cr-4PragmatismusNietzscheMüller-FreienfelsF. RittelmeyerG. Brandes    
 
MALVIDA von MEYSENBUG
N i e t z s c h e

"Glücklicherweise fehlt es mir an jedem politischen und sozialen Ehrgeiz, sodaß ich von da aus keine Gefahren zu befürchten habe, keine Abziehungen, keine Nötigung zu Transaktionen und Rücksichten; kurz, ich darf heraussagen, was ich denke; und ich will einmal erproben, bis zu welchem Grad unsere auf Gedankenfreiheit stolzen Mitmenschen freie Gedanken vertragen."

"Es entstand der Plan, dem Kampf gegen das verrottete Alte und Böse junge Kräfte zu gewinnen, indem wir solche für die Ideale einer neuen, edleren Kultur vorzubereiten unternehmen. Allen Ernstes dachten wir daran, ein Institut für junge Leute beiderlei Geschlechts zu gründen, das durch Beispiel und Belehrung die Pflanzschule werden sollte, aus welcher Apostel einer reineren, höheren Lebensanschauung als der in konventionellen Formen erstarrten der modernen Welt hinausgehen würden."

"Der  Wille zur Macht ist kein Prinzip einer höheren Lebensauffassung. Er ist auf den niedrigen Naturstufen einfach das Recht des Stärkeren und auf den höheren die Klippe, an welcher jede wahre Größe scheitert."

Ich hatte mir vorgenommen, nicht mehr von NIETZSCHE zu reden, über dessen Grab nun ehrendes Schweigen der beste Tribut einstiger Freundschaft ist; Wünsche, von verschiedenen Seiten geäußert, haben mich vermocht, schon früher Geäußerte noch einmal zusammenzufassen und als den letzten Denkstein auf das ferne Grab, das ich in diesem Leben nicht mehr besuchen, zu setzen.

Ich glaube nicht, daß NIETZSCHE, wie Viele meinen, ein so gewaltiger Revolutionär im Reich des Geists und der Moral war, eine solche "Riesengestalt, die ihren Schatten über Jahrtausende wirft", ein solcher "Sturmherd und Ausgangspunkt großer Wogen", wie ihn Herr OLA HANSSON genannt hat. Ich glaube auch, daß die eigentliche Bedeutung NIETZSCHEs und das wahrhaft Neue, was er zu bringen hatte, nicht das ist, was die Meisten veranlaßt, sich mit ihm zu beschäftigen. Er war kein Prophet einer neuen, noch nie in solchen Formen dagewesenen Zeit; er war vielmehr der hervorragendste Repräsentant einer Übergangsperiode in der Kulturgeschichte des Kampfes zweier Weltanschauungen, die sich noch feindlich gegenüberstanden, sowie sein eigenes, leider zu früh abgerissenes Leben sich noch in einer nicht zum Abschluß gelangten Übergangsperiode befand. Dies ist meine Ansicht über den bedeutenden Mann, mit dem mich lange Jahre eine wahre Freundschaft verband und den ich in den verschiedenen Stadien seiner geistigen Entwicklung teils in persönlicher Nähe, teils durch Korrespondenz zu beobachten und kennenzulernen Gelegenheit hatte. Ihm, dem so hart vom Schicksal Behandelten, dem so Hochbegabten und so sehr Verirrten, dem im persönlichen Verkehr so Liebenswürdigen und Gütigen und in seiner Lebensanschauung so unbarmherzig Richtenden, möchte ich eine Betrachtung widmen, in der es mir gelänge, sein Bild in wahren Zügen festzustellen, gleich fern von irriger Vergötterung wie von ungerechtem Haß.

Im Jahre 1872 in Florenz lebend, wurde ich von Frau COSIMA WAGNER auf eine Schrift aufmerksam gemacht, die soeben erschienen war und von einem jungen Professor in Basel herrührte, welcher mit der am Luzerner See lebenden Familie WAGNER innig befreundet war. Die Schrift führte den Titel: "Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik", der Verfasser hießt FRIEDRICH NIETZSCHE. Es befand sich gerade damals ein kleiner Kreis bedeutender Menschen um mich. Wir lasen die Schrift zusammen und waren alle gleich davon begeistert. Die Beleuchtung der zwei Grundelemente des griechischen Lebens, welche der Verfasser mit dem Namen: Dionysisches und Apollinisches bezeichnete, erschloß eine Fülle von geistvollen Gedanken darüber, wie das Wesen der Welt "ansich" das dionysische, dessen Ursprache die Musik ist, aus der Schönheit der apollinischen Erscheinung das Kunstwerk der Tragödie erzeugt. Wir erfuhren zugleich, daß NIETZSCHE, ein grundgelehrter Philologe, schon als ganz junger Mann von dem ihn hochschätzenden, berühmten Professor FRIEDRICH RITSCHL als ordentlicher Professor an die Universität Basel empfohlen worden war. Was uns alle aber noch mehr anzog als die Gelehrsamkeit des gründlich mit dem Altertum Vertrauten, war die Geistesfülle und Posie in der Auffassung, das erratende Auge des dichterischen Menschen, welcher die innere Wahrheit der Dinge mit seherischem Blick begreift, da,wo der pedantische Buchstabengelehrte nur die äußere Schale faßt und für das Wesentliche hält. Mit wahrer Wonne erfüllte der Gedanke, eine so herrliche, zugleich wissenschaftlich wie schöpferisch hochbegabte Persönlichkeit neben dem Werk zu wissen, welches sich in Bayreuth vorbereitete, wohin RICHARD WAGNER eben nach dem beendeten Krieg übersiedelt war. Zur Zeit der Grundsteinlegung des Theaters in Bayreuth ging ich dorthin. Die Aufführung der Neunten Symphonie BEETHOVENs durch ein ausgesuchtes Künstlerorchester, von WAGNER dirigiert (eine Aufführung, wie sie in solcher Vollendung nicht leicht wieder gehört werden wird), vereinigt schon in den Proben die besonderen Gäste WAGNERs in der großen markgräflichen Loge des alten anmutigen Rokoko-Theaters in Bayreuth. In einer Pause der Generalprobe kam Frau WAGNER mit einem jungen Mann auf mich zu und sagte, sie wolle mir Herrn NIETZSCHE vorstellen. "Wie,  der Nietzsche?"  rief ich voll Freude. Beide lachten, und Frau WAGNER sagte: "Ja,  der Nietzsche. " Und nun gesellt sich zu jenem bedeutenden Geistesbild der Eindruck einer jugendlich schönen, liebenswürdigen Persönlichkeit, mit der sich schnell ein herzliches Verstehen einstellte.

Kurz nach dem Aufenthalt in  Bayreuth,  der sich zu einigen Wochen verlängert hatte, sah ich NIETZSCHE in München wieder, wo wir zusammen den dreimaligen Aufführungen von "Tristan und Isolde" beiwohnten und den Freundschaftsbund, der in Bayreuth begann, noch fester schlossen. Ich erinnere mich, wie NIETZSCHE während einer solchen Aufführung sagte: "Dieses Drama des Todes macht mich gar nicht traurig, im Gegenteil, ich fühle mich glücklich und erlöst." Es war ein Anklang an die Definition der Tragödie in seiner Schrift, "an den metaphysischen Trost, mit welchem uns jede wahre Tragödie entläßt, daß das Leben im Grunde der Dinge, trotz allen Wechsels der Erscheinungen, unzerstörbar mächtig und lustvoll ist." Nach diesem Zusammensein begann zwischen uns nun ein eifriger Briefwechsel, in dem es sich, außer um Persönliches, um allgemeine Interessen und um das Werk von Bayreuth handelte, dessen Förderung uns beiden gleich am Herzen lag. Noch im Julie desselben Jahres erhieltich einen Brief von ihm, worin er mir seine Pläne in Bezug auf sein Wirken für Bayreuth mitteilte und zugleich schrieb:
    "Ich bin mit dem ersten Entwurf einer neuen Schrift beschäftigt; der Zustand der ersten Konzeptionen hat etwas sehr Beglückendes und Einsammachendes. Trotzdem bin ich aber überzeugt, bei manchen Freunden meines früheren Buches einen Mißerfolg zu erleben, denn es geht darin gar nicht "dionysisch" zu: aber es ist sehr viel von Haß, Streit und Neid die Rede - das gefällt nicht. Denn so sind die meisten Leser, sie konstruieren sich nach einem Buch den Autor, und wehe, wenn er in einem nächsten Buch ihrer Konstruktion nicht entspricht!"
Etwas später schickte er mir eine Schrift seines Freundes, des Philologen Professor ROHDE, zur Verteidigung der "Geburt der Tragödie", gegen einen philologischen Angriff geschrieben und sagte dabei:
    "Ich habe es nämlich durch diese Schrift dazu gebracht, der anstößigste Philologe des Tages zu sein, für den einzutreten einzutreten ein wahres Wunderwerk der Kühnheit sein mag, da alles einmütig ist, über mich den Stab zu brechen. Abgesehen von der Polemik, mit der ich Sie nicht belästigen möchte, enthält die Schrift  Rohdes sehr viel Gutes über die philosophischen Fundamente meines Buches und wird dadurch bei Ihnen einige Teilnahme finden. Wenn ich nur nicht fürchten müßte, daß der großmütige Schritt  Rohdes ihn in ein wahres Nest von Mißgunst und Bosheit hineinführen wird. Jetzt sind wir beide zusammen auf dem Index! Im Grunde ist es ja eine Verwechslung, ich habe nicht für Philologen geschrieben, obwohl diese - wenn sie nur könnten - mancherlei selbst Rein-Philologisches aus meiner Schrift zu lernen vermöchten. Nun wenden sie sich erbittert an mich und meinen, ich habe ein Verbrechen begangen, weil ich nicht zuerst an sie und Verständnis gedacht habe. Auch  Rohdes  Tat wird erfolglos bleiben, denn nichts vermag die ungeheure Kluft zu überbrücken. Aber ich ziehe ruhig weiter auf meiner Bahn und hüte mich, den Ekel zu empfinden, zu dem man sonst auf Schritt und Tritt Veranlassung hätte. Sie haben ja Schwereres, doch Analoges erlebt, und wer weiß, wie weit mein Leben noch dem ihren ähnlich zu werden vermag, denn bis jetzt habe ich nur gerade angefangen, mich etwas auszusprechen. Ich brauche noch viel guten Mut und kräftige Freundesliebe, vor allem gute und edle Beispiele, um nicht mitten im Sprechen den Atem zu verlieren. Ja, gute Beispiele! Und dann denke ich an Sie und freue mich von Herzen, mit Ihnen, als mit einer einsamen Kämpferin für das Rechte, zusammengetroffen zu sein."
Auf der Durchreise durch Basel im Herbst des Jahres 1872 sah ich ihn wieder und lernte seine Schwester kennen, die bei ihm war und ihm ein angenehmes Heim sorglich bereitete. Gegen Ende des Jahres schrieb er mir von dem "Besuch ansich", der ihm schon lange angekündigt war von WAGNER und dessen Frau, und sagte:
    "Unser Zusammentreffen hat stattgefunden in beglückendster Weise, aber nicht hier in Basel, sondern in Straßburg, wohin ich eines Freitags reiste und wo wir mit und beeinander zwei und einen halben Tag verlebten, ohne alle sonstigen Geschäfte, erzählend, spazieren gehend und Pläne machend und der herzlichsten Zusammengehörigkeit erfreuend."
Ich hatte ihm eine Frage vorgelegt, die mich beim Nachdenken über Erziehung oft beschäftigt hatte, nämlich, ob es ratsam ist, wie es jetzt vielfach die Sitte wäre, Kinder schon früh mehrere Sprachen lernen zu lassen. Ich war von dieser Ansicht zurückgekommen, da es mir schien, als hindere es die Vertiefung des Geistes, wenn dem Denken des Kindes nicht das bezeichnende Wort der Muttersprache zugleich mit den Begriff erwächst, da die Leichtigkeit der Kinder, fremde Sprachen zu lernen, doch nur mehr die Fertigkeit des Papageis ist, während der reifere Mensch eine Quelle tiefen Genusses am Studium fremder Sprachen findet, wodurch sich ihm gleichsam der Schleier vom Gedankenleben anderer Völker-Individuen abzieht. NIETZSCHE erwiderte mir hierauf:
    "Die Entsheidung dünkt mich allgemein hier nicht wohl möglich. Es kommt so sehr darauf an, welche gerade die Muttersprache ist. Leider fehlt es mir sehr an Erfahrung, aber ich sollte meinen, daß es für ein deutsches Kind ein wahres Glück ist, zuerst in einer regelrechten, strengen Kultursprache, Französisch oder Latein, erzogen zu werden, damit sich ein kräftiges Stilgefühl (hier zeigtsich schon das unendliche Gewicht, welches er auf Stilschönheit legte) entwickelt, das nachher auch der später gelernten, etwas barbarischen Muttersprache zugute käme. Dagegen war es bei den Griechen und ist es bei den Franzosen freilich unnütz, eine zweite Sprache überhaupt zu lernen. Solche Völker, die ein eigenes Stilgefühl in so hohem Grad besitzen, dürfen sich bei ihrer eigenen Sprache zufrieden geben. Alle anderen müssen lernen und lernen. (Ich spreche hier natürlich nicht vom Wert, den das Erlernen einer fremden Sprache für die Kenntnis fremder Literaturen und Wissenschaften hat, sondern nur vom Sprachgefühl und Stilgefühl.) Warum schreibt denn  Schopenhauer so vortrefflich? Weil er viele Jugendjahre hindurch fast nur Französisch oder Englisch oder Spanisch gesprochen hat. Dann hat er, wie er selbst sagt, außerordentlich  Seneca zu diesem Zweck studiert und nachgeahmt. Aber wie ein Deutscher durch deutsche Lektüre zu einem Stil kommen soll oder gar durch deutsche Unterhaltung und Geselligkeit, begreife ich nicht. Das Schwankende soll sich am Festen bilden; aber in Deutschland, im Land der wüstesten Buch- und Zeitungsmacherei (im Jahr 1872 allein 12 000 deutsche Bücher!), da sollte jemand im Sprechen und Schreiben einen Stil lernen? Ich glaube es nicht, bin aber gerne bereit, zu lernen, denn, wie gesagt, ich weiß nichts, habe nichts erfahren und bin kein Fachmann."
Es war auch bei dieser Entscheidung, wie überhaupt bei ihm, das künstlerische Element, welches den Ausschlag gab und welches seinen Anschauungen neben der fachmännischen Gelehrsamkeit den hohen Wert verlieh. Daß dieses künstlerische Schönheitsgefühl sich bei ihm auch auf kleine Äußerlichkeiten des Lebens, wie z. B. die Kleidung erstreckte, wie ein Kritiker bemerkt, ist wahr, hatte aber den Ursprung in dem Bedürfnis eines tief ästhetischen Menschen, dem die Schönheit wie die Güte angeborene Elemente seiner Natur sind. Von letzterer erhielt ich wieder einen Beweis durch das innige Bedauern, welchen er aussprach, zu kurze Ferienzeiten zu haben, um mich Ostern 1873 in Florenz besuchen zu können, wo er mich physisch und psychisch, nach einem schweren Trennungsschmerz, leidend wußte:
    "Wenn ich auch nicht helfen könnte, Sie zu trösten, so wäre es mir doch hie und da gelungen, Sie zu zerstreuen und Ihr Nachdenken irgendwohin abzulenken."
Stattdessen ging er nun für die paar freien Tage nach Bayreuth und schrieb: Daß sich hier schon der radikale Denker aussprach, ist gewiß; aber es war auf andere Weise und in anderer Gemeinschaft als später. Er sendetemir die zweite seiner "Unzeitgemäßen Betrachtungen": "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", und schrieb dabei:
    "Nun wünschen Sie mir Kraft zu den noch übrigen elf unzeitgemäßen Betrachtungen. Ich will wenigsten einmal alles aussprechen, was uns drückt; vielleicht füht man sich nach dieser Generalbeichte etwas befreiter."
Noch weiter sprach er sich darüber aus, als er mir im Herbst 1874 die dritte der Betrachtungen: "Schopenhauer als Erzieher", schickte.
    "Im Inhalt dieser Schrift werden Sie genug von dem erraten, was ich inzwischen in mir erlebt habe. Auch daß es mit mir im Verlauf des Jahres mitunter viel schlechter und bedenklicher stand, als im Buch zu lesen steht. In Summa aber doch, daß es geht, vorwärts geht, und daß es mir nur gar zu sehr am Sonnenschein des Lebens fehlt, sonst würde ich sagen müssen, daß es mir gar nicht besser gehen könnte, als es geht, denn es ist gewiß ein hohes Glück, mit seinen Aufgaben schrittweise vorwärts zu kommen, und jetzt habe ich drei von den dreizehn Betrachtungen fertig, und die vierte spukt im Kopf. Wie wird mir zumute sein, wenn ich erst alles Negative und Empörte, was in mir steckt, aus mir herausgestellt hae, und doch darf ich hoffen, in fünf Jahren ungefähr diesem herrlichen Ziel nahe zu sein! Schon jetzt empfinden ich mit einem wahren Dankgefüh, wie ich immer heller und schärfer sehen lerne - geistig (leider nicht leiblich!), und wie ich mich immer bestimmter und verständlicher aussprechen kann. Wenn ich in meinem Lauf nicht völlig irr gemacht werde, oder selbst erlahme, so muß etwas bei all dem herauskommen. Denken Sie sich nur eine Reihe von fünfzig solcher Schriften, wie meine bisherigen drei, alle aus der inneren Erfahrung heraus ans Licht gezwungen - damit müßte man doch schon eine Wirkung tun, denn man hätte gewiß vielen Menschen die Zunge gelöst und es wäre genug zur Sprache gebracht, was die Menschen nicht so bald wieder vergessen könnten und was gerade jetzt wie gar nicht vorhanden erscheint. Und was sollte mich in meinem Lauf stören? Selbst feindselige Gegenwirkungen werden mir jetzt zu Nutzen und Glück, denn sie klären mich oftmals schneller auf als die freundlichen Mitwirkungen; und ich begehre nichts  mehr als über das ganze, höchst verwickelte System von Antagonismen, aus denen die  moderne Welt besteht, aufgeklärt zu werden. Glücklicherweise fehlt es mir an jedem politischen und sozialen Ehrgeiz, sodaß ich von da aus keine Gefahren zu befürchten habe, keine Abziehungen, keine Nötigung zu Transaktionen und Rücksichten; kurz, ich darf heraussagen, was ich denke; und ich will einmal erproben, bis zu welchem Grad unsere auf Gedankenfreiheit stolzen Mitmenschen freie Gedanken vertragen. Ich fordere vom Leben nicht zuviel und nichts Überschwängliches; dafür bekommen wir alle in den nächsten Jahren etwas zu erleben, worum uns alle Vor- und Nachwelt beneiden darf. Ebenfalls bin ich mit ausgezeichneten Freunden wider alles Verdienst beschenkt worden; nun wünsche ich mir, im Vertrauen gesagt, noch recht bald ein gutes Weib, und dann denke ich meine Lebenswünsche für erfüllt anzusehen. Alles Übrige steht dann bei mir."

    "P.S. Ich bin kürzlich 30 Jahre alt geworden."
Wer könnte den eben zitierten Brief ohne Rührung lesen? Wer, der ihn damals gelesen hat, konnte anders als mit freudiger Hoffnung auf diesem mutigen Kämpfer blicken, der in der vollen Kraft der Jugend, ausgerüstet mit den herrlichsten Waffen des Geistes, mit einem kolossalen Wissen, ohne alle Pedanterie, mit künstlerischem Empfinden, selbst Musiker und Dichter, mit Freiheit und Kühnheit des Gedankens in die Arena trat, um - er selbst ein vollkommener Idealist - dem nüchternen Rationalismus, dem Bildungsphilister, der seine beschränkte Wirklichkeit für Kultur nimmt und die Suchenden, die hohen Ahnen des deutschen Geistes, für abgetan hält, den Krieg zu erklären? Aber er erklärte diesen Krieg im Namen der Idealität aller Zeiten, im Namen jener mächtigen Gemeinsamkeit, welche zwar nicht durch äußerliche Formen und Gesetze, aber wohl durch einen Grundgedanken zusammengehalten wird. Es ist dies der Grundgedanke der Kultur, insofern diese jedem Einzelnen von uns nur  eine  Aufgabe zu stellen weiß: "die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und außer uns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten." Scharf und schneidig war das Schwert, welches er schwang, dieser junge, kühne Kämpfer; aber welchem erhabenen Begriff von Kultur galt dieser Kampf? Und wer fühlte besser, als er? So schrieb er mir dann auch Anfangs des Jahres 1875 wieder voll Entzücken, wie er hoffte,  Mitte  des Jahres zu den Proben der ersten, für das folgende Jahr geplanten Ausführungen in Bayreuth zu sein. Diesen Brief aber schloß er mit den Worten:
    "Ich sah gestern, als am Anfang des Jahres, mit wirklichem Zittern in die Zukunft. Es ist schrecklich und gefährlich zu leben - ich beneide jeden, der auf eine rechtschaffene Weise tot wird. Im Übrigen bin ich entschlossen, alt zu werden, denn sonst kann man es zu nichts bringen. Aber nicht aus Vergnügen am Leben will ich alt werden. Sie verstehen diese Entschlossenheit."
Wohl verstand ich diese Entschlossenheit. Es war die des reifenden Mannes, dem das Schicksal die Erkenntnis einer ungeheuren Aufgabe in das Herz geschrieben hatte, und der bereit war, sie zu erfüllen, dem aber zugleich das tiefe Weh klar geworden war, daß den großen Kämpfern selten das, was die Welt  Glück  nennt, zuteil wird, da ihnen vielmehr: "Entbehren sollst du, sollst entbehren", auf die Fahne geschrieben ist, unter welcher sie kämpfen. Inzwischen brachte unser Briefwechsel auch manches von jenen großen Lebensfragen abseits Liegendes, aber dennoch Bedeutendes zur Sprache, wobei auch zugleich sein liebenswürdiges, freundliches Gemüt sich offenbarte. Ich hatte ihn z. B. einmal über seine Ansicht vom Charakter  Eduards  in den "Wahlverwandtschaften" gefragt, über welchen ich mit WAGNER ein Gespräch und eine von der seinen verschiedene Meinung gehabt hatte. NIETZSCHE schrieb, er habe den Roman lange nicht gelesen und habe noch nie über  Eduard  nachgedacht, setzte aber hinzu:
    "Wollen Sie mit etwas ganz Unreifen fürlieb nehmen, so würde ich als meine Meinung dies bezeichnen: Nur im Lichtstrahl von  Ottiliens Liebe sieht  Eduard so aus, wie er billigerweise immer erscheinen sollte. Aber  Goethe hat ihn geschildert, wie er Alle schildert, die ihm selber ähnlich oder gleich sind und wie er sich selbst malt, ein wenig banaler und flacher, als er ist; wie es  Goethe  liebte, nach eigenen Geständnissen, sich immer etwas niedriger zu geben, schlechter zu kleiden, geringere Worte zu wählen. Diese Liebhaberei  Goethes  hat der ihm verwandte  Eduard  büßen müssen. Aber, wie gesagt,  Ottiliens  Liebe zeigt uns erst, wer er ist, oder läßt es uns erraten. Daß diese gerade den lieben mußte, hat  Goethe  zur Verherrlichung solcher Naturen erfunden, welche tiefer sind, als sie je scheinen, und deren Tiefe erst der seherische Blick wahlverwandter Liebe ergründet. Ein hiesiger Patrizier hat mir ein bedeutendes Geschenk in einem echten  Dürer'schen  Blatt gemacht; selten habe ich Vergnügen an einer bilderischen Darstellung, aber dieses Bild, "Ritter, Tod und Teufel" steht mir nahe, ich kann kaum sagen wie. In der  Geburt der Tragödie  habe ich  Schopenhauer  mit diesem Ritter verglichen, und deswegen bekam ich das Bild. So Gutes erlebe ich. Ich wünschte, ich könnte anderen Menschen täglich etwas Gutes erweisen. Diesen Herbst nahm ich mir vor, jeden Morgen damit zu beginnen, daß ich mich frage: Gibt es Keinen, dem Du heute etwas zugute tun könntest? Mitunter glückt es, etwas zu finden. Mit meinen Schriften mache ich zu vielen Menschen Verdruß, als daß ich nicht versuchen müßte, es irgendwie gut zu machen."
Ist das nicht ein rührendes Zeugnis für die ursprüngliche Güte seiner Natur, an der er selbst nachher zum Verleumder wurden? Einige Zeit danach kam wieder ein Brief, worin er sein längeres Schweigen erklärte und schrieb:
    "Ich weiß nichts Besseres, als daran zu denken, wie ich doch in den letzten Jahren immer reicher an Liebe geworden bin, und dabei fällt mir Ihr Name und Ihre treue, tiefe Gesinnung immer zuerst ein. Wenn mir nun die Möglichkeit fehlt, Solchen, die mich lieben, Freude zu machen, ja selbst der Glaube daran, so fühle ich mich ärmer und beraubter als je zuvor, und in so einer Lage war ich. Es war mir meiner Gesundheit wegen so aussichtslos zumute, daß ich glaubte, ich müßte nun unterducken und wie an einem heißen, drückenden Tag nur eben unter der Schwüle und Last so fortschleichen, und immer überlief es mich schmerzlich bei dem Gedanken: deine Freunde haben Besseres von dir erwartet, sie müssen nun ihre Hoffnungen fahren lassen und haben keinen Lohn für ihre Treue. Kennen Sie diesen Zustand? Ich bin jetzt wieder über ihn hinaus, aber auf wie lange? Doch mache ich wieder Entwürfe und suche mein Leben in einen Zusammenhang zu bringen; ich tue nichts lieber, sobald ich nur einmal wieder allein bin. Daran habe ich einen förmlichen Barometer für meine Gesundheit. Unsereins, ich meine Sie und mich, leidet nie rein körperlich (wie vollständig wahr!), sondern Alles ist mit geistigen Krisen tief durchwachsen [dilt], so daß ich gar keinen Begriff habe, wie ich je aus Apotheken und Küchen allein wieder gesund werden könnte. Das Geheimnis aller Genesung für uns ist, eine gewisse Härte der Haut, wegen der großen innerlichen Verwundbarkeit, zu bekommen. Denn es quält nichts mehr, als wenn man so von beiden Seiten ins Feuer kommt; von Innen her und von Außen. Meine, durch die gute Schwester nun eingerichtete Häuslichkeit soll für mich so eine fest, harte Haut werden, es macht mich glücklich, mich in mein Schneckenhaus hinein zu denken."
Im Frühling des Jahres 1876 bekam ich wieder einen so liebevollen Brief, der mich innig rührte und mir die edle, neben allem berechtigten Selbstgefühl doch tief gemütliche und nach innerer Vollendung strebende Natur des Freundes zeigt. Er schrieb am Karfreitag:
    "Es gab vor vierzehnt Tagen ungefähr einen Sonntag, den ich allein am Genfer See und ganz und gar in Ihrer Näher verbrachte, von Früh bis zum mondbeglänzenden Abend; ich las mit wiederhergestellten Sinnen Ihr Buch zu Ende und sagte mir immer wieder, daß ich nie einen weihevolleren Sonntag erlebt habe. Die Stimmung der Reinheit und Liebe verließ mich nicht, und die Natur war an diesem Tag nichts als das Spiegelbild dieser Stimmung. Sie gingen vor mir her als ein höheres Selbst, als ein viel höheres, aber doch noch mehr ermutigend als beschämend; so schwebten Sie in meiner Vorstellung, und ich maß mein Leben an Ihrem Vorbild und fragte mich nach dem Vielen, was mir fehlt. Ich danke Ihnen für sehr viel mehr als für ein Buch. Ich war krank und zweifelte an meinen Kräften und Zielen; nach Weihnachten glaubte ich, von allem lassen zu müssen, und fürchtete nichts mehr, als die Langwierigkeit des Lebens, das mit der Aufhebung der höheren Ziele nur wie eine ungeheure Last drückt. Ich bin jetzt gesünder und freier, und die zu erfüllenden Aufgaben stehen wieder vor meinen Blicken, ohne mich zu quälen. Wie oft habe ich Sie in meine Nähe gewünscht, um Sie manches zu fragen, worauf nur eine höhere Moralität und Wesenheit als ich bin, Antwort geben kann. Aus Ihrem Buch entnehme ich mir jetzt Antworten auf sehr bestimmte, mich betreffende Fragen; ich glaube mit meinem Verhalten nicht eher zufrieden sein zu dürfen, als bis ich Ihre Zustimmung habe. Ihr Buch ist für mich aber ein strengerer Richter, als Sie es vieleicht sein würden. Was muß ein Mann tun, um beim Bild Ihres Lebens sich nicht der Unmännlichkeit zeihen zu müssen? Das frage ich mich oft. Er muß das alles tun, was Sie taten, und durchaus nichts mehr! Aber er wird es höchst wahrscheinlich nicht vermögen, es fehlt ihm der sicher leitende Instinkt der allzeit hilfsbereiten Liebe.

    Eines der höchsten Motive, welches ich durch Sie erst geahnt habe, ist das der Mutterliebe, ohne das physische Band von Mutter und Kind; es ist eine der herrlichsten Offenbarungen der Caritas."
Die immer wiederkehrenden schweren körperlichen Leiden des jungen Mannes mußten wohl seine Freunde mit tiefem Anteil erfüllen, aber seine elastische und im Grunde so kräftige Natur gestattete die Hoffnung, daß dieses Leiden, das hauptsächlich in Kopf- und Augenschmerzen bestand, werde behoben werden können. So sahen wir dann auch mit frohem Mut der Zusammenkunft in Bayreuth, im Sommer 1876, zur ersten Aufführung der Tetralogie des  Nibelungenringes  entgegen. NIETZSCHE schrieb mir noch kurz vorher, daß ihm eine Dame gesagt habe, er sei auf dem falschen Weg, und fügte hinzu:
    "Ja, was weiß ich von meinem Weg! Ich gehe ihn, weil ich es sonst gar nicht aushalten könnte, und habe also gar keinen Grund, mir über ihn Zweifel und Bedenken zu machen. Es geht mir in summa ja eigentlich besser als allen meinen Mitmenschen, seit ich auf diesem Weg bin, über dem zwei Sonnen,  Wagner und  Schopenhauer, leuchten und ein ganzer griechischer Himmel sich ausspannt."
Schon hatte diese glückliche Stimmung auch wieder ein herrliches Produkt, die vierte der "Unzeitgemäßen Betrachtungen": "Wagner in Bayreuth" hervorgebracht.

Leider hielt seine Gesundheit wieder nicht Stand; er mußte noch vor Beendigung der Festspiele Bayreuth verlassen und in die Einsamkeit der Berge gehen, um sich zu erholen. Welcher Schmerz mochte die Seele des jungen Kämpfers erfüllen, der immer wieder durch körperliches Leiden die Kraft versagen fühlte, seiner hohen Aufgabe zu genügen! Es veranlaßte mich das tiefe Mitgefühl für einen solchen Schmerz zu dem Vorschlag, den folgenden Winter im Süden Italiens mit ihm zu verbringen, da Mutter und Schwester ihn nicht begleiten konnten. Die Universität in Basel, wo man ihn hochachtete, gestand ihm die Zeit zum Ausruhen, welche er durchaus nötig hatte, freigiebig zu. Ich hatte damals keinen festen Wohnsitz und konnte frei über meine Zeit verfügen. Es war dem Armen nach seiner Rückkehr nach Basel wieder sehr schlecht ergangen; ungefähr alle acht Tage quälte ihn sein Leiden, dreißig Stunden hindurch, und die Hoffnung auf den Süden wurde nun sein einziger Trost. "Wir wollen dort schon die Gesundheit erzwingen," schrieb er und verkündete mir zugleich, daß ein Freund und ein junger Schüler mitzukommen gedächten. Wir nahmen den Golf von Neapel in Aussicht und trafen auch wirklich Mitte Oktober 1876 daselbst zusammen, wählten Sorrent zum Aufenthalt und richteten uns dort in einer Villa am Meer ein. Nun begann ein treffliches Zusammenleben unserer kleinen Kolonie; am Tag war jeder absolut frei, sich nach eigener Wahl zu beschäftigen; nur die Mahlzeiten, zuweilen gemeinschaftliche Spaziergänge und die Abende vereinigten uns. Diese wurden auf die schönste Art durch gemeinsame Lektüre ausgefüllt. Wir versenkten uns ganz ins griechische Altertum, und die Lektüre wurde durch die Kommentare, die NIETZSCHE mündlich hinzufügte, zum unvergleichlichen Genuß. Zuerst waren es Vorlesungen über griechische Kultur, die JACOB BURCKHARDT in Basel gehalten hatte und die, von einem Schüler NIETZSCHEs aufgeschrieben, diesem im Manuskript mitgegeben worden waren. Dann folgte THUKYDIDES und anderes, und im Zusammenklang der herrlichen Natur, die uns umgab, mit den geistvollen Betrachtungen über die Blütezeit der Menschheit, verbrachten wir ein selten harmonisches Leben, nur zuweilen durch die Anfälle von NIETZSCHEs Leiden getrübt. Wenn sich mir in diesem Zusammensein seine geistige Bedeutung immer vollständiger offenbarte, so lernte ich auch sein liebevolles Gemüt, sowie die edle Entsagung immer mehr schätzen, mit welcher der so hart Geprüfte seinem schweren Leiden gegenüberstand. Am letzten Tag des Jahres 1876 ging ich am Morgen allein mit ihm spazieren. Es war ein herrlicher Tag, und an einer Stelle, wo ein Felsenvorsprung in die See hinausragt, setzten wir uns nieder, das blaue Meer unter uns, den blauen Himmel über uns, vor uns den Golf von Neapel mit dem Vesuv, alles grün um uns her, als wäre es Frühling und nicht der letzte Tag des scheidenden Jahres. Die Herrlichkeit der Erde spiegelte sich in reinster Stimmung in unseren Seelen wider, und im Gespräch bemerkte NIETZSCHE, daß dem rechten Menschen alles dazu dienen muß, nach Erkenntnis zu streben, auch die Leiden, und daß er in dieser Beziehung das letzte leidensvolle Jahr seines Lebens segne. Ich erinnerte ihn daran, daß denen, die Gott lieben, wie es in der Bibel heißt, alle Dinge zum Besten dienen müssen, und sagte, wie auch ich voll tiefen Friedens auf die lange, oft so schweren Prüfungen unterworfen gewesene Laufbahn zurückblicke. Dies war die Stimmung, in der wir das Jahr beschlossen. Und diese Stimmung war meist die vorherrschende bei ihm, da freilich auch unser Zusammensein, so geistig belebt es war, wenig Anlaß zur Polemik gab. Es entstand der Plan, dem Kampf gegen das verrottete Alte und Böse junge Kräfte zu gewinnen, indem wir solche für die Ideale einer neuen, edleren Kultur vorzubereiten unternehmen. Allen Ernstes dachten wir daran, in dem herrlichen Erdenwinkel, in dem wir uns befanden, ein Institut für junge Leute beiderlei Geschlechts zu gründen, das durch Beispiel und Belehrung die Pflanzschule werden sollte, aus welcher Apostel einer reineren, höheren Lebensanschauung als der in konventionellen Formen erstarrten der modernen Welt hinausgehen würden. Daß NIETZSCHE in dem milderen Klima das Feld einer edlen Tätigkeit finden sollte, die sich mit seinem leidenden Zustand verträgt, war die erste Bedingung des Plans, und wäre er gelungen, so wäre NIETZSCHEs Wirksamkeit wohl nicht in so schmerzvoller Art, sondern in einer erfreulichen zur Ausübung gekommen. Leider scheiterte er, wie so vieles Gute, hauptsächlich aus materiellen Gründen.

Bestätigte sich mir nun in den sieben Monaten dieses Zusammenseins die hohe Meinung, die ich von NIETZSCHEs geistiger Bedeutung und von seinem gütigen, liebevollen Gemüt gefaßt hatte, seit ich ihn kannte, so konnte ich doch nicht umhin, zu bemerken, daß verschiedene Einflüsse eine starke Wirkung auf ihn ausübten und sich offenbar seiner Art des Denkens und des Ausdruckes in hohem Grad bemächtigten. Dahin gehörte zunächst die wissenschaftliche Methode des Dr. RÉE, der mit uns in Sorrent weilte und NIETZSCHE eine rührende, aufopfernde Freundschaft widmete, wenngleich ihre geistigen Tendenzen weit auseinandergingen. Dr. RÉE war ein Verehrer der französischen Moralisten und führte deren Bücher ständig mit sich. Durch ihn wurden sie auch NIETZSCHE äußerst wert und weckten seine Vorliebe für Aphorismen, die sich bis dahin in seinen Schriften nirgends kundgegeben hatte, welche sich im Gegenteil durch die klare Entwicklung des Themas auszeichnete, das in schönster Stilvollendung, wie ein klarer Bach in sanften Wellen, dahinfloß. Erst gegen Ende unseres Aufenthalts, als die zwei anderen Mitglieder unserer kleinen Kolonie geschieden waren und ich noch einige Zeit mit NIETZSCHE allein blieb, las dieser mir eine große Anzahl Aphorismen vor, die er auf seinen einsamen Spaziergängen aufgeschrieben hatte, ganz besonders unter einem Baum, den er mir zeigte, indem er scherzend sagte: "Da fällt mir immer ein Gedanke herunter." Viele dieser Aphorismen waren geistvoll und treffend, aber andere mißfielen mir, schienen mir NIETZSCHEs nicht würdig und ich bemerkte mit Besorgnis die Anfänge einer Wandlung in seinen Anschauungen, von der ich jedoch hoffte, sie würde nur vorübergehend sein. Ich bat ihn deshalb inständig, mit der Veröffentlichung dieser Aphorismen noch längere Zeit zu waren. Mir schieh und scheint es noch, daß, um in so prägnanter Kürze allgemein zutreffende Wahrheiten zu sagen, eine große langjährige Beobachtung der Menschen und Verhältnisse erforderlich ist, gerade wie in der exakten Wissenschaft erst eine Menge Experimente mit demselben Resultat erlaube, ein chemisches oder physikalisches Gesetz festzustellen. Die französischen Moralisten sind deshalb so vorzüglich in ihrer Art, weil sie die Gesellschaft ihrer Zeit so ganz und gar kannten, sich mitten in ihr bewegten, sodaß sie innerhalb dieser Grenzen allgemeine Sätze hinstellen konnten. NIETZSCHE aber fehlte diese Kenntnis der Menschen und Verhältnisse noch gar sehr. Er war noch zu jung, hatte sich in einem zu beschränkten Lebenskreis bewegt, um so allgemein verfahren zu dürfen. Der Dichter allerdings kann zum Teil die Welt und ihre Geschöpfe aus sich konstruieren, weil er universelle Typen in seiner Seele trägt, und doch braucht auch er die Kenntnis der Erscheinungen, um wahr zu sein. Der Moralist aber kann diese Kenntnis nicht entbehren, denn seine Aufgabe ist es, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen unter die Regel einer allgemein gültigen Beobachtung zu stellen.

Leider verließ NIETZSCHE Sorrent, ohne seine Hoffnung auf Genesung erfüllt zu sehen, und im ersten Brief, den ich noch dort von ihm erhielt, beschrieb er mir das Entzücken, das ihn befallen hat, als er die Schweizer Berge wieder gesehen, und meinte, daß doch nur auf den Höhen Wohlsein für ihn zu hoffen ist. Voll Wehmut las ich von dieser neuen Hoffnung, von der ich fürchten mußte, daß sie eine Täuschung sein würde, wie es der Süden gewesen war.

Wir stehen nun vor dem Anfang der Wandlung in den Ansichten NIETZSCHEs, die seine näheren Freunde anfangs mit Befremden gewahrten, bis sie sich nach und nach fast alle von ihm abwendeten, mehr oder weniger mit Bedauern, aber viele, und zwar die bedeutendsten, mit Unwillen, ja fast mit Verachtung. Ich blieb ihm treu, weil ich fest überzeugt war, daß die Veränderung, die sich in ihm vollzog, nur eine Phase seiner Entwicklung ist, aus der sein eigentliches geistiges Selbst, gewachsen und gekräftigt hervorgehen wird. Der erste, mächtigste Anstoß zu dieser Wandlung war der gewaltige Trieb seiner urwüchsigen Persönlichkeit, sich von den übermächtigen Einflüssen, welche seine Jugend beherrscht hatten, loszusagen, um seinen eigenen Weg zu gehen.

Schon im Jahr 1878 schrieb er mir:
    "Die Krisis des Lebens ist da; hätte ich nicht das Gefühl der übergroßen Fruchtbarkeit meiner neuen Philosophie, so könnte mir wohl schauerlich einsam zumute werden. Aber ich bin mit mir einig."
Dies war das Ende der ersten Epoche im Leben dieses liebenswürdigen, gütigen, feinfühlenden Menschen, der künstlerischen Natur, deren Identität alles Faule, Lügenhafte, Abgelebte ein Greuel war, und die sich stark genug fühlte, den Kampf gegen all das aufzunehmen. Es folgen nun Schlag auf Schlag die äußeren und inneren Schicksalsfügungen, welche die zweite Epoche herbeiführten. Es trat eine Verbitterung ein, die ihren dunklen Schatten über alles warf, was ihm einst teuer gewesen war, die seine Liebe in Haß verkehrte, seine bisherigen Ideale erbarmungslos zertrümmerte, ihn in Widersprüch mit sich selbst verwickelte und der Darlegung seiner Gedanken jene schöne Klarheit seiner ersten Arbeiten nahm. Zunächst wären es die beinahe unausgesetzten körperlichen Leiden, die ihn fast lebensunfähig machten und ihn 1879 nötigten, seinen Abschied an der Universität Basel zu nehmen, welche ihm, dem noch so jungen Lehrer, ihre hohe Achtung bewies, indem sie ihm den vollen Gehalt der Pension ließ. Von nun an führte er ein Wanderleben, weilte im Winter im Süden, meist in Nizza und Genua, im Sommer in den Bergen der Schweiz, zunächst auch in der Heimat, in Naumburg bei seiner Mutter. Von da erhielt ich Anfang des Jahres 1880 einen Brief, der mich auf das Schmerzlichste erschütterte; er lautete:
    "Obwohl Schreiben für mich zu den verbotenen Früchten gehört" (denn sein Hauptleiden bestand, wie gesagt, in den entsetzlichsten Kopf- und Augenschmerzen), "so müssen Sie, die ich wie eine ältere Schwester liebe und verehre, doch noch einen Brief von mir haben - es wird doch wohl der letzte sein! Denn die furchtbare und fast unablässige Marter meines Lebens läßt mich nach dem Ende dürsten, und nach einigen Anzeichen ist mir der erlösende Hirnschlag nahe genug, um hoffen zu dürfen. Was Qual und Entsagung betrifft, so darf sich das Leben meiner letzten Jahre mit dem jedes Asketen irgendeiner Zeit messen; trotzdem habe ich diesen Jahren viel zur Läuterung und Glättung der Seele abgewonnen und brauche weder Religion noch Kunst mehr dazu. (Sie bemerken, daß ich darauf stolz bin; in der Tat, die völlige Verlassenheit hat mich erst meine eigenen Hilfsquellen entdecken lassen.) Ich glaube, mein Lebenswerk getan zu haben, freilich wie Einer, dem keine Zeit gelassen war. Aber ich weiß, daß ich einen Tropfen guten Öles für Viele ausgegossen und daß ich Vielen zu Selbsterhebung, Friedfertigkeit und gerechtem Sinn einen Wink gegeben habe. Dies schreibe ich Ihnen nachträglich, es sollte eigentlich bei der Vollendung meiner  Menschlichkeit ausgesprochen werdn. Kein Schmerz hat vermocht und soll vermögen, mich zu einem falschen Zeugnis über das Leben, wie ich es erkenne, zu verführen. Zu wem dürfte ich dies alles sagen, wenn nicht zu Ihnen? Ich glaube - aber es ist unbescheiden, es zu sagen - daß unsere Charaktere viele Ähnlichkeiten haben, z. B. wir sind beide mutig, und weder Not noch Geringschätzung kann uns von der Bahn, die wir als rechte erkennen abdrängen. Auch haben wir beide in uns und vor uns manches erlebt, dessen Leuchten Wenige der Gegenwärtigen gesehen haben; wir hoffen für die Menschheit und bringen uns selber als bescheidenes Opfer, nicht wahr? Hören Sie Gutes von  Wagners?  Es sind drei Jahre, daß ich nichts von ihnen erfahre; die haben mich verlassen, und ich wußte es längst, daß  Wagner,  vom Augenblick an, wo er die Kluft unserer Bestrebungen einsehen würde, auch nicht mehr zu mir halten wird. Ich denke in einer dauernden Dankbarkeit an ihn, denn ihm verdanke ich einige meiner kräftigsten Anregungen zur geistigen Selbständigkeit. Frau  Wagner,  Sie wissen es, ist die sympathischste Frau, der ich im Leben begegnet bin. Aber zu einem Wiederanknüpfen ist es zu spät. Ihnen, meine verehrte Freundin, den Gruß eines jungen Alten, der dem Leben nicht gram ist, obgleich er nach dem Ende verlangen muß."
Nach diesem Brief konnte man ihm, trotz allen Mitleids, kaum noch eine Verlängerung seiner Leiden wünschen, und vielleicht wäre es damals eine Gunst des Schicksals gewesen, ihn abzurufen. Allein es sollte nicht sein. Längere Zeit hindurch hörte ich nichts mehr nach diesem Abschiedsbrief, den ich im gleichen Sinn beantwortet hatte. Dann kam endlich wieder ein Brief, der mir neue Hoffnung für ihn gab. Er schrieb:
    "Eigentlich haben wir voneinander schon einen letzten Abschied genommen, und es war meine Ehrfurcht vor solchen letzten Worten, welche mich für so lange Zeit vor Ihnen stumm gemacht hat. Inzwischen ist Lebenskraft und jede Art von Kraft in mir wieder tätig gewesen, und so lebe ich denn ein zweites Dasein und höre mit Entzücken, daß Sie den Glauben an ein solches zweites Dasein bei mir niemals ganz verloren haben. Ich bitte Sie heute, recht lange, lange noch zu leben, so sollen Sie auch an mir noch Freude erleben. Aber ich darf nichts beschleunigen; der Bogen, in dem meine Bahn läuft, ist groß, und ich muß an jeder Stelle desselben gleich gründlich und energisch gedacht haben. Ich muß noch lange, lange jung sein, obgleich ich micht schon den Vierzigen nähere. Daß jetzt alle Welt mich allein läßt, darüber beklage ich mich nicht; ich finde es vielmehr nützlich und natürlich. So ist es und war es immer die Regel."
Wir trafen uns mehreremale zu einem flüchtigen Wiedersehen in der Schweiz, und später kam er zweimal, von Genua aus, wo er überwinterte, mich in Rom besuchen. Im persönlichen Verkehr war er bis dahin wie früher freundlich, gütig und geistig belebt; von der Bitterkeit und Schärfe seiner letzten Schriften war im Gespräch nichts zu merken. Es verriet sich vielmehr darin oft tiefe Wehmut über seine zunehmende Einsamkeit und die Trennung von fast Allen, die ihm nahe gewesen waren. Aber außer seiner schwachen Gesundheit gehörten auch Erlebnisse mannigfacher Art dazu, um ihn in Extreme der Lebensführung und Anschauung zu treiben. Was ihn von Bayreuth trennte, war der Gedanke, daß dort eine Rückkehr zum orthodoxen Christentum stattfindet, weshalb er auch nicht mehr zu den ersten Aufführungen des "Parsifal" ging. Eine andere persönliche Erfahrung, die ihn tief schmerzte, gab ihm zu folgenden brieflichen Äußerungen Anlaß, in denen er zugleich seine Lossagung von SCHOPENHAUERs Ethik aussprach:
    "Man soll seinen Instinkten besser vertrauen, auch den Instinkten des Widerstrebens. Aber das  Schopenhauersche Mitleiden hat immer in meinem Leben bisher den Hauptunfug gestiftet, und deshalb habe ich allen Grund, solchen Moralen gut zu sein, welche noch ein paar andere Triebfedern zur Moralität rechnen und nicht unsere ganze menschliehe Tüchtigkeit auf Mitgefühle reduzieren wollen. Dies nämlich ist nicht nur eine Weichlichkeit, über die jeder gutgesinnte Hellene gelacht haben würde, sondern eine ernste praktische Gefahr. Man soll sein Ideal vom Menschen durchsetzen; man soll mit seinem Ideal seine Mitmenschen wie sich selbst zwingen und überwältigen und so schöpferisch wiren! Dazu aber gehört, daß man sein Mitleiden hübsch im Zaum hält, und daß man, was unserem Ideal zuwidergeht, auch als Feinde behandelt. Sie hören, wie ich mir die Moral lese; aber um bis zu dieser Weisheit zu kommen, hat es mich fast das Leben gekostet."
So tief schmerzlich empfand er noch die Wunden, die seinem persönlichen Empfinden, seiner Neigung zu Menschen, geschlagen wurden, sowie die Enttäuschungen, die ihm im Verkehr mit anderen zuteil wurden, und wenn sein stolzes Selbstgefühl ihn scheinbar darüber hinweg hob und zu Äußerungen der Gleichgültigkeit verleitete, so entschlüpften ihm unwillkürlich im intimeren Verkehr oft Worte, welche das tiefe Weh seines Alleinstehens verrieten. So schrieb er einmal aus Nizza:
    "Sie erraten gewiß, daß mir von Menschen fast nichts übrig geblieben ist (obschon ich nicht alt bin - oder doch?). Die Jahre gehen dahin und man hört kein Wort mehr, das Einem noch ans Herz kommt."
Und wieder in einem anderen Brief kam am Ende von der Erzählung wiederholter Anfälle seines schweren physischen Leidens der schmerzliche, rührende Ausruf: "Gibt es denn keinen Menschen, der mich lieb hat?" Dann in einem Brief aus Genua:
    "Ich vertrage es nur noch, am Meer zu leben; alle binnenländische Luft depotenziert bei mir Nerven und Augen auf die entschiedenste Weise und bringt in kurzer Zeit Schwermut und Mißtrauen in mir zum Vorschein, häßliches Unkraut, mit dem ich schon mehr im Leben gekämpft habe, als mit Schlangen und anderen berühmten Untieren. Im kleinen Elend steckt unser gefährlichster Feind; das große Leid  vergrößert. Aber nun bin ich wieder einsam, und die Wahrheit zu sagen, ich war noch nie so einsam. Alle Erlebnisse der letzten Jahre haben mich immer das Eine gelehrt: es gibt Niemanden, der Willens ist, mit mir meinen Weg zu gehen - es sieht noch Niemand diesen Weg. Dies ist ein großes Leid, und wahrhaftig, ich fühle es bereits: es hat die Kraft, zu vergrößern."
Und in einem anderen Brief:
    "Seit Jahren bin ich nun ganz allein, und Sie werden mir zugeben, daß ich eine gute Miene dazu gemacht habe - auch die gute Miene gehört unter die Bedingungen meiner Askese. Wenn ich jetzt noch Freunde habe, so habe ich sie trotzdem, was ich bin oder werden möchte. So sind Sie mir gut geblieben, und ich wünsche von ganzem Herzen, daß ich dafür zum Dank Ihnen auch noch einmal aus meinem Garten eine Frucht reichen kann, die nach Ihrem Geschmack ist."
Allerdings war ich ihm bis dahin, trotz Allem, was mich in zunehmendem Maß antipathisch in seinen neueren Schriften und Briefen berührte, gut geblieben, weil ich, wie schon bemerkt, die ganze zweite Phase seiner Entwicklung als eine Übungsperiode ansah. Ich hoffte, daß aus deren harten, in häßliche und unwahre Extreme hinausschweifenden Folgerungen der edle Geist NIETZSCHEs, wie er sich in seinen Anfängen gezeigt hatte, hervorgehen und nun erst seine philosophische Weltanschauung in der klaren Form eines neuen erhabenen Ideals zur Reife bringen wird. Aber neben dieser Hoffnung stellte sich zugleich eine immer wachsende unheimliche Besorgnis ein, jemehr ich sowohl in den in so rascher Folge erschienenen Schriften, wie in seinen Briefen das stets zunehmende pathologische Element bemerkte, welches neben der Fülle geistvoller Gedanken und anregender Bemerkungen doch zu oft eine Trübung seines Urteils und eine bedenkliche Überhebung seiner eigenen Tat verriet, die man nicht ohne eine traurige Ahnung wahrnehmen konnte. Wenn er mir Dinge schrieb, wie: "Ich will die Menschheit zu Entschlüssen drängen, welche über die ganze menschliche Zukunft entscheiden, und es kann so kommen, daß einmal ganze Jahrtausende auf meinen Namen ihre höchsten Gelübde tun" - oder:
    "Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, ein Buch, gegen das gerechnet die Bücher überhaupt nur Literatur sind. Wie man das büßen muß! Es stellt aus jedem menschlichen Verkehr heraus, es macht eine unerträgliche Spannung und Verletzbarkeit, man ist wie ein Tier, das beständig verwundet wird. Die Wunde ist: keine Antwort, keinen Laut Antwort zu hören, und die Last, die man zu teilen, die man abzugeben wünscht (wozu schreibt man sonst?) in einer entsetzlichen Weise allein auf seinen Schultern zu haben. Man kann daran zugrunde gehen, unsterblich zu sein" -
wenn er mir, wie gesagt, solche Dinge schrieb, so mußte ich mit tief schmerzlichem Erschrecken sehen, daß diesem hohen Geist Umnachtung droht, indem er die Bedeutung seiner reformatorischen Aufgabe überschätzte und in eine Höhe hob, in der sie beinahe den Anspruch machte, eine zweite Weltschöpfung zu sein. Und nur allzusehr ließ sich diese traurige Wendung seines geistigen Schicksals erklären. Nach dem jahrelangen schweren Leiden in Kopf und Augen, nach der völligen Einsamkeit (er, dessen Herz an einer gemütlichen Häuslichkeit hing!), nach den geistigen Entbehrungen aller Art, besonders durch das ärztliche Verbot, zu lesen und zu schreiben, nach dem Darben seines Herzens, das sich nach Neigung und Anteilnahme sehnte, das sich nach Neigung und Anteilnahme sehnte, was er vergebens mit dem Stolz seines Unabhängigkeitsgefühls zu verhüllen strebte, nach der kolossalen unablässigen Gedankenarbeit schließlich, die Buch auf Buch hervorbrachte - wie konnte es wohl anders werden? Sein Schicksal hatte sein trauriges Vorspiel in dem eines ihm vielfach verwandten Geistes, in HÖLDERLIN, der, gleichwie er vom Geist des Griechentums durchdrungen, an den Kontrasten seines Zeitalters zugrunde ging.

Dennoch sagte ich mich erst von ihm los, als die Schrift "Der Fall Wagner" erschien; freilich immer noch hoffend, es könne sich noch zum Guten wenden, und ihm meinen Protest so schonend wie möglich überliefernd. Die Briefe, die ich darauf erhielt, ließenmir aber schließlich keinen Zweifel übrig, wie es mit ihm stand, und so schloß ich auch diese Beziehung meines Lebens ab und betrauerte ihn wie einen Geschiedenen.


Ich hoffe, etwas beigetragen zu haben, um das Bild der Persönlichkeit NIETZSCHEs naturwahr zu zeichnen. Was meine Ansicht über die Wandlung seiner geistigen Richtung betriff, so geht sie entschieden dahin, daß dieselbe noch keinen Abschluß gefunden hatte, sondern durch heftige Einwirkungen gestört, zur Sturm- und Drangperiode geworden war, zu einer Übergangsphase, aus der, wenn das Schicksal es erlaubt hätte, sein Geist in erneuter Schönheit, frei von den Schlacken, welche Bitterkeit, Empörung und Haß in ihm erzeugt hatten, hervorgegangen sein würde. Er würde dann zum klaren Ausdruck einer edleren Philosophie gekommen sein, als derjenigen, welche sich aus dieser Vorhalle erraten läßt, als welche er selbst die Bücher der zweiten Periode bezeichnete. Die vielen Bände, voll Aphorismen, scheinen mir der lebendigste Beweis dafür, daß dies alles nur aus der Unruhe und dem Ringen des suchenden Geistes hervorgegangen war, der seinen Schwerpunkt, das Sonnenzentrum, um das in schön geordneten Bahnen die Sterne leuchtender Gedanken kreisen, noch nicht gefunden hatte. Gewiß wäre das Grundprinzip dieser Philosophie nicht das der Herrenmoral und Slavenmoral geworden. Diese Gegensätze sind nichts Neues; sie sind alt wie die menschliche Gesellschaft. Von jeher hat der edle, freie, bevorzugte Mensch sich unterschieden von den sklavischen Naturen und, oft unbewußt, eine Wirkung, eine Macht ausgeübt, der sich das Schwache, Beschränkte unterordnete und der das Böse feindlich gegenüberstand. Aber der Wille zur Macht ist kein Prinzip einer höheren Lebensauffassung. Er ist auf den niedrigen Naturstufen einfach das Recht des Stärkeren und auf den höheren die Klippe, an welcher jede wahre Größe scheitert, wie es das Beispiel NAPOLEONs I. unter anderem zeigt. Das ungestörte Recht freier Entwicklung ist ein solches höheres Prinzip. Aber unbeschränkte Freiheit des  Handelns  gibt es nicht. Die Bedingungen unserer eigenen Natur, die Pflichten gegen die Gemeinschaft, in der wir leben (denn darauf läuft es doch schließlich hinaus, mag man sie nun Staat, Gesellschaft, Gemeinde oder sonstwie nennen; in Zarathustra-Höhlen hält es der Kulturmensch doch nicht asu), Wohlwollen, Liebe, alle Bande, die uns an andere knüpfen, sind Beschränkungen der individuellen Freiheit. Frei ist nur, wer die notwendigen Fesseln anerkennt und dadurch im Allerheiligsten seiner Seele nicht gestört wird. Der NIETZSCHE der dritten Epoche würde zum Grundprinzip seiner Philosophie kein anderes gewählt haben, als das schon in der ersten Epoche ausgesprochene, welches ich hier wiederhole:
    "Der Grundgedanke der Kultur, insofern diese jedem Einzelnen von uns nur eine Aufgabe zu stellen weiß, ist: die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen, in uns und außer uns, zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten." -
Diese wenigen Worte umfassen die höchste Aufgabe, welche der Menschheit gegeben werden kann. Die tiefsinige Schilderung in der "Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik", wie EURIPIDES die große griechische Tragödie zugrunde richtete und dann, an seiner eigenen Tendenz verzweifelnd, starb, das ist die Vorahnung von NIETZSCHEs eigenem Leben gewesen. Nachdem ihm die wahre Tragödie, von dionysischen Gewalten durchdrungen und vom Geist der Musik getragen, zu erstehen geschienen hatte, wendete er sich, wie EURIPIDES, zum sokratischen Element, und da versank auch ihm die Welt des Mythos und der erlösenden Zauberkraft der Tragödie. Könnte er noch einmal in das Licht der Vernunft zurückkehren und seine dritte Epoche beginnen, er würde, ich glaube es gewiß, die Worte des AESCHYLUS, des Atheners mit dem großen Auge, wiederholen:
    "Ja, die Lebensfreude ist herrlich, und sie soll Allen zuteil werden, die sie verdienen; das Leben soll schön werden - aber bedenkt auch, wieviel die Menschen leiden mußten, um so schön zu werden. Laßt uns beiden Göttern opfern: dem  Dionysus und dem Gott des verklärenden Scheins,  Apollo."
Dreiundzwanzig Jahre nach jenem Winter, mit ihm zusammen in Sorrent verlebt, fand ich mich wieder zum Sommeraufenthalt in diesem lieblichen Ort. Die Erinnerung an jene Zeit kam mir so lebhaft zurück, daß der NIETZSCHE von damals vollständig lebendig vor mir wurde; ich sah ihn wieder mit vergnügtem Lächeln hier umherwandeln in den schmalen Wegen, von Mauern eingefaßt, über welche die hohen Orangenbäume ihre Zweige mit den goldenen Früchten herüberneigten und der Wein üppig wild die Zweige wie zu Festbogen über die Straße spannte. Ich hörte ihn, am Abend gemütlich in unserem kleinen Kreis sitzend, die schönsten Kommentare zu JACOB BURCKHARDTs Vorlesungen über griechische Kultur geben und vernahm sein fröhliches Lachen bei den drolligen Einfällen unseres jungen Gefährten BRENNER oder bei der Erzählung komischer Begebenheiten in den damals noch sehr primitiven Zuständen des kleinen Ortes (der sich seitdem gewaltig modernisiert hat). Die Erinnerung steigerte sich zu solcher Deutlichkeit, daß mir das Bedürnis kam, die Gestalt des Freundes aus der ersten Zeit unseres Verkehrs bis zum Abschluß in Sorrent hinzuzeichnen, da - kam am 26. August die Zeitung mit einem Telegramm aus Weimar vom 25., und in mir rief es: Gottlob, der dunkle Traum ist aus! Deshalb hat mir das Bild des ersten NIETZSCHE so lebhaft vorgeschwebt die ganze Zeit; der schwere Kampf ist ausgekämpft: der heroische Dulder, der müde Streiter darf nun ruhen, und der erste NIETZSCHE lebt für alle Zeit, mild lächeln, in seiner ursprünglichen Harmoine, mit dem Schlußwort jeder wahren Philosophie auf den Lippen: "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis."
LITERATUR - Malwida von Meysenbug, Berlin und Leipzig 1902