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ADOLF BOLLIGER
Die Willensfreiheit
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"Es bleibt also dabei: so gewiß die Vorstellungen nicht im Vakuum schweben, sondern in einem vorstellenden Wesen, so gewiß ist dieses vorstellende Wesen nicht selbst wieder Phänomen, sondern der aphänomenale Ort, in welchem die Phänomena Wirklichkeit haben."

IV. Realität und Wesen der Zeit

Ob wir wohl über das Wesen der Zeit bei den Philosophen der Vergangenheit Aufklärung finden? Schwerlich! Klopfen wir immerhin bei zwei oder dreien, die den Namen haben, daß sie mit dem Zeitproblem ernstlich gerungen haben, an!

ARISTOTELES definiert uns die Zeit als  metron kineseos  [Maß der Bewegung - wp]. Hat er damit das Wesen der Zeit bezeichnet? Ganz bestimmt nicht. Jedes denkbare Ding muß doch mit einer gleichartigen Größe gemessen werden, die Linie mit einer Linie, die Fläche mit einer Fläche, der Körper mit einem Körper, die Härte mit einer Härte, die Kraft mit einer Kraft, Schnelligkeit mit einer Schnelligkeit, Bewegung mit einer Bewegung. Maß der Bewegung ist also immer wieder eine Bewegung und  an diesem Maß bleibt die Zeit ein Problem wie am Gemessenen.  Die Zeit wird ja freilich etwas aller Bewegung Eigentümliches sein; aber eben dieses Eigentümliche stellt die aristotelische Definition nicht ins Licht.

KANT erklärt in der transzendentalen Ästhetik, die Zeit sei kein von der Erfahrung abgezogener empirischer Begriff. Das mag wohl sein und wird von mir später positiv erhärtet werden. Aber wenn sie nicht irgendwie empirische ist, dann ist sie doch wohl im Reich des Phänomenalen ein  me on  [auf mich (bezogenes) - wp].

KANT will es anders. Die Zeit ist nach ihm zwar keine empirische Vorstellung, wohl aber eine Vorstellung a priori, die allen empirischen Vorstellungen zugrunde liegt. Er hat nur leider zu zeigen vergessen, daß sie  überhaupt  Vorstellungen weder als empirische noch als apriorische zu konstatieren vermag. So oft ich die angeblich notwendige Vorstellung packen will, scheitere ich immer an einer Unmöglichkeit; ich packe immer nur das zeitlose Jetzt und zwei imaginäre Arme, die vorwärts und rückwärts davon ausgehen; die Zeit entwischt mir.

KANT lehrt weiter, man könne in Ansehung der Erscheinungen die Zeit nicht aufheben; sobald man das tue, habe man die Erscheinungen selbst aufgehoben. Dagegen könne man sehr wohl alle Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen, ohne die Zeit zu verlieren; wenn auch alle Erscheinungen wegfielen, so bliebe doch die Zeit. Das hat der treueste Anhänger der KANTschen transzendentalen Ästhetik, ARTHUR SCHOPENHAUER, folgendermaßen formuliert: "Wenn auch alle Veränderungen stockten, so würde doch die Zeit ihren Gang gehen ohne Ende." Es bleibt mir immer verwunderlich, wie zwei so bedeutende Denker dergleichen haben behaupten können. Eine nackte Fiktion! Man zeige uns doch, was die Zeit, wenn von aller empirischen Veränderung abgesehen wird, sein soll! Es wird jeder die Erfahrung machen, daß er unfähig ist, solches zu tun.

Da war doch der Dichter JOHANN PETER HEBEL ein besserer Philosophe der Zeit als KANT und SCHOPENHAUER, weil er mit instinktiver Klarheit fühlte, daß eine unlösbare Beziehung zwischen Veränderung und Zeit besteht. Er wußte, daß er, um dem Leser eine Zeit zu Bewußtsein zu bringen, die entsprechenden Ereignisse aufrollen muß. Darum sagt er auch, um die Vorstellung von fünfzig Jahren zu erwecken, im "Bergmann von Falun":
    "Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört und der Siebenjährige Krieg ging vorüber und Kaiser FRANZ I. starb und der Jesuitenorden wurde aufgehoben und der STRUENSEE wurde hingerichtet und Amerika wurde frei und die vereinigte französische und spanische Macht konnte Gibraltar nicht erobern, ... die französische Revolution und der lange Krieg ging an und der Kaiser LEOPOLD II. ging auch ins Grab, NAPOLEON eroberte Preußen und die Engländer bombardierten Kopenhagen und die Ackerleute säten und schnitten usw. usw. (1) Zum Schluß stellt HEBEL mit der Plastik des großen Poeten ein lebendiges Denkmal fünzigjähriger Veränderung hin, die in all der langen Zeit dem verlorenen Bräutigam treugebliebene Verlobte in der Gestalt des "hingewelkten kraftlosen Alters"; ihre gebrochene Gestalt, die Runzeln ihres Gesichtes, ihre weißen Haare projizieren die fünfzig langen Jahre mit all ihrem Lieben und Hoffen, Leiden und Entsagen in die Gegenwart, während der im Vitriol konservierte Leichnam des Jünglings in der Schöne der Jugend prangt und von der Zeit nicht berührt worden ist."
Und wer's von HEBEL nicht lernen mag, wie es sich mit der Zeit verhält, den kann vielleicht GOETHE von SCHOPENHAUERschen Gedanken heilen. Man beachte z. B. die Ballade vom vertriebenen und zurückkehrenden Grafen, wo uns der Dichter die Zeit durch die Veränderungen, die an Vater und Tochter geschehen, zu Bewußtsein bringt: der Bart wächst ihm länger und länger, das liebliche Kind im Mantel wird größer und größer. Und wie sich der Mantel entfärbt und in Stücke zerfällt, ist es allmählich zur Jungfrau erwachsen, ein schönes Denkmak entflohener Jahre, wie der zerstückte Mantel davon ein häßliches ist.

Schreiten wir jetzt auf eigenen Füßen zur Erörterung des Zeitproblems! Was meinen wir mit dem Namen der Zeit? Ein schlichter empirischer Tatbestand wie der Raum oder die Sonne oder ein Stück Schwarzbrot ist es nicht. Empirisch ist nur die Gegenwart, das Jetzt. Das Jetzt aber gilt uns nicht als Zeit, da ihm gerade das abgeht, was nach unser aller Gefühl das Eigentümlichste an der Zeit ausmacht,  die Dauer.  Die Zeit, die wir empirisch nicht aufzeigen können, denken wir uns aus zwei imaginären Komponenten, Vergangenheit und Zukunft, zusammengesetzt.

Wenn aber die Zeit ein empirischer Tatbestand nicht ist, dann ist sie ja wohl ein  Nichts?  Gewiß ein Nichts, wenn sie im Reich der Phänomena gesucht werden soll. Denn hier ist sie überall nicht zu finden. Also ist sie ein Nichts?

Noch bleibt eine andere Möglichkeit. Die Zeit kann immer noch etwas Reelles sein, aber dann nicht aus dem Gebiet des Phänomenalen, sondern der  intelligiblen  Größen (Analogon: Die Seele ist nicht phänomenal und doch wirklich als intelligibles Wesen, was ich hier ohne Beweis mir vorauszusetzen erlaube (siehe auch weiter unten Kap. V.)

Suchen wir der Zeit positiv näher zu kommen! Unter Zeit verstehen wir eine Realität, welche den Phänomenen die Möglichkeit gibt,  so und anders  zu sein, - verstehen wir das Etwas, das der Veränderung Raum gibt. Der nämliche phänomenale Gegenstand, der Sonnenball, erscheint mir am östlichen Horizont, erscheint mir im Meridian, erscheint mir am westlichen Horizont. Das nämliche Ding erscheint mir als Schneeflocke - als Wassertropfen - als ein Quantum Dampf. Der nämliche Mensch ist fröhlich, ist traurig, - ist hungrig, ist satt - ist gesund, ist krank.

Frage: Wie kann doch der nämliche Gegenstand hier und dort und am dritten Ort, ja an unendlich vielen Örtern sein? Wie kann der nämliche Gegenstand sowohl fest als flüssig als gasförmig sein? Wie mag das nämliche Ich sich in so widersprechenden Zuständen befinden? In summa: wie ist Veränderung möglich?

Antwort: Dieses Wunder der Veränderung ist möglich  durch eine zureichende Ursache.  Das ist doch eine unanfechtbare Antwort. Es muß eine zureichende Ursache geben, die den Dingen die Möglichkeit gibt, ja sie nötigt,  sowohl so als auch anders  zu sein. An der Wirklichkeit dieser Ursache kann füglich nicht gezweifelt werden. So gewiß die Veränderung in der Phänomenalwelt d. h. die Universalität des Weltgeschehens ist, so gewiß die zureichende Ursache derselben. (2)

Diese zureichende Ursache der Veränderung ist aphänomenal (intelligibel).

Wir nennen diese aphänomenale Ursache der Veränderung  Zeit,  nennen sie so in Übereinstimmung mit allen Völkern. Denn mit dem Namen der Zeit bezeichnet man, wo man sich nur selbst versteht, das Etwas, das den Dingen die Möglichkeit gibt, so und anders zu sein, - das Etwas, das die Möglichkeit und Wirklichkeit der Veränderung trägt. Die Größe aber, welche die Existenz eines anderen trägt, nennen wir nach früherer Definition die Ursache dieses anderen. Also ist die Zeit die Ursache der Veränderung.

Die Zeit ist also damit, daß sie aphänomenal ist, noch nicht ein wesenloser Schemen geworden. Sie ist höchst reell, fällt aber in den Bezirk des Intelligiblen. Wir verstehen darunter die ungeheure Realität, welche alle Veränderungen wirklich und möglich macht. Die Zeit ist nicht empirisch gegeben, wird vielmehr aus der Bewegung der Phänomena erschlossen; so ist ja auch das Vorstellende (oder die Seele) nicht empirisch gegeben, wird aber aus den Vorstellungen erschlossen. (siehe Kap. V.)

Mit alledem, was wir bis jetzt von der Zeit erkannt haben, sind wir freilich nur vor die Pforte größerer Geheimnisse gelangt. Es steht vor uns die Frage, welches denn die Beziehung der Zeit zum Raum und welches ihre Beziehung zur Gottheit sei. Ich sehe mich nicht veranlaßt, hier in der Freiheitsfrage das alles á fond [gründlich - wp] zu erörtern. Darum nur das Allernötigste: Unter Zeit, so sagten wir, verstehen wir eine intelligible Größe, welche als Ursache alle Veränderung, mithin allen Weltgeschehens trägt. Das Wesen aber, das alles Weltgeschehen trägt, führt sonst den Namen der Gottheit. Mithin meinen wir, recht besehen, mit dem Namen der Zeit und der Gottheit ein und dasselbe. Die Zeit (Chronos) ist nur ein profaner Name für den allwaltenden Gott.

Ganz unnötig, über diese Gleichsetzung das Haupt zu schütteln! Sind wir doch längst gewohnt, von der Zeit und der Gottheit gleiches zu prädizieren, z. B. "Die Zeit ist ewig"  und ebenso  "Gott ist ewig"; "Alles geschieht in der Zeit"  und  "In Gott leben, weben und sind wir"; "Die ewige Zeit macht alles möglich"  und  "Bei Gott sind alle Dinge möglich"; "Die Zeit heilt alle Wunden"  und  "Gott heilt alle Wunden". Wozu sich nun skandalisieren, wenn diese übereinstimmenden Aussagen, die wir uns harmlos erlaubten, nunmehr auch wissenschaftlich gerechtfertigt erscheinen (3)

Damit ist nun erwiesen, daß wir berechtigt waren, in Kapitel II von der  ungeheuren Realität der Zeit  zu reden. Der Wille erschien uns dort als das Vermögen, die Gefühle im Blick auf die Realität der Zeit zu disziplinieren. Wenn nun aber die ewige Zeit der Gottheit identisch ist, so tritt uns ja wohl im Zeit- oder Ewigkeitscharakter des Menschen, will sagen in seiner zeitüberspannenden Willenspotenz des Menschen ein gottähnliches Wesen entgegen. GOtt ist die allmächtige Zeit und lenkt als solche das Universum. Und der Mensch ist als zeitüberspannendes Wesen, als Wille, ein Abglanz Gottes und beherrscht und lenkt als socher das Universum seiner Gefühlswelt.


V. Die Seele und ihre Vorstellungen
als Paradigma von Ursache und Wirkung.

Ich habe in Kapitel II (Abschnitt 1) einen anspruchsvollen illegitimen Kausalitätsbegriff, in dessen Umarmung der Gedanke der Freiheit ersticken wollte, kritisch beleuchtet. Ein genügender Anlaß, den eigenen Kausalitätsbegriff positiv darzulegen, lag dort nicht vor. Dagegen haben wir nun im Kapitel IV einen Kausalbegriff verwertet, der bis dahin nicht gerechtfertigt wurde; die Fortsetzung und Beendigung der Untersuchung über die Freiheit würde vollendes unmöglich, wenn wir nicht erst das Kausalproblem erledigt haben. Der Ort der Freiheit und die Art derselben müßte ohnedem unklar bleiben.

Knüpfen wir an das unter II, 1 Dargelegte an:

Der Laie und die populäre Naturforschung denken die einander sukzedierenden Phänomena kausal vernküpft.

HUME verhält sich dem gegenüber skeptisch. KANT, mit der Absicht, der Skepsis zu entgehen, verknüpft die Phänomena, deren kausale Beziehung empirisch nicht garantiert ist, durch einen sogenannten apriorischen Kausalbegriff.

Ich gehe nun dogmatisch (nicht dogmatisierend) über HUMEs Skepsis hinaus und erkläre, daß die kausale Beziehung zwischen den einander sukzedierenden Phänomenen nicht bloß problematisch,  sondern definitiv ausgeschlossen sei.  Ich erbringe den Beweis durch eine Analyse der Phänomena. Zur Sache:
    1. Die Vorstellungen, deren Gesamtheit ich Vorstellungswelt nenne, sind nicht Vorstellungen schlechthin, sondern  meine  Vorstellungen. Es gibt wirklich keine Vorstellungen, die nur überhaupt Vorstellungen wären, ohne jemandes Vorstellungen zu sein. Die Vorstellung besteht nicht ohne jemand, der sie hat, - besteht nicht ohne ein Vorstellendes. Die Analyse der Vorstellungen ergibt also zunächst, daß der Ort ihrer Wirklichkeit nicht im Vakuum, sondern in einem vorstellenden Etwas (einem vorstellenden Wesen) ist.

    2. Dieses Vorstellende kann nicht selbst wieder Vorstellung sein. Denn wäre das Vorstellende selbst auch Vorstellung, so müßte es nach Satz 1 selbst wieder jemandes Vorstellung sein und so weiter in infinitum. Und abgesehen von der Absurdität dieses unendlichen Regresses widerstreitet es der Natur einer Vorstellung, die Vorstellung, andere Vorstellungen in sich zu hegen. Eine Vorstellung, die Vorstellung einer anderen Vorstellung wäre, ist Unsinn. Es bleibt also dabei: so gewiß die Vorstellungen nicht im Vakuum schweben, sondern in einem vorstellenden Wesen, so gewiß ist dieses vorstellende Wesen nicht selbst wieder Phänomen, sondern der aphänomenale Ort, in welchem die Phänomena Wirklichkeit haben. Diesen aphänomenalen Inhaber der Vorstellungen nenne ich  Seele;  dieselbe ist conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] aller Vorstellungen. Durch Analyse der Vorstellungen ist dieses aphänomenale Etwas, das ich Seele zu nennen beliebe, mindestens ebenso verbürgt, wie die Existenz irgendeiner phänomenalen Tatsache.

    3. Die Seele muß eine Einheit (Monas) sein. Beweis: Man mache die Annahme, daß zwei Vorstellungen  a  und  b  an zwei vorstellende Wesen oder Seelen  α  und  &beta  verteilt seien. Dann wird eben die Seele  α  Inhaberin von  a  und ohne Kenntnis von  b  Inhaberin von  b  und Nichtinhaberin von  a  sein. Man setze den weiteren Fall, daß eine große Menge von  m  Vorstellungen an  n  Seelen verteilt seien, so wird jede der  n  Seelen ihre Partikel der  m  Vorstellungen haben, nicht aber alle übrigen. Es wird jede der  n  Seelen gerade  ihre  Phänomenalwelt besitzen und nicht eine  andere. 

    Wohlan! Was ich meine Phänomenalwelt nenne, ist wirklich  meine  Phänomenalwelt; wie könnte ich sonst auch davon reden! Das aphänomenale Ich als Inhaber dieser meiner Phänomenalwelt kann nicht eine Vielheit von Seelen sein. Denn in diesem Fall hätte eben die erste Seele jener Vielheit (α) ihre bestimmte Partikel meiner Phänomenalwelt, die Seele  β  einen zweiten Partikel usw. Aber es wäre niemand, der die sämtlichen Phänomena als die seinigen fühlte und wüßte. Nun aber habe ich eben meine sämtlichen Vorstellungen, was bis zum Exzeß selbstverständlich ist. Also bin ich  Einheit Eine Vielheit von Seelen würde eine Vielheit von Phänomenalwelten involvieren. - Mithin: Die Analyse meiner Vorstellungswelt ergibt nach Fixierung des aphänomenalen Inhabers mit nicht geringerer Evidenz dessen  Einheit.  Eine monadische Seele hegt so oder so die ungeheure Vielheit meiner Phänomena in sich. Meine Seele muß eine solche sein, daß sie, unbeschadet ihrer Einheit, jener Vielheit der Phänomena Raum in sich bietet.

    4. Welcher Art ist die Relation der Seele zu ihren Vorstellungen? Eine einfache Überlegung wird zeigen, daß die Seele ihre Vorstellungen nicht und nirgendwie rezipiert haben kann. Nämlich: die Annahme, daß meine Seele ihre Phänomena irgendwie rezipierte, würde involvieren, daß dieselben schon zuvor außer meiner Seele existiert haben. Nun aber ist, wie oben festgestellt, ein Phänomenon, das als solches abgelöst außerhalb der Seele existierte, ein Ungedanke. Es kann also von Rezipieren der Phänomena keine Rede sein, weil eine Existenz derselben außer der Seele als noch nicht rezipierter unmöglich ist.

    Wenn aber jemand sagen wollte, daß doch meine Phänomena zuvor außer meiner Seele als Zustände anderer Seelen existiert haben könnten, so wäre damit nichts geholfen. Die Sache wäre damit nur zurückgeschoben, indem nun die Anwesenheit der Phänomena in jenen anderen Seelen ein ebenso großes Rätsel wäre wie die Anwesenheit in der meinen. Was noch schlimmer ist: es wäre undenkbar, ja unmöglich, daß die Phänomena sich von ihren ersten Inhabern ablösen und an meine Seele übergehen. Oder meint man, daß Vorstellungen von einer Seele an eine andere übergehen könnten, wie Wasser aus einem Gefäß in ein anderes fließt? Eitle Vergleichung! Als Vorstellung einer anderen Seele ist sie als deren Zustand unlösbar mit ihr verknüpft. Dieser Zustand kann sich nicht ablösen, kann nicht durch das Vakuum hinüberschweben und mein Zustand werden. Kurz, die Natur eines Phänomens schließt die Möglichkeit des Übergehens aus.

    Wie nun? Ich urteile: Kann meine Seele ihre Phänomena schlechterdings nicht anderswoher rezipiert haben und hat sie dieselben dennoch, woran füglich nicht zu zweifeln ist, so muß sie in sich selber die Mittel und Kräfte haben, in den Besitz der Phänomena zu gelangen, d. h.  sie muß dieselben produziert haben.  Die Seele selbst muß die gebärende Mutter all ihrer Phänomena sein. Produziert aber die Seele ihre Vorstellungen, was sie ganz gewiß mußte, weil es keine Möglichkeit gab, dieselben zu empfangen, so ist damit zwischen der Seele und ihren Vorstellungen das Verhältnis der Ursache zu den Wirkungen gesetzt. Denn eben das ist nach früherer Definition das Verhältnis der Ursache zur Wirkung, daß die Ursache die Wirkung trägt, ihr zum Dasein verhilft.
Damit haben wir nun ein ordentliches Paradigma für Ursache und Wirkung. Der Begriff von Ursache und Wirkung war uns längst klar; aber wir zweifelten mit HUME, ob in aller Sukzession der Phänomena etwas dem Begriff Entsprechendes vorliegt. Nunmehr wissen wir, daß der Fall vorliegt zwischen der Seele und all ihren Vorstellungen; die Wirklichkeit der Vorstellungen ruht durchaus auf der Seele. Also sind die Vorstellungen Wirkungen der Seele, die Seele Ursache ihrer Vorstellungen.

Damit aber sind wir nun ohne weiteres in der Lage, über HUME, dem Kausalverhältnis zwischen den sukzedierenden Phänomenen problematisch schien, dogmatisch hinauszuschreiten. Wir dürfen und müssen jetzt sagen, das Kausalverhältis liegt zwischen den sukzedierenden Phänomenen zuverlässig nirgends vor. Die Begründung: Man wähle eine beliebige Reihe von Phänomenen  a, b, c ... n.  Nun habe ich erkannt, daß jedes Glied dieser Reihe die aphänomenale Seele zur Ursache hat und ohne dieselbe nicht existieren würde; die Seele trägt sie alle. Welchen Sinn soll es nun haben, im Phänomen  a  die Ursache des  b  und in  b  die Ursache des  c  zu vermuten usw., wenn doch  a  und  b  und  c  und jedes Glied der Reihe durch die Seele hinlänglich verursacht und getragen ist? Es kann doch ein Phänomen, das hinlänglich verursacht ist, nicht nochmals verursacht werden. Die Seele produziert jedes Glied der Phänomenalreihe; also ist es ganz ausgeschlossen, daß jedes Glied der Reihe das nächste erzeuge und die Annahme, daß zwischen den sukzedierenden Phänomenen ein Kausalverhältnis vorliegt, fällt definitiv außer Betracht.

Nur als  "indirekte Mitproduzenten"  können die Phänomena anerkannt werden, nämlich so: Das Phänomen  a  der Seele  φ  hat zwar nicht die Aufgabe und nicht die Kompetenz, das Phänomen  b  zu produzieren (das kommt nur der Seele zu); aber das  a  als Zustand der Seele mag sehr wohl den Impuls, ja die Nötigung für die Seele enthalten, im nächsten Augenblick das Phänomen  b  zu produzieren (und nicht ein anderes); und das Phänomen  b  als Zustand der Seele mag wieder den Impuls, ja allenfalls die Nötigung für die Seele enthalten, im nächsten Augenblick das Phänomen  c  (und nicht  q)  zu produzieren. Das ist eine plausible Vorstellung: Die Seele erzeugt zwar alle Vorstellungen; aber ihre bisherigen Vorstellungen (d. h. Zustände) und die darin beschlossene Lust und Unlust wird ihr zum Anreiz und vielleicht zur Nötigung, diese oder jene Vorstellung hervorzubringen. - Man darf nicht fürchten, daß die einzelnen Augenblicke meiner Phänomenalwelt, wenn deren kausale Beziehung verneint ist, nun band- und gesetzlos auseiannderfallen. Dieselben bleiben mit stählernen Fesseln einander verbunden, nur nicht direkt derart, daß einer den andern hervorbrächte, sondern indirekt so, daß jeder die Offenbarung der einen gemeinsamen Ursache, der Seele, ist; es ist nicht der einzelne phänomenale Augenblick Erzeuger des nächsten, sie sind alle Söhne derselben Mutter,  so doch, daß diese bei Erzeugung jedes ihrer Kinder durch ihre vorausgehenden Kinder bedingt respektive bestimmt ist. 



Mit dieser Darlegung ist immer nur ein Zipfel des Ursachenreiches aufgehellt, viel zu wenig, als daß wir inmiten der Ursachen den Ort der Freiheit umgrenzen und ihre Art bestimmen könnten. Tun wir das Übrige:

Ich habe gesagt, daß meine Seele ihre ganze Phänomenalwelt hervorbringe. Ich habe  nicht  gesagt, daß sie es als  solitäres  [einzelnes, abgetrenntes - wp] Wesen tue. Man verstehe: Ich weiß und werde nie wieder daran zweifeln, daß an den Phänomenen nichts Rezipiertes ist, daß die Seele all ihre Phänomena nach Form und Inhalt durchaus kreiert hat. (4) Aber offen bleibt  soweit  die doppelte Möglichkeit, daß die Seele als solitäres Wesen jenen kreatorischen Akt vollendet oder aber, daß sie im Kontakt mit anderen intelligiblen Wesen und unter dem Druck derselben zu ihrem Akt veranlaßt und genötigt wird. Daß die Seele ihre Phänomenalwelt produziert, ist schlechthin gewiß; die Frage ist bloß, ob sie es als sola ipsissima [nur eigene - wp] tut oder durch intelligible Beziehungen zu einem Reich anderer Wesen zu ihrer Produktion (ihrem Schöpferakt) gereizt wird.

Wie steht es also? Werde ich am Ende im Solipsimus [Nur das eigene Ich ist wirklich. - wp] stecken bleiben? oder muß ich einen Versuch machen, denselben  glaubend  zu überwinden? Weg mit der Abgeschmacktheit! Eine redliche wissenschaftliche Analyse meiner Vorstellungswelt führt mich aus dem Solipsismus hinaus. Wie ist das möglich?

Alles, was ich im Universum meiner Phänomena antreffe, ist ja von meiner Seele hervorgebracht und so scheint es zunächst, daß kein Punkt da sein könne, der über mich hinausführt. Und dennoch! Ich treffe in meiner Phänomenalwelt Stücke, die als  originale  Taten meiner Seele schlechterdings nicht zu deuten sind, - Stücke, die andere Seelen voraussetzen, - Stücke, die in meinem Geist nur als Nachklänge, als Reproduktionen fremder Geistestaten verständlich sind.

Zum Beispiel: ich finden in meinem Geist eine Reihe von genialen Urteilen, die mit KOPERNIKUS, KEPLERs, NEWTONs Namen verknüpft sind. Sind all diese Urteile meine eigene originale Geistestat, wie es doch sein müßte, wenn es etwa außer mir keine anderen Geister gibt? Unmöglich! Denn ich finde in meiner Seele kein Vermögen zu solchen Taten; ich weiß mich unfähig, etwas jenen wunderbaren Urteilen Ähnliches hervorzubringen. Wenn nun jene Urteile dennoch in meiner Seele sind, so können sie darin nur als Reproduktionen der Taten anderer Geister sein. Was sie entdeckt haben, habe ich nachgedacht; was sie produziert haben, habe ich reproduziert. - Anderes Beispiel: Ich weiß mich sehr sicher unfähig, ein erträgliches Lied hervorzubringen. Und dennoch klingt in meiner Seele eine Menge lyrischer Ergüsse, z. B. GOETHEs Lieder. Hab ich diese meinen mir wohlbewußten Grenzen gemäß  original  nicht hervorbringen können, so müssen sie in meiner Seele sein als  Nachklänge  der Taten anderer Geister. Es gibt also - meine Phänomenalwelt beweist es - andere menschliche Geister; damit ist der Solipsismus überwunden.

Nachdem das Eis gebrochen ist, könnte ich nun fortfahren, meine Phänomenalwelt zu analysieren und ebenso den wissenschaftlichen Beweis erbringen, daß die Annahme anderer Menschenseelen nicht genügt - daß das Phänomen meiner Leiblichkeit und zumal meiner Sinneswerkzeuge, daß der  Wechsel  der Erscheinungen, daß Sonne, Mond und Sterne und alle von Natur- und Geschichtswissenschaft beschriebenen Phänomena der Interpretaion auf reine "Phänomenalität" spotten. Ich könnte zeigen, daß in all diesen Phänomenen ein ungeheures Reich intelligibler Wesen und zwar meiner Seele verwandter Monaden, mit denen meine Seele so oder so in Kontakt steht, offenbar wird. Aber: Est modus in rebus, sunt certi denique fines [Es gibt ein rechtes Maß in allen Dingen, mit einem Wort: es gibt bestimmte Grenzen - wp]. Eine Abhandlung über die Willensfreiheit kann nicht die ganze Metaphysik geben. So nehme ich also den Satz, daß meine Seele mit einem Reich intelligibler Wesen in Kontakt (respektive Wechselwirkung) steht und unter dem Druck ihrer Beziehungen zu jenem Monadenreich die ihr eigentümliche Phänomenalwelt produziert, als  Lehnsatz  aus meiner anderweitigen Metaphysik herüber.

Ebenso nehme ich es als Lehnsatz herüber, daß meine Seele und die anderen Monaden, um in Wechselwirkung stehen zu können, in einem allumfassenden realen Wesen beschlossen sein müssen. "Nur wenn sie trotz ihrer relativen Sonderexistenz doch zugleich Teile einer einzigen, sie alle umfassenden, sie innerlich in sich hegenden unendlichen Substanz sind, ist ihre Wechselwirkung aufeinander oder was wir so nennen, möglich." (5) Abgesehen vom vergilbten und irreführenden Ausdruck Substanz akzeptiere ich die LOTZEsche Formulierung.

Nicht als Lehnsatz sondern aufgrund des Entlehnten als Erkenntnissatz stelle ich endlich folgendes hin: Wenn ein allumfassendes Wese alle sogenannten Weltelemente oder Monaden in sich hegt, deren Wechselwirken und damit alles auf der Wechselwirkung ruhende Weltgeschehen möglich macht, so erhellt, daß all die sogenannten Weltelemente  originaliter  in jenem allumfassenden Einen ruhen müssen. Denn wären die "Elemente" etwas dem Einen ursprünglich Fremdes, so ließe sich nicht absehen, wie dasselbe jemals Wechselwirkung zwischen denselben hätte stiften können. Es müssen die Elemente original im Einen ruhen, ohne daß wir uns unterfangen, den Modus dieses Ruhens und überhaupt die Beziehung des Einen zu den vielen anschaulich zu beschreiben. Die lallende Kindheitssprache der Menschheit hat das Unaussprechliche dahin formuliert, das Eine habe die vielen, Gott habe die Welt geschaffen.

Genug! nur das stelle ich zum Schluß noch ausdrücklich fest: Das Verhältnis der Seele zu den Phänomenen wurde als das der Ursache zu den Wirkungen beschrieben. Dagegen sehen wir uns nicht genötigt, das Verhältnis des Einen zu den Weltelementen als das nämliche zu bestimmen. Die vielen ruhen so oder so ursprünglich im Einen; aber ein neues Paradigma des Kausalbegriffs trat dabei nicht in Sicht.
LITERATUR - Adolf Bolliger, Die Willensfreiheit, Berlin 1903
    Anmerkungen
    1) Man beachte vor allem auch das dem Zweck angemessene Polysyndeton [zusammenbindende Redefigur - wp]
    2) Vgl. im folgenden Kapitel V das Nähere über Ursachen und Wirkungen.
    3) "Hat nicht mich zum Manne geschmiedet die allmächtige Zeit?" sagt GOETHE im "Prometheus". Ganz recht! Sein Prometheus beugt sich dem wahrhaftigen, wirklichen Gott und sagt ab den falschen Göttern.
    4) Die Kantische Theorie, wonach ich die  Materie  meiner Vorstellungen rezipiert habe, dagegen die  Formen  der Anschauung und des Denkens a priori dazubringe, ist unter allen unglücklichen Positionen der Kantischen Philosophie womöglich die unglücklichste. Meine positiven Darlegungen dürfen diesbezüglich als Kritik gelten.
    5) HERMANN LOTZE, Mikrokosmus III, 3. Auflage, Seite 486