MacchiavelliBöhm-BawerkF. Rittelmeyer | |||||||||||
Der Wille zur Macht - Versuch einer Umwertung aller Werte [3/3]
i) Ding ansich und Erscheinung 553. Der faule Fleck des kantischen Kritizismus ist allmählich auch den gröberen Augen sichtbar geworden: KANT hatte kein Recht mehr zu seiner Unterscheidung "Erscheinung" und "Ding ansich", - er hatte sich selbst das Recht abgeschnitten, noch fernerhin in dieser alten üblichen Weise zu unterscheiden, insofern er den Schluß von der Erscheinung auf eine Ursache der Erscheinung als unerlaubt ablehnte - gemäß seiner Fassung des Kausalitätsbegriffs und dessen rein intraphänomenaler Gültigkeit: welche Fassung andererseits jene Unterscheidung schon vorwegnimmt, wie als ob das "Ding ansich" nicht nur erschlossen, sondern gegeben sei. 554. Es liegt auf der Hand, daß weder Dinge-ansich miteinander im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehen können, noch Erscheinung mit Erscheinung: womit sich ergibt, daß der Begriff "Ursache und Wirkung" innerhalb einer Philosophie, die an Dinge ansich und an Erscheinungen glaubt, nicht anwendbar ist. Die Fehler KANTs - ... Tatsächlich stammt der Begriff "Ursache und Wirkung", psychologisch nachgerechnet, nur aus einer Denkweise, die immer und überall Wille auf Wille wirkend glaubt, - die nur an Lebendiges glaubt und im Grunde nur an "Seelen" (und nicht an Dinge). Innerhalb der mechanistischen Weltbetrachtung (welche Logik ist und deren Anwendung auf Raum und Zeit) reduziert sich jener Begriff auf die mathematische Formel - mit der, wie man immer wieder unterstreichen muß, niemals etwas begriffen, wohl aber etwas bezeichnet, verzeichnet wird. 555. Die größte Fabelei ist die von der Erkenntnis. Man möchte wissen, wie die Dinge-ansich beschaffen sind: aber siehe da, es gibt keine Dinge ansich! Gesetzt aber sogar, es gäbe ein An-sich, ein Unbedingtes, so könnte es eben darum nicht erkannt werden! Etwas Unbedingtes kann nicht erkannt werden: sonst wäre es eben nicht unbedingt! Erkennen ist aber immer "sich irgendwozu in Bedingung setzen" - -; ein solch Erkennender will, daß das, was er erkennen will, ihn nichts angeht, und daß dasselbe Etwas überhaupt Niemanden nichts angeht: wobei erstlich ein Widerspruch gegeben ist, im Erkennen- wollen und dem Verlangen, daß es ihn nichts angehen soll (wozu doch dann Erkennen?), und zweitens, weil etwas, das Niemanden nichts angeht, gar nicht ist, also auch gar nicht erkannt werden kann. - Erkennen heißt "sich in Bedingung setzen zu etwas": sich durch etwas bedingt fühlen und ebenso es selbst unsererseits bedingen - - es ist also unter allen Umständen ein Feststellen, Bezeichnen, Bewußtmachen von Bedingungen (nicht ein Ergründen von Wesen, Dingen, "An-sichs"). 556. Ein "Ding-ansich" ebenso verkehrt wie ein "Sinn ansich", eine "Bedeutung ansich". Es gibt keinen "Tatbestand ansich", sondern ein Sinn muß immer erst hineingelegt werden, damit es seinen Tatbestand geben kann. Das "was ist das?" ist eine Sinn-Setzung von etwas Anderem aus gesehen. Die "Essenz", die "Wesenheit" ist etwas Perspektivisches und setzt eine Vielheit schon voraus. Zugrunde liegt immer "was ist das für mich?" (für uns, für alles, was lebt usw.) Ein Ding wäre bezeichnet, wenn an ihm erst alle Wesen ihr "was ist das?" gefragt und beantwortet hätten. Gesetzt, ein einziges Wesen, mit seinen eigenen Relationen und Perspektiven zu allen Dingen, fehlte, so ist das Ding immer noch nicht "definiert". Kurz: das Wesen eines Dings ist auch nur eine Meinung über das "Ding". Oder vielmehr: das "es gilt" ist das eigentliche "es ist", das einzige "das ist". Man darf nicht fragen: "wer" interpretierte denn?" sondern das Interpretieren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ein "Sein", sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein Affekt. Die Entstehung der "Dinge" ist ganz und gar das Werk der Vorstellenden, Denkenden, Wollenden, Empfindenden. Der Begriff "Ding" selbst ebenso wie alle Eigenschaften. - Selbst "das Subjekt" ist ein solches Geschaffenes, ein "Ding" wie alle anderen: eine Vereinfachung, um die Kraft, welche setzt, erfindet, denkt, als solche zu bezeichnen, im Unterschied von allem einzelnen Setzen, Erfinden, Denken selbst. Also das Vermögen im Unterschied von allem Einzelnen bezeichnet: im Grund das Tun in Hinsicht auf alles noch zu erwartende Tun (Tun und die Wahrscheinlichkeit ähnlichen Tuns) zusammengefaßt. 557. Die Eigenschaften eines Dings sind Wirkungen auf andere "Dinge":
- d. h. es gibt kein Ding ohne andere Dinge, - d. h. es gibt kein "Ding ansich". 559. "Dinge, die eine Beschaffenheit ansich haben" - eine dogmatische Vorstellung, mit der man absolut brechen muß. 560. Daß die Dinge eine Beschaffenheit ansich hätten, ganz abgesehen von der Interpretation und Subjektivität, ist eine ganz müßige Hypothese: es würde voraussetzen, daß das Interpretieren und Subjekt-sein nicht wesentlich ist, daß ein Ding aus allen Relationen gelöst noch Ding sei. Umgekehrt: der anscheinende objektive Charakter der Dinge: könnte er nicht bloß auf eine Graddifferenz innerhalb des Subjektiven hinauslaufen? - daß etwa das Langsam-Wechselnde uns als "objektiv" dauernd, seiend, "ansich" sich herausstellte, - daß das Objektive nur ein falscher Artbegriff und Gegensatz wäre innerhalb des Subjektiven? 561. Wenn alle Einheit nur als Organisation Einheit ist? Aber das "Ding", an das wir glauben, ist nur als Ferment zu verschiedenen Prädikaten hinzuerfunden. Wenn das Ding "wirkt", so heißt das: wir fassen alle übrigen Eigenschaften, die sonst noch hier vorhanden sind und momentan latent sind, als Ursache, daß jetzt eine einzelne Eigenschaft hervortritt: d. h. wir nehmen die Summe seiner Eigenschaften - x - als Ursache der Eigenschaft x: was doch ganz dumm und verrückt ist! Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht Eins ist. 562. "Es mußte in der Ausbildung des Denkens der Punkt eintreten, wo es zum Bewußtsein kam, daß das, was man als Eigenschaften der Dinge bezeichnet, Empfindungen des empfindenden Subjekts seien: damit hörten die Eigenschaften auf, dem Ding anzugehören." Es blieb "das Ding an sich" übrig. Die Unterscheidung zwischen Ding ansich und des Dings für uns basiert auf der älteren, naiven Wahrnehmung, die dem Ding Energie beilegte: aber die Analyse ergab, daß auch die Kraft hineingedichtet worden ist, und ebenso - die Substanz. "Das Ding affiziert ein Subjekt"? Wurzel der Substanzvorstellung in der Sprache, nicht im Außer-uns-Seienden! Das Ding-ansich ist gar kein Problem! Das Seiende wird als Empfindung zu denken sein, welcher nichts Empfindungsloses mehr zu Grunde liegt. In der Bewegung ist kein neuer Inhalt der Empfindung gegeben. Das Seiende kann nicht inhaltlich Bewegung sein: also Form des Seins. N. B. Die Erklärung des Geschehens kann versucht werden
zweitens: durch Vorstellung von Bildern, die ihm nachlaufen (die mathematisch-physikalische Erklärung). 563. Unser "Erkennen" beschränkt sich darauf Quantitäten festzustellen; aber wir können durch nichts hindern, die Quantitäts-Differenzen als Qualitäten zu empfinden. Die Qualität ist eine perspektivische Wahrheit für uns; kein "Ansich". Unsere Sinne haben ein bestimmtes Quantum als Mittel, innerhalb deren sie funktionieren, d. h. wir empfinden groß und klein im Verhältnis zu den Bedingungen unserer Existenz. Wenn wir unsere Sinne um das Zehnfache verschärften oder verstumpften, würden wir zugrunde gehen: - d. h. wir empfinden auch Größenverhältnisse in Bezug auf unsere Existenz-Ermöglichung als Qualitäten. 564. Sollten nicht alle Quantitäten Anzeichen von Qualitäten sein? Die größere Macht entspricht einem anderen Bewußtsein, Gefühl, Begehren, einem anderen perspektivischen Blick; Wachstum selbst ist ein Verlangen, mehr zu sein; aus einem quale heraus erwächst das Verlangen nach einem Mehr von quantum; in einer rein quantitativen Welt wäre alles tot, starr, unbewegt. - Die Reduktion aller Qualitäten auf Quantitäten ist Unsinn: was sich ergibt, ist, daß Eins und das Andere beisammen steht, eine Analogie - 565. Die Qualitäten sind unsere unübersteiglichen Schranken; wir können durch Nichts verhindern, bloße Quantitäts-Differenzen als etwas von Quantität Grundverschiedenes zu empfinden, nämlich als Qualitäten, die nicht mehr auf einander reduzierbar sind. Aber alles, wofür nur das Wort "Erkenntnis" Sinn hat, bezieht sich auf das Reich, wo gezählt, gewogen, gemessen werden kann, auf die Quantität: während umgekehrt alle unsere Wertempfindungen (d. h. eben unsere Empfindungen) gerade an den Qualitäten haften, d. h. an unseren, nur uns allein zugehörigen perspektivischen "Wahrheiten", die schlechterdings nicht "erkannt" werden können. Es liegt auf der Hand, daß jedes von uns verschiedene Wesen andere Qualitäten empfindet und folglich in einer anderen Welt, als wir leben, lebt. Die Qualitäten sind unsere eigentliche menschliche Idiosynkrasie [Mischung - wp]: zu verlangen, daß diese unsere menschlichen Auslegungen und Werte allgemeine und vielleicht konstitutive Werte sind, gehört zu den erblichen Verrücktheiten des menschlichen Stolzes. 566. Die "wahre Welt", wie immer auch man sie bisher konzipiert hat, - sie war immer die scheinbare Welt noch einmal. 567. Die scheinbare Welt, d. h. eine Welt nach Werten angesehen; geordnet, ausgewählt nach Werten, d. h. in diesem Fall nach dem Nützlichkeits-Gesichtspunkt in Hinsicht auf die Erhaltung und Macht-Steigerung einer bestimmten Gattung von Animal. Das Perspektivische also gibt den Charakter der "Scheinbarkeit" ab! Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnet! Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet! Jedes Kraftzentrum hat für den ganzen Rest seine Perspektive, d. h. seine ganz bestimmte Wertung, seine Aktions-Art, seine Widerstands-Art. Die "scheinbare Welt" reduziert sich also auf eine spezifische Art von Aktion auf die Welt, ausgehend von einem Zentrum. Nun gibt es gar keine andere Art Aktion: und die "Welt" ist nur ein Wort für das Gesamtspiel dieser Aktionen. Die Realität besteht exakt in dieser Partikular-Aktion und -Reaktion jedes Einzelnen gegen das Ganze ... Es bleibt kein Schatten von Recht mehr übrig, hier von Schein zu reden ... Die spezifische Art zu reagieren ist die einzige Art des Reagierens: wir wissen nicht, wie viele und was für Arten es alles gibt. Aber es gibt kein "anderes", kein "wahres", kein wesentliches Sein, - damit würde eine Welt ohne Aktion und Reaktion ausgedrückt sein ... Der Gegensatz der scheinbaren Welt und der wahren Welt reduziert sich auf den Gegensatz "Welt" und "Nichts" - 568. Kritik des Begriffs "wahre und scheinbare Welt". - Von diesen ist die erste eine bloße Fiktion, aus lauter fingierten Dingen gebildet. Die "Scheinbarkeit" gehört selbst zur Realität: sie ist eine Form ihres Seins; d. h. in einer Welt, wo es kein Sein gibt, muß durch den Schein erst eine gewisse berechenbare Welt identischer Fälle geschaffen werden: ein Tempo, in dem Beobachtung und Vergleichung möglich ist, usw. :"Scheinbarkeit" ist eine zurechtgemachte und vereinfachte Welt, an der unsere praktischen Instinkte gearbeitet haben: sie ist für uns vollkommen wahr: nämlich wir leben, wir können in ihr leben: Beweis ihrer Wahrheit für uns ... :die Welt, abgesehen von unserer Bedingung, in ihr zu leben, die Welt, die wir nicht auf unser Sein, unsere Logik und psychologischen Vorurteile reduziert haben, existiert nicht als Welt "ansich"; sie ist essentiell Relations-Welt: sie hat, unter Umständen, von jedem Punkt aus ihr verschiedenes Gesicht: Ihr Sein ist essentiell an jedem Punkt anders: sie drückt auf jeden Punkt, es widersteht ihr jeder Punkt - und diese Summierungen sind in jedem Fall gänzlich inkongruent. Das Maß von Macht bestimmt, welches Wesen das andere Maß von Macht hat: unter welcher Form, Gewalt, Nötigung es wirkt oder widersteht. Unser Einzelfall ist interessant genug: wir haben eine Konzeption gemacht, um in einer Welt leben zu können, um gerade genug zu perzipieren, daß wir es noch aushalten ... 569. Unsere psychologische Optik ist dadurch bestimmt:
2) die Welt der "Phänomene" ist die zurechtgemachte Welt, die wir als real empfinden. Die "Realität" liegt in einem beständigen Wiederkommen gleicher, bekannter, verwandter Dinge, in ihrem logisierten Charakter, im Glauben, daß wir hier rechnen, berechnen können; 3) der Gegensatz dieser Phänomenal-Welt ist nicht "die wahre Welt", sondern die formlos-unformulierbare Welt des Sensations-Chaos, also eine andere Art Phänomenal-Welt, eine für uns "unerkennbare"; 4) Fragen, wie die Dinge "ansich" sein mögen, ganz abgesehen von unserer Sinnen-Rezeptivität und Verstandes-Aktivität, muß man mit der Frage zurückweisen: woher könnten wir wissen, daß es Dinge gibt? Die "Dingheit" ist erst von uns geschaffen: die Frage ist, ob es nicht noch viele Arten geben könnte, eine solche scheinbare Welt zu schaffen - und ob nicht dieses Schaffen, Logisieren, Zurechtmachen, Fälschen die bestgarantierte Realität selbst ist: kurz, ob nicht das, was "Dinge setzt", allein real ist; und ob nicht die "Wirkung der äußeren auf uns" auch nur die Folge solcher wollenden Subjekte ist ... Die anderen "Wesen" agieren auf uns; unsere zurechtgemachte Scheinwelt ist eine Zurechtmachung und Überwältigung von deren Aktionen: eine Art Defensiv -Maßregel. Das Subjekt allein ist beweisbar: Hypothese, daß es nur Subjekte gibt, - daß "Objekt" nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt ist ... ein modus des Subjekts. k) Das metaphysische Bedürfnis 570. Ist man Philosoph, wie man immer Philosoph war, so hat man kein Auge für das, was war, und das, was wird: - man sieht nur das Seiende. Da es aber nichts Seiendes gibt, so blieb dem Philosophen nur das Imaginäre aufgespart, als seine "Welt". 571. Das Dasein im Ganzen von Dingen behaupten, von denen wir gar nichts wissen, exakt weil ein Vorteil darin liegt, nichts von ihnen wissen zu können, war eine Naivität KANTs, Folge eines Nachschlags von Bedürfnissen, namentlich moralisch-metaphysischen. 572. Ein Künstler hält keine Wirklichkeit aus, er blickt weg, zurück: seine ernsthafte Meinung ist, daß was ein Ding wert ist, jener schattengleiche Rest ist, den man aus Farben, Gestalt, Klang, Gedanken gewinnt; er glaubt daran, daß, je mehr subtilisiert, verdünnt, verflüchtigt ein Ding, ein Mensch wird, umsomehr sein Wert zunimmt; je weniger real, umso mehr Wert. Dies ist Platonismus: der aber noch eine Kühnheit mehr besaß, im Umdrehen: - er maß den Grad Realität nach dem Wertgrad ab und sagte: je mehr "Idee", desto mehr Sein. Er drehte den Begriff "Wirklichkeit" herum und sagte: "Was ihr für wirklich haltet, ist ein Irrtum, und wir kommen, je näher wir der Idee kommen, umso näher der Wahrheit". - Versteht man es? Das war die größte Umtaufung: und weil sie vom Christentum aufgenommen ist, so sehen wir die erstaunliche Sache nicht. PLATO hat im Grunde den Schein, als Artist, der er war, dem Sein vorgezogen! also die Lüge und Erdichtung der Wahrheit! das Unwirkliche dem Vorhandenen! - er war aber so sehr vom Wert des Scheins überzeugt, daß er ihm die Attribute "Sein", "Ursächlichkeit" und "Gutheit", "Wahrheit", kurz alles Übrige beilegte, dem man Wert beilegt. Der Wertbegriff selbst, als Ursache gedacht: erste Einsicht. Das Ideal mit allen Attributen bedacht, die Ehre verleihen: zweite Einsicht. 573. Die Idee der "wahren Welt" oder "Gottes" als absolut unsinnlich, geistig, gütig ist eine Notmaßregel im Verhältnis dazu, als die Gegen -Instinkte noch allmächtig sind ... Die Mäßigkeit und erreichte Humanität zeigt sich exakt in der Vermenschlichung der Götter: die Griechen der stärksten Zeit, die vor sich selber keine Furcht hatten, sondern Glück an sich hatten, näherten ihre Götter an alle ihre Affekte - Die Vergeistigung der Gottes-Idee ist deshalb fern davon, einen Fortschritt zu bedeuten: man fühlt dies recht herzlich bei der Berührung mit GOETHE, - wie da die Verdunstung Gottes zu Tugend und Geist sich als eine rohere Stufe fühlbar macht ... 574. Unsinn aller Metaphysik als einer Ableitung des Bedingten aus dem Unbedingten. Zur Natur des Denkens gehört es, daß es zu dem Bedingten das Unbedingte hinzudenkt, hinzuerfindet: wie es das "Ich" zur Vielheit seiner Vorgänge hinzudenkt, hinzuerfindet: es mißt die Welt an lauter von ihm selbst gesetzten Größen: an seinen Grundfiktionen "Unbedingtes", "Zweck und Mittel", "Dinge", "Substanzen", an logischen Gesetzen, an Zahlen und Gestalten. Es gäbe nichts, was Erkenntnis zu nennen wäre, wenn nicht erst das Denken sich die Welt dergestalt umschüfe zu "Dingen", Sich-selbst-Gleichem. Erst vermöge des Denkens gibt es Unwahrheit. Das Denken ist unableitbar, ebenso die Empfindungen: aber damit ist es noch lange nicht als ursprünglich oder "ansich seiend" bewiesen! sondern nur festgestellt, daß wir nicht dahinter können, weil wir nichts als Denken und Empfinden haben. 575. "Erkennen" ist ein Zurückbeziehen: seinem Wesen nach ein regressus in infinitum. Was Halt macht (bei einer angeblichen causa prima, bei einem Unbedingten usw.) ist die Faulheit, die Ermüdung - - 576. Zur Psychologie der Metaphysik: - der Einfluß der Furchtsamkeit. Was am meisten gefürchtet worden ist, die Ursache der mächtigsten Leiden (Herrschsucht, Wollust usw.), ist von den Menschen am feindseligsten behandelt worden und aus der "wahren" Welt eliminiert. So haben sie die Affekte Schritt für Schritt weggestrichen, - Gott als Gegensatz des Bösen angesetzt, das heißt die Realität in die Negation der Begierden und Affekte verlegt (d. h. gerade ins Nichts). Insgleichen ist die Unvernunft, das Willkürliche, Zufällige von ihnen gehaßt worden (als Ursache zahlloser physischer Leiden). Folglich negierten sie dieses Element im Ansich-Seienden, faßten es als absolute "Vernünftigkeit" und "Zweckmäßigkeit". Insgleichen der Wechsel, die Vergänglichkeit gefürchtet: darin drückt sich eine gedrückte Seele aus, voller Mißtrauen und schlimmer Erfahrung (Fall SPINOZA: eine umgekehrte Art Mensch würde diesen Wechsel zum Reiz rechnen). Eine mit Kraft überladene und spielende Art Wesen würde gerade die Affekte, die Unvernunft und den Wechsel in eudämonistischem Sinn gutheißen, samt ihren Konsequenzen Gefahr, Kontrast, Zu-Grunde-gehn usw. 577. Gegen den Wert des Ewig-Gleichbleibenden (v. SPINOZAs Naivität, DESCARTES' ebenfalls) den Wert des Kürzesten und Vergänglichsten, das verführerische Goldaufblitzen am Bauch der Schlange vita - 578. Die moralischen Werte in der Theorie der Erkenntnis selbst: das Vertrauen zur Vernunft - warum nicht Mißtrauen? die "wahre Welt" soll die gute sein - warum?
- die transzendente Welt erfunden, damit ein Platz bleibt für "moralische Freiheit" (bei KANT); - die Dialektik als der Weg zur Tugend (bei PLATO und SOKRATES: augenscheinlich, weil die Sophistik als Weg der Unmoralität galt); - Zeit und Raum ideal: folglich "Einheit" im Wesen der Dinge, folglich keine "Sünde", kein Übel, keine Unvollkommenheit, - keine Rechtfertigung Gottes; - EPIKUR leugnet die Möglichkeit der Erkenntnis: um die moralischen (bzw. hedonistischen) Werte als die obersten zu behalten. Dasselbe tut AUGUSTINUS, später PASCAL ("die verdorbene Vernunft") zugunsten der christlichen Werte; - die Verachtung des DESCARTES gegen alles Wechselnde; insgleich die des SPINOZA. Zweite Reihe von Frage: wozu Leiden? ... und hier ergibt sich ein Schluß auf das Verhältnis der wahren Welt zu unserer scheinbaren, wandelbaren, leidenden, widerspruchsvollen: 1) Leiden als Folge des Irrtums: wie ist Irrtum möglich? 2) Leiden als Folge von Schuld: wie ist Schuld möglich? (- lauter Erfahrungen aus der Natursphäre oder der Gesellschaft universalisiert und ins "Ansich" projiziert). Wenn aber die bedingte Welt ursächlich von der unbedingten bedingt ist, so muß die Freiheit zum Irrtum und zur Schuld mit von ihr bedingt sein: und wieder fragt man wozu? ... Die Welt des Scheins, des Werdens, des Widerspruchs, des Leidens ist also gewollt: wozu? Der Fehler dieser Schlüsse: zwei gegensätzliche Begriffe sind gebildet, - weil dem einen von ihnen eine Realität entspricht, "muß" auch dem anderen eine Realität entsprechen. "Woher sollte man sonst dessen Gegenbegriff haben?" - Vernunft somit als einne Offenbarungs-Quelle über Ansich-Seiendes. Aber die Herkunft jener Gegensätze braucht nicht notwendig auf eine übernatürliche Quelle der Vernunft zurückzugehen: es genügt, die wahre Genesis der Begriffe dagegenzustellen: - diese stammt aus der praktischen Sphäre, aus der Nützlichkeitssphäre, und hat eben daher ihren starken Glauben (Man geht daran zu Grunde, wenn man nicht gemäß dieser Vernunft schließt: aber damit ist das nicht "bewiesen", was sie behauptet). Die Präokkupation durch das Leiden bei den Metaphysikern: ist ganz naiv. "Ewige Seligkeit": psychologischer Unsinn. Tapfere und schöpferische Menschen fassen Lust und Leid nie als letzte Wertfragen, - es sind Begleit-Zustände: man muß beides wollen, wenn man etwas erreichen will -. Darin drückt sich etwas Müdes und Krankes an den Metaphysikern und Religiösen aus, daß sie Lust- und Leidprobleme im Vordergrund sehen. Auch die Moral hat nur deshalb für sie solche Wichtigkeit, weil sie als wesentliche Bedingung im Hinblick auf die Abschaffnung des Leidens gilt. Insgleichen die Präokkupation durch Schein und Irrtum: Ursache von Leiden, Aberglaube, daß das Glück mit der Wahrheit verbunden sei (Verwechslung: das Glück in der "Gewißheit", im "Glauben"). 580. Inwiefern die einzelnen erkenntnistheoretischen Grundstellungen (Materialismus, Sensualismus, Idealismus) Konsequenzen der Wertschätzungen sind: die Quelle der obersten Lustgefühle ("Wertgefühle") auch als entscheidend über das Problem der Realität! - Das Maß positiven Wissens ist ganz gleichgültig, oder nebensächlich: man sehe doch die indische Entwicklung. Die buddhistische Negation der Realität überhaupt (Scheinbarkeit = Leiden) ist eine vollkommene Konsequenz: Unbeweisbarkeit, Unzugänglichkeit, Mangel an Kategorien nicht nur für eine "Welt ansich", sondern Einsicht in die fehlerhaften Prozeduren, vermöge deren dieser ganze Begriff gewonnen ist. "Absolute Realität", "Sein ansich" ein Widerspruch. In einer werdenden Welt ist "Realität" immer nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken, oder eine Täuschung aufgrund grober Organe, oder eine Verschiedenheit im Tempo des Werdens. Die logische Weltverneinung und Nihilisierung folgt daraus, daß wir Sein dem Nichtsein entgegensetzen müssen und daß der Begriff "Werden" geleugnet wird. ("Etwas" wird.) 581. Sein und Werden - "Vernunft", entwickelt auf sensualistischer Grundlage, auf den Vorurteilen der Sinne, d. h. im Glauben an die Wahrheit der Sinnes-Urteile. "Sein" als Verallgemeinerung des Begriffs "Leben" (atmen), "beseelt sein", "wollen, wirken", "werden". Gegensatz ist: "unbeseelt-sein", "nicht- werdend", "nicht-wollend". Also: es wird dem "Seienden" nicht das Nichtseiende, nicht das Scheinbare, auch nicht das Tote entgegengesetzt (denn tot sein kann nur etwas, das auch leben kann). Die "Seele", das "Ich" als Urtatsache gesetzt; und überall hineingelegt, wo es ein Werden gibt. 582. Das "Sein" - wir haben keine andere Vorstellung davon als "leben". - Wie kann also etwas Totes "sein"? 583. A. Ich sehe mit Erstaunen, daß die Wissenschaft sich heute resigniert, auf die scheinbare Welt Welt angewiesen zu sein: eine wahre Welt - sie mag sein, wie sie will -, gewiß haben wir kein Organ der Erkenntnis für sie. Hier dürfen wir nun schon fragen: mit welchem Organ der Erkenntnis setzt man auch diesen Gegensatz nur an? ... Damit, daß eine Welt, die unseren Organen zugänglich ist, auch als abhängig von diesen Organen verstanden wird, damit, daß wir eine Welt als subjektiv bedingt verstehen, damit ist nicht ausgedrückt, daß eine objektive Welt überhaupt möglich ist. Wer zwingt uns, zu denken, daß die Subjektivität real, essentiell ist? Das "Ansich" ist sogar eine widersinnige Konzeption eine "Beschaffenheit ansich" ist Unsinn: wir haben den Begriff "Sein", "Ding" immer nur als Relations begriff ... Das Schlimme ist, daß mit dem alten Gegensatz "scheinbar" und "wahr" sich das korrelative Werturteil fortgepflanzt hat: "gering an Wert" und "absolut wertvoll". Die scheinbare Welt gilt uns nicht als eine "wertvolle" Welt, der Schein soll eine Instanz gegen den obersten Wert sein. Wertvoll ansich kann nur eine "wahre" Welt sein ... Vorurteil der Vorurteile! Erstens wäre ansich möglich, daß die wahre Beschaffenheit der Dinge dermaßen den Voraussetzungen des Lebens schädlich wäre entgegengesetzt wäre, daß eben der Schein not täte, um leben zu könenn ... Dies ist ja der Fall in so vielen Lagen: z. B. in der Ehe. Unsere empirische Welt wäre aus den Instinkte der Selbsterhaltung auch in ihren Erkenntnisgrenzen bedingt: wir hielten für wahr, gut, für wertvoll, was der Erhaltung der Gattung frommt ...
b) Die wahre Welt angenommen, so könnte sie immer noch die geringere an Wert für uns sein: gerade das Quantum Jllusion möchte, in einem Erhaltungswert für uns, höheren Ranges sein. (Es sei denn, daß der Schein ansich ein Verwerfungsurteil begründete?) c) Daß eine Korrelation besteht zwischen den Graden der Werte und den Graden der Realität (sodaß die obersten Werte auch die oberste Realität hätten), ist ein metaphysisches Postulat, von der Voraussetzung ausgehend, daß wir die Rangordnung der Werte kennen: nämlich daß diese Rangordnung eine moralische sei ... Nur in dieser Voraussetzung ist die Wahrheit notwendig für die Definition alles Höchstwertigen. Krieg gegen alle Voraussetzungen, auf welche hin man eine wahre Welt fingiert hat. Zu diesen Voraussetzungen gehört, daß die moralischen Werte die obersten seien. Die moralische Wertung als oberste wäre widerlegt, wenn sie bewiesen werden könnte als Folge einer unmoralischen Wertung: als ein Spezialfall der realen Unmoralität: sie reduzierte sich damit selbst auf einen Anschein, und als Anschein hätte sie, von sich aus, kein Recht mehr, den Schein zu verurteilen. C. Der "Wille zur Wahrheit" wäre sodann psychologisch zu untersuchen: er ist keine moralische Gewalt, sondern eine Form des Willens zur Macht. Dies wäre damit zu beweisen, daß er sich aller unmoralischen Mittel bedient: die Metaphysiker voran - Wir sind heute vor die Prüfung der Behauptung gestellt, daß die moralischen Werte die obersten Werte sind. Die Methodik der Forschung ist erst erreicht, wenn alle moralischen Vorurteile überwunden sind: - sie stellte einen Sieg über die Moral dar ... 584. Die Verirrung der Philosophie ruht darauf, daß man, statt in der Logik und den Vernunftkategorien Mittel zu sehen zum Zurechtmchen der Welt zu Nützlichkeits-Zwecken (also, "prinzipiell", zu einer nützlichen Fälschung), man in ihnen das Kriterium der Wahrheit, bzw. der Realität zu haben glaubte. Das "Kriterium der Wahrheit" war in der Tat bloß die biologische Nützlichkeit eines solchen Systems prinzipieller Fälschung: und da eine Gattung Tier nichts Wichtigeres kennt, als sich zu erhalten, so dürfte man in der Tat hier von "Wahrheit" reden. Die Naivität war nur die, die anthropozentrische Idiosynkrasie als Maß der Dinge, als Richtschnur über "real" und "unreal" zu nehmen: kurz, eine Bedingtheit zu verabsolutieren. Und siehe da, jetzt fiel mit einem Mal die Welt auseinander in eine "wahre" Welt und eine "scheinbare": und genau die Welt, in der der Mensch zu wohnen und sich einzurichten seine Vernunft erfunden hatte, genau dieselbe wurde ihm diskreditiert. Statt die Formen als Handhabe zu benutzen, sich die Welt handlich und berechenbar zu machen, kam der Wahnsinn der Philosophen dahinter, daß in diesen Kategorien der Begriff jener Welt gegeben ist, dem die andere Welt, die, in der man lebt nicht entspricht ... Die Mittel wurden mißverstanden als Wertmaß, selbst als Verurteilung der Absicht ... Die Absicht war, sich auf eine nützliche Weise zu täuschen: die Mittel dazu die Erfindung von Formeln und Zeichen, mit deren Hilfe man die verwirrende Vielheit auf ein zweckmäßiges und handliches Schema reduzierte. Aber wehe! jetzt brachte man eine Moral-Kategorie ins Spiel: kein Wesen will sich täuschen, kein Wesen darf täuschen, - folglich gibt es nur einen Willen zur Wahrheit. Was ist "Wahrheit"? Der Satz vom Widerspruch gab das Schema: die wahre Welt, zu der man den Weg sucht, kann nicht mit sich in Widerspruch sein, kann nicht wechseln, kann nicht werden, hat keinen Ursprung und kein Ende. Das ist der größte Irrtum, der begangen worden ist, das eigentliche Verhängnis des Irrtums auf Erden: man glaubte ein Kriterium der Realität in den Vernunftformen zu haben, - während man sie hatte, um Herr zu werden über die Realität, um auf eine kluge Weise die Realität mißzuverstehen ... Und siehe da: jetzt wurde die Welt falsch, und exakt der Eigenschaften wegen, die ihre Realität ausmachen, Wechsel, Werden, Vielheit, Gegensatz, Widerspruch, Krieg. Und nun war das ganze Verhängnis da:
2) wie wird man selbst möglichst der Gegensatz zu dem Charakter der scheinbaren Welt? (Begriff des vollkommenen Wesens als eines Gegensatzes zu jedem realen Wesen, deutlicher, als Widerspruch zum Leben ...) Der Weg zur Wissenschaft war dergestalt doppelt versperrt: einmal durch den Glauben an die "wahre" Welt, und dann durch die Gegner dieses Glaubens. Die Naturwissenschaft, Psychologie war 1) in ihren Objekten verurteilte, 2) um ihre Unschuld gebracht ... In der wirklichen Welt, wo schlechterdings alles verkettet und bedingt ist, heißt irgend Etwas verurteilen und wegdenken, Alles wegdenken und verurteilen. Das Wort "das sollte nicht sein", "das hätte nicht sein sollen" ist eine Farce ... Denkt man die Konsequenzen aus, so ruinierte man den Quell des Lebens, wenn man das abschaffen wollte, was in irgendeinem Sinn schädlich, zerstörerisch ist. Die Physiologie demonstriert es ja besser! - Wir sehen, wie die Moral a) die ganze Weltauffassung vergiftet, b) den Weg zur Erkenntnis, zur Wissenschaft abschneidet, c) alle wirklichen Instinkte auflöst und untergräbt (indem sie deren Wurzeln als unmoralisch empfinden lehrt). Wir sehen ein furchtbares Werkzeug der décadence vor uns arbeiten, das sich mit den heiligsten Namen und Gebärden aufrecht hält. 585. Ungeheure Selbstbesinnung: nicht als Individuum, sondern als Menschheit sich bewußt werden. Besinnen wir uns, denken wir zurück: gehen wir die kleinen und großen Wege! A. Der Mensch sucht "die Wahrheit": eine Welt, die sich nicht widerspricht, nicht täuscht, nicht wechselt, eine wahre Welt - eine Welt, in der man nicht leidet: Widerspruch, Täuschung, Wechsel - Ursachen des Leidens! Er zweifelt nicht, daß es eine Welt, wie sie sein soll, gibt; er möchte sich zu ihr den Weg suchen. (Indische Kritik: selbst das "Ich" als scheinbar, als nicht -real). Woher nimmt hier der Mensch den Begriff der Realität? - Warum leitet er gerade das Leiden von Wechsel, Täuschung, Widerspruch ab? und warum nicht vielmehr sein Glück? ... - Die Verachtung, der Haß gegen alles, was vergeht, wechselt, wandelt: - woher diese Wertung des Bleibenden? Ersichtlich ist hier der Wille zur Wahrheit bloß das Verlangen in eine Welt des Bleibenden. Die Sinne täuschen, die Vernunft korrigiert die Irrtümer: folglich, schloß man, ist die Vernunft der Weg zum Bleibenden; die unsinnlichsten Ideen müssen der "wahren Welt" am nächsten sein. - Von den Sinnen her kommen die meisten Unglücksschläge, - sie sind Betrüger, Betörer, Vernichter. - Das Glück kann nur im Seienden verbürgt sein: Wechsel und Glück schließen sich aus. Der höchste Wunsch hat demnach die Einswerdung mit dem Seienden im Auge. Das ist die Formel für: Weg zum höchsten Glück. In summa: Die Welt, wie sie sein sollte, existiert; diese Welt, in der wir leben, ist ein Irrtum, - diese unsere Welt sollte nicht existieren. Der Glaube an das Seiende erweist sich nur als eine Folge: das eigentliche primum mobile ist der Unglaube an das Werdende, das Mißtrauen gegen das Werdende, die Geringschätzung alles Werdens ... Was für eine Art Mensch reflektiert so? Eine unproduktive, leidende Art, eine lebensmüde Art. Dächten wir uns die entgegengesetzte Art Mensch, so hätte sie den Glauben an das Seiende nicht nötig: mehr noch, sie würde es verachten, als tot, langweilig, indifferent ... Der Glaube, daß die Welt, die sein sollte, ist, wirklich existiert, ist ein Glaube der Unproduktiven, die nicht eine Welt schaffen wollen, wie sie sein soll. Sie setzen sie als vorhanden, sie suchen nach Mitteln und Wegen, um zu ihr zu gelangen. "Wille zur Wahrheit" - als Ohnmacht des Willens zum Schaffen.
Fiktion einer Welt, welche unseren Wünschen entspricht; psychologische Kunstgriffe und Interpretationen, um alles, was wir ehren und als angenehm empfinden, mit dieser wahren Welt zu verknüpfen. "Wille zur Wahrheit" auf dieser Stufe ist wesentlich Kunst der Interpretation: wozu immer noch Kraft der Interpretation gehört. Dieselbe Spezies Mensch, noch eine Stufe ärmer geworden, nicht mehr im Besitz der Kraft zu interpretieren, des Schaffens von Fiktionen, macht den Nihilisten. Ein Nihilist ist der Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urteilt, sie sollte nicht sein, und von der Welt, wie sie sein sollte, urteilt, sie existiert nicht. Demnach hat dasein (handeln, leiden, wollen, fühlen) keinen Sinn: das Pathos des "Umsonst" ist das Nihilisten-Pathos, - zugleich noch als Pathos eine Inkonsequenz des Nihilisten. Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen vermag, der Willens- und Kraftlose, der legt wenigstens noch einen Sinn hinein, den Glauben, daß schon ein Wille darin sei. Es ist ein Gradmesser von Willenskraft, wie weit man des Sinnes in den Dingen entbehren kann, wie weit man in einer sinnlosen Welt zu leben aushält: weil man ein kleines Stück von ihr selbst organisiert. Das philosophische Objektiv-Blicken kann somit ein Zeichen von Willens- und Kraft-Armut sein. Denn die Kraft organisiert das Nähere und Nächste; die "Erkennenden", welche nur feststellen wollen, was ist, sind Solche, die nichts festsetzen können, wie es sein soll. Die Künstler, eine Zwischenart: sie setzen wenigstens ein Gleichnis von dem fest, was sein soll, - sie sind produktiv, insofern sie wirklich verändern und umformen; nicht wie die Erkennenden, welche alles lassen, wie es ist. Zusammenhang der Philosophen mit den pessimistischen Religionen: dieselbe Spezies Mensch (- sie legen den höchsten Grad von Realität den höchstgewerteten Dingen bei -). Zusammenhang der Philosophen mit den moralischen Menschen und deren Wertmaßen (- die moralische Weltauslegung als Sinn: nach dem Niedergang des religiösen Sinnes -). Überwindung der Philosophen, durch Vernichtung der Welt des Seienden: Zwischenperiode des Nihilismus: bevor die Kraft da ist, die Werte umzuwenden und das Werdende, die scheinbare Welt, als die einzige zu vergöttlichen und gutzuheißen. B. Der Nihilismus als normales Phänomen kann ein Symptom wachsender Stärke sein oder wachsender Schwäche:
- teils, daß selbst die schöpferische Kraft, Sinn zu schaffen, nachläßt und die Enttäuschung der herrschende Zustand wird. Die Unfähigkeit zum Glauben an einen "Sinn", der "Unglaube".
2) als untergrabend, sezierend, enttäuschend, schwächend. Insgleichen der Unglaube: Reduktion. Inwiefern er einen neuen Wert bekommt, wenn es eine wahre Welt gar nicht gibt (- dadurch werden die Wertgefühle wieder frei, die bisher auf die seiende Welt verschwendet worden sind). 586. Die "wahre" und die "scheinbare Welt". Verführungen, A. Die die von diesem Begriff ausgehen, sind dreierlei Art:
b) eine andere Welt, wo es anders ist: - es rechnet Etwas in uns nach, unsere stille Ergebung, unser Schweigen verlieren dabei ihren Wert, - vielleicht wird alles gut, wir haben nicht umsonst gehofft ... Die Welt, wo es anders, wo wir selbst - wer weiß? anders sind ... c) eine wahre Welt: - das ist der wunderlichste Streich und Angriff, der auf uns gemacht wird; es ist so Vieles an das Wort "wahr" ankrustiert, unwillkürlich machen wir es auch der "wahren Welt" zum Geschenkt: die wahre Welt muß auch eine wahrhaftige sein, eine solche, die uns nicht betrügt, nicht zum Narren hält: an sie glauben ist beinahe glauben müssen (- aus Anstand, wie es unter zutrauenswürdigen Wesen geschieht -). der Begriff "die andere Welt" insinuiert, als ob die Welt anders sein könnte, - hebt die Notwendigkeit und das Fatum auf (- unnütz, sich zu ergeben, sich anzupassen -); der Begriff "die wahre Welt" insinuiert diese Welt als eine unwahrhaftige, betrügerische, unredliche, unechte, unwesentliche, - und folglich auch nicht unserem Nutzen zugetane Welt (- unratsam, sich ihr anzupassen; besser: ihr widerstreben). Wir entziehen uns also in dreierlei Weise "dieser" Welt:
b) mit unserer Ergebung, - wie als ob es nicht nötig sei, sich zu ergeben, - wie als ob diese Welt keine Notwendigkeit letzten Ranges sei; c) mit unserer Sympathie und Achtung, - wie als ob diese Welt sie nicht verdiente, als unlatuer, als gegen uns nicht redlich ... B. Erster Schritt der Besonnenheit: zu begreifen, inwiefern wir verführt sind, - nämlich es könnte ansich exakt umgekehrt sein:
b) die andere Welt, geschweige, daß sie unseren Wünschen, die hier keinen Austrag fänden, Rechnung trüge, könnte mit unter der Masse dessen sein, was uns diese Welt möglich macht: sie kennen lernen wäre ein Mittel, uns zufrieden zu machen; c) die wahre Welt: aber wer sagt uns eigentlich, daß die scheinbare Welt weniger wert sein muß, als die wahre? Widerspricht nicht unser Instinkt diesem Urteil? Schafft sich nicht ewig der Mensch eine fingierte Welt, weil er eine bessere Welt haben will als die Realität? Vor allem: wie kommen wir darauf, daß nicht unsere Welt die wahre ist? ... zunächst könnte doch die andere Welt die "scheinbare" sein (in der Tat haben sich die Griechen z. B. ein Schattenreich, eine Scheinexistenz neben der wahren Existenz gedacht -). Und endlich: was gibt uns ein Recht, gleichsam Grade der Realität anzusetzen? Das ist etwas Anderes als eine unbekannte Welt, - das ist bereits Etwas-wissen-wollen von der unbekannt. Die "andere", die "unbekannte" Welt - gut! aber sagen "wahre Welt" das heißt "Etwas wissen von ihr", - das ist der Gegensatz zur Annahme einer x-Welt ... Es stünde anders, wenn behauptet würde, es gebe x Welten, d. h. jede mögliche Welt noch außer dieser. Aber das ist nie behauptet worden ... C. Problem: warum die Vorstellung von der anderen Welt immer zum Nachteil, bzw. zur Kritik "dieser" Welt ausgefallen ist, - worauf das weist? - Nämlich: ein Volk, das auf sich stolz ist, das im Aufgang des Lebens ist, denkt das Anders -sein immer als Niedriger-, Wertloser-sein; es betrachtet die fremde, die unbekannte Welt als seinen Feind, als seinen Gegensatz, es fühlt sich ohne Neugierde, in voller Ablehnung gegen das Fremde ... Ein Volk würde nicht zugeben, daß ein anderes Volk das "wahre Volk" wäre ... Schon daß ein solches Unterscheiden möglich ist, - daß man diese Welt für die "scheinbare" und jene für die "wahre" nimmt, ist symptomatisch. Die Entstehungsherde der Vorstellung "andere Welt": der Philosoph, der eine Vernunft-Welt erfindet, wo die Vernunft und die logischen Funktionen adäquat sind:
- daher stammt die "entnatürlichte, widernatürliche" Welt; Die "andere Welt", wie sie sich aus diesen Tatsachen erhellt, als ein Synonym des Nicht-seins, des Nicht-lebens, des Nicht-leben- wollens ... Gesamteinsicht: der Instinkt der Lebensmüdigkeit, und nicht der des Lebens, hat die "andere Welt" geschaffen. Konsequenz: Philosophie, Religion und Moral sind Symptome der décadence. l) Biologischer Wert der Erkenntnis 587. Es könnte scheinen, als ob ich der Frage nach der "Gewißheit" ausgewichen sei. Das Gegenteil ist wahr: aber indem ich nach dem Kriterium der Gewißheit fragte, prüfte ich, nach welchem Schwergewicht überhaupt bisher gewogen worden ist - und daß die Frage nach der Gewißheit selbst schon eine abhängige Frage sei, eine Frage zweiten Ranges. 588. Die Frage der Werte ist fundamentaler als die Frage der Gewißheit: letztere erlangt ihren Ernst erst unter der Voraussetzung, daß die Wertfrage beantwortet ist. Sein und Schein, psychologisch nachgerechnet, ergibt kein "Sein ansich", keine Kriterien für "Realität", sondern nur für Grade der Scheinbarkeit gemessen an der Stärke des Anteils, den wir einem Schein geben. Nicht ein Kampf um Existenz wird zwischen den Vorstellungen und Wahrnehmungen gekämpft, sondern um Herrschaft: - vernichtet wird die überwundene Vorstellung nicht, nur zurückgedrängt oder subordiniert. Es gibt im Geistigen keine Vernichtung ...
590. Unsere Werte sind in die Dinge hineininterpretiert. Gibt es denn einen Sinn im Ansich!? Ist nicht notwendig Sinn eben Beziehungs-Sinn und Perspektive? Aller Sinn ist Wille zur Macht (alle Beziehungs-Sinne lassen sich in ihn auflösen). 591. Das Verlangen nach "festen Tatsachen" - Erkenntnistheorie: wie viel Pessimismus ist darin! 592. Der Antagonismus zwischen der "wahren Welt", wie sie der Pessimismus aufdeckt, und einer lebensmöglichen Welt: - dazu muß man die Rechte der Wahrheit prüfen. Es ist nötig, den Sinn all dieser "idealen Triebe" am Leben zu messen, um zu begreifen, was eigentlich jener Antagonismus ist: der Kampf des krankhaften, verzweifelnden, sich an Jenseitiges klammernden Lebens mit dem gesünderen, dümmeren, verlogeneren, reicheren, unzersetzteren Leben. Also nicht "Wahrheit" im Kampf mit Leben, sondern eine Art Leben mit einer anderen. - Aber es will die höhere Art sein! - Hier muß die Beweisführung einsetzen, daß eine Rangordnung not tut, - daß das erste Problem das der Rangordnung der Arten Leben ist. 593. Der Glaube "so und so ist es" zu verwandeln in den Willen "so und so soll es werden.". m) Wissenschaft 594. Die Wissenschaft - das war bisher die Beseitigung der vollkommenen Verworrenheit der Dinge durch Hypothesen, welche alles "erklären", - also aus dem Widerwillen des Intellekts am Chaos. - Dieser selbe Widerwille ergreift mich bei der Betrachtung meiner selber: die innere Welt möchte ich auch durch ein Schema mir bildlich vorstellen und über die intellektuelle Verworrenheit hinauskommen. Die Moral war eine solche Vereinfachung: sie lehrte den Menschen als erkannt, als bekannt. - Nun haben wir die Moral vernichtet - wir selber sind uns wieder völlig dunkel geworden! Ich weiß, daß ich von mir nichts weiß. Die Physik ergibt sich als eine Wohltat für das Gemüt: die Wissenschaft (als der Weg zur Kenntnis) bekommt einen neuen Zauber nach der Beseitigung der Moral - und weil wir hier allein Konsequenz finden, so müssen wir unser Leben darauf einrichten, sie uns zu erhalten. Dies ergibt eine Art praktischen Nachdenkens über unsere Existenzbedingungen als Erkennende. 595. Unsere Voraussetzungen: kein Gott: kein Zweck: endliche Kraft. Wir wollen uns hüten, den Niedrigen, die ihnen nötige Denkweise auszudenken und vorzuschreiben!! 596. Keine "moralische Erziehung" des Menschengeschlechts: sondern die Zwangsschule der wissenschaftlichen Irrtümer ist nötig, weil die "Wahrheit" degoutiert [anwidert - wp] und das Leben verleidet, - vorausgesetzt daß der Mensch nicht schon unentrinnbar in seine Bahn gestoßen ist und seine redliche Einsicht mit einem tragischen Stolz auf sich nimmt. 597. Die Voraussetzung der wissenschaftlichen Arbeit: ein Glaube an den Verband und die Fortdauer der wissenschaftlichen Arbeit, sodaß der Einzelne an jeder noch so kleinen Stelle arbeiten darf, im Vertrauen, nicht umsonst zu arbeiten. Es gibt eine große Lähmung: umsonst arbeiten, umsonst kämpfen. - - Die aufhäufenden Zeiten, wo Kraft, Machtmittel gefunden werden, deren sich einst die Zukunft bedienen wird: Wissenschaft als mittlere Station, an der die mittleren, vielfacheren, komplizierteren Wesen ihre natürlichste Entladung und Befriedigung haben: alle die, denen die Tat sich widerrät. 598. Ein Philosoph erholt sich anders und mit Anderem: er erholt sich z. B. im Nihilismus. Der Glaube, daß es gar keine Wahrheit gibt, der Nihilisten-Glaube, ist ein großes Gliederstrecken für Einen, der als Kriegsmann der Erkenntnis unablässig mit lauter häßlichen Wahrheiten im Kampf liegt. Denn die Wahrheit ist häßlich. 599. Die "Sinnlosigkeit des Geschehens": der Glaube daran ist die Folge einer Einsicht in die Falschheit der bisherigen Interpretationen, eine Verallgemeinerung der Mutlosigkeit und Schwäche, - kein notwendiger Glaube. Unbescheidenheit des Menschen -: wo er den Sinn nicht sieht, ihn zu leugnen! 600. Unendliche Ausdeutbarkeit der Welt: jede Ausdeutung ein Symptom des Wachstums oder des Untergehens. Die Einheit (der Monismus) ein Bedürfnis der inertia [Trägheit - wp]; die Mehrheit der Deutung Zeichen der Kraft. Der Welt ihren beunruhigenden und enigmatischen Charakter nicht abstreiten wollen! 601. Gegen das Versöhnen-wollen und die Friedfertigkeit. Dazu gehört auch jeder Versuch von Monismus. 602. Diese perspektivische Welt, diese Welt für das Auge, Getast und Ohr ist sehr falsch, verglichen schon für einen sehr viel feineren Sinnesapparat. Aber ihre Verständlichkeit, Übersichtlichkeit, ihre Praktikabilität, ihre Schönheit beginnt aufzuhören, wenn wir unsere Sinne verfeinern: ebenso hört die Schönheit auf beim Durchdenken von Vorgängen der Geschichte; die Ordnung des Zwecks ist schon eine Jllusion. Genug, je oberflächlicher und gröber zusammenfassend, umso wertvoller, bestimmter, schöner, bedeutungsvoller erscheint die Welt. Je tiefer man hineinsieht, umsomehr verschwindet unsere Wertschätzung, - die Bedeutungslosigkeit naht sich! Wir haben die Welt, welche Wert hat, geschaffen! Dies erkennend, erkennen wir auch, daß die Verehrung der Wahrheit schon die Folge einer Jllusion ist - und daß man, mehr als sie, die bildende, vereinfachende, gestaltende, erdichtende Kraft zu schätzen hat. "Alles ist falsch! Alles ist erlaubt!" Erst bei einer gewissen Stumpfheit des Blicks, einem Willen zur Einfachheit stellt sich das Schöne, das "Wertvolle" ein: ansich ist es, ich weiß nicht was. 603. Wir wissen, daß die Zerstörung einer Jllusion noch keine Wahrheit ergibt, sondern nur ein Stück Unwissenheit mehr, eine Erweiterung unseres "leeren Raums", einen Zuwachs unserer "Öde" - 604. Was kann allein Erkenntnis sein? - "Auslegung", Sinn-hineinlegen, - nicht "Erklärung" (in den meisten Fällen eine neue Auslegung über eine alte unverständlich gewordene Auslegung, die jetzt selbst nur Zeichen ist). Es gibt keinen Tatbestand, alles ist flüssig, unfaßbar, zurückweichend; das Dauerhafteste sind noch unsere Meinungen. 605. Das Feststellen zwischen "wahr" und "unwahr", das Feststellen überhaupt von Tatbeständen ist grundverschieden vom schöpferischen Setzen, vom Bilden, Gestalten, Überwältigen, Wollen, wie es im Wesen der Philosophie liegt. Einen Sinn hineinleigen - diese Aufgabe bleibt unbedingt immer noch übrig, gesetzt, daß kein Sinn darin liegt. So steht es mit Tönen, aber auch mit Volks-Schicksalen: sie sind der verschiedensten Ausdeutung und Richtung zu verschiedenen Zielen fähig. Die noch höhere Stufe ist ein Ziel setzen und daraufhin das Tatsächliche einformen: also die Ausdeutung der Tat, und nicht bloß die begriffliche Umdichtung. 606. Der Mensch findet zuletzt in den Dingen Nichts wieder, als was er selbst in sie hineingesteckt hat: - das Wiederfinden heißt sich Wissenschaft, das Hineinstecken - Kunst, Religion, Liebe, Stolz. In beidem, wenn es selbst Kinderspiel sein sollte, sollte man fortfahren und guten Mut zu beidem haben - die Einen zum Wiederfinden, die Anderen - wir Anderen! - zum Hineinstecken! 607. Die Wissenschaft: ihre zwei Seiten:
- hinsichtlich des Kultur-Komplexes ("Niveaus") 608. Die Entwicklung der Wissenschaft löst das "Bekannte" immer mehr in ein Unbekanntes auf: - sie will aber gerade das Umgekehrte und geht von dem Instinkt aus, das Unbekannte auf das Bekannte zurückzuführen. In summa bereitet die Wissenschaft eine souveräne Unwissenheit vor, ein Gefühl, daß "Erkennen" gar nicht vorkommt, daß es eine Art Hochmut war, davon zu träumen, mehr noch, daß wir nicht den geringsten Begriff übrig behalten, um auch nur "Erkennen" als eine Möglichkeit gelten zu lassen, - daß "Erkennen" selbst eine widerspruchsvolle Vorstellung ist. Wir übersetzen eine uralte Mythologie und Eitelkeit des Menschen in die harte Tatsache: so wenig "Ding ansich", so wenig ist "Erkenntnis ansich" noch erlaubt als Begriff. Die Verführung durch "Zahl und Logik", die Verführung durch die "Gesetze". "Weisheit" als Versuch, über die perspektivischen Schätzungen (d. h. über den "Willen zur Macht") hinweg zu kommen: ein lebensfeindliches und auflösendes Prinzip, Symptom wie bei den Indern usw. Schwächung der Aneignungskraft. 609. Es ist nicht genug, daß du einsiehst, in welcher Unwissenheit Mensch und Tier lebt: du mußt auch noch den Willen zur Unwissenheit haben und hinzulernen. Es ist dir nötig, zu begreifen, daß ohne diese Art Unwissenheit das Leben selber unmöglich wäre, daß sie eine Bedingung ist, unter welcher das Lebendige allein sich erhält und gedeiht: eine große, feste Glocke von Unwissenheit muß um dich stehn. 610. Wissenschaft - Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck der Beherrschung der Natur - das gehört in die Rubrik "Mittel". Aber der Zweck und Wille des Menschen muß ebenso wachsen, die Absicht in Hinsicht auf das Ganze. 611. Wir finden als das Stärkste und fortwährnd Geübte auf allen Stufen des Lebens das Denken, - in jedem Perzipieren und scheinbaren Erleiden auch noch! Offenbar wird es dadurch am mächtigsten und anspruchsvollsten, und auf die Dauer tyrannisiert es alle anderen Kräfte. Es wird endlich die "Leidenschaft ansich". 612. Das Recht auf den großen Affekt - für den Erkennenden wieder zurückzugewinnen! nachdem die Entselbstung und der Kultus des "Objektiven" eine falsche Rangordnung auch in dieser Sphäre geschaffen haben. Der Irrtum kam auf die Spitze, als Schopenhauer lehrte; eben im Loskommen vom Affekt, vom Willen liege der einzige Zugang zum "Wahren", zur Erkenntnis; der willensfreie Intellekt könne gar nicht anders, als das wahre, eigentliche Wesen der Dinge zu sehen. Derselbe Irrtum in arte: als ob Alles schön wäre, sobald es ohne Willen angeschaut wird. 613. Wettstreit der Affekte und Überherrschaft eines Affektes über den Intellekt. 614. Die Welt "vermenschlichen", d. h. immer mehr uns in ihr als Herren fühlen - 615. Die Erkenntnis wird, bei höherer Art von Wesen, auch neue Formen haben, welche jetzt noch nicht nötig sind. 616. Daß der Wert der Welt in unserer Interpretaion liegt (- daß vielleicht irgendwo noch andere Interpretationen möglich sind, als bloß menschliche -), daß die bisherigen Interpretaionen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, d. h. im Willen zur Macht, zum Wachstum der Macht, erhalten, daß jede Erhöhung des Menschen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven auftut und an neue Horizonte glauben heißt - das geht durch meine Schriften. Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d. h. ist kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist "im Fluß", als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn - es gibt keine "Wahrheit". 617. Rekapitulation: Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen - das ist der höchste Wille zur Macht. Zweifache Fälschung, von den Sinnen her und vom Geist her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden, Gleichwertigen usw. Daß alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins: - Gipfel der Betrachtung. Von den Werten, die dem Seienden beigelegt werden, stammt die Verurteilung und Unzufriedenheit im Werdenden: nachdem eine solche Welt des Seins erst erfunden war. Die Metamorphosen des Seienden (Körper, Gott, Ideen, Naturgesetze, Formeln usw.). "Das Seiende" als Schein; Umkehrung der Werte: der Schein war das Wertverleihende - Erkenntnis ansich im Werden unmöglich; wie ist also Erkenntnis möglich? Als Irrtum über sich selbst, als Wille zur Macht, als Wille zur Täuschung. Werden als Erfinden, Wollen, Selbstverneinen, Sich-selbst-überwinden: kein Subjekt, sondern ein Tun, Setzen, schöpferisch, keine "Ursachen und Wirkungen". Kunst als Wille zur Überwindung des Werdens, als "Verewigen", aber kurzsichtig, je nach der Perspektive: gleichsam im Kleinen die Tendenz des Ganzen wiederholend. Was alles Leben zeigt, als verkleinerte Formel für die gesamte Tendenz zu betrachten: deshalb eine neue Fixierung des Begriffs "Leben", als Wille zur Macht. Anstatt "Ursache und Wirkung" der Kampf des Werdenden miteinander, oft mit Einschlürfung des Gegners; keine konstante Zahl des Werdenden. Unbrauchbarkeit der alten Ideale zur Interpretation des ganzen Geschehens, nachdem man deren tierische Herkunft und Nützlichkeit erkannt hat; alle überdies dem Leben widersprechend. Unbrauchbarkeit der mechanistischen Theorie, - gibt den Eindruck der Sinnlosigkeit. Der ganze Idealismus der bisherigen Menschheit ist im Begriff, in Nihilismus umzuschlagen, - in den Glauben an die absolute Wertlosigkeit, d. h. Sinn losigkeit. Die Vernichtung der Ideale, die neue Öde; die neuen Künste, um es auszuhalten, wir Amphibien. Voraussetzung: Tapferkeit, Geduld, keine "Rückkehr", keine Hitze nach vorwärts. (NB. ZARATHUSTRA, sich beständig parodisch zu allen früheren Werten verhaltend, aus der Fülle heraus.) |