p-4H. BergsonS. StrickerH. BenderAugustinusA. DöringF. Schumann    
 
THEODOR KEHR
Bergson und das Problem
von Zeit und Dauer


"Es handelt sich darum, zu wissen, was dasjenige in Wirklichkeit sein kann, was dem Begriff  Zeit entspricht, ob es jenes eigentümliche Fließende, das wir uns darunter zu denken pflegen, tatsächlich gibt oder geben kann, d. h. ob eine Zeit als solche, so wie wir sie gefühlsmäßig zu kennen und zu besitzen glauben, besteht, oder ob dieser Begriff nur gewisse charakteristische Tatsachen innerhalb einer im Ganzen völlig zeitlosen Natur trifft."

Es ist wohl kaum zu bestreiten, daß es Erlebnisse gibt, welche dem einzelnen Menschen ausschließlich zueigen sind und die er in ihrer qualitativen Besonderheit nirgends anders als in sich selbst vorfindet. Solcherart sind all jene Phänomene, die man aufteilt in Empfindungen, das Wollen, die Gefühle, die Gedanken und einige andere seelische Gebilde. Zwar haben wir keinen Beweis dafür, daß man diese Erlebnisse nur in sich, nicht aber auch in anderen Personen wahrnehmen kann, aber alles, was wir von Anderen tatsächlich erblicken, ist nur deren Äußeres; ihr Inneres sehen wir nur insofern, als es sich im Äußeren spiegelt, d. h. insofern es als Ausdruck der Augen, als Züge des Gesichts, als Haltung und Stellung des Körpers, als Geste und Laut zutage tritt. Ob nun dieser, im Äußeren eines Menschen liegende Ausdruck tatsächlich ein Zutagetreten seines inneren Erlebnisses ist - gleichsam die Außenseite oder Oberfläche der Gefühle - oder ob nur eine Ausdeutung bzw. Einfühlung von Seiten des Betrachters vorliegt, dies ist eine Frage für sich, und sicher eine der interessantesten auf dem Gebiet der Psychologie. Aber der Umstand, daß wir tatsächliche niicht in das Innere fremder Menschen in derselben Weise wie in unser eigenes Inneres hineinblicken können, daß wir seine Gefühle nicht fühlen, seine Gedanken nicht denken, seine Empfindungen nicht spüren, seinen Hunger als solchen, seinen Durst nicht haben, hat stets die größte Aufmerksamkeit erregt und diese Tatsachen mit zu den bedeutungsvollsten auf dem Gebiet der Philosophie gemacht. Man dachte sich, oder sagte: hier, nämlich in der eigenen Innenwelt, haben wir den Eingang in das wahre Wesen der Natur. So haben dann auch fast alle metaphysischen Erklärungen der Welt ihren Ausgangspunkt, sei es vom Bewußtsein überhaupt, sei es von den inneren Erlebnissen, welche im Bewußtsein auftreten, genommen.

Die Gesamtheit aller innerlich erlebten Phänomene ist das wichtigste Material der Psychologie, und eine Erklärung, welche von einem solchen Phänomen als dem Grundphänomen ausgeht, wird deshalb mit Recht eine psychologische Erklärung genannt. Der Umstand nun, daß gerade in unseren Tagen die Psychologie eine so hohe Bedeutung und Ausbreitung erlangt hat, mußte eine Theorie begünstigen, welche nicht dieses oder jenes einzelne psychologische Phänomen als das Urphänomen betrachtet, sondern welche, die Gesamtheit der Phänomene überschauend, aus deren Totalbeschaffenheit der Welt im Ganzen zu bestimmen versucht.

Auf dieser Linie steht BERGSON. BERGSON beobachtet nicht dieses oder jenes innere Phänomen im Einzelnen, um es nicht mehr zu verlassen, ihm gilt nicht diese oder jene einzelne innere Erscheung als der wahre Weltgrund, sondern BERGSON nimmt in einem Gesamtanblick war, daß die innere Welt in einer stetigen Bewegung begriffen ist, daß die Phänomene, mögen wir sie nun sonst auch als Gefühle, Empfindungen, Gedanken oder als das Wollen bezeichnen, sich in einem zusammenhängenden, geschlossenen Fließen befinden, teils sich ersetzend, teils sich fortsetzend. Je unmittelbarer, d. h. nach BERGSON, je intuitiver der innere Blick ist, umso deutlicher tritt ihm das Fließen entgegen, die stetige innere Unruhe, das Kommen und Gehen, das Wachsen und Schwinden, ,das Anschwellen und Abnehmen, kurz: er nimmt wahr, daß die innere Welt eine lebendige Bewegung ist, daß es im Menschen "lebendig" ist. Leben ist ein immerwährendes Sichregen, ist Pulsieren, sich Gestalten, sich Verändern, Entstehen und Vergehen. So wie die innere Welt, so ist aber auch die Welt überhaupt: die ganze Welt ist lebendig, im Innersten ist die Welt ein Wachsen und Schwellen, ein rastloses Sichvermehren, eine fortwährende Zeugung und Schöpfung.

Diese lebendige Weltbewegung, von welcher uns ein Ausschnitt im inneren Erleben offen ist, ist aber, nach BERGSON, dasjenige, was wir die Zeit nennen, es ist die Verkörperung der Zeit, die Zeit selbst. Wenn wir uns, wie es gewöhnlich geschieht, eine Zeit vorstellen, die nichts weiter wäre als eben Zeit, etwas das in sich leer ist, keine andere Bestimmung hätte als nur die, Zeit zu sein, wenn wir darunter gleichsam ein fließendes, aber überall gleich beschaffenes, leeres Band verstehen, auf welchem wir, je nach der Länge des Teils der bereits abgelaufen ist, einschreiben: Tag, Stunde, Jahr, Jahrtausend, wenn wir darunter etwas verstehen, in welchem sich die Phänomene und das Leben zwar abspielen, so aber, daß es selbst doch nicht eben dieses Phänomen oder das Leben selbst ist, so gibt es so eine leere, leblose, schattenhafte Zeit nicht. Man sehe auch nur auf die Wissenschaft: in den wissenschaftlichen Formulierungen spielt so eine leere Zeit keine Rolle. Und in der Tat, überall wo in wissenschaftliche Formulierungen Zeitgrößen eintreten, da bedeuten sie nichts anderes als gewisse Maße, die zwar Zeitmaße heißen, in Wirklichkeit aber nur von Bewegungen hergeleitet wurden und auch nur in Bewegungen wieder realisiert werden können. Die Zeit ist aber auch nicht die Bewegung für sich, das abstrakte Bewegungsmoment, das man als gleiches in allen Bewegungsvorgängen beobachten könnte; vielmehr: es gibt nur eine konkretes Leben, dieses Leben, ins sich fließend, in sich produktiv, ist selbst die konkrete Zeit, es ist die wirkliche, erlebte Zeit,  la durée réelle,  man möchte fast sagen: die stoffliche Zeit, die Zeit als lebendiger Stoff, geronnene Bewegung.

Wir verstehen im allgemeinen den Begriff "Bewegung", ebenso die Begriffe  Veränderung, Fließen, Wechsel, Zeit,  in einem solchen Sinn, daß damit nur eine gewisse Seite eines Vorgangs getroffen wird. So z. B. wenn wir sagen: ein Pferd bewegt sich. Wir unterscheiden dabei das Pferd und das Sichbewegen des Pferdes. Ebenso wenn wir sagen, die Erde bewegt sich um die Sonne, so daß wir unter der Bewegung, welche die Erde hat, die Erde selbst nicht mitverstehen, und infolgedessen auch von einer Erde die sich nicht bewegt, von einem Pferd, das still steht, sprechen können. In diesem Sinne sind die Begriffe  Bewegung, Veränderung, Wechsel, Leben, Zeit  bei BERGSON nicht zu verstehen. Bewegung und Zeit sind vielmehr in dem Sinn aufzufassen, in welchem wir etwa sagen würden: ein Fluß, eine fließende Masse, welche Begriffe ja das ganz konkrete Phänomen umspannen. Nach BERGSON, so paradox es auch klingen mag, gibt es zwar Bewegung, aber nicht etwas, das sich bewegt, d. h., da alles seiner Natur nach in einem steten Fließen begriffen ist, so kann man nicht etwas, das in der Bewegung konstant geblieben wäre, nämlich dasjenige, das "sich" bewegt hätte, herausgreifen, um es durch die verschiedenen Phasen hindurchzutragen und am Ende wieder zu konstatieren.

BERGSON sagt demnach: Die Bewegung ist das ganze sich Bewegende, die Zeit ist das ganze Zeitliche. Das Zeitliche erleben wir aber als solches, d. h. wir erleben das fließende Leben in uns, und was wir Zeit nennen, ist nichts anderes als diese, zum Teil erlebte fließende Masse. Das Auszeichnende aber, und weshalb wir diese Bewegung gerade Zeit nennen dürfen, besteht darin, daß die innere Bewegung fortschreitend ist, eine Bewegung gleichsam in die Länge, eine stetige Erneuerung, ein stetiger Zuwachs. Denn das Leben ist, nach BERGSONs Theorie, nicht etwa in dem Sinne aufzufassen, daß dasjenige, was zuvor war, sich selbst innerlich in dasjenige was später ist umgewandelt hätte, was wir eine Verwandlung nennen würden, vielmehr ist es so zu verstehen, daß stets Neues und Neues wie aus einer verborgenen Quelle hervortritt und mit dem Alten verschmilzt, so daß das bereits Vorhandene nur vermehrt wird. In dieser Bewegung können wir daher wohl ein Früher oder Später unterscheiden; aber diese Begriffe bezeichnen nichts anderes als gewisse Phasen, welche davon sprechen, daß es sich überhaupt um ein Fortschreiten, um ein sich größer Wachsen handelt, bezeichnen also Etappen in der Entwicklung eines stetig Wachsenden. Zeit im Ganzen ist aber nichts anderes als eben dieser Fluß, dessen Anschwellen zugleich eine Entwicklung darstellt und den wir in seiner Gesamtheit die Welt nennen.

Für BERGSON gibt es im Grunde genommen nur diesen Lebensfluß, er ist die Zeit selbst und außer ihm gibt es keine Zeit. er ist auch die Dauer,  la durée réelle,  denn Dauer ist Zeit. Damit wird für BERGSON die Dauer zum Fließen, zur Veränderung zum Wechsel. Nun entsprechen zwar diese Bestimmungen der Dauer keineswegs demjenigen, was wir sonst unter Dauer verstehen, denn im allgemeinen meinen wir, daß etwas nur insofern "dauert", als es sich nicht verändert, als es nicht fließt, als es vielmehr in dem Zustand in welchem es ist, verharrt, mag es sich nun um den Zustand der Ruhe oder den der Bewegung handeln; da es aber im Weltbild BERGSONs kein Beharren und keine Ruhe gibt, vielmehr Ruhe nur Scheinruhe ist, vergleichbar der Ruhe, welcher man von einem fahrenden Eisenbahnzug aus einen anderen, parallel und gleichschnell mit ihm fahrenden Zug erblickt, so wird BERGSON sagen, daß das Maß der Veränderung das Maß der Dauer ist, daß etwas in demselben Maß dauert als es sich verändert.

Wie ist es demnach zu verstehen, so wollen wir uns nun fragen, wenn wir z. B. von einer Pyramide sagen, sie habe 4000 Jahre gedauert, oder sie sei 4000 Jahre alt. Hat die Pyramide dabei eine Veränderung von 4000 Jahren erlitten? Aber eigentlich ist schon die Frage in BERGSONs Sinn nicht berechtigt; denn was wir eine Pyramide nennen, ist eine künstliche Einheit, durch begriffliche Arbeit aus dem Zusammenhang des Ganzen herausgehoben. Innerhalb des Ganzen würde sich, nach BERGSON, die Pyramide nicht verändern, wenn sich das Ganze stets verändert. Die Vergangenheit wird zwar aufbewahrt - der Einzelne kann unter Umständen seinen ganzen Lebenslauf nochmals vor sich sehen - aber weil an das einmal Entstandene sich stets neu Entstandenes anschließt, weil sich die Welt immer reicher wächst, so werden auch die Beziehungen, und damit das Aussehen des früher Entstandenen in Bezug auf das Zuwachsende immer neue und andere, und in diesem Sinne fließt auch das Vergangene, wie wohl sich erhaltend, dennoch mit dem Ganzen mit.

Es wird hier zunächst klar, daß wir bei BERGSON zweierlei Arten von Bewegung unterscheiden müssen; die eine, die eigentlich lebendige und produktive Bewegung, in welcher dasjenige hervortritt, was sich an das bereits Entstandene anlagert, die zweite, mehr relativer Natur, ist ein sich Mitbewegen, darin bestehend, daß sich die Beziehungen des bereits Entstandenen infolge des Auftretens immer neuer Erzeugungen fort und fort vermehren. Sicherlich ist die letztere Bewegung nicht mehr die eigentliche produktive Lebensbewegung, es ist nicht mehr das schöpferische Fließen von Quellen; ja, man muß geradezu sagen, daß, unter den Voraussetzungen der von BERGSONs Philosophie, neue Erzeugungen zu alten als solchen nur dann etwas hinzufügen, wenn das Alte nicht nur tatsächlich im Zusammenhang mit dem Neuen steht, sondern auch bewußterweise in diesem Zusammenhang betrachtet wird; denn eine Kausalwirkung im eigentlichen Sinne gibt es nach BERGSON nicht. Da aber für BERGSON die Formel gilt: Materie = Zeit = Bewußtsein, und Beziehungen eben das zusammenfassende Bewußtsein voraussetzen, so kann BERGSON sagen, daß das einmal Entstandene, obwohl es sich erhält, sich dennoch immerzu verändert, insofern sich nämlich die Beziehungen vermehren, die es infolge des Bezogenwerdens durch das Bewußtsein auf das stets neu ins Dasein Tretende fort und fort gewinnt, womit sich dann auch sein Anblick im Ganzen der Welt stets ändert.

Was uns nun bei dieser Theorie auffällt, ist der Umstand, daß der Einblick in das Wesen der Zeit, oder auch nur in das Wesen einer begrenzten Zeitdauer abhängig gemacht ist, nicht nur von dem Zugeständnis daß alles Bewegung ist, sondern auch, daß die Materie Bewußtsein ist. Denn, wie soeben gesagt, wenn die Materie nicht als Bewußtsein, bzw. als Gedächtnis angenommen wird, so kann man, da es in der Theorie BERGSONs keine kausalen Beziehungen gibt, nicht sagen, daß durch das neu Entstandene sich die Beziehungen des zuvor Entstandenen vermehren, und daß somit alles, auch das sich Erhaltende, in Bewegung ist. Die Beziehungen, welche das Entstandene zum Entstehenden hat, können ja nur entweder die einer gegenseitigen realen Einwirkung sein - Kausalwirkung - oder die eines Zusammengefaßtwerdens zu einer neuen Einheit, zu welchem Zusammenfassen ein Bewußtsein erforderlich ist. Nichts ist aber problematischer als gerade die Annahme, daß es ein Bewußtsein gibt, welches alles bisher Entstandene umspannt hält, gleichsam ein Weltbewußtsein, dem alles Geschehene gegenwärtig wäre. Ebenso problematisch ist aber auch die Annahme, daß alles Bewegung ist; fast alle Psychologen stimmen in der Aussage überein, daß sie, gegenüber dem Wechsel und den Veränderungen, die sie in sich erleben, zugleich auch etwas vorfinden, das sich nicht verändert, das in einem Strom der inneren Erlebnisse ruhig und unverändert dasteht und das sie die Identität des Selbstbewußtseins nennen. Ja, manche Autoren, z. B. RIEHL und NATORP, versuchten gerade aus dem Gegensazt des erlebten Stehenden gegenüber der erlebten Veränderung das psychologische Zeitbewußtsein zu erklären. Nach BERGSONs Bestimmung der Zeit wäre es ein Widerspruch, vom Unveränderlichen zu sagen - und das Unveränderliche ist stets denkbar, selbst wenn es in Wirklichkeit nichts Unveränderliches geben sollte, denn der Begriff "das Unveränderliche" schließt keinen logischen Widerspruch ein, wie auch von den Philosophen das Unveränderliche stets unter dem Begriff des Stoffes oder der Substanz gedacht wurde - es wäre also ein Widerspruch zu behaupten, daß das Unveränderliche ebenso alt ist wie das Veränderliche, selbst wenn das Unveränderte Zeuge sämtlicher Veränderungen des Veränderlichen gewesen sein sollte; die Zeit ist ja mit der Veränderung identifiziert. Denke ich mir demnach eine Pyramide als unverändert, und denke mir gleichzeitig einen Baum, der mit der Pyramide gesetzt wurde, und nun schon 4000 Jahre lang fortwachsen mag, so könnte ich wohl diesem letzteren, aber nicht der Pyramide das Alter von 4000 Jahren zusprechen. Und dennoch ist soviel klar, daß entweder beide viertausend Jahre alt sind, oder daß sie es beide nicht sind. Wohl ist der Baum noch in einem anderen Sinn "alt", es haben sich an ihn tausend Dinge, die man gleichsam seine Erfahrung nennen könnte, angesetzt; er trägt seine "Erfahrung" bzw. das, was an ihn angewachsen ist, mit sich. Aber dies ist ein "Alter", nicht mehr im zeitlichen, sondern in einem gewissen qualitiven Sinn, in welchem man unter Umständen auch von Kindern sagen kann, daß sie alt sind, wenn sie nämlich frühreif sind. In diesem Sinn müßte man auch einen Getreidehalm vom Alter eines halben Jahres älter nennen als eine Eiche im Alter von fünf Jahren; denn das Getreide kommt in weniger als einem Jahr zur vollkommenen Reife, während die Eiche erst nach vielen Jahren dazu gelangt. Dieses Alter im Sinne des Reifens oder auch der Erfahrung, ist nicht das Alter im Sinne der Zeit; es ist vielmehr nur eine qualitative Stufenfolge, die zugleich Entwicklung sein kann, und bei den einzelnen Individuen, bei vorausgesetzter zeitlicher Gleichheit, dennoch sehr verschieden ist.

In einer Lösung des Zeitproblems muß verständlich werden was es bedeutet, daß wir sowohl dem Unveränderlichen als auch dem Veränderlichen Zeit zugestehen. Die natürliche Beschaffenheit der Materie, ob sie sich quellhaft vermehrt, oder ob sie, dem Grundsatz der Physik entsprechend, wie unzerstörbar, so auch unvermehrbar ist, kann aber in keine Lösung eintreten. Denn indem wir vom Alter irgendeines Gegenstandes sprechen, greifen wir zwar zurück und nehmen eine Identifikation eines Gegenwärtigen mit einem Früheren vor, aber worin nun die Identität besteht, ob wir uns den Gegenstand als genau dieselbe, unveränderte Sache denken, wie wir es z. B. bei Steinen, den Pyramiden und den alten Statuen tun, oder ob die gedachte Identität nur dem Ursprung gilt, daß sich nämlich das Frühere in irgendeinem Sinn in das Jetzige umgewandelt hat, wie wir uns z. B. die Beziehung zwischen Keim und Pflanze, Kind und Mann, oder auch den Übergang eines Stoffes in eine andere Modifikation desselben Stoffes denken, all dies muß für die Einsicht in das Wesen der Zeit völlig belanglos sein, denn es ann nur die Bedeutung haben, daß es sich im einen Fall um das Alter eines Unveränderten, im anderen um das Alter eines Veränderten handelt.

Vielleicht ist in der Tat die Zeit für das Unveränderliche nichts; dann ist aber soviel sicher, daß sie auch für das Veränderliche nichts ist. Geht man andererseits von der Bestimmung aus, daß die Zeit das konkrete sich Verändernde ist, so fällt das Unveränderliche, welches man stets annehmen kann, aus den Zeitbestimmungen heraus, während sie dem Veränderlichen bleiben. Faßt man aber einmal die Zeit, wie es zumeist geschieht, als etwas Fließendes auf, so hat indessen BERGSON in dem Bestreben, die leere Zeit durch eine volle Zeit zu ersetzen, unendlich recht. Denn was soll man sich unter einer leeren Zeit vorstellen? Wie ist es möglich, daß es eine Zeit für sich gibt, etwas, in welchem man aufeinanderfolgende Momente unterscheiden könnte? Freilich, die eigentliche Frage wäre gerade diese: ist die Zeit überhaupt etwas Fließendes, sind nicht für das Unveränderte Vergangenheit und Gegenwart dasselbe? Andererseits sind wir aber so fest mit dem Begriff der Zeit verwachsen, die Vorstellung und der Gedanke der Zeit sind uns so geläufig, das Geschehen unterstellt sich so natürlich jener Idee, daß man diese Vorstellung sogar für eine apriorische, für eine denknotwendige erklärt hat. Aber es handelt sich gerade darum, zu wissen, was dasjenige in Wirklichkeit sein kann, was dem Begriff "Zeit" entspricht, ob es jenes eigentümliche Fließende, das wir uns darunter zu denken pflegen, tatsächlich gibt oder geben kann, d. h. ob eine Zeit als solche, so wie wir sie gefühlsmäßig zu kennen und zu besitzen glauben, besteht, oder ob dieser Begriff nur gewisse charakteristische Tatsachen innerhalb einer im Ganzen völlig zeitlosen Natur trifft.

Es ist höchst bedeutsam, daß die Begriffe "Zeit" und "Dauer" gleichwertig sind. Zwar sprechen wir von Dauer im allgemeinen bei ruhenden, von Zeit bei sich bewegenden Gegenständen. Wir sagen beispielsweise, daß die Pyramiden viele Menschengeschlechter überdauern, daß dagegen ein Schiff so und so viele Tage (Zeit) braucht, um die und die Reise zu machen. Wir sprechen jedoch auch geradezu von einer Zeitdauer, sagen: etwas dauert eine lange Zeit, einerseits die Zeit durch die Dauer, andererseits die Dauer durch die Zeit bestimmend.  Dauer  ist in der Tat ein reiner Zeitbegriff; er ist bestimmter als der Begriff  Zeit,  indem man bei Dauer an Anfang und Ende einer Zeit denkt, d. h., wie man auch öfters gesagt hat, die Dauer ist das Maß der Zeit; deshalb ist er auch charakteristischer als der Begriff "Zeit", der Sache selbst näher tretend. Der Begriff  Zeit  schaut mehr auf die Zukunft, Dauer auf Vergangenheit und Gegenwart; Zeit spricht zu uns von einer noch zu erreichenden Unendlichkeit, der Begriff Dauer von einer früheren Zeit; Zeit charakterisiert die Dinge als vergänglich, Dauer als beharrend; die Zeit vergleichen wir mit der Bewegung, die Dauer mit der Ruhe. Und dennoch dauert alles in demselben Maß, als es eine Zeit ausfüllt, eine Zeitstrecke ist eine Dauer und die Zeit im Ganzen ist die Dauer im Ganzen. Unter Verwendung der genannten Bilder müßte man geradezu sagen: Bewegung, nämlich Zeit, ist Ruhe, nämlich Dauer, wie man dann auch die Dauer der Bewegung sehr treffend als "fließende Dauer" und die Zeit des Ruhenden als "existence continuée" bezeichnet hat, zwei paradoxe Begriffe, aber gleichsam von impressionistischer Richtigkeit.

Inwiefern sagen wir von einer Bewegung, daß sie dauert? Offenbar insofern, als ihre Ausführung eine gewisse Zeit erfordert, Zeit aber Dauer ist. Sachlich meint man damit folgendes: Ein Körper, der sich bewegt, ist nicht zugleich am Anfang und Ende seiner Bewegung, sondern muß zuerst einen gewissen Weg oder auch gewisse Stellungen oder gewisse Phasen durchlaufen, um zum Ende zu gelangen, so daß, wenn er am Ende ist, er sich nicht mehr am Anfang befindet, und als er am Anfang war, er noch nicht am Ende ist. Man hat infolgedessen die Zeit oft geradezu mit der Bewegung identifiziert; und dennoch kann diese Identifikation keinen Aufschluß über das Wesen der Zeit geben. Denn es ist durchaus nicht sinnlos oder widersprechend, auch von Gegenständen die sich nicht bewegen, sondern die als bewegungslos gedacht werden, zu behaupten, daß sie schon so und so lange bestehen, daß sie dieses oder jenes Alter haben. Das Problem der Zeit bezieht sich auf beides in gleicher Weise: auf Bewegliches wie auf Unbewegliches, auf Veränderliches wie auf Ruhendes.

Die Zeit kann aber jedenfalls nicht etwas sein, das über die Gegenstände wie das Wasser eines Baches über die auf seinem Grund liegenden Steine hinwegfließt; gerade ein solcher leerer Zeitstrom ist völlig unbegreiflich, wie auch die Anschaulichkeit jenes Bildes wohl für die Zeit der unveränderlichen, aber nicht mehr der veränderlichen Gegenstände zureicht. Erinnern wir gleichwohl daran, daß es NEWTON war, welcher sich die wahre, mathematische Zeit in einer solchen Weise dachte. Bei NEWTON war diese Auffassung der Zeit notwendig, sobald er nämlich annahme, wie es tatsächlich der Fall war, daß wahre Zeitgrößen in die mathematischen, insbesondere in die astronomischen Gesetze eintreten. Denn sowie der Mathematiker einen gleichmäßigen Raum braucht, so muß er alsdann auch eine gleichmäßige, homogene Zeit ansetzen, da sonst kein festes Zeitmaß denkbar wäre. Umgekehrt wird ihm ein Zeitmaß als Teil des Ganzen, als Zeitteil gelten, d. h. da das Maß gleichmäßig sein muß, so auch das Ganze, die Zeit. Es genügt, gegen die Annahme einer solchen mathematischen Zeit zu wiederholen, daß Zeitgrößen als solche in die wissenschaftlichen Formulierungen tatsächlich nicht eintreten, da was als Zeitgröße in solchen Formeln angesetzt wird, zwar diesen Namen trägt, in Wahrheit aber gewisse Bewegungen vorstellt, die nicht deshalb als Maß für die Zeit gelten, weil sie eine gleiche Zeit beanspruchen, sondern von denen man sagt, daß sie gleiche Zeit beanspruchen, weil es gleichmäßige, oder vielmehr weil es kongruente Bewegungen sind, und Bewegungen, wenn auch nicht die Zeit selbst sind, so doch jedenfalls die zeitlichen Qualitäten enthalten.

Wenn es nun keine selbständige, leere, gleichmäßig dahinfließende NEWTONsche Zeit gibt, und wenn dennoch das Unveränderliche wie auch das Veränderliche dauert, was ist dann Dauer, was Zeit? Man ist in der Tat versucht, die Frage kurz abzuschneiden und zu sagen: Dauer ist Dauer, und Zeit ist Zeit, was ist bekannter als Dauer und Zeit? Erleben wir nicht täglich und stündlich was Dauer ist, dann wenn wir auf etwas warten, sehen wir nicht, was Zeit ist, wenn wir auf die Jahre schauen, welche wir erlebt haben, und auf jene, von denen uns berichtet wird?

Betrachte ich jedoch irgendeinen Gegenstand und sage mir: Dieser Gegenstand ist nun schon zwei Jahre alt, was sind eigentlich diese zwei Jahre für ihn? Es ist derselbe Gegenstand, heute wie früher, die zwei Jahre sind spurlos an ihm vorübergegangen, bedeuten für ihn tatsächlich nichts. Und wären es 2000 Jahre gewesen, so wären auch sie für ihn gänzlich bedeutungslos, denn es ist genau derselbe Gegenstand. Für den unveränderten Gegenstand gibt es nur ein einziges Jetzt, an seinem Dasein verliert das Früher und das Später seine Bedeutung, denn er ist heute gerade das, was er vor 1000 Jahren war. Was ist also die Zeit, wenn sie am Unveränderlichen oder auch nur Unveränderten, sogar die Dauer aufhebt, da es ja für das Unveränderte gänzlich gleichgültig ist, ob es nun schon 10 Jahre oder 1000 Jahre oder eine Ewigkeit dauert? Esist noch genau das, was es war, oder vielmehr: es ist noch genau dasselbe, nahm nicht zu und nicht ab, wurde nicht mehr und nicht weniger und ist nichts anderes geworden.

Denke ich mir in der Tat die ganze Welt unbeweglich und starr, unveränderlich und wie in einen tiefen Schlaf versunken, dann ist ihre Dauer nichts anderes als dieses ihr regungsloses Dasein, ihre Existenz ist ihr Dauern. Oder: allein dadurch, daß sie existiert, dauert sie, ihre Dauer besteht in ihrem Dasein, ihre Zeit besteht in ihrem Sein. Für das Unveränderte gibt es, außer seinem Dasein, nicht nochmals eine Zeit oder Dauer; dadurch allein, daß es ist, dauert es oder vielmehr: die Dauer des Unveränderlichen ist nur ein anderes Wort für eine einmalige Existenz. Mit dem Unveränderlichen ist die Zeit von selbst gegeben, denn Zeit ist für das Unveränderliche nichts Neues, nichts, das es nicht selbst schon mit sich tragen würde: da zu sein. Das Immer und die Ewigkeit des Unveränderlichen sind nichts außer seiner Existenz; es ist in sich unveränderlich, damit ist alles erfüllt. Für das Unveränderliche, in sich betrachtet, gibt es kein Früher und Später, nur ein einziges Jetzt, ein einmaliges So-Sein. Seine Zeit ist sein einmaliges Sein.

Für dieses einmalige Dasein des Unveränderlichen ist es nun aber auch belanglos, ob es etwa räumlich bewegt wird oder still liegt: es hört dadurch nicht auf, da zu sein, zu existieren. Ob die Pyramiden auf einer unbeweglichen oder auf einer sich bewegenden Erde stehen, ist für ihr Dasein unwesentlich, ob das Wasser ruht oder fließt, ist für seine Existenz belanglos, es hört nicht weniger auf  da  zu sein, in seiner eigenen, inneren Beschaffenheit zu ruhen. Die räumliche Bewegung des Unveränderlichen steht in keinem Zusammenhang mit seiner Dauer, wie man ja auch einen Stoff schnell oder langsam bewegen oder ihn ruhig liegen lassen kann, ohne dadurch seine Dauer zu verkürzen oder zu verlängern oder auch nur zu erreichen. Sofern etwas nur in seinem Dasein unveränderlich ist, mag sonst mit ihm auch was immer geschehen: sein Dasein allein ist seine Dauer und Zeit, es kann nicht anders als da zu sein.

Wenn es nun für das Dasein des Unveränderlichen nicht nochmals eine eigene Zeit gibt, was bedeutet aber dann für ein solches Daseiende das Früher oder Später, wenn es in einer Raumbewegung begriffen ist? Denn offenbar gilt dies, daß ein Gegenstand, der sich räumlich bewegt, nicht zugleich am Anfang und Ende seiner Bahn ist. Wir drücken dies im allgemeinen so aus, daß wir sagen: jede Bewegung braucht Zeit, d. h. es dauert irgendeine Zeit lang bis der Gegenstand, welcher sich bewegt, vom Ausgangspunkt bis zum Endpunkt der Bewegung gelangt ist. Versetzen wir uns aber in die Lage eines solche, als unveränderliche gedachten Gegenstandes, der sich räumlich bewegt, so gibt es für ihn nur ein einziges Dasein und seine Bewegung hat für ihn keine weitere Bedeutung als eben die: daß er sich bewegt. Ein Früher oder Später gibt es für ihn, sofern er unverändert ist, nicht, die Bewegung ist für ihn eine reine Äußerlichkeit. Es ist daher nicht dasjenige, was sich bewegt, das durch die Begriffe "früher" oder "später" getroffen wird, sondern die Bewegung selbst. Für den Gegenstand gibt es nur ein einziges Jetzt, und so sehr wir auch meinen, unter den Begriffen "früher" oder "später" zeitliche Bestimmungen zu haben, so ist doch dasjenige, was tatsächlich durch sie charakterisiert wird, nichts anderes als die Eigentümlichkeit einer jeden Bewegung, daß es nämlich bei ihr ein Vorher und ein Nachher, ein Zuerst und ein Alsdann, kurz: jene eigentümliche Aufeinanderfolge gibt, welche man eine Bewegungsaufeinanderfolge nennen kann. Es ist damit im Grunde nichts weiter gesagt, als daß ein Körper, der sich bewegt, sich eben bewegt, daß er den einen Ort oder den einen Stand verläßt, und zum anderen gelangt. Überlege ich mir von diesen Bestimmungen aus, etwa die folgende Zeitangabe: drei Uhr mittags ist früher als fünf Uhr mittags, so bedeutet dies nicht auch, daß das Unveränderliche in der Welt zwei Stunden älter geworden ist, sondern es bedeutet, daß eine bestimmte Bewegung, welche uns durch ihre Besonderheit eine Möglichkeit bietet, sie in Abschnitte einzuteilen, sich vollziehen muß, damit von einer gewissen Stellung aus eine andere, ebenfalls bestimmte Stellung erreicht wird. Denken wir uns dabei alles Materielle in der Welt dem Dasein nach als unveränderlich, so ist jedes Früher und Später jener Bewegung eine reine Bewegungsbestimmung.

Wir sind sehr gewohnt zu denken, daß jede Bewegung eine gewisses Zeit in Anspruch nimmt, daß mit der Zeit auch jede Bewegung aufgehoben ist. Aber es trifft keine dieser Folgerungen zu, weil das Aufeinanderfolgen der zu durchlaufenden Räume oder Phasen, also das Früher und Später eine reine Bewegungsbestimmung ist, also der Bewegung, schon insofern sie Bewegung ist, jene Eigentümlichkeiten zukommen, welche wir ihr erst durch die Heranziehung von etwas Drittem, nämlich einer Zeit, zuzugestehen pflegen, während doch gerade umgekehrt das Früher oder Später vom Aufeinanderfolgen in einer Bewegung spricht. Eine Bewegung braucht Zeit, das heißt nichts anderes als: bei einer Bewegung tritt auch eine Bewegungsaufeinanderfolge auf, oder: indem eine Bewegung ist, ist auch eine ihr eigentümliche Aufeinanderfolge. Die abstrakte Fassung des bei einer Bewegung stattfindenden Aufeinanderfolgens kann man, uneigentlicherweise, das zeitliche Moment der Bewegung nennen; in der Tat ist es aber nichts weiter, als eine mit der Bewegung bereits gesetzte Bestimmung, im Übrigen jedoch ohne selbständige Bedeutung, über die Beschaffenheit einer Bewegung nicht hinausreichend und mit ihr verschwindend.

Die Zeit räumlich sich bewegender, sonst aber unveränderlicher Körper, ist das Moment der in ihrer Bewegung sich zeigenden Aufeinanderfolge. Da nun diese Aufeinanderfolge in einer Bewegung im allgemeinen als eine kontinuierliche wahrgenommen wird, so denkt man sich auch die Zeit als etwas Fließendes, als einen Strom, einen Fluß, spricht von der verfließenden Zeit, der Zeit, die herankommt, der man entgegengeht usw. Alle diese Bilder sind ebensoviele Ausdrücke des Aufeinanderfolgens, das als solches mit der Bewegung auftritt und, einmal in eine abstrakte Fassung gebracht und unter dem Namen Zeit verselbständigt, jetzt in der mannigfachsten Weise und zum Ausdruck sehr mannigfacher Beziehungen praktisch verwertet ist. Die inneren Verhältnisse und Möglichkeiten, die in eine Bewegungsaufeinanderfolge eintreten können, werden als Zeitverhältnisse in Anspruch genommen; der Verschiedenheit in der inneren Konstitution, d. h. des Tempos der einzelnen Bewegungsaufeinanderfolgen wird eine gleichmäßig konstituierte Aufeinanderfolge gegenübergestellt, und unter dem Begriff der einen, gleichmäßig fließenden Zeit wird somit, wie es so oft geschieht, eine allgemeine Idee hypostasiert [vergegenständlicht - wp], die als das Übereinstimmende einer Vielheit verschiedener Einzelfälle gegenübersteht. Wenn man daher schon von Zeit sprechen muß, so ist zu sagen, daß es keine einzige, sondern daß es zugleich unendlich viele Zeiten gibt, nämlich ebensoviele, wie verschieden rhythmisierte Bewegungen zugleich sind. Was man die  eine  Zeit nennt, ist im Verhältnis dazu nur eine Vergleichszeit, und diese verschwindet, wenn die Systeme und Apparate verschwinden oder ihren Rhythmus ändern, welche jene Maßzeit natürlicher- oder künstlicherweise zur Darstellung bringen.

Sagt man also, eine jede Bewegung braucht Zeit, so bedeutet dies, wie bereits erwähnt, daß in jeder Bewegung eine Bewegungsaufeinanderfolge stattfindet, und sagt man umgekehrt, ohne Zeit ist keine Bewegung möglich, so bedeutet dies, daß keine Bewegung denkbar ist, in welcher nicht auch eine Bewegungsaufeinanderfolge stattfindetf. Mit anderen Worten: aus der Zeit als einem Moment der Beschaffenheit der Bewegung, das aber für sich nichts Selbständiges bedeutet, erklärt sich die enge Verknüpfung, die wir der Zeit und der Bewegung geben. Man muß sich aber fragen, weshalb man hier überhaupt von "Zeit" spricht, da doch, außer dem tatsächlichen Aufeinanderfolgen in einer Bewegung nichts außerdem vorliegt, und in der Tat auch alle Zeitmaße nichts anderes als Bewegungsaufeinanderfolgen sind, die infolge einer, durch äußere Umstände leicht faßbaren Gliederung, uns eine Einteilung in Abschnitte gestatten, wobei wir diese Abschnitte dann  Tage, Jahre, Stunden, Sekunden  nennen. Der Begriff der Zeit ist daher für die Bewegung, wenn er irgendetwas anderes als eine mit der Bewegung von selbst auftretende Eigentümlichkeit bedeuten soll, ein überzähliger Begriff, nichts anderes besagend, als was die Bewegung selbst schon in sich schließt, KANT hat, wie das tatsächliche Geschehen, so insbesondere die Bewegung stark unterschätzt, als er die Zeit eine "formale Bedingung der Möglichkeit der Veränderung" nannte, die Zeit, neben dem Raum als dem ersten Plan, als den zweiten Plan betrachtend, der notwendig ist, damit sich eine Bewegung vollziehen kann. Dagegen hatte HEGEL sehr recht, und zwar in einem weit vollkommeneren Sinn als es sich mit seinem eigenen System verträgt, als er sagte: "Der Prozeß der wirklichen Dinge macht also die Zeit, und wenn die Zeit das Mächtigste genannt wird, so ist sie auch das Ohnmächtigste."

Versteht man demnach unter Zeit noch etwas anderes als was i einer Bewegung schon enthalten ist und durch sie erst entsteht, versteht man vielmehr darunter etwas, das der Bewegung, außer dem, daß sie Bewegung ist, noch als weitere Bestimmung hinzukommt, kurz, versteht man darunter, was man mit dem Wort "Zeit" gewöhnlich meint, eben "Zeit", so ist zu sagen, daß es auch für eine Bewegung keine Zeit gibt, daß jede Bewegung, geradeso wie das Unveränderliche, zeitlos ist. Wohl fing die Bewegung an, setzte sich fort und hörte auf, war einmal und ist alsdann nicht mehr, aber all das bedeutet nicht mehr als daß das Unveränderliche, in seinem Daseins-Jetzt verharrnd, sich gleichsam regte und alsdann, immer noch in demselben Jetzt verharrend, sich nicht mehr regt.

Nehmen wir nun aber an, es gäbe in Wirklichkeit überhaupt nichts Unveränderliches, denken wir uns vielmehr, daß alles im wahrsten Sinn des Wortes  fließt,  oder nehmen wir auch nur BERGSONs Theorie an, daß die Welt wie eine Pflanze fortwächst und fragen uns: was ist oder was wäre für eine so beschaffene Welt die Zeit? Denken wir uns jedoch zuerst noch folgende Welt: Es seien gewisse Qualitäten vorhanden, die unverändert daliegen; plötzlich sind diese Qualitäten andere geworden, die nun ihrerseits ruhig liegen bis auch sie plötzlich zu anderen werden usw. Zum Vergleich denken wir uns ferner eine zweite, ebenso beschaffene Welt, aber mit dem Unterschied, daß die Intervalle, die zweichen den Verwandlungen liegen, kürzer sind. Wir haben also im Ganzen zwei Reihen von Qualitäten, jede Reihe verwandelt sich nach einer gewissen Zeit momentan in neue Qualitäten, aber die Zeitintervalle sind in der einen Reihe größer als in der anderen. Was bedeuten in einer solchen die Zeitintervalle?

Solange die Qualitäten innerich unverändert bleiben, gibt es für sie keine Zeit; sie sind da, sie existieren, und damit ist alles geschehen, sie haben nur ein einziges Jetzt. Tritt aber plötzlich anstelle dieser Qualitäten eine andere Qualitätenreihe ein, so ist es für die Zeit geradeso als ob die vorigen Qualitäten noch wären. Es ist wahr, jetzt ist etwas anderes da als zuvor, aber das Jetzt des Vorigen ist dasselbe wie das den Neuen. Um dies einzusehen, vergleiche man die beiden Reihen miteinander: während die eine Reihe noch unverändert ist, also nur ein einziges Jetzt hat, bzw. zeitlos ist, können sich in der anderen schon viele Verwandlungen vollzogen haben; letztere Verwandlungen spielen sich dann bei der Gegenwart von ein und demselben Jetzt, nämlich des Jetzt der anderen Reihe, ab, stellen also wohl eine Reihe sukzessiver Verwandlungen dar, ohne aber dadurch mehr als eben dies, nämlich ohne nochmals eine Zeit vorzustellen. Wir erkennen daraus, daß die qualitative Bewegung für die Zeit keine andere Rolle spielt als die räumliche Bewegung, daß beide wohl Bewegungsreihen sind, daß aber für sie nichts Neues, Drittes, nämlich eine Zeit erforderlich ist. Überblicke ist nun die beiden genannten Reihen von Verwandlungen, so erkenne ich sie als Serien nacheinander auftretender Auswechslungen, gleichsam Zuckungen, aber all das eingebettet in ein und dasselbe Jetzt, in ein und dieselbe Zeitlosigkeit, vergleichbar der Vorführung von Bilderserien auf ein und demselben weißen Schirm. Der Unterschied dessen, was man die Zeitintervalle nennt, besteht aber darin, daß in der einen Reihe die Verwandlungen schneller aufeinander folgen als in der anderen, besteht also in einer qualitativen Verschiedenheit der Aufeinanderfolge. Würden sich in der Tat in der Welt alle Bewegungen in der Weise der soeben geschilderten Momentanveränderungen zeigen, so würde man sich die Zeit nicht unter dem Bild eines Flusses, sondern unter dem Bild einer auftretenden Punktreihe vorstellen. Das Aufeinanderfolgen in einer Bewegung stellt erst dasjenige dar, was man, uneigentlicherweise, Zeit nennen kann und die Art der Aufeinanderfolge bestimmt das Bild, das man sich von der Zeit macht.

Stellen wir uns nun eine Welt vor, in welcher qualitativ alles fließt, mag dieses Fließen eine Verwandlung sein im Sinne HERAKLITs oder ein stetiges Zuwachsen und Verschmelzen mit dem bereits Entstandenen im Sinne BERGSONs, so trifft alles Früher und Später immer nur die Bewegung, d. h. den Umstand, daß eine Aufeinanderfolge stattfindet. Aber die ganze Bewegung spielt sich, wenn man unter Zeit etwas außerhalb dieser Bewegung verstehen will, in ein und demselben stehenden Jetzt ab, wie man sich ja auch jederzeit einen Gegenstand denken kann, der unverändert neben jener ganzen Welt von Bewegungen steht, und sie mit seinem einmaligen, stehenden Jetzt, d. h. mit seinem einmaligen Dasein begleitet. Eine Welt, in welcher alles fließt, oder in welcher stets neue Erzeugungen hervortreten, ist eben dies: eine in sich fließende, eine wachsende Welt; aber dies sind nur Bewegungseigentümlichkeiten und bedingt nichts, das der Welt, abgesehen davon, daß sie sich bewegt, noch zukommen müßte. Im Weltbild BERGSONs treten immer neue Erzeugungen in das stehende Jetzt des bereits Entstandenen ein, bzw. auch aus ihm heraus, jenes Jetzt qualitativ nur mehr erfüllend es aber nicht selbst fließend machend. So sehr BERGSON daher im Recht ist, außer dem Lebensfluß, worin ihm die Welt besteht, nicht nochmals eine Zeit anzusetzen, so ergeben doch unsere Betrachtungen, daß ein solcher Fluß eben nichts weiter wäre als ein Fluß, bzw. ein anschwellender Fluß, daß er aber nicht dasjenige wäre, was man sich mit den Begriffen "Zeit" und "Dauer" bezeichnet, oder vielmehr trifft. Innerhalb jenes Flusses, und uneigentlicherweise, ist es aber nicht der ganze konkrete Fluß, den man als Zeit in Anspruch nehmen könnte, vielmehr nur die eine Tatsache, daß überhaupt ein Aufeinanderfolgen stattfindet. Der konkrete Fluß kann farbig sein, grün oder rot, er kann laut oder still sein, aber unter diesen Prädikaten verlieren die Begriffe "Zeit" und "Dauer" jede, auch eine uneigentliche Anwendung. Das Wesentliche der Zeit, bzw. dasjenige, was wir mit diesem Begriff intendieren, wird am besten aus der Art der Zeitmessung ersichtlich, da, wenn irgendetwas, so doch sicherlich diese die Qualitäten trifft, welche als Zeit gelten. Kein Zeitmaß verträgt sich aber mit jenen Prädikaten.

Wo alles in Ruhe und keine Bewegung vorhanden ist, da läßt sich keine Zeit, auch nicht in einem uneigentlichen Sinn herauslösen, denn was wir das Dauern oder Ausdauern des Unveränderlichen nennen, ist nichts anderes als eben sein einmaliges Dasein. Es müßte sich ja alles Daseiende fort und fort erneuern, wiedererzeugen, wenn es jene Dimension haben sollte, die man unter dem Begriff  Zeit  intendiert und worin der spätere Zeitpunkt vom einem früheren verschieden sein sollte; denn wie käme sonst das Unveränderte in den späteren Zeitpunkt hinein? In demselben ruhenden, einmaligen Jetzt spielen sich alle Bewegungen, ob räumlicher oder qualitativer Natur, ab, mögen diese Bewegungen in ihrer Gesamtheit einen Tag oder ein Jahrhundert bedeuten.

Es versteht sich, daß man sich keine Bewegung ohne eine Aufeinanderfolge denken kann, und zwar jene Art der Aufeinanderfolge, die eben einer Bewegung eigentümlich ist. Aber diese Bewegungsaufeinanderfolge ist auch nichts weiter. Das Jetzt der späteren Phase ist dasselbe Jetzt wie jenes der früheren Phase, daher kommt auch in wissenschaftlichen Formulierungen die Zeit als solche nicht anders als in Gestalt von Bewegungen zur Geltung. Was wir aber das erlebte Zeitbewußtsein nennen, jenes, von dem wir sagen, daß wir es als Dauer in uns fühlen, so ist dies das Erlebnis eines Konstanten, Einmaligen, sich nicht Bewegenden, aber sich abhebend von sich dem sich Bewegenden in uns oder außerbalb von uns. So wie die Bewegungen, welche wir in uns erleben, in die Identität des Bewußtseins eingebettet sind, so daß es genau derselbe Bewußtseinsmoment ist, welcher am Ende der Bewegung steht als jener, welcher am Anfang stand, ebenso ist es ein einmaliges Jetzt, in welchem alle Bewegungen und Veränderungen verlaufen.

Ein Früher oder Später gibt es daher wohl der Bewegung nach, d. h. in einem uneigentlichen Sinn, aber nicht der eigentlichen Bedeutung des Begriffes  Zeit  nach. Eigentlich zeitlich gibt es nur ein Einmal für immer. Die Zeit, welche wir die Ewigkeit nennen, ist schon im jetzigen Moment gegeben, jene welche wir die Vergangenheit nennen, war nie vergangen. Die Zeiten ändern sich nur insofern, als man die konkreten Bewegungsserien die Zeiten nennt, was uns aber nicht die Einsicht verdecken soll, daß alle Bewegungen sich in einem einmaligen Jetzt abspielen, welches das Jetzt der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist, und in welchem sich ebensogut ein Nicken wie ein Menschenleben vollzieht, so wie über dieselbe Stelle bald ein einzelner Mann, bald ein ganzes Heer schreiten kann.

Wenn es im eigentlichen Sinn keine Zeit gibt, dann wäre also, so kann man sich fragen, ein Mann von 80 Jahren nicht älter als ein Knabe von 10 Jahren? Der Knabe von 10 Jahren trat, der Reihenfolge nach, später auf als der Mann von 80 Jahren, aber er trat in dasselbe Jetzt hinein, in welchem der Mann steht. Bedeutet also "Jahr" eine bestimmte Bewegungsserie, dann hat natürlich der Greis deren mehr erlebt als der Knabe, bedeutet aber "Jahr" noch etwas außerhalb dieser Bewegungsserie, nämlich den Teil einer im Ganzen als fließend gedachten Zeit, dann ist allerdings zu sagen, daß nicht mehr Zeit über den Greis hinweggeflossen ist als über den Knaben.

Es gibt nur ein einziges Jetzt, oder vielmehr: zeitlich gibt es nur Jetziges, mag dieses räumlich still stehen oder sich bewegen, mag es qualitativ unveränderlich sein oder sich verwandeln, mag es allein bleiben oder sich ihm Neues dazugesellen. Es kommt nicht auf die größere oder geringere Menge, nicht auf die schwankende oder stetige Erfüllung, sondern darauf an, daß das Sein dessen, was ist, mag dieses wie auch immer beschaffen sein, ein einmaliges stehendes Jetzt bedeutet, das sich gleich gut mit der räumlichen Ruhe oder Bewegung, mit dem qualitativen Entstehen oder Vergehen verträgt. Es ist dasselbe Jetzt, welches uns sieht, als jenes welches das Altertum sah; das Altertum ist freilich nicht mehr, denn das Aussehen der Welt hat sich gründlich geändert, wenngleich nicht vollkommen, wie uns die Überreste aus der alten Zeit beweisen, die noch ein tatsächliches Stück Altertum sind; aber was man "Zeitlauf" nennt, ist in der Tat nur ein Bewegungslauf, ist nur eine Verschiebung oder Auswechslung innerhalb desselben Jetzt oder Daseinsmomentes als dem einmaligen festen Boden, dem wahren  nunc stans [stehendes Jetzt = Ewigkeit | wp]; bildlos gesagt: außer dem Dasein dessen was ist, sei es in sich veränderlich oder unveränderlich, ruhend oder in Bewegung, wachsend oder abwechselnd, sind Zeit und Dauer nichts weiter.
LITERATUR - Theodor Kehr, Bergson und das Problem von Zeit und Dauer, Zeitschrift für die gesamte Psychologie, Bd. 26, Leipzig 1913