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HEYMAN STEINTHAL
(1823-1899)
Zur Sprachphilosophie

"Drobisch  bezeichnet die Apperzeption treffend, indem er bemerkt, daß Sehen usw. nicht bloßes Empfinden, sondern zugleich  Verstehen, Deuten  des Empfundenen ist, was nach  Lazarus  heißt: Wahrnehmen ist nicht bloßes Perzipieren, sondern zugleich Apperzipieren. Daß uns der Finger schmerzt, wissen wir nur durch Apperzeption; denn unmittelbar kund gibt sich nur das Schmerzgefühl; daß aber der Zustand des Fingers die Ursache desselben ist, liegt nicht ursprünglich im Bewußtsein."

"Wir gehen im Wald spazieren: kein einziger Baum wird von uns apperzipiert; wir sehen den Baum vor lauter Wald nicht. Aber irgendein Baum zeichnet sich aus; durch seine Art, indem alle Bäume um ihn herum anderer Art sind; durch seinen Wuchs, durch Verletzungen, weil er abgestorben ist: er wird apperzipiert, weil wir ihn nicht erwarteten."

"Apperzeption  bezeichnet den Anteil der mächtigeren Vorstellungsmasse an der Schöpfung neuer Gedanken, Vorstellungen oder Urteile; wobei die Schöpfung eben darauf beruth, daß eine Vorstellung oder Vorstellungsreihe in ein Verhältnis zu einer mächtigeren Vorstellungsmasse tritt."

"Zur Sprachphilosophie" - oder auch "zur Psychologie" könnte ich sagen; und sowohl die Veranlassung zum gegenwärtigen Aufsatz, wie auch der Inhalt desselben dürfte der anderen Überschrift nicht nur Rechtfertigung, sondern vielleicht gar den Vorzug verliehen haben. Denn es ist ein psychologisches Werk, von dem hier Bericht erstattet werden soll; und es sollen die psychologischen Mächte, welche die Sprachphilosophie nur in bestimmter Tätigkeitsweise zu betrachten hätte, vielseitiger, so weit eben jenes Werk es veranlaßt, und nach ihrer eigentümlichen Natur in Erwägung gezogen werden. Ich habe dennoch den beschränkteren Titel vorgezogen, um sogleich den beschränkten Laienstandpunkt anzudeuten, von welchem aus ich meine Übersicht nur anstellen kann.

Das Schicksal der Sprachphilosophie oder philosophischen Grammatik hat das Wunderliche, daß seit BACON bis heute wohl keiner der bedeutenderen Philosophen es unterlassen hat, gelegentlich auf sie als ein Desideratum hinzuweisen und von ihrer Bearbeitung wichtige Aufschlüsse über wichtige Probleme der Philosophie zu erwarten, und daß dennoch keiner von ihnen ersthaft an sie gehen mochte; nicht nur von den großen, schöpferischen Philosophen, auch von denen zweiten Ranges wurde sie verschmäht, und sie fiel, bis auf WILHELM von HUMBOLDT, ausschließlich dem philosophischen Dilettantismus anheim. Dies begreift sich jedoch, wenn man daran denkt, daß es bis vor kurzem keine wirkliche Psychologie gab, und wenn man weiß, daß ohne eine solche eine sogenannt philosophische Betrachtung der Sprache leeres Stroh dreschen heißt.

Daß nun aber auch HERBART und seine Anhänger es bei bloßen Andeutungen und Hinweisen auf die Sprache haben bewenden lassen, ohne auf ihr Wesen eigens und ausführlich einzugehen: das war ein Schaden für die Sprachwissenschaft und nicht ohne Nachteil für die Psychologie selbst.

In meinem Buch über "Grammatik, Logik und Psychologie, ihre Prinzipien und ihr Verhältnis zueinander" hatte ich mich einerseits und zunächst an die Sprachforscher gewandt, um ihnen zu zeigen, wie ihr Objekt ganz und gar psychologischer Natur ist, und wie darum alle Sprachtheorie von der Psychologie aus Licht empfangen muß, nicht aber von der Logik, bei der man es bisher vergeblich gesucht hat. Andererseits aber wollte ich die Psychologen darauf aufmerksam machen, daß ihnen in der Sprachphilosophie ein Problem geboten wird, welches zu ihren wichtigsten gezählt werden muß. Denn die Sprache durchzieht die ganze intellektuelle oder theoretische Entwicklung des Geistes, zugleich und aus gleichem Keim mit dieser selbst erwachsend, ihr weiter als notwendige Bedingung dienend, und sie für immer fördersam begleitend, oder vielmehr sich so innig mit ihr verschlingend, daß alle Entwicklungen des Geistes auch ihr, der Sprache, angeeignet, weil nur mit ihrer Hilfe gemacht, scheinen.

Diese Ansicht von der Sprache, die wohl zu allen Zeiten mehr oder weniger dunkel geahnt, zuerst aber von WILHELM von HUMBOLDT entschieden, klar und tief ausgesprochen wurde, bilde ich mir ein, in meinem genannten Buch zu einem bestimmten psychologischen Problem ausgebildet zu haben. Jetzt nun hat LAZARUS in seiner Monographie "Geist und Sprache" (im kürzlich erschienenen 2. Band seines "Leben der Seele" dieses Problem aufgenommen und ausführlich bearbeitet. Er hat meine Entwicklung in allem Wesentlichen bestätigt; aber eben nicht nur bestätigt, sondern weiter ausgeführt, tiefer begründet und regt überhaupt durch eine Vervielfältigung der Gesichtspunkte und eine Erweiterung des Kreises zu noch weiterem Forschen und Denken an.

Die Betrachtungen, zu denen er mich veranlaßt hat, und welche ich als Laie hier willig der Beurteilung der Männer vom Fach unterwerfe, bewegen sich um die drei psychologischen Kategorien:  Apperzeption, Vorstellung, Verdichtung des Denkens.  Mit der Ergründung dieser drei geistigen Prozesse wird auch die volle Einsicht in das Wesen und Wirken der Sprach eröffnet, wie sie auch überhaupt von weitgreifendster Wirksamkeit für das intellektuelle Leben sind. Sie begegnen uns darum nicht minder in den anderen Monographie des genannten Werkes; und so werden wir auch diese berücksichtigen, nur natürlich nicht nach dem in ihnen speziell behandelten Gegenstand, sondern nach dem allgemeinen psychologischen Gesetz, das in ihnen auf den besonderen Fall angewendet wird.


I.
Über Apperzeption

HERBART kommt auf die Apperzeption erst da zu sprechen, wo er zum inneren Sinn, zur inneren Wahrnehmung gelangt, nachdem schon vom Begriff, Urteil und Schluß die Rede gewesen ist, nachdem er schon die Kategorien KANTs und ARISTOTELES' behandelt hat und in die Nähe des Selbstbewußtseins, der Ichheit gerückt ist. Ebenso hat auch bei VOLKMANN die Apperzeption ihre Stellung da, wo schon längst vom Verhalten des Neuen zum Alten und wo sogar schon von der Vollkommenheit des Denkens die Rede gewesen ist; da, wo es sich um Selbstbeobachtung, absichtsvolle Aufmerksamkeit handelt.

Sieht man zunächst auf die Art, wie HERBART, besonders aber VOLKMANN die Darstellung der Verhältnisse der Apperzeption einleiten, so kann man meinen, sie solle eine verwickeltere Art der Verschmelzung sein, und ihr auszeichnendes Merkmal läge in "jenen weitläufigeren und mannigfacheren Verbindungen von Vorstellungen", in den "mehreren Vorstellungs massen."  Man zweifelt aber, ob diese Auffassung richtig ist, wenn man liest, daß als "einfachster Fall" der Apperzeption derjenige angeführt wird, "wo  a  (das zu Apperzipierende) eine eben gemachte Wahrnehmung ist und  z  (das Apperzipierende) der Inbegriff der Erfahrungen und Erinnerungen, welche die ganze Klasse dieser Wahrnehmungen zum Gegenstand haben" - ein Fall, der zwar beim Gebildeten sehr verwickelt sein  kann,  beim Tier, Kind und Ungebildeten aber sehr einfach verlaufen mag; findet also auch bei diesen schon Apperzeption statt? Wir lesen weiter: "Bei nur einigermaßen ausgebildeten Vorstellungsverhältnissen kommt die Apperzeption bei jeder einzelnen Wahrnehmung zur Perzeption hinzu"; und weiter: "Die Empfindung bekommt für uns erst durch ihre Apperzeption den Namen und die Bedeutung" - und wir sind noch wenig gebessert. Der Ausdruck "einigermaßen ausgebildet" ist zu wenig exakt. Nur so viel läßt sich daraus ersehen, daß Apperzeption nicht bei den ursprünglichsten, einfachsten Vorstellungsverhältnissen vorkommen kann. Aber welcher Grad der Verwicklung wäre dann wohl nötig, um aus der bloßen Verschmelzung eine Apperzeption zu machen? Und welche Wichtigkeit läge denn überhaupt in der Verwickeltheit des Prozesses?

Sehen wir nun auf die Stellung der Lehre von der Apperzeption, auf ihre Verbindung mit dem inneren Sinn: so möchten wir annehmen, Apperzeption werde von Verschmelzung so geschieden, daß bei dieser eine äußere Wahrnehmung mit einer Erinnerung verschmilzt, in jener aber Inneres mit Innerem. Doch auch so würden wir uns täuschen. Denn wir erfahren plötzlich, daß es nicht bloß eine Apperzeption des inneren Sinnes, sondern auch eine des äußeren Sinnes gibt, von der freilich noch gar nicht die Rede war. Die äußere Apperzeption kann sich aber von der inneren doch wohl nur so unterscheiden, wie wir soeben haben Verschmelzung und Apperzeption unterscheiden wollen. Nehmen wir nun den angegebenen Unterscheidungsgrund für äußere und innere Apperzeption in Anspruch, welcher bleibt für Apperzeption und Verschmelzung?

Doch sehen wir uns erst einmal diese nachträglich eingeführte Apperzeption des äußeren Sinnes etwas genauer an. Wir können uns doch nicht täuschen lassen vom Ausdruck "äußere Wahrnehmung" im Gegensatz zu "innerer Wahrnehmung". Wenn er einen Sinn haben soll, so kann er doch nur bedeuten: Wahrnehmung eines Äußeren; und von einem äußeren Sinn im Gegensatz zum inneren Sinn reden wir doch nur, insofern wir mit unseren fünf Sinnen bloß Äußeres, d. h. Körperliches, wahrnehmen. Die Wahrnehmung selbst aber, der Akt und das Produkt derselben, ist allemal und durchaus etwas Inneres. Also ist die Apperzeption allemal - auch die des äußeren Sinnes, der äußeren Wahrnehmung - Apperzeption eines Inneren, und es gibt nur innere Apperzeption. Wir stimmen also SCHILLING bei, wenn er sagt (Lehrbuch der Psychologie, Seite 98), daß "es nicht darauf ankommen kann, ob das zu Apperzipierende eben erst in der Wahrnehmung erzeugt ist; es wirkt ja dabei doch nur als Vorstellung im Bewußtsein."

SCHILLING hat demgemäß auch der Apperzeption eine andere Stellung gegeben, nämlich noch innerhalb "des niederen Geisteslebens", bei der Wölbung und Zuspitzung; nur kommt er natürlich später wiederholt auf sie zurück.

Indessen weicht SCHILLING von VOLKMANN doch nur in der äußeren Anordnung und der früheren Einführung des Namens  Apperzeption  ab, ohne darum den Bereich ihrer Wirksamkeit auszudehnen. Die Fälle, in denen sie SCHILLING erkennt, sind solche, wo sich "Unerwartetes in der Natur oder Gesellschaft ereignet" - Fälle, denke ich, welche doch wohl VOLKMANNs "einigermaßen ausgebildete Vorstellungsverhältnisse" voraussetzen.

Dagegen nun wird von LAZARUS (a. a. O. Bd. II, Seite 28f) mit voller Entschiedenheit die Apperzeption schon innerhalb der ursprünglichsten Seelenereignisse anerkannt, schon "der frühesten Kindheit" zugeeignet, und ich kann nur seiner Ansicht zustimmen. Er sagt: "daß in den einfachsten Prozessen einer Erkenntnis durch sinnliche Wahrnehmung noch mehrere geistige Elemente, Erscheinungen innerer Tätigkeit vorhanden sind"; und weiter: "Fast jede Perzeption wird von einer Apperzeption begleitet und ergänzt; d. h. jeder Auffassung von außen kommt eine Verbindung mit dem bereits Innern - und durch das neu Gegebene Reproduzierten - zuhilfe und dient zu ihrer Ergänzung." Diese Verbindung und Ergänzung ist eben die Apperzeption; sie ist "die Aufnahme einer von außen gegebenen Anschauung in die Reihe der bereits vorhandenen ähnlichen - und reproduzierten - Vorstellungen."

Nur in den Beispielen, welche LAZARUS hier anführt, scheint er mir nicht ganz glücklich gewesen zu sein. Allerdings beweisen auch die "geübten Roman- oder Zeitungsleser", "daß auch die einfachsten, scheinbar rein sinnlichen Vorstellungen schon durch  innere  Prozesse ausgebildet werden"; aber Übung im Lesen setzt allemal schon mehr als einfache Vorstellungsverhältnisse voraus, selbst beim Kind. Wir hören ferner aus einem gesprochenen Satz manchen Laut und manche Silbe nicht und denken sie dennoch, d. h. wir apperzipieren sie; aber dazu gehört eine geläufige Sprachkenntnis; in der fremden Sprache apperzipieren wir weniger als in der Muttersprache. Das Kind, das ein Viereck ein Bonbon und einen Kreis einen Teller nennt und d. h. als solchen apperzipiert, hat schon  Bild  und  Gegenstand  unterschieden. Die scheinbare Konvergenz zweier paralleler Linien gegen ihr entferntes Ende hin ist schließlich eine optische Täuschung, der wir uns nie durch Apperzeption entziehen; nur daß das Bewußtsein über diese notwendige Täuschung uns davor schützt, die Sache so zu nehmen, wie sie scheint, uns sogar lehrt, Entfernungen zu beurteilen, wobei allerdings Apperzeption wirkt.

Das letzte Beispiel zeigt aber, welchen Kreis von Tatsachen LAZARUS eigentlich meint. DROBISCH (Empirische Psychologie, § 45) bezeichnet sie treffend, indem er bemerkt, "daß Sehen usw. nicht bloßes Empfinden, sondern zugleich  Verstehen, Deuten  des Empfundenen ist", was nach LAZARUS heißt: "Wahrnehmen ist nicht bloßes Perzipieren, sondern zugleich Apperzipieren. Daß uns der Finger schmerzt, wissen wir nur durch Apperzeption; denn unmittelbar kund gibt sich nur das Schmerzgefühl; daß aber der Zustand des Fingers die Ursache desselben ist, liegt nicht ursprünglich im Bewußtsein. Jedoch auch DROBISCH spricht nur dort von einem Einfluß, welchen die Reproduktion auf die Wahrnehmung hat, und gedenkt erst später der Apperzeption, da nämlich, wo das "Verständnis des Wahrgenommenen", d. h. die Apperzeption, "nicht gleich zustande kommt", wo "wir uns in unruhiger Aufregung der Gedanken befinden" - also ähnlich wie SCHILLING.

Zugestanden aber, daß die Apperzeption in den letzteren Fällen merkbarer, auffallender, weil langsamer - kaum verwickelter - ist als in vielen anderen, ist sie darum in diesen weniger vorhanden? weniger klar und bestimmt nachweisbar?

Was also unterscheidet denn die Apperzeption von der Verschmelzung? Die vorangehende Hemmung? Aber sie geht jeder Verschmelzung entgegengesetzter Vorstellungen voran; diese geht nur vonstatten, insofern und nachdem jene befriedigt ist. Und überdies ist eine Hemmung für die Apperzeption gar nicht wesentlich; sie fehlt natürlich überall da, wo sich die Apperzeption durch eine Verschmelzung gleicher Vorstellungen ausführt. Die Hemmung vor der Verschmelzung ist aber auch eine Hemmung der Apperzeption selbst; und also ist sie ihr nicht nur unwesentlich, sondern feindlich entgegengesetzt. Am besten apperzipieren wir da, wo etwas ohne Hemmung in unser Bewußtsein eingeht, weil es Anklang, Beifall in uns findet, weil wir darauf vorbereitet sind, es erwarten, verstehen; d. h. da, wo das neu Wahrgenommene augenblicklich mit dem durch es Reproduzierten verschmiltzt - ohne Besinnen; und weil ohne Besinnen, darum unbeachtet. Nur das verdanken wir der Hemmung und dem dadurch bewirkten Besinnen, daß wir uns nun auch auf die Apperzeption besinnen. Das kann dem Psychologen erwünscht sein; aber das interessanteste Buch z. B. ist gerade das, bei dessen Lesung, wie HERBART bemerkt, "die hemmende Kraft völlig verschwunden ist"; und der beste Lehrer ist der, welche jeden Lehrsatz so vorbereitet, daß ihn der Schüler ohne Hemmung kapiert, wie man sagt, d. h. apperzipiert. Und warum apperzipiert das zerstreute Kind vom Vortrag des Lehrers nichts weiter als die eingestreute Anekdote? weil nur sie  ohne Hemmung  mit seinem Bewußtsein verschmilzt.

Können wir nun in der Hemmung einen der Apperzeption wesentlichen Umstand nicht erkennen, so können wir ihn noch weniger finden in der  "Umformung  der einen Vorstellungsmasse durch die andere", welche nach VOLKMANN der Verschmelzung beider vorangehen soll. Denn erstens beruth eben die Umformung auf der Hemmung, und ist also, wie diese, unwesentlich; zweitens aber wird sie nicht bloß durch die der Verschmelzung vorangehende Hemmung bewirkt, sondern auch, und ganz wesentlich, durch die Verschmelzung selbst, mit der die Apperzeption abschließt; drittens schließlich gehört überhaupt die Umformung, so wenig wie die Hemmung, notwendig zur Apperzeption. Wer die Tatsachen, indem er sie apperzipiert, umformt; oder wer die Maxime, indem er sie auf einen besonderen Fall anwendet, umformt: der apperzipiert eben schlecht, der verfälscht Tatsache und Maxime. Wenn die gehörte Rede umgeformt wird, so gibt das ein Mißverständnis.

Ist also die Apperzeption niemals eine äußere, sondern immer nur eine innere; ist sie aber dennoch ein ursprünglicher Prozeß - ursprünglich dem Wesen und der Zeit nach, indem sie bei den einfachsten Seelenereignissen des Gebildeten wie des Kindes mitwirkt; und ist sie endlich durch kein besonderes Merkmal von der Verschmelzung überhaupt zu unterscheiden: wird denn nun Apperzeption und Verschmelzung dasselbe sein?

So wenig, daß die Verschmelzung nicht weniger als die Hemmung und Umformung bei der Apperzeption weder wesentlich, noch notwendig ist, sondern ganz ausbleiben kann. Dann ist eben die Hemmung das Herrschende geblieben; die Apperzeption ist aber nicht minder erfolgt.

Die hierher gehörenden Fälle müssen wir ein wenig näher betrachten, da man bisher, so viel ich merken konnte, bei der Apperzeption alles Gewicht auf die endliche Verschmelzung legte, mit deren Ausbleiben eben die Apperzeption unterblieben ist.

Dem entgegen meinen wir, daß es eine Art der Apperzeption gibt, deren Wesen oder Inhalt und Zustandekommen auf der Hemmung beruth, auf dem behaupteten Gegensatz. Man überlege folgende Fälle. Es läuft oft eine lange Reihe von Vorstellungen in uns ab, so daß immer ein Glied das folgende reproduziert, wobei diese Reproduktion aber von der Reihe der identischen Wahrnehmungen begleitet wird. Die einzelnen sich entsprechenden Glieder beider Reihen verschmelzen dann miteinander und zwar so schnell, daß sie nicht apperzipiert werden. Plötzlich stockt bei einem Glied die Verschmelzun, eine Hemmung tritt ein: diese Vorstellung, die hemmende und die gehemmte wird apperzipiert; die Hemmung aber behauptet sich, und der Gegensatz der Vorstellungen wird selbst apperzipiert. So geht man z. B. durch eine bekannte Straße und sieht die bekannten Häuser, ohne eines davon zu apperzipieren. Die Reihe der Wahrnehmungen verschmilzt augenblicklich mit der Reihe der reproduzierten Vorstellungen, bevor sie beide zu Bewußtsein kommen konnten. Daher konnte während der ganzen Verschmelzung das Bewußtsein mit ganz anderen Vorstellungen erfüllt sein. Da stoßen wir auf ein niedergerissenes, neu gebautes, oder nur verändertes Haus; dieses wird apperzipiert, wenn wir nicht in Gedanken vertieft sind. - Oder wir gehen im Wald spazieren: kein einziger Baum wird von uns apperzipiert; wir sehen den Baum vor lauter Wald nicht. Aber irgendein Baum zeichnet sich aus; durch seine Art, indem alle Bäume um ihn herum anderer Art sind; durch seinen Wuchs, durch Verletzungen, weil er abgestorben ist: er wird apperzipiert, weil wir ihn nicht erwarteten. Das Ticktack der Uhr, während wir arbeiten, das Klappern der Mühle vom Müller, wird nicht apperzipiert; die gehörten Töne komplizieren sich vielleicht mit unserem Gedankenlauf, werden aber augenblicklich gehemmt und kommen darum nicht zu Bewußtsein; oder sie bilden eine Reihe für sich, die neben der Reihe unserer Gedanken abläuft, ohne sich mit ihr zu berühren. Sie hören plötzlich auf, und das wird apperzipiert - die unterbrochene Verschmelzung, die Hemmung. - Wir sehen einen Freund; wir apperzipieren die Gesamtvorstellung, die wir von ihm haben, aber nicht ein Glied von ihm, nicht sein Hand, nicht sein Auge usw. aber etwa die Wange, welche angeschwollen ist, das Haar, das er sic hat schneiden lassen. An der Wange, am Haar stockt die Verschmelzung. - Wir suchen ein bekanntes Ding unter vielen; "dieses ist es nicht, jenes auch nicht, aber dieses da." Das sind drei Apperzeptionen, von denen die beiden ersten auf Hemmung oder Negation beruhen. - "Wie schneidet ein Sprachschnitzer ins Ohr des Puristen! wie beleidigt ein Mißton den Musiker! oder ein Verstoß gegen die Höflichkeit den Weltmann!" (HERBART). Und warum? weil das Erwartete unterblieb; weil die Wahrnehmung mit dem Reproduzierten nicht verschmolz. - Man denke schließlich an Tadel, Spott, Reue und moralische Selbstkritik. Worauf beruth denn das Schmerzliche der Reue? doch nur darauf, "daß die Vorstellungen von dem, was geschehen ist, in sehr vielen Punkten verschmelzen müssen mit den Vorstellungen von dem, was hätte geschehen sollen; daß sie aber dieser  Verschmelzung nicht nachgeben können,  weil sie dabei aus ihren eigenen Komplikationen und Verschmelzungen herausgerissen werden. Der  Konflikt,  der hier entsteht, ist schmerzlich fühlbar" (HERBART). - Der Egoismus, der nichts Fremdes fördern mag, alles, was nicht ihm gehört, von sich weist; wie auch der Charakter, der die entwürdigende Zumutung des Unsittlichen von sich abweist, hat das ihm Fremde apperzipiert, als Fremdes, als etwas, womit er nicht verschmelzen kann.

Also: die Anerkennung von Veränderungen, die Negationen, das Abweichen und Verweigern usw. sind Apperzeptionen ohne Verschmelzung.

Aus den vorangehenden Tatsachen und Betrachtungen ergibt sich wohl, daß Apperzeption weder einen Elementarprozeß des psychischen Mechanismus, noch auch ein Vermögen der Seele bezeichnet. Was ist sie also?

Wir antworten:

Apperzeption  bezeichnet den Anteil der mächtigeren Vorstellungsmasse an der Schöpfung neuer Gedanken, Vorstellungen oder Urteile; wobei die Schöpfung eben darauf beruth, daß eine Vorstellung oder Vorstellungsreihe in eine Verhältnis zu einer mächtigeren Vorstellungsmasse tritt.

Diese Definition habe ich aus den vielen Bemerkungen über Apperzeption, welche LAZARUS durch seine Monographie hindurch gestreut hat, abstrahiert. Zunächst besonders anregend war mir die Bemerkung (Leben der Seele II, Seite 179), daß bei der Apperzeption eine Vorstellung "nicht bloß nach ihrem eigenen Inhalt, sondern zugleich  durch einen anderen Inhalt und nach der Verwandtschaft mit demselben  festgehalten" wird. Hierdurch aber erhält sowohl sie selbst erst ihren eigenen Inhalt, als auch jener andere Inhalt, durch welchen oder innerhalb dessen sie gedacht wird, erweitert und näher bestimmt wird. Denn, wie LAZARUS sogleich weiter an einem einfachen Beispiel klar dargelegt hat, beide Faktoren der Apperzeption werden in ihr umgeformt; sie werden, möchte ich sagen, nicht nur ineinander verschmolzen, sondern damit zugleich auch umgeschmolzen zu einem sowohl reicheren als auch höheren Dritten. Der gedachte Inhalt ist nicht mehr bloß das, was er enthält; denn durch ihn wird noch Anderes gedacht; dieses Andere aber ist auch nicht mehr was es war; denn es wird durch Anderes gedacht. Also ist hier auch nicht bloß eine Summierung beider Faktoren, sondern wirklich etwas Neues, in welchem beide enthalten sind.

Apperzeption ist also nicht ein müßiges Beobachten und Beobachtet-Werden einer Vorstellung oder Vorstellungsmasse durch die andere, sondern der eigentliche geistige Schöpfungsprozeß; nicht ein bloßes Sich-Beschauen, sondern ein Sich-Befruchten und Aus-Sich-Gebären. Diese Analogie wird man nicht zu weit verfolgen. Wir haben in der Apperzeption weder bloß einen auf irgendeinen Reiz erfolgenden mechanischen Prozeß, noch auch organische Assimilation oder Konzeption. Auch an die Entwicklung des Embryo zu denken scheint mir nicht sehr passen, wenn man auch schon in Rechnung brächte, daß der Geist Embry und Mutter zugleich ist.

Ich habe aber zu eben gegebenen Definition noch eine nähere Bestimmung hinzuzufügen. - Es mag hier dahin gestellt bleibebn, ob oder inwiefern LOTZE recht hat, wenn er verschiedene Grade der Intensität des Vorstellens und dadurch bewirkte verschiedene Grade der Helligkeit der Vorstellungen leugnet. Auch wenn man die bisherige Ansicht beibehält, sollte ich meinen, muß man den Begriff anerkennen, den LOTZE statt der geleugneten Kraft der Vorstellung einführen will, nämlich "Macht der Vorstellung". Diese Macht ist aber von der Klarheit, von der Bewußtheit überhaupt durchaus unabhängig; die mächtigsten Vorstellungen sind meist die dunkelsten, oft ganz unbewußt. Denn die Macht beruht auf dem Verhältnis der Vorstellung zu anderen Vorstellungen und zu Gefühlen und Trieben, mag dieses Verhältnis nun lediglich in psychologischen Verbindungen oder auch im logischen Wert und in den logischen Beziehungen der Vorstellungen liegen. Es wirkt aber als Macht, selbst unbewußt, sei es, daß dieses Bewußt nur augenblicklich oder auch überhaupt und gänzlich fehlt.

Vorstellungsmassen bilden sich, meine ich, durch eine gewisse Attraktions- oder Kristallisationskraft (1). Es kann nun entweder  ein Gedanke,  ein bestimmter Inhalt, sein, welcher diese Anziehungskraft ausübt und einen Mittelpunkt in einem weiten Kreis von Vorstellungen bildet, innerhalb dessen kleinere Kreise liegen können; oder es kann jene Kraft als ein über allen Vorstellungen einer Masse schwebendes organisierendes, bloß formales  Gesetz  gedacht werden. - Mit der Attraktionskraft aber ist schon auch eine Repulsionskraft gesetzt. Das Gesetz wirkt wir alle Gesetze unabhängig von der Bewußtheit. Ist aber ein Gedanke das Zentralisierende, so muß er natürlich irgendwann einmal bewußt gewesen sein, braucht es aber nicht gerade im Augenblick seiner Wirksamkeit zu sein.

Das Gesetz ist das Mächtigere als die davon beherrschten, nach seiner Forderung sich gruppierenden Vorstellungen; auch der zentralisierende Gedanke ist mächtiger als alles, was in seinem Kreis liegt, den er beherrscht; und je vielseitiger eine Vorstellung mit anderen verbunden ist und je inniger das Attraktionsverhältnis ist, mittels dessen sie herrscht, umso mächtiger ist sie.

Je mächtiger aber die herrschende Vorstellung ist durch die Weite ihres Kreises oder die Festigkeit der Anziehung, oder je mehr das organisierende Gesetz innerhalb der Masse verwirklicht ist: umso entschiedener, schneller und fester erfolgt die Apperzeption, sie sie nun attrahierend oder repellierend, positiv oder negativ. Näheres hierüber geben die Bemerkungen von LAZARUS über die Bildung der Weltanschauungen (Leben der Seele I, Seite 221), über gebildete Sittlichkeit (Leben der Seele I, Seite 84), aus denen hervorgeht, daß diejenige Masse am mächtigsten ist und darum am besten apperzipiert, welche die meisten Vorstellungen umfaßt, und zumal auch oft wiederholte Vorstellungen, und welche am feinsten und gesetzmäßigsten gegliedert ist. Bildung gewährt diese Bedingungen zur Stärkung der apperzipierenden Massen und erhöht also die Apperzeptionsfähigkeit (LAZARUS, a. a. O., Bd. 1, Seite 50); wie dann auch einseitige Bildung einseitige Apperzeption erzeugt. Diese Einseitigkeit hat LAZARUS schön hervorgehoben bei der Besprechung der materialistischen Weltanschauung: er hätte eben darum auch nicht unterlassen sollen, die bedeutende Hilfe hervorzuheben, welche die Bildung der Sittlichkeit gewährt, und welche es rechtfertigt, wenn vom Gebildeten eine höhere, strengere Sittlichkeit erwartet wird. Denn die Bildung muß sich notwendig auch über die Vorstellungen von den sittlichen Verhältnissen und Forderungen erstrecken. Dadurch aber erhält diese Vorstellungsmasse eine viel größere Macht, eine größere Herrschaft über Affekte und Begierden, als sie beim rohen Menschen haben kann, wo diese Masse "im eigentlichsten Vestand nur  bloße  Masse, bloße Anhäufung ohne innerliche Ausbildung und Anordnung" (HERBART) ist.

Ist hiermit im Allgemeinen wenigstens bezeichnet, welhe Vorstellung oder Vorstellungsmasse die mächtigere ist, so bleibt noch, um die obige Definition schärfer zu bestimmen, dies übrig, daß wir die Verhältnisse näher betrachten, in welche die apperzipierte Masse zur apperzipierenden treten kann; oder es sind die Verhältnisse anzugeben, in denen zwei Vorstellungen zueinander stehen können, wenn eine Apperzeption der einen durch die andere möglich sein soll. Hierbei ist ausdrücklich daran zu erinnern, daß der psychologische Prozeß der Apperzeption auch und häufig von logischen Verhältnissen bedingt wird, d. h. vom Inhalt der Vorstellung selbst; und wenn nun logisch falsch apperzipiert wird, d. h. wenn die Apperzeption zwischen zwei Vorstellungen ein Verhältnis setzt, welches dem logischen Verhältnis zwischen ihnen widerspricht: so ist hiermit ein Fehler begangen, den der Logiker erkennt, aber nicht das apperzipierende Subjekt, welches vielmehr das von ihm in der Apperzeption gesetzte Verhältnis zugleich für das logische hält. Für den Apperzipierenden fallen das psychologisch gesetzte und das logisch-reale Verhältnis zusammen; für ihn als solchen gibt es keinen Irrtum und nichts Falsches. Nur die abermals apperzipierte Apperzeption kann durch diesen neuen Akt als falsch erklärt werden. Wenn z. B. ein Begriff vom anderen als von einem höheren, abstrakteren, allgemeineren apperzipiert wird, so könnte zwar die Logik zwischen diesen Begriffen ein ganz anderes Verhältnis anzunehmen gebieten und jene Apperzeption für falsch erklären; die Apperzeption wäre aber darum nicht minder in Übereinstimmung mit dem psychologischen Gesetz, daß das Allgemeine das Besondere apperzipiert; denn für den Apperzipierenden lag dieses Verhältnis vor, wenn auch nicht für die Logik, oder er hat dieses Verhältnis gesetzt, wenn auch unlogisch. Ebenso kann auch die Apperzeption des Besonderen durch das Allgemeine unterbleiben, weil eben dieses Verhältnis nicht erkannt worden ist, auch nicht einmal unbewußt. Die Apperzeption also als psychologischer Prozeß geschieht immer gesetzmäßig, wie alles in der Welt nach den mechanischen Gesetzen vor sich geht. Darum können die Apperzeptionsverhältnisse nach den logischen Verhältnissen näher bestimmt werden, ohne daß damit behauptet wird, daß letztere wirklich zwischen den betreffenden Begriffen obwalten.

Die Verhältnisse der Apperzeption näher bestimmen heißt:  die Kategorien der Apperzeption  angeben. Hierzu hat meines Wissens bis jetzt HERBART allein den Versuch gemacht. Er stellt (Psychologie II, Seite 251; Gesammelte Werke, Bd. VI, Seite 223) eine Tafel der Kategorien, welche die kantischen und aristotelischen ersetzen sollen und welche "die allgemeinsten Klassen der Begriffe von Gegenständen, die in der  äußeren  Anschauung können gegeben werden", bezeichnen (Psychologie II, Seite 197; Werke IV, Seite 178). Denn er meint (Psychologie II, Seite 251; Werke VI, Seite 223): "Sollen die allgemeinesten Begriffe, die zur Apperzeption dienen, Kategorien heißen - und das sind offenbar im Hinblick auf die Außendinge die gewöhnlich so genannten Kategorien - so wird es deren ebensowohl für die inneren Erlebnisse wie für die Außenwelt geben." Gewiß; nur ob es andere sein werden, wie HERBART als selbstverständlich voraussetzt, ist die Frage. Gerade ebenso selbstverständlich schien es KANT und ARISTOTELES, daß die von ihnen aufgestellten Kategorien für die inneren wie für die äußeren Ereignisse gelten und ausreichen müßten.

HERBART hat sich mit seinen "Kategorien der inneren Apperzeption" gar wunderlich verirrt. Fallen denn die inneren Ereignisse weniger als die äußeren unter die Kategorien der Qualität und Quantität; Ähnlichkeit und Gleichheit; Besitz, Wirken und Leiden; Gegensatz, Veränderung und Unmöglichkeit; ja selbst Ort und Lage? Welch ein Bedürfnis also nach besonderen Kategorien für die Betrachtung der Innenwelt? - Ich fühle vollständig die Unangemessenheit, solche Fragen an den Gründer der  Statik  und  Mechanik der Seele  zu richten. Ich will also nur sagen: was auch die Betrachtung der Seele und der geistigen Tätigkeiten an Erkenntnissen produzieren mag, welche Begriffe sie schaffen mag, sie fallen unter jene allgemeinen Kategorien KANTs und können höchstens die Prädikabilien vervollständigen. Empfinden, Wissen, Wollen, Verschmelzen, Reproduzieren usw. werden sich bequem den Kategorien der Kausalität, Gemeinschaft und Modalität unterordnen lassen. HERBART bemerkt selbst, daß sämtliche Kategorien der inneren Apperzeption unter den Begriff des Geschehens fallen. Nun denn, so werden sie auch alle mit diesem Begriff, der sich allerdings auch auf Äußeres bezieht, unter dieselbe Kategorie zu stellen sein, etwa unter Veränderung oder Wirken und Leiden.

Der erste Fehler, den HERBART hier begangen hat, ist also der, on dem auch schon die Rede war, daß er eine innere und äußere Apperzeption unterscheidet, während doch alle Apperzeption nur eine innere ist. Die gewöhnlich sogenannten Kategorien sind eben gerade Kategorien der immer nur inneren Apperzeption, "reine Verstandesbegriffe"; und andere als solche kann es gar nicht geben.

Der zweite Fehler HERBARTs aber ist der, daß er übersehen hat, wie der Genitiv im Ausdruck der Kateogien der inneren Apperzeption doppelsinnig ist; denn er bedeutet ebensowohl Kategorien, unter denen die innere Apperzeption begreift, als auch solche, unter denen sie begriffen wird; Kategorien, welche sie schafft und solche, unter denen sie geschaffen wird. HERBART versteht unter Kategorien der inneren Apperzeption diejenigen, unter denen sie begreift, welche sie schafft. Diese sind aber, wenn man die Apperzeption nur als innere auffaßt, eben die gewöhnlichen Kategorien; und wenn man mit HERBART innere und äußere Apperzeption unterscheidet und unter jener die Apperzeption des inneren Geschehens versteht, so sind ihre Kategorien sämtliche in der Psychologie zur Anwendung gebrachte Kategorien, wie Verschmelzung, Komplizierung, Evolution und Involution, Vernunft und Verstand usw. Und sieht nicht HERBARTs Kategorientafel der inneren Apperzeption vollständig aus wie eine schematische Übersicht der Seelenvermögen?

Beide Fehler liegen klar zutage, wenn HERBART (a. a. O.) den Ausdruck "Kategorien der inneren Apperzeption" erklärt durch "Hauptbestimmungen des inneren Geschehens". Diese wären ja nichts anderes als die Kategorien der Psychologie; und die Apperzeption, innere und äußere, ist selbst nur  eine  der Hauptbestimmungen des inneren Geschehens.

Nach dem Gesagten scheint es mir leicht, HERBARTs Fehler im Allgemeinen zu berichtigen.

Unter den inneren Ereignissen ist die Apperzeption eines davon. Sie ist ein Tun, oder wenn man will, ein Geschehen, welches zwar einen im Allgemeinen für jeden einzelnen Fall sich gleichbleibenden Charakter behält, aber doch im Besinderen verschiedene Bahnen einschlägt, sich in verschiedener Weise vollführt und demgemäß zu einem verschiedenen Ergebnis gelangt, je nach den Bedingungen, welche obwalten. Diese Verschiedenheiten liefern die Kategorien der Apperzeption.

Die Untersuchung derselben läuft also auf die Frage hinaus: wie vielfältig gestaltet sich das Verhältnis zwischen der mächtigeren und der schwächeren Vorstellung je nach der Natur und Wirksamkeit beider, was sich alles in einfacher Gestalt kund gibt im Erzeugnis der Apperzeption. Daher wäre eine Übersicht dieser Erzeugnisse eine Übersicht der Kategorien der Apperzeption, und, wäre sie vollständig, eine vollständige Darlegung des Wesens und Wirkens der Apperzeption.

Dies ist die Aufgabe: so weit scheint mir die Sache klar und leicht. Die Ausführung dieser Aufgabe aber übersteigt meine Kräfte bei weitem, und ich muß sie tüchtigeren und in psychologischen Forschungen geübteren Männern überlassen. Nur einige Andeutungen, die vielleicht förderlich sein könnten, seien mir gestattet.

Es scheinen mir drei Hauptpunkte in Betracht zu kommen: erstens die identifizierende Kraft, abhängig von seiner logischen Enge oder Weite; drittens seine rein und im eigentlichen Sinne schöpferische Kraft. Bei ersten und zweiten Punkt kommt dann noch die ponierende oder negierende, attrahierende oder repellierende Wirksamkeit der Apperzeption in Betracht; und in allen drei Fällen käme der Unterschied der theoretischen und praktischen Tätigkeit, des Wissens und Wollens hinzu. Man kann ferner noch unterscheiden je nachdem das Apperzipierende bewußt oder unbewußt, und das Apperzipierte eine sinnliche Empfindung (ein Empfindungskomplex) oder eine bloße Vorstellung (Vorstellungsmasse) ohne sinnliche Gegenwart ist. Diese Unterschiede beruhen auf der allgemeinen Bestimmung der Seelentätigkeit und sind zwar nicht ohne Einfluß auf die Apperzeption, ohne sie jedoch wesentlich zu berühren.

Die einfachste Apperzeption findet statt, wenn ihre beiden Faktoren an Inhalt gleich und nur in ihrer psychologischen Existenz verschieden sind: dies kommt vor beim Wiedererkennen, welches sich in einem Identitätsurteil ausspricht: "dieses jetzt Angeschaute, die gegenwärtige Erscheinung ist eine solche, wie die frühere war" (LAZARUS II, Seite 103 und 178).

Sogleich beim einfachsten Fall also stoßen wir auf die Form des Urteils. Und in der Tat, hätte HERBART das Wesen der Apperzeption als des notwendigen Grundprozesss in allem Denken erkannt, ich begriffe nicht, wie er das Urteil für eine dem Denken von der Sprache aufgedrungene Form erklären konnte, statt in ihm einer der Sprache von der Apperzeption, d. h. vom Denken, unumgänglich vorgeschriebene Form zu sehen. Alles Denken bewegt sich in Apperzeptionen, d. h. in einer Beziehung zweier Faktoren zueinander, welche sich als Subjekt und Prädikat darstellen. Das Urteil, der Satz, stellen nicht eine Verschmelzung oder eine Komplexion dar, sondern eine Apperzeption, und d. h. vielmehr eine Auflösung (Analyse) einer Verschmelzung und Komplexion. Das Subjekt ist das Zu-Apperzipierende, das Prädikat das Apperzipierende. Die ursprünglichen Identitätsurteile, Ausdrücke der Wiedererkennung, sprechen sich in  einem  Wort aus, in einem Ausruf: "der Vater!" ruft das Kind, "das Land!" der Schiffer; und in solchen Sätzen schuf der Urmensch die Wörter. Nichts anderes ist es, wenn das Kind ruft "mich hungert" oder "Hunger"; und nur wenig verschieden, wenn es sagt "Brot! trinken"; dann nämlich wird nicht das Gefühl des Hungers oder Durstes, sondern sogleich der Trieb nach dem Ding, welches jene unangenehmen Gefühle zu heben vermag, apperzipiert. Diese Rufe sind wesentlich Prädikate (oder Objekte), die apperzipierende Vorstellung bezeichnend; das Apperzipierte, das Subjekt, ist ein Komplex von Empfindungen, der verschwiegen bleibt, weil er noch gar nicht apperzipiert, nicht gedeutet ist, sondern erst im Wort, im Prädikat eine Bedeutung erhält. In der entwickelten Sprache wird das Subjekt ersetzt durch ein Demonstrativum:  das  ist ... Dieses Demonstrativum wird aber nicht lange haben auf sich warten lassen. Das Unbekannt, welches wahrgenommen wird, beunruhigt das Gemüt; man sehnt sich es zu apperzipieren, zu deuten. So werden schnell nacheinander Vorstellungsmassen reproduziert, welche apperzipieren sollen, ohne es zu tun. In einer solchen Verlegenheit wendet man sich an den Begleiter und sucht Hilfe bei ihm. Er soll aufmerksam gemacht werden, und das geschieht durch ein hervorbrechendes  "Da!" 

Wir sehen das Wesen dieser einfachsten Apperzeption darin, daß etwas zunächst Unbekanntes, ein noch ungedeuteter Empfindungskomplex als identisch gesetzt wird mit einer älteren Anschauung. Dies widerspricht durchaus nicht der oben angeführten Bemerkung von LAZARUS, daß das Wesen der Apperzeption gerade darin liegt, daß etwas nicht bloß nach seinem eigenen Inhalt, sondern zugleich durch einen anderen Inhalt gedacht wird. Dies geschieht auch hier; denn der Empfindungskomplex wird in dieser Apperzeption nicht bloß seinem Inhalt, sondern auch durch den reicheren, deutlicheren, bedeutenderen - weil mit anderen Vorstellungen und mit Gefühlen verbundenen - Inhalt der älteren Vorstellung gedacht. Wir haben also hier die Setzung einer Identität Verschiedener. Hier ist auch noch keine Subsumtion eines Besonderen unter ein Allgemeines, sondern die Identifikation zweier Besonderer, und weil Identifikation, darum auch nur  ein  Wort. Dieses, wie gesagt, ist Prädikat; und so ließe sich sagen, alle Wörter seien ursprünglich Prädikate, seien als solche geschaffen. In demselben Sinne aber ist alles Sprechen und Denken Prädikat, Deutung, Apperzeption der Realität, und unmittelbar bloß unserer Empfindungen.

Überhaupt tut man besser, von Prädikat so lange nicht zu reden, als man nicht auch ein Subjekt daneben hat; denn Subjekt und Prädikat sind relative Begriffe. Sie entstehen erst, wenn nicht mehr bloß identifiziert, sondern zugleich unterschieden, Gleiches und Ungleiches gesondert wird; dann entsteht auch Allgemeines und Besonderes; jenes wird Subjekt, dieses Prädikat, allerdings dem logischen Verhältnis entgegengesetzt (a. a. O. Seite 182, 183).

Es sind aber gerade schon jene ersten Identitätsurteile, welche die Verallgemeinerung der Anschauung bewirken. Denn sie setzen nur das an der gegenwärtigen und reproduzierten Anschauung Gleiche als gleich, und nur dieses Gleiche als das Wesentliche, als die Sache (a. a. O. Seite 179f). Und so zeigt sich gleich hier die schöpferische Kraft der Apperzeption, nach deren Vollziehung ein Drittes da ist, welches weder nur das Apperzipierte, noch das Apperzipierende ist. Dieser Unterschied wird aber von neuem apperzipiert, und das entwickelte Urteil entsteht, wo jenes allgemeinere Dritte zum Subjekt und die Besonderheiten des Apperzipierten zu Prädikaten werden. Die Sache dreht sich aber auch um. Das Grüne dort ist nicht was du schon kennst und wofür du es zuerst nahmst, sondern etwas anderes. So wird auch das Prädikat allgemein. Bemüht zu zeigen, wie die Anschauungen immer allgemeiner werden, hat LAZARUS doch auch hervorgehoben, wie in dem scheinbar den Inhalt der Anschauung verflüchtigenden Streben nach Allgemeinheit zugleich auch ein Streben nach Auffassung und Bezeichnung des Besonderen liegt, und wie das Besondere gerade nur dann bestimmt erfaßt wird, wenn esa ls ein Allgemeines im Wort apperzipiert ist (Seite 184). Nun meine ich aber, daß auch im entwickelten Satz mit Subjekt und Prädikat der Erfolg der Apperzeption doch wieder eine Identität ist, eine gleiche logische Weite oder Enge beider. Wer im Frühling bemerkt, "die Bäume blühen", apperzipiert die Bäume nur als blühende, und das Blühen nur als das der Bäume. Es findet sich hier ein Ineinander der zwei Apperzeptionen statt und so eine höhere Identität Verschiedener als im vorigen Fall. Das Verschiedene bleibt unbeachtet, und darum sind Subjekt und Prädikat gleich eng oder weit, keins allgemeiner oder besonderer als das andere. Jedes ist ja auch eine Apperzeption derselben Anschauung, der blühenden Bäume, apperzipiert als identisch mit seinem Allgemeinen; sie werden dann beide als miteinander identisch, dadurch aber gerade jedes als von seinem Allgemeinen Besonderes apperzipiert. Weil Subjekti und Prädikat in der Apperzeption als identisch und gleich weit gesetzt werden, darum sind sie relativ und können ihre Stelle gegenseitig umtauschen: diese Bäume blühen, diese Blühenden sind Bäume.

Auf Identifizierungen laufen auch die Apperzeptionen hinaus, welche beim Finden eines Gesuchten vorkommen, beim Anerkennen und Glauben. Verwickelter sind die Fälle des Einsehens und Begreifens, Beweisens, Schließens. Hier kommt es darauf an, das Vorliegende anzusehen als ein Einzelnes, dessen Allgemeines man schon besitzt, d. h. zu subsumieren; oder als ein Allgemeines, dessen Einzelnes man schon hat. Hierher gehört auch das Billigen und das noch verwickeltere Vergleichen, Erwägen, Wählen, Vorziehen, Wollen, Ordnen.

Subsumtion erschöpft aber das Wesen der Apperzeption nicht. Es handelt sich vielmehr allgemeiner um die Verträglichkeit und Übereinstimmung des zu Apperzipierenden mit den alten Vorstellungen, von welcher Übereinstimmung die mögliche Subsumtion nur ein besonderer Fall ist. Ich kann den Tod einer geliebten Person, obwohl ich die Nachricht sehr wohl verstanden, also apperzipiert habe, dennoch nicht glauben, d. h. nicht apperzipieren, weil mein ganzes Gemüt noch voll ist von Gedanken, Entschlüssen, Gefühlen, welche das Leben jener Person voraussetzen.

Hiermit kommen wir auf die interessanteren verwickeltsten Fälle, wo die Apperzeption in höherem Grad ihresteils schöpferische, teils umgestaltende Kraft offenbart. Dies kann gelegentlich schon da vorkommen, wo es sich nur um die Deutung der sinnlichen Empfindungen handelt LAZARUS (a. a. O. II, Seite 33f) erinnert uns hier an DON QUICHOTTE, der die Windmühlen als Riesen, die Schafherde als Kriegsheer apperzipiert; an den Furchtsamen, der des Nachts im Baumstumpf ein Gespenst, einen Räuber sieht; an Halluzinationen und Wahnsinn (II, Seite 236), - Fälle, wo die Empfindungen, das sinnlich Gegebene, nur das geringste Material zu den Vorstellungen liefert, welche die Apperzeption erzeugt. Auch der Zimmermann, der in der Eiche nur das Bauholz; der Lohgerber, der an derselben nur die Borke; der Maler, der nur ihre Form sieht, d. h. apperzipiert, gehören hierher; sie sehen in demselben Anblick ganz Verschiedenes, d. h. sie erzeugen Verschiedenes durch verschieden Apperzeptionen. - Alle Bilder, Vergleiche, Metaphern beruhen auf einen  tertium comparationis  [ein Drittes im Vergleich - wp], welches ein Erzeugnis einer Apperzeption ist. "Fest wie die Eichen, treu wie Gold, die Morgenstund hat Gold im Mund", beruhen auf eigentümlichen Apperzeptionen der Eiche, des Goldes. In dem, was oder wie es apperzipiert ist, liegt der ganze Inhalt des Gedankens (LAZARUS II, Seite 236 - 238).

Das Erraten, Vermuten, Ahnen schließt sich hier an. Es sind Vorstellungen gegeben, zu denen andere von innen her zugefüft werden, um das Gegebene, das zusammenhangslos, widerspruchsvoll, unverständlich erschien, in sich zusammenhängend zu machen. Durch die verbindenden, ausgleichenden Vorstellungen werden die gegebenen, richtig oder falsch, apperzipiert. So am entschiedensten beim eigentlichen Rätsel, wo die zu findende auflösende Vorstellung in eine Masse von Urteilen Licht und Zusammenhang bringt, sie apperzipiert.

Hierauf beruth ferner einerseits das Sprechenlernen der Kinder, andererseits aber auch das Denkenlernen durch Sprache, das Verständnis neuer Ideen, welche doch immer mit alten Wörtern bezeichnet werden, und überhaupt die Anregung, welche die Sprache, ihr Schatz an Wörtern, etymologischen Formen und syntaktischen Verbindungsweisen, der Entwicklung der Gedanken gewährt, wie auch wieder umgekehrt die Erweiterung und Vertiefung der Bedeutung der Wörter und Formen durch Forschritte des Geistes. Das Kind z. B. hat vor allen Dingen das Sprechen überhaupt zu apperzipieren, d. h. zu merken, daß Sprechen eine Darstellung des Inneren ist. Weiß es dies, so liefert ihm jedes vernommene Wort einen Reiz, es zu verstehen, d. h. eine Vorstellung zu bilden, welche in das Gehörte Sinn bringt, d. h. welche das Wort zu apperzipieren vermag. Diesen Punkt hat LAZARUS ausführlich und vortrefflich erörtert im dritten Abschnitt der Abhandlung "Geist und Sprache". Er bemerkt sehr schön: "Das gehörte Wort ist gleichsam ein Samenkorn, in die Seele gelegt; die innere Triebkraft der Seele aber durchdringt und befruchtet es mit geistiger Nahrung, so daß es selbst zu geistigem Leben erwacht und emporwächst", indem eben die bezügliche Vorstellung erwacht, welche das Wort apperzipiert. "Das Wort leistet Hebammendienste bei der Geburt des Gedankens."

Von noch feinerem, geistigerem Wesen als in den eben genannten Fällen, wenn auch weniger schöpferisch als vielmehr umgestaltend, zeigt sich die Apperzeption bei der Bildung von subjektiven Vorstellungen, welche nicht unmittelbar aus sinnlichen Anschauungen hervorgehen. Hier sollen geistigere Anschauungen von ästhetischen und ethischen Verhältnissen und durch sie erzeugte Gefühle zu Vorstellungen umgewandelt, und d. h. eben durch das Wort apperzipiert werden. Der Abschnitt, in welchem LAZARUS diesen Punkt erörtert (II, Seite 195 - 218), scheint mir die glänzendste Stelle der beiden Bände. Nur verwiesen soll hierauf werden, da ich hier weder ausschreiben mag, noch hinzufügen kann.

An die oben erwähnte Apperzeption der Vergleichung schließt sich die freiere Analogie, worunter ich alles Schaffen nach einem Modell verstehe, nach einem im Voraus festgesetzten Schema, das, zunächst abstrakt und leer, ausgeführt werden soll. HERBART würde schwerlich eine Kategorientafel, und zwar eine solchergestalt viergliedrige, produziert haben, hätte ihm nicht die kantische vorgeschwebt; und er hätte noch weniger eine solche Kategorientafel der inneren Apperzeption aufgestellt, wenn nicht im Parallelismus mit der der äußeren; d. h. HERBART hat die Übersicht der Kategorien durch die kantische Tafel apperzipiert. Zumal aber HEGEL und seine Schule und sämtliche schematisierenden Philosophen hätten tausend Dinge nicht gesagt oder nicht so gesagt ohne ihre Schemata; d. h. sie hätten anders apperzipiert. - Es ist hier auch zu erinnern an die wunderbare Macht der Analogie in der grammatischen Gestaltung der Sprache, wo sie zum herrschenden und schaffenden Gesetz wird. Nicht nur die Wörter, z. B.  Fischer, Fleischer, Vogler  usw. sind einander analog gebildet; sondern die Begriffe sind selbst erst durch die Analogie geschaffen, apperzipiert, wiewohl hier die apperzipierende Analogie unbewußt geblieben ist.

Ebenso unbewußt wirkt die Apperzeption im Takt. "Wenn auch die kaum" - gar nicht, würde ich sagen - "ins Bewußtsein gekommenen Vorstellungen ebenso auf das Urteil und den Entschluß des Menschen wirken", d. h. ebenso apperzipieren, "wie die klaren und bewußten Vorstellungen, dann hat er Takt" (a. a. O. Seite 286).

Hieran schließt sich aber überhaupt die Fähigkeit, unserem Gedankenfluß die Richtung anzuweisen, sei es durch einen bestimmten Rhythmus der Bewegung; sei es durch ein vorgestecktes Ziel, wo angelangt werden soll; sei es durch Maximen, Grundsätze, Rücksichten, Lieblingsideen usw. Von all dem hängen Reproduktion, Kombination und Scheidung, Wert und Macht und Wirksamkeit der Vorstellungen ab, also unser ganzes Denken (2). Hierauf, d. h. auf den apperzipierenden Massen beruth der einheitliche Geist der philosophischen Schulen, der religiösen und politischen Gemeinschaften aller Art, des Jahrhunderts usw.

Das Temperament und die Stimmung kommen hier in hohem Grad in Betracht; sie sind bedeutende apperzipierende Mächte. Welchen Befürchtungen geben wir uns heute hin, welchen Hoffnungen morgen! und doch stehen die Sachen heute und morgen gleich; wir apperzipieren sie nur anders. - So spricht die Musik zu uns, indem sie uns in Stimmungen versetzt, welche uns auf bestimmte Bahnen der Apperzeption führt (II, Seite 319).

Kommen wir schließlich auf die Sprache. Wir haben schon bemerkt, daß ihre Entstehung, ihre Erlernung, ihre Weiterbildung auf Apperzeption beruth. Sie ist aber ihrem eigensten Wesen, ihrem Ursprung und ihrem Zweck nach, und ganz ausschließlich nichts anderes als ein apperzipierendes Mittel, ein Mittel, das zwischen dem Einzelnen und dem allgemeinen Reich der Erkenntnisse und der Ideen steht, wodurch sich jener des letzteren bemächtigt, d. h. wodurch er sich sowohl die schon gewonnene Erkenntnis aneignet, als auch neue erzeugt.

Schließen wir uns einstweilen der gewöhnlichen Ansicht an, so hat die Sprache zwei Seiten, eine lautliche und eine innere, begriffliche. Letztere aber gehört doch genau genommen nicht zur Sprache, sondern dem Reich des Gedankens und der Begriffe; der Sprache bleibt eigentümlich nur die lautliche Seite; d. h. sie ist ein System der Bezeichnung der Begriffe und Gedanken durch Laute. Dann wäre die Sprache in großartiges mnemotechnisches Mittel. Das wegen seiner Unbestimmtheit, seiner Feinheit, seiner Kompliziertheit schwer zu Reproduzierende (die Bedeutung) würde an ein leicht zu Reproduzierendes (den Laut) geknüpft und dadurch mittelbar reproduziert; die Bedeutung wird im Laut, dem Zeichen, apperzipiert.

Diese Ansicht ist nicht entschieden falsch; aber sie erschöpft keineswegs die vorliegende Tatsache; denn sie übersieht ein drittes Moment der Sprache, welches zwischen dem Laut und der Begriff steht: die innere Sprachform. Der Laut ist ein Apperzeptionsmittel; aber die Sprache hat außer ihm noch andere, gedankliche und begriffliche Mittel, um die Anschauungen, Begriffe und Ideen zu apperzipieren. Das Ganze dieser geistigen Mittel der Sprache ist ihre  innere Form,  im Gegensatz zur Lautform. Die Bedeutung nämlich der Wörter und Wortformen ist streng genommen durchaus verschieden von den Begriffen und den Erkenntnissen der Realität, gehört zur Sprache selbst und ist neben dem Laut Apperzeptionsmittel.

Es drängt sich uns also hier ganz entschieden ein Begriff auf, den wir bisher noch nicht betrachtet haben. Wir fanden früher nur ein Apperzipierendes und ein Apperzipiertes, auch noch ein Drittes, das Ergebnis des Prozesses, die Einheit jener beiden. Jetzt aber bietet sich innerhalb des Prozesses selbst noch ein Drittes dar, ein  Mittel  der Apperzeption,  durch  welches das eine das andere apperzipiert. Dies veranlaßt uns, die schon betrachteten Fälle der Apperzeption nochmals anzusehen, ob wir auch in ihnen ein solches Mittel zu erkennen gezwungen sind. Und nun scheint mir, es sei so. Denken wir an einen einfachen Fall, an das Wiedererkennen. Die Totalvorstellung ist hier das apperzipierende Mittel; die Gesamtheit der durch frühere Wahrnehmungen der Person oder des Dings erlangten Erkenntnisse ist die apperzipierende Masse, die gegenwärtige Wahrnehmung die apperzipierte. Durch die Totalvorstellung, welche das allen Wahrnehmungen Gleiche umfaßt, wir die neue Wahrnehmung mit den alten vereinigt. Der Inhalt der Totalvorstellung aber wird durch das Wort bezeichnet. - Wenn DON QUICHOTTE in den Mühlen Riesen sieht, so ist die Vorstellung der Riesen das Mittel der Apperzeption; die eigentlich apperzipierende Masse aber ist die Gesamtheit seiner Vorstellungen vom wandernden Rittertum. - Jedes  tertium comparationis  ist ein Mittel der Apperzeption; das Verglichene das Apperzipierte; das, womit verglichen wird, - das Apperzipierende; nur daß das Verglichene und das, womit verglichen wird, oft nur relativ zu bestimmen ist. Ebenso ist das auflösende Wort des Rätsels ein Mittel zur Apperzeption, welche selbst aber von den verschiedensten Massen vollzogen wird. - Wenn nach einer Analogie, nach einem Muster produziert wird, so ist diese Analogie bloßes Mittel. - Die Maximen und allgemeinen Sätze apperzipieren unmittelbarer; d. h. das Mittel entzieht sich leicht dem Bewußtsein. Es findet aber doch hier eine Vergleichung des Allgemeinen und Einzelnen statt;  der  Teil des Einzelnen, der dem Allgemeinen gleich ist, bildet das Mittel der Apperzeption. - Wenn aber allgemeine Ideen und Gesetze eine Umgestaltung von Vorstellungsmassen fordern und bewirken - wenn z. B. die Gottesidee die auf Sittlichkeit bezogene Vorstellungsmasse gestaltet, um sie sich entsprechend zu machen - so wirken sie als Mittel oder auch als  Zwecke  der Apperzeption.

In einem solchen Sinn ist die Sprache ein Apperzeptionsmittel, und zwar das universelle, womit der Denker seine Gedanken apperzipiert, d. h. schafft, und auch der Hörer sie apperzipiert, d. h. versteht. Geistreich spricht LAZARUS (II, Seite 113f) vom  Schweigen  als einem bedeutenden Trieb zum Selbstbewußtsein. - Verstehen und Sprechen sind im strengsten Sinn relative Begriffe. Das eigentlich Wesentliche und Schöpferische im Sprechen ist Verstehen. Der Urmensch hat gewiß nicht seinen eigenen Laut, sondern den vom Andern gehörten zum Wort gemacht, indem er in diesem Laut sich selbst und den Andern zugleich verstand; und damit hatte er auch die Gleichheit seines Wesens mit dem des Andern erkannt, indem er ihn, wie sich selbst, als denkendes und sprechendes Wesen apperzipierte.

So ist dann die Sprache auch in dem Sinne Apperzeptionsmittel, daß durch sie nicht bloß in einem individuellen Bewußtsein größere, mächtigere Vorstellungsmassen schwächere apperzipieren, sondern daß Personen einander apperzipieren und einen gemeinsamen einheitlichen Geist bilden (a. a. O. II, Seite 217). Dies ist der Punkt, wo die Sprachwissenschaft auf die Völkerpsychologie verweist.

Das nähere Eingehen auf diese ganze, eben angedeutete Wirksamkeit der Sprache führt auf eine genaue Betrachtung der zu Anfang dieser Abhandlung genannten Punkte: Vorstellung und Verdichtung des Denkens. Die Betrachtung derselben soll nicht lange auf sich warten lassen, wenn die vorliegende Arbeit die nachsichtige Aufnahme findet, welche ich hoffe.
LITERATUR Heyman Steinthal, Zur Sprachphilosophie, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Neue Folge, Bd. 32, Halle a. d. Saale, 1858
    Anmerkungen
    1) Ich lasse es dahingestellt, wie sie sich zu Verschmelzung, Komplizierung oder Assoziation verhält. Es scheint mir aber durchaus tadelhaft, wenn man in neuester Zeit den von HERBART gemachten Unterschied zwischen Verschmelzung und Komplizierung aufgegeben hat und alles wieder zu einer unbestimmten Assoziierung verschwimmen läßt. Man solte im Gegenteil noch mehr Unterschiede in der Verbindung der Vorstellungen festzuhalten suchen.
    2) Ein großartiges Beispiel zum Obigen bespricht mein Aufsatz "Zur vergleichenden Mythologie" in der wissenschaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung, Nr. 50 - 55, 1857.