p-4 GoedeckemeyerLippsÜber Real- und Beziehungsurteilevon der Pfordten    
 
JOHANNES von KRIES
Zur Psychologie der Urteile
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"Es hat, wie es scheint, bei Meinong Anstoß erregt, daß ich von einer willkürlichen Festsetzung dessen, was  gleich  genannt werden soll, gesprochen habe. Indessen lassen doch meine ganzen Ausführungen wohl erkennen, daß bei all den Festsetzungen, von denen ich geredet habe, es sich nicht um irgendwelche willkürlichen Festsetzungen oder Modifikationen des Begriffs "gleich" handelt, sondern um Festsetzungen darüber, was gemessen oder gezählt werden soll. Daß bei allen physikalischen Größenangaben der Begriffe "gleich" der völlig scharf fixierte, einer Erklärung nicht fähige und bedürftige der mathematischen Gleichheit ist, habe ich sogar ausführlich dargelegt."

III.
[Fortsetzung]

Haben wir, wird man fragen, mit der eben gemachten Auseinandersetzung nicht zuviel bewiesen und trifft das Ausgeführte nicht mit gleichem Recht auch bezüglich der mathematischen Gleichheit zu? Ich glaube das nicht und denke das auch in genügend greifbarer Weise darlegen zu können. Naturgemäß (die Gründe dafür werden im folgenden Abschnitt noch zu behandeln sein) tritt der typische Sinn der mathematischen Gleichheit ganz deutlich nur in ihrer allereinfachsten, unmittelbar evidenten Sätzen hervor. Für die numerischen Gleichheiten finden wir eine der Grundlagen, auf denen sich die weitere Entwicklung aufbaut, z. B. im Satz, daß  a + (b + 1) = (a + b) + 1  ist. Erwägen wir den Sinn dieses Satzes, so wird man sagen dürfen, daß er die Unabhängigkeit des Zahlwertes von der Art der Zusammenfassung der Gruppen ausdrückt. Er sagt; wie man es auch ausdrücken könnte, die Möglichkeit einer verschiedenen begrifflichen Bestimmung derselben Vielheit aus. Für mich also ist die hier ins Spiel kommende numerische Gleichheit, eine Beziehung, die darin besteht, daß dieselbe Vielheit nur in anderer Bezeichnung und anderer Zusammenfassung dargestellt wird, etwas völlig eigenartiges, mit der Natur unserer Vielheitsvorstellung unauflöslich verknüpftes. Aus diesem Grund ist die hier behauptete Beziehung (die wir numerische Gleichheit nennen) denn auch immer wieder genau die nämliche, mögen wir sie nun in der obigen Form aussprechen oder etwa sagen, daß  2 + 1 = 1 + 2  ist und dgl.; sie ist genau die nämliche in demselben Sinne, wie auch in allen analytischen Urteilen die Notwendigkeit, welche das Subjekt mit dem Prädikat verbindet, in allen Realurteilen der Sinne der behaupteten Realität derselbe ist. Und darin liegt das Typische und Scharfe der mathematischen Gleichheitsbehauptung, darin auch die Unmöglichkeit einer Definition derselben, einer Zurückführung auf andere einfachere Begriffe.

Die hier gegebenen Ausführungen sind schon antizipierend, zum Teil aufgrund meiner früheren Darstellungen, zum Teil aufgrund privater Mitteilungen von MEINONG (1) besprochen und bestritten worden. Ich will nicht unterlassen, auf die Kritik MEINONGs hier mit einigen Bemerkungen einzugehen. Fraglich ist allerdings, ob die weitere Erörterung noch erheblich über die Wiederholung des bereits früher Gesagten hinausführen kann. - Auch MEINONG dürfte geneigt sein, zuzugeben, daß das bloße unmittelbare Gleicherscheinen, welches im Grunde nur darauf beruth, daß  A  im Vergleich zu  B  weder als ein größeres noch als ein kleineres mit Sicherheit bezeichnet wird, eine äußerst vielgestaltige, eine  atypische  Beziehung ist. Die wirkliche Gleichheit stellt MEINONG diesem Gleicherscheinen ausdrücklich gegenüber; für sie postuliert er auch die Gültigkeit der mathematischen Axiome, als ein einfaches Ergebnis von Denkgesetzen. Dem gegenüber kann ich eben nur sagen, daß ich mit der Behauptung, es  erschienen  z. B. zwei Stufen innerhalb einer Intensitätsreihe gleich, den vorher erwähnten (atypischen) Sinn verbinden kann; daß dagegen mit der Behauptung, sie seien wirklich gleich, oder mit der Aufgabe, zu der einen eine andere ihr gleiche zu finden (wozu jenes Gleich erscheinen  nur ein mehr oder weniger unvollkommenes Hilfsmitel sei), keinen Sinn zu verbinden vermag. Auch ist von MEINONG die Angabe eines solchen Sinnes nicht versucht worden. Ja, er würde diesen Versuch (und ich komme damit zugleich auf den zweiten Punkt) als überflüssig und gegenstandslos ablehnen. Denn nach seiner Auffassung liegen die Verhältnisse für mathematische und physikalische Größenbeziehungen ganz ebenso, wo doch die Größenvergleichbarkeit allgemein anerkannt wird. Schon in Bezug auf die rein mathematischen Größenbeziehungen muß ich hier gegen MEINONGs Darstellung einen Einspruch erheben.

MEINONG hält sich, wie mir scheint, zu sehr an die Frage der praktischen Ausführung einzelner Messungen und behält nicht genügend das im Auge, worauf es mir ankommt, nämlich den absolut klaren Sinn der (richtigen oder falschen, zuverlässigen oder unsicheren) Behauptungen. Dies geht z. B. daraus hervor, daß nach seiner Ansicht gegenüber der Vergleichung übermerklicher Unterschiede die auch von mir anerkannten Raum- und Zeitvergleichungen nur einen graduellen Zuverlässigkeitsvorzug haben. Es geht noch deutlicher daraus hervor, daß MEINONG auf dem Gebiet der Raummessungen auf die Unterschiede der Lage und Richtung hinweist, welche doch auch qualitative Differenzen linearer Strecken darstellten, die Vergleichungen ja auch vielfach sehr merklich erschwerten, ohne sie aber doch auszuschließen. Für die Gleichheit indessen, von der mit Erlaub die Mathematik redet, ist der Unterschied der Richtung oder Lage als qualitative Differenz gänzlich bedeutungslos. Die faktische Erschwerung der Vergleichung sinnlich gegebener Strecken ist dafür ganz ohne Belang. Der Gleichheitssinn, der der Geometrie eigen ist, wird deutlich, wenn wir die Behauptung aufstellen, daß für jede Strecke, die in beliebiger Lage und Richtung gegeben ist, an jedem Ort und in jeder Richtung eine ihr mit absoluter Genauigkeit gleiche aufgewiesen werden kann. Die Natur unserer Raum- (und Zeit-) Vorstellung ist es, in der diese Überzeugung wurzelt; es ist die nicht weiter zu beschreibende Gleichartigkeit der Raum- und Zeitteile, welche ihre absolut scharfe, jede Unbestimmtheit ausschließende Vergleichbarkeit garantiert.

In Bezug auf die Frage, welche Rolle diese mathematischen Gleichheitsbeziehungen in den objektiv gültigen Realurteilen spielen, darf ich wohl auf meine Ausführungen in meinem früheren Aufsatz (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. XVI, Seite 275) verweisen.

Was ferner die physikalischen Größen anlangt, so wird MEINONG wenigstens zugeben müssen, daß in der theoretischen Physik in ihrer gegenwärtigen Gestalt alle komplizierteren Größen auf Längen-, Zeit- und Maßeinheiten zurückgeführt  sind.  er behauptet nun freilich, daß diese Zurückführungen im Grunde nicht notwendig oder völlig selbstverständlich gewesen seien. Ich muß zugeben, daß das logisch Willkürliche und Konventionelle, was nach meiner Ansicht diesen Festsetzungen anhaftet, in vielen Gebieten nicht wohl nachgewiesen werden kann. Dies ist indessen doch sehr natürlich. Die Physik bildet eben nur diejenigen Begriffe aus, die von mannigfacher und fruchtbarer Anwendung sind; greifen wir also irgendeinen der Prinzipalbegriffe der theoretischen Physik (z. B. die Intensität eines elektrischen Stromes) heraus, wie darf es uns überraschen, daß sich jede neue Festsetzung der eingebürgerten gegenüber als unbrauchbar erweist! Über das Maß von Willkür zu streiten, welches hier in die Festsetzungen eingeht, dürfte also ziemlich gegenstandslos sein. Bedeutungsvoller ist es, seine Aufmerksamkeit den Gebieten zuzuwenden, in denen sich diese Festsetzungen erst mit Schwierigkeiten vollziehen oder in welchen sie überhaupt nicht getroffen sind und vielleicht auch nicht getroffen werden. Ich weise hier zunächst wieder auf die Temperaturmessungen hin. Da die Erfahrung lehrt, daß, wenn zwischen  A  und  B,  ebenso zwischen  B  und  C  kein Wärmeaustausch stattfindet, dann auch stets zwischen  A  und  C  kein solcher beobachtet wird, so konnte zunächst in durchaus klarem Sinn verschiedenen Körpern  gleiche  Temperatur zugeschrieben werden. Die Messung der Temperaturgrade oder Temperaturdifferenzen hat dabei bisher stets als eine Sache der Konvention gegolten; sie konnte geschehen, indem irgendeine beliebige Begleiterscheinung, z. B. die Ausdehnung der Luft oder die des Quecksilbers, als Maß genommen wurde. Nach MEINONG nun hätte die Frage: "ob gleiche Veränderungen des Wärmezustandes mit gleichen Veränderungen in der Reihe dieser oder jener Folgezustände einhergehen", also auch die, welche z. B. in Graden des Quecksilberthermometers gemessene Temperaturerhöhungen "gleichen Veränderungen des Wärmezustandes" entsprechen, ihren völlig klaren Sinn. Ich glaube indessen, daß auch jetzt die meisten Physiker die Beantwortung oder auch nur die Diskussion dieser Frage ablehnen würden, da nicht ersichtlich sei, was unter gleichem Zuwachs des Wärmezustandes verstanden werden soll. Allerdings fängt die theoretische Physik an, eine bestimmte Temperaturskale als die theoretisch wertvollste zu bevorzugen. Dies ist die sogenannte thermodynamische. In ihr setzen wir die Abstände zweier Temperaturen vom absoluten Nullpunkt proportional denjenigen Wärmemengen, die, wenn ein Körper zwischen diesen Grenzen einem umkehrbaren CARNOTschen Kreisprozeß unterworfen wird, beim einen und anderen Temperaturpunkt zugeführt respektive entzogen werden müssen, eine Definition, die recht verwickelt und umso weniger selbstverständlich ist, als schon die Gültigkeit des CARNOTschen Prinzips, auf dem ihre Eindeutigkeit beruth, selbst zwar eine Erfahrungstatsache, aber gewiß nicht selbstverständlich ist. (2)

MEINONGs Darstellung läßt es zweifelhaft erscheinen, ob er diese Temperaturskale mit ausdrücklicher Einsicht in ihre Grundlage im Auge gehabt hat. Wie dem aber auch sei, daß sie die allein mögliche sei, wird man ebensowenig zugeben können, wie daß eine Unterscheidung des Wärmezustandes genüge, um zu ihr zu gelangen. In den Augen der Physiker ist sie eine neben anderen mögliche; sie hat sich im Gebrauch noch nicht einmal eingebürgert; benutzt doch die physikalisch-technische Reichsanstalt zu ihren Temperatur-Definitionen das Gasthermomenter. Auch MACH, auf den sich MEINONG beruft, scheint mir die Sache nicht anders zu sehen; er sagt: (3)
    "Werden die Gasspannungen als Temperaturmaß beibehalten, so sind die abgeleiteten Beziehungen nicht genau richtig. Will man hingegen die gefundenen Sätze in ihren schönen einfachen Formen festhalten, so ist die Wahl eines neuen Temperaturmaßes notwendig."
Dies sind die Worte, mit denen MACH die thermodynamische Skalen einführt.

Wenn einmal, was freilich möglich ist, diese Skala als die wissenschaftlich wertvollste sich eingebürgert haben wird, so wird allerdings auch wiederum die Behauptung möglich sein, eben sie und nur sie enthalte das wahre, das richtige Maß des Wärmezustandes. In ganz entscheidender Weise aber zeigt sich, daß die Aufgabe der Gleichheitsbestimmungen nicht in der einfachen, von MEINONG für genügend erachteten Weise gestellt werden kann, überall da, wo die Theorie gar nicht oder nicht in so unmittelbarem Anschluß an die zuerst sich bietenden Formulierungen zur Fixierung eines meßbaren Begriffs gelangt. Auch hierfür ist es leicht, Beispiele zu finden. Wir nennen eine chemische Verbindung stabiler oder labiler als eine andere; wir ordnen die Mineralien nach einer sogenannten Härteskala und schreiben dem einen größere oder geringere Härte als einem anderen zu. Wir nennen bei optischen Instrumenten die Abbildungen schärfer oder weniger scharf, auch wohl ganz allgemein besser oder schlechter, nach spezielleren Gesichtspunkten eine Linse z. B. periskopischer als eine andere. Wir schreiben einem Fernrohr oder Mikroskop eine stärkere oder geringere Vergrößerung zu etc. Es ist belehrend zu betrachten, wie sich die Physik gegenüber den auf derartige Begriffe gerichteten Maßfragen verhalten würde. Unter allen Umständen wird die Beantworung oder auch nur die Diskussion einer derartigen Frage als sinnlos abgelehnt werden, solange nicht eine Fixierung des betreffenden Begriffs in dem Sinne gegeben ist, daß er auf Raum,- Zeit- und Massen- oder Zahlengrößen zurückgeführt ist. In manchen Fällen (so z. B. bei der Härte, der chemischen Stabilität) wird sich eine solche Fixierung nicht geben lassen und es hat alsdann sein Bewenden dabei, daß in dieser Beziehung Maßangaben nicht zu machen, auch nicht zu suchen sind, was eine gewisse Brauchbarkeit des Begriffs nicht ausschließt. In anderen Fällen können sich auch mehrere Fixierungen als gleichwertig darbieten. So können wir die vergrößernde Kraft eines Fernrohrs oder Mikroskops durch die Zahl messen, die angibt, unter einem wieviel größeren ebenen Winkel eine Linie, ebensogut aber auch durch diejenige, die angibt, unter einem wieviel größeren körperlichen Winkel eine Fläche erscheint. Nach der einen Bestimmung werden wir die vergrößernde Kraft des Mikroskops I auf das 10fache, nach der anderen auf das 100fache von derjenigen des Mikroskops II veranschlagen. Der Begriff der Vergrößerung kann aber aufgestellt und z. B. zur Ordnung der Instrumente in eine Reihe benutzt werden, ohne daß die spezielleren Begriffe der linearen und der flächenhaften Vergrößerung gebildet worden sind.

Wir sind also nicht in Verlegenheit, physikalische Begriffe aufzuführen, die sich sozusagen von selbst darbieten, welche nur insoweit bestimmt sind, daß nach ihrer Maßgabe irgendwelche Eigenschaften, Zustände, Vorgänge passend in Reihen geordnet werden können, die aber gleichwohl zunächst keine Maßbestimmungen gestatten. Damit Maßfragen einen Sinn haben, ist eine Fixierung des Begriffs erforderlich, über die man sich doch nicht, wie über etwas Selbstverständliches hinwegsetzen kann; denn im Verlauf der weiteren Untersuchung  kann  es zwar dahin kommen, daß sich eine bestimmte Fixierung gewissermaßen als selbstverständlich darbietet. Es kann aber auch sehr wohl kommen, daß sich eine solche Fixierung nicht ergibt und der Begriff dauernd auf die unbedeutenere Rolle eines zu Maßbestimmungen nicht geeigneten beschränkt bleibt; und es kann auch dahin kommen, daß sich für ihn zwei oder mehr verschiedene, ganz gleichwertige Festsetzungen darbieten, daß er gewissermaßen in zwei verschiedene Begriffe gespalten wird etc.

Ich vermag nicht abzusehen, was uns auf dem Standpunkt MEINONGs abhalten könnte, auch den Fragen, welche Stufen der Härteskala, welche Zuwüchse in der vergrößerenden Kraft eines Mikroskops, welche Grade der chemischen Stabilität einander gleich seien, einen völlig klaren Sinn zuzuschreiben, während doch ein solcher in Wirklichkeit für die einen nicht, für andere in mehrfacher Weise angegeben werden kann.

Nun wird MEINONG derartigen Betrachtungen gegenüber vermutlich sagen, das verstehe sich ja von selbst, daß unter allen Umständen genau begrifflich fixiert sein müsse, was eigentlich gemessen werden soll. Allein das ist es ja gerade, was ich behaupte, daß diejenigen Begriffe, die sich ganz ohne weiteres allein aus dem Umstand ergeben, daß sich eine Anzahl von Eigenschaften, Zuständen, Vorgängen etc. für unsere Auffassung in eine Reihe ordnen, zwar genügend sind, um von einem Mehr und Minder zu reden, aber im allgemeinen zu unbestimmt, um in Bezug auf sie sinnvolle Maßfragen stellen zu können. Wir können ja ganz wohl, ohne z. B. den Begriff der Vergrößerung zu fixieren, nicht nur die Mikroskope nach ihrer Vergrößerung in eine Reihe ordnen, sondern wir würden sogar gelegentlich ganz verständlich sagen können, zwischen den beiden Instrumenten I und II bestände ein geringer, zwischen III und IV ein weit größerer Unterschied. Aber eine weitere Fixierung ist erforderlich, ehe wir Maßfragen stellen oder numerische Angaben machen können. Und in der Physik wird man kein Beispiel finden, daß eine solche die Maßbestimmungen ermöglichende Fixierung eines Begriffs anders als durch die Zurückführung auf Raum-, Zeit- und Maßgrößen (abgesehen von reinen Zahlenwerten) gegeben wird.

Auch MEINONG wird also zugeben müssen, daß die Maßangaben, von denen die Physik redet, ausnahmslos in der von mir angegebenen Weise gedeutet werden können und daß, wo eine solche Deutung nicht fixiert ist, die Gefahr vorliegt, sich in sinnlosen Fragen zu verirren; er wird auch weiter zugeben müssen, daß die demnach erforderliche Prüfung, mögen wir sie auch etwa in die allgemeine Frage einkleiden, ob man es überhaupt mit einem physikalisch wertvollen oder brauchbaren und einem unzweideutigen Begriff zu tun habe, tatsächlich stets darauf hinausläuft, jenen festen Zusammenhang mit Raum-, Zeit- und Maßeinheiten zu suchen, eventuell zu schaffen. Das ist alles, was ich aus der Betrachtung der physikalischen Messungen zur Erläuterung des Gegenstandes beizubringen wünschen kann. Will jemand behaupten, daß jene Zurückführungen im Grunde überflüssig seien, daß für ihn die betreffenden Maßfragen schon an sich einen völlig klaren Sinn haben, so läßt sich das naturgemäß wohl kaum widerlegen, aber gewiß auch ebensowenig beweisen.

In dem eben Ausgeführten ist implizit bereits ein Punkt berührt, der noch zu erwähnen ist; es handelt sich um gewisse von mir gebrauchte Ausdrücke, die eine mißverständliche Auffassung, wie ich zugeben muß, einigermaßen nahe legen und vielleicht erfahren haben. Es hat, wie es scheint, bei MEINONG (vielleicht auch anderweitig) Anstoß erregt, daß ich von einer willkürlichen Festsetzung dessen, was gleich genannt werden soll, gesprochen habe. Indessen lassen doch meine ganzen Ausführungen wohl erkennen, daß bei all den Festsetzungen, von denen ich geredet habe, es sich nicht um irgendwelche willkürlichen Festsetzungen oder Modifikationen des Begriffs "gleich" handelt, sondern um Festsetzungen darüber, was gemessen oder gezählt werden soll. Daß bei allen physikalischen Größenangaben der Begriffe "gleich" der völlig scharf fixierte, einer Erklärung nicht fähige und bedürftige der mathematischen Gleichheit ist, habe ich sogar ausführlich dargelegt. Einer kurzen Erläuterung dagegen wird meine Ausdrucksweise betreffen der psychologischen Größen bedürfen; hier habe ich in der Tat davon gesprochen, daß man festsetzen könne, was als gleich betrachtet werden soll (z. B. Messung intensiver Größen, Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. VI, Seite 276).

Beachtet man indessen den Zusammenhang, in dem von jenen Festsetzungen die Rede ist, so wird doch ersichtlich, daß es sich auch da lediglich um eine Frage der Terminologie handelt. Setzten wir z. B. fest (wie dort als möglich angedeutet ist), daß die eben merklichen Unterschiede einer Intensitätsreihe als gleich betrachtet werden sollen, so gewinnen wir dadurch die Möglichkeit (und das ist der einzige Zweck der Sache), die kurzen Ausdrücke der Maßbezeichnungen anzuwenden und z. B. eine Stufe 3fach größer als eine andere zu nennen, statt sagen zu müssen, daß sie eine 3fach größere Zahl eben merklicher Zuwüchse umfasse. Der Begriff, der hier konventionell fixiert wird, indem wir dem Satz, daß zwei Intensitätsstufen gleich seien, einen bestimmten Sinn geben, ist natürlich im Grunde der der Intensität; wir verstehen unter dem (numerisch angegebenen) Intensitätsgrad die Zahl der eben merklichen Zuwächse, um welche eine jede Empfindung von einem bestimmten Ausgangspunkt (etwa dem Nullpunkt) entfernt ist. Das wäre vielleicht von vornherein noch deutlicher geworden, wenn ich statt des gewählten kurzen Ausdrucks gesagt hätte, es werde festgesetzt, daß die eben merkliche Zuwächse als  gleich große Vermehrung der Intensität  betrachtet werden sollen. Ich begreife vollkommen, daß derjenige diese Festsetzungen perhorreszieren [schaudernd zurückweisen - wp] muß, für den der Begriff der Intensität oder besser gesagt des numerischen Intensitätsgrades etwas ohne weiteres Klares und Festes ist. Wer dieser Ansicht  nicht  ist, wird seine konventionelle Fixierung für berechtigt erklären müssen. Im übrigen bin ich keineswegs der Meinung, daß sich die Einführung einer derartigen Bezeichnungsweise besonders empfiehlt, schon weil sie mit dem Begriff der atypischen Gleichheit, mit dem des unmittelbaren Gleicherscheinens vielfältigst in Konflikt kommt. Es lag mir auch damals nur daran, anzugeben, in welcher Weise man auf dem Gebiet der Empfindungen zu einer formell ähnlichen Behandlung wie in der Physik gelangen könne.

Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit will ich hier noch einige weitere Fälle atypischer Beziehungen aufführen. Mit gewissen, noch zu berührenden Vorbehalten gehört dahin die auf psychologischem Gebiet ebenfalls viel erörterte Beziehung des  Komplexes zu seinen Elementen.  Könnten wir irgendwelche Fälle aufweisen, in denen zwei Bewußtseins-Elemente, einmal jedes für sich, sodann beide koexistierend dargestellt wären, ohne daß im letzten Fall irgendeine Modifikation des einen oder anderen stattfände, könnten wir also im allerengsten Sinne des Wortes den einen Zustand als die Summe der beiden anderen darstellen, so könnte eine solche Beziehung (der Summe zu ihren Teilen) wohl als etwas ganz Festes und Typisches in Anspruch genommen werden.

Daß es Gebiete geben mag, in denen derartiges der Fall ist, soll nicht in Abrede gestellt werden. Von Wichtigkeit aber ist es, daß es andere gibt, in denen die Bedeutung des Komplexes in der Zusammenfügung von Bestandteilen sich nicht erschöpft, da zwischen diesen ein eigenartiger und nicht weiter erläuterbarer Zusammenhang stattfindet. Dies ist z. B. der Fall bei der Gesichtswahrnehmung, an der man das räumliche Element und den Empfindungsbestandteil, an jedem derselben wohl auch noch wieder verschiedene Bestandstücke einander gegenüberstellen kann, während man sie doch in der Empfindung, wie sie nun einmal ist, in einer zunächst nicht weiter erläuterbaren Weise verknüpft findet.

Bezeichnen wir also auch etwa das räumliche Element und das Empfindungsmaterial als die Bestandteile einer Gesichtswahrnehmung oder führen wir die einzelnen in ein Urteil eingehenden Vorstellungen als seine Teile auf, so werden wir doch beachten müssen, daß hier im Verhältnis des Teiles zum Ganzen jedesmal etwas Besonderes vorliegt, was in der Benennung "Komplex und Teil", eben wegen ihrer Unbestimmtheit nicht zum Ausdruck gelangt. Von Wichtigkeit ist die Beachtung dieses Umstandes deshalb, weil wir durch sie vor der Überschätzung der Erfolge gesichert werden, die wir vor einer Analysierung oder Zerlegung der komplizierteren Bewußtseinsphänomene erwarten können. In der Tat entschlüpft uns bei dieser Behandlung jedesmal das, worauf es in mancher Hinsicht wohl am meisten ankommen dürfte und was man etwa den funktionellen Zusammenhang der Elemente zu nennen hätte. Es ist natürlich hier nicht der Ort, darauf einzugehen, welche Einseitigkeit gelegentlich durch diese Behandlungsweise in die Psychologie hineingetragen worden ist.

Gegenüber der Unzulänglichkeit dieser Anschauung ist es jedenfalls als ein großer Fortschritt zu bezeichnen, wenn man gegenwärtig nicht nur in den eben behandelten Fällen dem funktionellen Zusammenhang der Bestandteile wieder erhöhte Aufmerksamkeit zuwendet, sondern auch in einfacheren Fällen, z. B. beim Verhältnis des Klanges zu den in ihn eingehenden Partialempfindungen, in dem man von einer Verschmelzung spricht, der eigenartigen Modifikation Rechnung trägt, in der das Einzelne im Komplex wiedergefunden wird. Möglich ist wohl (hierin liegt der vorhin gemachte Vorbehalt), daß eine weitere Untersuchung es dahin bringt, die Gesamtheit solcher Zusammenhänge auf eine Anzahl fester Typen zu reduzieren. Sollte es indessen, was mir vorderhand wahrscheinlicher ist, nicht gelingen, alle die feinen Modifikationen, die das Verhältnis des für sich vorgestellten oder empfundenen Einzelnen zu dem es umfassenden Komplex aufweisen kann, auf feste Typen zu reduzieren, so würden auch die eine derartige "Analyse" ausdrückenden Urteile (immer natürlich, sofern sie nicht ein Gesetz des psychischen Geschehens ausdrücken, sondern nur die unmittelbar gegebene Beziehung konstatieren wollen) als atypische Beziehungs-Urteile zu bezeichnen sein.

Ein sehr anderes Beispiel atypischer Beziehungen bieten uns sodann die logischen Verhältnisse im engeren Sinne. Eine ganz feste und typische ist es, die darin besteht, daß ein Urteil die notwendige Konsequenz eines oder mehrerer anderer ist. Wo wir konstatieren, daß sich aus gewissen Urteilen eine kleinere oder größere Wahrscheinlichkeit für ein anderes ergibt, da müssen wir wohl anerkennen, daß auch eine gewisse logische Beziehung vorliegt, welche aber, von Fall zu Fall variierend, nur durch jene unbestimmte, Verschiedenartiges zusammenfassende Bezeichnung ausgedrückt werden kann. So ist also z. B. das logische Verhältnis des Analogieschlusses ein atypisches. Das Gleiche gilt aber auch für die Induktion, sofern wir das Verhältnis des allgemeinen Stzes zu den Einzeltatsachen, aus denen man ihn ableitet, ins Auge fassen. Er folgt nicht aus ihnen, aber sie dienen doch zur Begründung, sie konstituieren eine gewisse Wahrscheinlichkeit für ihn. Auch hier fassen wir durch diese unbestimmte Bezeichnung alle die logischen Verhältnisse einzelner Induktionen zusammen, konstatieren dabei aber nicht in allen das nämliche, sondern nur ein ähnliches Verhältnis, schon im Wahrscheinlichkeitswert von Fall zu Fall variierend.

Übrigens ist es wahrscheinlich, daß die Kategorie dieser atypischen Beziehungen noch sehr reichhaltig, ja vielleicht ihrer Natur nach unbegrenzt und sozusagen ins Unbestimmte erweiterbar ist. Denn da wir in mannigfachster Weise die Bewußtseinsinhalte in Beziehung zu einander bringen können und da sich dabei sehr häufig irgendwelche wieder in einer Allgemeinvorstellung zusammenfassende Beziehungsgefühle ergeben werden, so wird man kaum daran denken wollen, das Gebiet zu erschöpfen. Doch ist fraglich, ob diese Erweiterungen auch in irgendeiner Hinsicht, am fraglichsten, ob sie in logischer Beziehung noch viel Interesse gewähren würden. Ja, es wird vielleicht nicht an Stimmen fehlen, welche schon die hier eben behandelten Fälle aus der Urteilslehre verbannen, sie nicht als wirkliche Urteile gelten lassen wollen. Im Prinzip nun würde mir das als ein ziemlich nutzloser Wortstreit erscheinen; doch darf man darauf hinweisen, daß die Subsumtion unter bestimmte Allgemeinvorstellungen (mittels deren wir z. B. eine aktuelle Empfindung als Grün oder als Kalt bezeichnen) stets als Urteil gegolten hat und nach ihrem ganzen psychologischen Tatbestand auch den typischen Urteilen so ähnlich ist, daß man sie kaum von ihnen wird trennen wollen. Da sich aber, wie vorher schon erwähnt, jedes atypische Beziehungsurteil als sie Subsumtion einer individuellen Beziehung unter eine Allgemeinvorstellung auffassen läßt, so wird man wohl auch die Einreihung derselben in die Urteilskategorie und die daraufhin gewählte Bezeichnung als zweckmäßig anerkennen müssen.
LITERATUR - Johannes von Kries, Zur Psychologie der Urteile, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 23, Leipzig 1899
    Anmerkungen
    1) ALEXIUS von MEINONG, Über die Bedeutung des Weberschen Gesetzes, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. XI, Seite 83f und separat Hamburg und Leipzig 1896
    2) Übersichtlicher ist die Definition in der mathematischen Zeichensprache. Wird für irgendeinen Körper ein umkehrbarer CARNOTscher Kreisprozeß zwischen zwei bestimmten Temperaturen  T1  und  T2  durchgeführt und dabei auf der höheren Temperaturstufe die Wärmemenge Q1 zugeführt, auf der niedrigeren Q2 entzogen, so ist das Verhältnis der beiden Temperaturgrade durch die Gleichung q11 definiert. t1 ist der Bruchteil des auf der höheren Temperaturstufe zugeführten Wärmequantums, der bei dem Prozeß als mechanische Arbeit abgegeben, in sichtbare Energie verwandelt wird. Das CARNOTsche Prinzip besagt, daß jene Verhältnisse bei bestimmten Temperaturen von der Natur des dem Kreisprozeß unterworfenen Körpers unabhängig sind. Auf ihm beruth also, wie die theoretische Bedeutung jener Definition überhaupt, so in erster Linie ihre Eindeutigkeit.
    3) ERNST MACH, Prinzipien der Wärmelehre 1896, Seite 308