p-4 von KriesGoedeckemeyerLippsJerusalemvon der Pfordten    
 
JOHANNES von KRIES
Über Real- und Beziehungsurteile
[ 2 / 3 ]

"Dasjenige, was wir  objektive Wirklichkeit  nennen, ist nicht identisch mit dem, was wir wahrnehmen, die wirkliche Anordnung der Gegenstände nicht mit der scheinbaren. Es ist ganz richtig, daß sich uns jederzeit ohne bewußte Verstandesoperationen eine Vorstellung von der Wirklichkeit ergibt, die wir als die wahrgenommene bezeichnen können. Es ist auch sehr möglich, daß wir nicht zu einem Verständnis der Dinge gelangen würden, wenn wir nicht in einer so einfachen und direkten Weise zu einer Vorstellung gelangten, die im Großen und Ganzen annähernd richtig ist und als Ausgangspukt alles weiteren dienen kann. Gleichwohl unterscheiden wir stets die  objektive  Wirklichkeit vom Wahrnehmungsergebnis; und die Aufgabe, die wir unserer Vorstellung von der Wirklichkeit stellen, ist in letzter Instanz nicht die, mit unserer Wahrnehmung übereinzustimmen, sondern diese selbst als Resultat eines gesetzmäßigen psychologischen Geschehens zu erklären."

III.

Abgesehen von der Klassifizierung des deduktiven Schlusses können wir an die zugrunde gelegte Einteilung der Urteile noch einige weitere Betrachtungen knüpfen, die sich in ähnlicher Richtung bewegen, aber allgemeinerer Natur sind und sich vielfach mit alten Problemen der Erkenntnistheorie berühren.

So läßt sich allgemein einsehen, daß niemals ein Real-Urteil sich als logische Konsequenz von Beziehungs-Urteilen ergeben kann. Als einzige Quelle unseres  Real-Wissens  bleiben somit diejenigen Real-Urteile bestehen, welche uns mit einer ihnen selbständig zukommenden Sicherheit gegeben sind, die Gesamtheit dessen, was wir tatsächlich erleben. Die Unmöglichkeit sogenannter ontologischer Beweise stellt sich hier als unmittelbare Folge einer Heterogenität der Behauptungsinhalte dar.

Was die Beziehungs-Urteile anlangt, so ist es der Natur ihrer Aussagen nach verständlich, daß sie eine unmittelbare Evidenz besitzen. Wird eine Beziehung zwischen zwei oder mehreren Vorstellungen ausgesagt, so ist alles, was für das betreffende Urteil in Betracht kommt, vorhanden, sobald wir eben jene Vorstellungen besitzen. Tatsächlich sehen wir ja auch, daß diejenigen Beziehungs-Urteile, die uns hier beschäftigten, eine solche definitive und zwar völlig zwingende Evidenz besitzen. Wir können also ihnen eine von der Gesamtheit der Real-Urteile, von der "Erfahrung", unabhängige Evidenz zuschreiben und wir sprechen hiermit nicht etwa ein Erfahrungsergebnis, sondern ein (auch seinerseits unmittelbar evidentes) Beziehungs-Urteil von der Kategorie der Zusammenhangs-Urteile aus; wir negieren den logischen Zusammenhang heterogener Urteilsinhalte. (1)

Die logische Unabhängigkeit gewisser Urteile von den Tatsachen der Erfahrung, wie wir sie am typischsten etwa im analytischen Urteil sehen, steht nun ohne Zweifel in der nächsten Verwandtschaft zum viel umstrittenen Begriff der  Apriorität.  Der mit dem Wort a priori verbundene Begriff hat von LEIBNIZ bis auf KANT und von KANT bis auf die Jetztzeit die tiefgreifendsten Wandlungen erfahren. Aber ihm ist, wie mich dünkt, stets eine gewisse Unklarheit anhaften geblieben, die in letzter Instanz darauf beruth, daß man die Ermittlungen über logische Beziehungen (Zusammenhangs-Urteile) von denjenigen über ein psychologisches Geschehen (Real-Urteilen) nicht scharf zu sondern wußte. Es geht dies schon daraus hervor, daß fast durchgängig von einer Apriorität der Raum vorstellung  gesprochen wurde, statt daß man bei der rein logischen Beurteilung lediglich von einer Apriorität der auf die Raumvorstellung (so wie sie nun einmal ist) bezüglichen Urteile hätte reden dürfen. Man wird überhaupt für diese Vermischung logischer und psychologischer Gesichtspunkte oder wie man sagen könnte, von Zusammenhangs- und Real-Urteilen in der transzendentalen Ästhetik die mannigfaltigsten Beispiele finden. Gleichwohl unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der leitende Gesichtspunkt der ganzen transzendentalen Ästhetik doch die logische Beziehung ist. Schreiben wir der reinen Mathematik, indem wir ihren Inhalt für Beziehungs-Urteile erklären, eine selbständige, von der Erfahrung unabhängige Evidenz zu, so werden wir daher sagen können, in der Hauptsache auf dem Standpunkt KANTs zu stehen, auf dem nämlichen, den auch bis heute eine große Zahl wenigstens deutscher Philosophen eingenommen eingenommen haben. (2) Allerdings aber möchte ich die Bedeutung einer Einteilung der Urteile nach ihrem materiellen Inhalt, wie wir sie hier zugrunde legten, mit in erster Linie darin erblicken, daß sie in Bezug auf jenes Kardinalproblem sogleich ein bestimmtes Ergebnis liefert. Von der gewöhnlichen Darstellungsweise der "Apriorität" unterscheiden sich unsere Ergebnisse, wie ich glaube, durch die größere Präzision, die auf diesem Boden zu gewinnen ist. Es wird eine logische Unabhängigkeit ausgesprochen, welche sich durch die Verschiedenartigkeit von Urteilsinhalten ergibt; die Konstatierung dieser Unabhängigkeit selbst ist eine Art von Urteil, das wir gleichfalls seiner bestimmten Kategorie einreihen können; sie ist ein (negierendes) Urteil über logischen Zusammenhang. Vorzugsweise leicht uns sicher gestaltet sich die Abtrennung aller Real-Urteile, die sich auf psychologisches Geschehen beziehen. Wie Zahl, Zeit- und Raumvorstellungen  entstehen,  in welchem Maße sie etwa veränderlich sind, das sind psychologische Fragen; die darauf zu gebenden Antworten sind Real-Urteile, sie betreffen ein Geschehen, einen Vorgang der Wirklichkeit. Die mathematischen Urteile betreffen aber diejenige Vorstellung, die wir tatsächlich gegenwärtig besitzen; sie sagen etwas über deren Beschaffenheit und innere Beziehungen aus; ihre Evidenz ist von aller Erfahrung unabhängig, weil sie eben über ein Geschehen und dgl. gar nichts prädizieren.


IV.

Daß das Problem der erkenntnistheoretischen Würdigung der Mathematik durch die hier gegebenne, auf die materielle Natur der betreffenden Urteilsinhalte abzielende Betrachtung in einer jedermann sofort einleuchtenden Weise gelöst sei, ist natürlich nicht meine Meinung. Aber ein Gewinn wird es schon sein, wenn die Frage, um die es sich in letzter Instanz handelt, klarer formuliert worden ist. Nur das konnte hier erstrebt werden. Ohne daher einen Gegenstand von so weittragender Bedeutung und weitverzweigten Beziehungen hier erschöpfend behandeln zu wollen, möchte ich mir gestatten, von diesem Gesichtspunkt aus noch einiges über denselben beizubringen.

Darauf, können wir sagen, wird es schließlich ankommen, was mit den Sätzen der reinen Mathematik eigentlich gemeint wird. Drücken sie eine gewisse Beziehung unserer Vorstellungen aus oder sind sie eine zusammenfassende Bezeichnung für gewisse Gesetze des Geschehens? Hierüber nun, sollte man denken, kann eigentlich eine Diskussion nicht mehr stattfinden. Jeder muß schließlich wissen, was er mit einem Urteil meint und es ist darüber nicht weiter zu streiten. Die Sache liegt indessen so, daß wir uns tatsächlich die Wirklichkeit in räumlicher Form denken; und diesem Umstand zufolge verbindet sich uns jeder auf den Raum bezügliche Satz sogleich mit einer Anzahl Konsequenzen von realer Bedeutung. Bei jedem geometrischen Urteil denken wir sogleich auch an solche Konsequenzen und so wird die Frage, ob abgesehen von diesen noch etwas anderes dabei gedacht wird, verdunkelt. Kein Geringerer als HELMHOLTZ hat bekanntlich die Anschauung vertreten, daß die Gleichheiten, von denen die Geometrie redet, eine lediglich empirische Bedeutung besäßen, daß es sich um "physische Gleichheiten" handle und daß die Annahme einer Gleichheit in anderem Sinne überflüssig und unzulässig sei.

Mir scheint beachtenswert, daß solche Betrachtungen vielfach (namentlich auch bei von HELMHOLTZ) sich nur auf den Raum, nicht aber auf Zeit- und Zahlvorstellungen erstrecken und auch bezüglich des Raumes wenigstens in erster Linie darauf abzielen, seine Eigenschaft als eines dreidimensionalen und ebnen als Erfahrungserlebnis abzuleiten. Naheliegend ist wohl der Gedanke, daß die Mathematiker gerade durch die Möglichkeit einer mathematischen Behandlung ohne die speziellen Prämissen der euklidischen Geometrie zu der Annahme, diese seien keine notwendigen, veranlaßt worden sind. Wäre indessen die physische Gleichheit der Inhalt der Geometrie, so würde nicht nur die euklidische Natur des Raumes, sondern die Anwendung mathematischer Betrachtung auf ihn überhaupt als Erfahrungsergebnis erscheinen und es würde ohne empirischen Beleg fraglich sein, ob es eine Gleichheit überhaupt gibt. Um deutlich zu machen, daß die Behauptung der Gleichheit einen anderen (nicht auf die Gesetze des Geschehens sich beziehenden) Sinn habe, werden wir uns daher besser auf solche Sätze berufen können, welche mit dem euklidischen Charakter des Raumes nichts zu tun haben, sondern nur die Möglichkeit einer Größenvergleichung im Raum besagen, Sätze, deren unmittelbare Verständlichkeit und zwingende Evidenz meines Erachtens die umempirische Natur der Gleichheitsprädikation besonders deutlich lehrt. Hierher gehört z. B. die ganz unabweisbare Überzeugung, daß die Gleichheit zweier Raumstrecken ohne Rücksicht auf die Natur der sie erfüllenden Gegenstände ausgesagt werden kann. Wäre die Gleichheit eine Aussage über Vorgänge, so müßte es auch denkbar sein, daß zwei Strecken, wenn sie von einer Substanz ausgefüllt sind, gleich, wenn sie von einer anderen ausgefüllt sind, aber ungleich wären. Da wir über die Gesetze des Geschehens nicht das Mindesste a priori ausmachen können, so ist die Annahme durchaus zulässig, daß die Wirkungsweise  einer  Substanz von ihrem Ort abhinge, die einer anderen nicht oder in anderer Weise. Es könnte also ganz wohl vorkommen, daß irgendein oder auch mehrere Effekte für die, zwei bestimmte Strecken erfüllenden Körper  einer  Art gleich, für andere, die nämlichen Räume einnehmenden Körper aber ungleich wären.

Indem wir die Unabhängigkeit der Gleichheitsbeziehungen von der Natur der den Raum ausfüllenden Substanzen behaupten, zeigt sich, daß, wie sehr auch immer tatsächlich die Vorstellung des Raumes und räumlicher Gebilde mit Elementen sinnlicher Wahrnehmung verknüpft sein mag, doch das Gleichheitsurteil sich nur auf das räumliche Element erstreckt, nicht auf das, was im Raum geschieht.

Das eben angeführte Beispiel läßt schon erkennen, daß auch wenn wir unsere Raumvorstellung, für welche die Sätze der Geometrie gelten, dauernd und unveränderlich besäßen, doch die Erfahrung in ganz beliebiger Weise ausfallen könnte, ohne daß sich hier ein Widerspruch etablierte. Ich möchte gerade diesen Punkt etwas genauer beleuchten. Verhielten sich die Körper so, wie es eben vorausgesetzt wurde, so würden wir nicht sagen können, daß sich von einer Gleichheit der Strecken nicht reden lasse, sondern vielmehr unbeschadet aller Gleichheitsbeziehungen den Tatbestand so ausdrücken, wie es oben schon geschah, daß sich die Verhaltensweisen verschiedener Körper in ungleicher Weise mit dem Ort ändern. Auf der Natur der Raumvorstellung beruth der Satz, daß sich überall ein Stück abgrenzen läßt, welches einer gegebenen geraden Linie gleich ist, daß der Raum aller Orten von gleicher Beschaffenheit ist. Hiermit würde keineswegs eine Erfahrung in Widerspruch geraten, die die Nichtexistenz irgendwelcher physischer Gleichheiten lehrte. Dieselbe würde vielmehr nur ergeben, daß die Körper bei ihrer Bewegung im Raum ihre Größe, Form und Wirkungsweise in unübersehbarer Weise verändern (was ja denkbar ist). Ähnlich verhält es sich nun auch mit denjenigen Erfahrungen, welche der euklidischen Natur des Raumes zu widerstreiten scheinen. Daß ein sehr lange ungehindert sich fortpflanzender Lichtstrahl seinen Ausgangspunkt wieder erreicht, ist eine ohne Zweifel denkbare Gestaltung der Erfahrung. Wäre es so, so würde nicht zu folgern sein, daß die hinreichend verlängerte Gerade in sich zurückläuft, sondern daß der Weg des Lichtstrahls ein gekrümmter ist.

Die unabhängige Evidenz der auf den Raum bezüglichen Urteile findet, wie vorhin schon erwähnt, bei den auf die Zeit- und die Zahlvorstellung gehenden ihr genaues Analogon. Vielleicht wird die Abneigung, die gerade Linie als nicht weiter erläuterbares Element unserer Vorstellungen und die Behauptung ihrer unendlichen Erstreckung als ein Ergebnis aus der Natur dieser Vorstellung anzuerkennen, sich etwas vermindern, wenn man bedenkt, daß man bezüglich der Zeitvorstellung Ähnliches doch allgemein annimmt. Jedermann, wie ich glaube, wird es aufgrund der Natur unserer Zeitvorstellung für undenkbar erklären, daß wir, die Vergangenheit weiter und weiter zurück verfolgend, bei den Ereignissen einer fernen Zukunft anlangen sollten. Eine "empirische Bestimmung des Krümmungsmaßes der Zeit" zu fordern ist bis jetzt niemandem eingefallen. Eine Gestaltung der Erfahrung, welche eine Krümmung der Zeit in eben demselben Sinne demonstrieren könnte, wie die vielfältig fingierten eine Krümmung des Raumes zeigen sollten, ist auch sehr wohl denkbar. Sie bestände darin, daß die Gesamtheit aller Vorgänge sich in regelmäßiger periodischer Folge wiederholte, daß man stets nach Verlauf einer gewissen Zeit wieder bei genau der nämlichen Gestaltung der Wirklichkeit anlangte. Wäre aber das der Fall, so würde, meine ich, gleichwohl niemand von einer gekrümmten und endlich in sich zurücklaufenden Zeit sprechen, sondern von einer periodischen Wiederholung der Vorgänge.

Ganz ebenso fordern und gestatten auch die Zahlvorstellungen eine vollständige Unterscheidung der reinen Beziehungs-Urteile von den nomologischen Real-Urteilen. Daß, wenn wir zu zwei Nüssen zwei weitere hinzulegen, alsdann vier vorhanden sind, ist ein Real-Urteil und besagt eine gewisse Gesetzmäßigkeit des Geschehens, ist demnach auch nur empirisch festgestellt. Denkbar wäre ja auch, daß durch den Akt des Hinzulegens einige verschwänden oder neu entständen; auch könnte sich das bei einigen Körpern so verhalten, bei anderen nicht. Die Angabe einer Gesamtzahl bedeutet aber keinen physischen Akt und aus der Natur unserer Zahlvorstellung ergibt sich, daß wenn  m + n = x,  dann auch  m  und  n  Nüsse  x  Nüsse,  m  und  n  Steine  x  Steine sind, weil das Urteil eben nur auf die Zahlen, aber nicht auf ein empirisches Verhalten der gezählten Gegenstände geht.


V.

Einer richtigen Auffassung der mathematischen Evidenz steht, so viel ich sehe, als Haupthindernis immer die eigentümliche Verbindung des empirischen und unempirischen Elements entgegen, welche dadurch bewirkt wird, daß wir die Wirklichkeit in mathematischen Formen vorstellen. Wenn die mathematischen Urteile nicht eine Gesetzmäßigkeit des Geschehens bezeichnen, sondern gewisse Beziehungen unserer Vorstellungen untereinander, so müssen natürlich auch die in jene Urteile eingehenden Prädizierungen, wie etwa diejenige der Gleichheit, in der Natur der betreffenden Vorstellungen ihre ausreichende Erklärung finden. Diese Anschauung hängt mit der von uns vertretenen Auffassung des Inhalts der mathematischen Urteile genau zusammen; wir werden also festzuhalten haben, daß der Begriff der  Gleichheit  von Raum- oder Zeitgrößen ebensowenig einer Definition fähig ist, wie etwa der Begriff Früher oder Später und am wenisten kann diese Definition in der Bezeichnung irgendwelcher Verhältnisse des realen Geschehens gesucht werden.

Auf dem Boden dieser Anschauung kann man nun aber eine gewisse Schwierigkeit darin finden, daß eben diese Begriffe auch in den Real-Urteilen auftreten und demgemäß doch in diesem Zusammenhang auch irgendwie einen empirischen Sinn besitzen müssen.

Man wird vielleicht geneigt sein zuzugeben, daß in den Sätzen der reinen Mathematik die in sie eingehenden begrifflichen Elemente, insbesondere auch die Gleichheit, einen nicht weiter definierbaren, jedenfalls einen unempirischen, nicht auf Vorgänge bezüglichen Sinn haben. Es erhebt sich aber dann die Frage, was denn die Prädikation der Gleichheit im Real-Urteil bedeute; die Aussage, daß zwei bestimmte konkrete Gegenstände von gleicher Größe sind, muß offenbar einen empirischen Sinn haben; welches ist er, wenn der Sinn der Gleichheit doch ein unempirischer sein soll?

Ich glaube, daß diese Frage sich beantwortet, sobald wir sie verallgemeinern. In mathematischen Formen, insbesondere in räumlicher und zeitlicher Ordnung stellen wir uns die Wirklichkeit vor; welchen Sinn hat überhaupt diese Vorstellung, wie gelangt sie zu einer Bedeutung, die sie von einer bloßen Fiktion unterscheidet? Die Sache verhält sich (wir können das wohl behaupten, ohne aus dem Kreis bekannter Betrachtungen hinauszugehen) offenbar so: zur Vorstellung der Wirklichkeit, die wir besitzen, gehören auch wir selbst und unser Körper. Nach Maßgabe der Anordnung der Dinge und der Gesetze, die ihre Bewegungen und Veränderungen beherrschen, stellen wir sie uns auch auf unseren Körper, besonders unsere Sinnesorgane einwirkend vor und wir nehmen einen bestimmten Zusammenhang dieser mit unseren psychischen Vorgängen an. Im faktischen Zusammentreffen dieser Ergebnisse mit dem, was wir faktisch erleben, liegt die Bewährung und (wenn man so will) der definitive Sinn unserer Vorstellungen von dem, was wir objektive Wirklichkeit nennen. Irgendein Real-Urteil wird also eine bestimmte Bedeutung haben, wenn es mit unseren Erlebnissen in einem, wenn auch noch so entfernten Zusammenhang steht. Damit es das tut, müssen nicht die auf zeitliche und räumliche Verhältnisse bezüglichen Elemente desselben, wohl aber diejenigen Gegenstände, über deren Anordnung oder Größenbeziehung etwas ausgesagt wird, durch bestimmte ihnen zugeschriebene Eigenschaften definiert sein. Sobald sie das sind, besteht auch jener Zusammenhang, durch welche das Urteil für unsere Gesamtvorstellung von der Wirklichkeit eine Bedeutung erhält. Die ganze Art des Zusammenhangs wird, wie mir scheint, ganz durchsichtig, wenn man sich klar macht, daß unsere Vorstellungen bezüglich einer objektiven räumlichen Anordnung niemals der unmittelbare Ausdruck unserer Erlebnisse sind, sondern streng genommen nur eine hypothetische Konstruktion.

Nur auf den ersten Blick kann diese Auffassung befremdlich erscheinen und man etwa geneigt sein, ihr die Frage entgegenzustellen, ob nicht die räumliche Anordnung als unmittelbarer Gegenstand der Wahrnehmung mit zu dem gehört, was wir unsere Erlebnisse nannten. Hiergegen ist indessen zu erwidern, daß dasjenige, was wir  objektive Wirklichkeit  nennen, nicht identisch ist mit dem, was wir wahrnehmen, die wirkliche Anordnung der Gegenstände nicht mit der scheinbaren. Es ist ganz richtig, daß sich uns jederzeit ohne bewußte Verstandesoperationen eine Vorstellung von der Wirklichkeit ergibt, die wir als die wahrgenommene bezeichnen können. Es ist auch sehr möglich, daß wir nicht zu einem Verständnis der Dinge gelangen würden, wenn wir nicht in einer so einfachen und direkten Weise zu einer Vorstellung gelangten, die im Großen und Ganzen annähernd richtig ist und als Ausgangspukt alles weiteren dienen kann. Gleichwohl unterscheiden wir stets die  objektive  Wirklichkeit vom Wahrnehmungsergebnis; und die Aufgabe, die wir unserer Vorstellung von der Wirklichkeit stellen, ist in letzter Instanz nicht die, mit unserer Wahrnehmung übereinzustimmen, sondern diese selbst als Resultat eines gesetzmäßigen psychologischen Geschehens zu erklären. Ein Satz, der sich auf die objektive Wirklichkeit bezieht, ist also niemals seinem Sinn nach eine nur anders eingekleidete Aussage über unsere Erlebnisse; der Zusammenhang ist, logisch betrachtet, stets der oben dargelegte verwickeltere.

Eine empirische Definition dessen, was unter der Gleichheit der Zeiten oder Räume zu verstehen sei, ist also ebenso unmöglich wie etwa eine Definition dessen was  Gleichzeitig, Früher  oder  Später  bedeutet oder was es heißen soll, daß ein Gegenstand sich an  demselben Ort  befinde, den vorher ein anderer eingenommen hat und dgl. mehr, weil alle diese Aussagen mit der Natur unserer Vorstellungsformen zusammenhängen und in ihnen ihre ausreichende Erklärung finden. Sie ist aber tatsächlich auch entbehrlich, weil auch ohne sie unsere Vorstellung von der objektiven Wirklichkeit, die sich jener Begriffe bedient, einen genügend bestimmten Sinn hat, wenn sie auch allerdings niemals direkter Ausdruck unserer eigenen Erlebnisse ist, sondern zu ihnen nur im Verhältnis steht, sie verständlich zu machen.

Diese Ausführungen befinden sich in einem gewissen Gegensatz nicht sowohl zu dem, was auf dem Gebiet der Philosophie zumeist gelehrt wird, als zu den Anschauungen und Darstellungsweisen, die jetzt in der theoretischen Physik fast durchgängig herrschen. Man sucht nach einer Definition desjenigen, was unter der Gleichheit zweier Raumstrecken zu verstehen sei. Mir scheint hier immer für eine an sich sehr berechtigte Bestrebung ein falscher Ausdruck vorzuliegen. In der Tat müssen wir behaupten, daß eine wirkliche  Definition  der räumlichen Gleichheit eine Unmöglichkeit ist. Immer nämlich bestehen diese Definitionen darin (und in diesem Sinne werden sie auch erstrebt), daß irgendeine Erfahrungstatsache angegeben wird, welche die Gleichheit zweier räumlicher Strecken "bedeuten" soll. So z. B. wenn man definiert: gleich sind solche Strecken, welche von einem sich selbst überlassenen Körper in gleichen Zeiten durchlaufen werden. Sobald wir anerkennen, daß es bezüglich der Gleichheit gewisse unabhängig von der Erfahrung feststehende Sätze gibt, können wir eine solche Aufstellung nicht als Definition der Gleichheit gelten lassen. Denkbar wäre ja, daß der Körper  X  die Strecke  a b  in der gleichen Zeit durchläuft, wie  b c, Y  dagegen in ungleicher. Unabhängig von der Erfahrung steht fest, daß  b c  und  a b  entweder gleich oder ungleich sind. Eine reale Definition der Gleichheit zu geben ist also deswegen unmöglich, weil wir a priori bezüglich eines realen Geschehens niemals wissen können, ob für dasselbe jenes System von Beziehungen gilt, welches für die Gleichheiten zutriff. Wir müssen also zuerst konstatieren, daß ein Satz wie der obige nicht eine Definition, sondern ein Erfahrungssatz ist, welcher aussagt, daß ein sich selbst überlassener Körper in gleicher Zeit gleiche Räume durchläuft und wir werden auch behaupten müssen, daß der Vorwurf, nicht genügend bestimmt zu sein, den man einem solchen Satz etwa machen könnte, durch das, was oben bezüglich der objektiv gültigen Real-Urteile überhaupt ausgeführt wurde, widerlegt ist für die ganze Bestrebung ist demnach der zutreffende Ausdruck nicht der, daß nach einer Definition der Gleichheit, sondern daß nach einem absolut zuverlässigen empirischen Maßstabe zu suchen wäe. Hat man einen solchen gefunden (und es ist ja möglich, daß das Trägheitsgesetz dieses Ideal verwirklicht), so kann man allerdings in den sämtlichen übrigen Aussagen den ursprünglichen Begriff der Gleichheit durch diese empirische Definition ersetzen. Ob man dies tun will, ist im Grunde Geschmackssache. Mir scheint es wenig empfehlenswert, weil es den eigentlichen logischen Sachverhalt verdunkelt und unberechtigtes Mißtrauen gegen die Benutzung einer Vorstellung (der nicht definierbaren räumlichen Gleichheit) hervorbringt, deren Unentbehrlichkeit sich sofort zeigt, sobald wir uns denken, daß die allgemeine RIchtigkeit des Trägheitsgesetzes zweifelhaft würde.
LITERATUR - Johannes von Kries, Über Real- und Beziehungsurteile, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. XVI, Leipzig 1892
    Anmerkungen
    1) Wir sind gewohnt und, wie ich glaube, mit Recht, die Evidenz, die gewissen Sätzen zukommt, auch der Gesamtheit derjenigen zuzuschreiben, die zu ihnen in der Beziehung notwendiger logischer Konsequenz stehen. Allerdings ist richtig, daß die verwickelteren Ergebnisse der Deduktion nicht mehr die unmittelbare Evidenz besitzen, welche den einfachsten und grundlegenden Beziehungs-Urteilen zukommt. Ein verwickelterer mathematischer Satz kann lediglich aus dem Grund nicht direkt evident gemacht (anschaulich bewiesen werden), weil die Beschränktheit unseres Vorstellungsvermögens uns verhindert, die sämtlichen zu ihm führenden Stufen zugleich zu übersehen. Die Art des Urteilsinhalts erleidet dadurch natürlich keine Änderung, wohl aber die Sicherheit der Aussage. Diese ist von einer empirischen Voraussetzung, abhängig und beruth auf der Annahme, daß wir uns bei der Deduktion nicht geirrt haben und daß während der ganzen in Betracht kommenden Zeit (eventuell auch für einen anderen, der uns den Satz als von ihm bewiesen mitteilt) diejenigen Vorstellungen, auf welche sich die betreffenden Beziehungs-Urteile erstrecken, in unveränderter Weise bestanden haben. Das gilt nicht bloß für mathematische Sätze, sondern in ganz ähnlicher Art auch z. B. für ein verwickeltes System analytischer Urteile.
          Da die hier gemachten empirischen Voraussetzungen von ganz besonderer Natur sind, da ferner die Unveränderlichkeit der en mathematischen Urteilen zugrunde liegenden Vorstellungen zu den bestgesicherten Erfahrungs-Tatsachen gehört und auch die Sicherheit der Deduktion fast beliebig gesteigert werden kann, so hat es kein Bedenken, wie man gewöhnlich tut, die Erwähnung jener Voraussetzung zu unterdrücken und dem Ergebnis der Deduktion schlechtweg die Evidenz der Prämisse zuzuschreiben. Wollte man ganz streng sein, so müßte man sagen, daß die unabhängige Evidenz nicht der psychologisch verwirklichten, sondern der einem fingierten Vorstellungsvermögen zukommenden Mathematik eigen ist, welches gleichzeitig den ganzen Zusammenhang überschaut und sonach den verwickelten Satz als Konsequenz der Prämissen übersähe.
    2) Vgl. insbesondere die vortrefflichen Ausführungen LIEBMANNs, Analysis der Wirklichkeit, 2. Auflage, Seite 72f