosoph, und mit ihm jeder intelligente Arbeiter, der das Besondere seiner gegenwärtigen Arbeit beachtet, die Mühe des Apperzipierens nicht scheut, seiner Sprache oder dem Gedächtnisse der Menschheit eine neue Wahrnehmung anklassifiziert und so an seiner Stelle das Gedächtnis der Menschheit um einen Zug vermehrt. Er lernt das Austernessen, er erfindet die Austerngabel.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906