p-4 R. SemonTh. ZiehenA. Lasson    
 
MAX OFFNER
Das Gedächtnis
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"Die psychische Kraft der Seele ist begrenzt. Sie braucht sich auf und ihr Nachlassen wird zunächst in einzelnen Betätigungen oder Vorgängen gleicher Art (spezielle Ermüdung) und dann in allen psychischen Vorgängen auch anderer Art (totale Ermüdung) bemerkbar." "Zwei Seiten des Reproduktionsvorganges sind gleich von vornherein zu trennen, die  inhaltliche  und die  formale.  Es ist gesondert zu betrachten der Inhalt, gesondert die Länge der zur Reproduktion nötigen Zeit oder die Schnelligkeit der Reproduktion (Reproduktionszeit), gesondert die Länge der Zeit, innerhalb der überhaupt noch eine Reproduktion eintreten kann oder die Dauerhaftigkeit der Dispositionen. Daß diese Bestimmungsstücke gelegentlich auseinander gehen, worauf wir bei Besprechung der Meßmethoden noch einläßlicher zurückkommen werden. So ist es klar, daß der Begriff der "Dispositionsstärke" eigentlich kein einfacher Begriff ist, sondern eher ein Sammelbegriff. Wir müssen immer an mehr als  eine  variable Erscheinungsform einer allerdings letzten Endes vielleicht doch einzigen Eigenschaft der Disposition denken."

V. Die Stärke der Dispositionen

A. Begriff der Stärke einer Disposition

Wir sind bereits wiederholt auf den Begriff der Stärke der Dispositionen geführt worden. Er heischt eine gesonderte Betrachtung. Man versteht unter  Stärke  einer Disposition den  Grad ihrer Leistungsfähigkeit.  Es ist aber selbstverständlich, daß wir diese Fähigkeit nicht direkt messen können, sondern nur an oder in ihren tatsächlichen Leistungen. Nun haben wir ja zwei Arten von Dispositionen wohl unterschieden. Vorstellungsdispositionen und Weiterleitungsdispositionen oder Assoziationen. Aber ihre Leistungen fließen zusammen und liegen uns zur Beobachtung und Messung in den Reproduktionsvorgängen nur vereinigt vor. An deren Zustandekommen sind aber auch noch andere Faktoren mitbeteiligt, so vor allem der anregende, d. h. der die Assoziationsdisposition und die Vorstellungsdisposition zur Wirksamkeit rufende psychische Vorgang, den man ungenau meist als reproduzierenden Inhalt bezeichnet. Diese die Beurteilung sehr erschwerenden Umstände muß man vor Augen halten, wenn man die Leistungsfähigkeit der Dispositionen, die man gewöhlich als Stärke oder Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses bezeichnet, richtig einschätzen will.

Zwei Seiten des Reproduktionsvorganges sind gleich von vornherein zu trennen, die  inhaltliche  und die  formale.  Es ist gesondert zu betrachten der Inhalt, gesondert die Länge der zur Reproduktion nötigen Zeit oder die Schnelligkeit der Reproduktion (Reproduktionszeit), gesondert die Länge der Zeit, innerhalb der überhaupt noch eine Reproduktion eintreten kann oder die Dauerhaftigkeit der Dispositionen. Daß diese Bestimmungsstücke gelegentlich auseinander gehen, worauf wir bei Besprechung der Meßmethoden noch einläßlicher zurückkommen werden. So ist es klar, daß der Begriff der "Dispositionsstärke" eigentlich kein einfacher Begriff ist, sondern eher ein Sammelbegriff. Wir müssen immer an mehr als  eine  variable Erscheinungsform einer allerdings letzten Endes vielleicht doch einzigen Eigenschaft der Disposition denken. Zu dieser Hoffnung, daß die Einfachheit dieser Eigenschaft letztlich doch noch erwiesen wird, gibt uns ein Recht der große Parallelismus zwischen jenen Erscheinungsformen oder Bestimmungsstücken. Er gibt uns auch das Recht, uns der kurzen Bezeichnung Dispositionsstärke zu bedienen, natürlich wo es not tut, nicht ohne Angabe der Richtung, in welcher die Stärke der Disposition sich zeigt. (vgl. MÜLLER und PILZECKER).

Auch in anderer Beziehung bedarf der Begriff der Dispositionsstärke noch näherer Bestimmung. Man kann in die Lage kommen sagen zu müssen: Eine starke Disposition wird durch eine schwächere kompensiert; das heißt nicht anderes als: Eine schwache Disposition ist stärker als eine starke. Es liegt auf der Hand, daß "stark" und "stärker" hier in zweierlei Sinn gebraucht ist. Das eine Mal besagt es, daß die Disposition sofort, nachdem sie ihre maximale Leistungsfähigkeit erreicht hat, also entweder sofort nach ihrer Entstehung oder aber nach späterer Verstärkung, eine größere Stärke oder Leistungsfähigkeit besitzt, als eine zweite am gleichen Entwicklungspunkt. Das andere Mal besagt es, daß im gegebenen Moment von zwei gerade wirksamen Dispositionen die eine mehr leistet als die andere. Wir werden also jene erste Stärke d. h. die Reproduktionsfähigkeit einer Disposition unmittelbar, nachdem sie durch ein einmaliges Erlebnis oder durch eine Reihe ununterbrochen aufeinander folgender Wiederholungen desselben Erlebnisses - oder, wie wir lieber sagen wollen, durch einen einzigen psychischen Vorgang bzw. durch eine Reihe unmittelbar sich folgender, qualitativ identischer psychischer Vorgänge geschaffen ist, als  Ausgangs-  oder  Anfangsstärke (Initialstärke)  bezeichnen. Wird durch spätere Wiederholungen die Dispositionsstärke noch über die Anfangsstärke erhöht, dann müssen wir von dieser die  Maximalstärke  unterscheiden.

Doch haben wir noch eine Unterscheidung zu machen. Maximal- und Initialstärke werden natürlich nur in der reproduktiven Leistung unmittelbar nach ihrer Erwerbung sichtbar. Diese ist aber mitbedingt durch die Perseveration [übersteigertes Nachwirken psychischer Einflüsse - wp], ist also ein Produkt aus zwei Faktoren, von denen wir den zweiten in Abrechnung bringen müssen, um die Größe des ersten rein zu bekommen. Ist es auch zur Zeit nicht möglich, die Perseveration auszuschließen, so müssen wir wenigsten begrifflich scheiden zwischen  scheinbarer Initial-  bzw.  Maximalstärke  d. h. Leistungsfähigkeit unter Mitwirkung der Perseveration und  wahrer,  d. h. ohne diese.

Tritt keine Steigerung ein, dann fallen Anfangs- und Maximalstärke zusammen. Da sich die Dispositionsstärke bekanntlich ändert und zwar, wenn keine Neustärkung erfolgt, konstant abnimmt, so ergibt die Messung später eine andere Größe wie zu Anfang. Die Stärke, die an irgendeinem Punkt der Entwicklung der Disposition durch Messung festgestellt wird, die zu irgendeinem Zeitpunkt als präsent gefunden wird, wollen wir  Präsenzstärke  heißen. Da hier, weil kein Neulernen unmittelbar vorhergegangen ist, auch keine Perseveration mitspielt, tritt die Dispositionsstärke rein zutage. Im angeführten Beispiel hatte die "überkompensierende" Disposition eine größere Präsenzstärke, aber eine kleinere Anfangsstärke oder Maximalstärke, weshalb sie schwach genannt war. Die "überkompensierte" oder unterdrückte Disposition dagegen schaute auf eine höhere Anfangsstärke oder doch danach erworbene höhere Maximalstärke zurück, besaß aber zur Zeit, als sie mit der anderen in Konkurrenz trat, bereits eine niedrigere Präsenzstärke. Durch diese Unterscheidung könnte man den Mißlichkeiten entgehen, die auch MÜLLER und PILZECKER aus den üblichen Definitionen des Begriffs "Assoziationsstärke" entstehen sehen.

Endlich sei nur noch kurz angedeutet, daß es sich bei diesen Messungen der Dispositionsstärke nur um die  Stärke-Unterschiede  der Dispositionen untereinander handeln kann.

Und der Vergleich mit dem Original, dem Empfindungs- oder Wahrnehmungsinhalt, liefert in der Größe der Übereinstimmung oder Abweichung, der sogenannten  Treue  des reproduzierten Inhaltes, lediglich  einen  Maßstab - neben anderen - zur Messung der Stärkegrade der verglichenen Dispositionen. Wir nennen einen Vorstellungsinhalt umso treuer, je mehr er mit dem Inhalt der seine Disposition begründenden Empfindung übereinstimmt in der Frische der Farben, der Tonqualitäten usw., in der Deutlichkeit der Formen, in der Anzahl und Klarheit der Einzelheiten. Der höchste Grad der Treue liegt vor, wenn der Vorstellungsinhalt Wahrnehmungscharakter annimmt, was im normalen Wachzustand nicht vorkommt, wenn also die oben [Kap IIf] besprochenen Unterschiede zwischen Empfindungsinhalt und Vorstellungsinhalt schwinden oder bei Vorstellungen, wenn der zweite Vorstellungsinhalt sich vom ersten nicht unterscheiden läßt. Komplexe sind endlich umso treuer, nicht nur je mehr ihre Teilinhalte den Originalen ähnlich sind, sondern auch je vollständiger sie sind, d. h. je weniger Teilinhalte die Reproduktionen gegenüber den Originalkomplexen verloren haben.


B. Messung der Stärke einer Disposition

Zur genauen Messung der verschiedenen Stärken der Dispositionen bestehen nun - das erfuhren wir schon im Vorausgegangenen - verschiedene Methoden. (1) Das Material, an dem auf experimentellem Weg die Gesetze der Bildung und der Wirksamkeit der Dispositionen gemessen werden, besteht zumeist aus Komplexen, vornehmlich Reihen, wie wir schon sahen. Mit besonderer Vorliebe benutzt man nach EBBINGHAUS' Vorgang Reihen von sinnlosen Silben aus zwei Konsonanten und einem Vokal dazwischen z. B. muf, sot, rat, föm. Da sie alle ziemlich gleich indifferent und gleich eingeübt sind, ist die Mitwirkung unkontrollierbarer anderer Faktoren möglichst ausgeschlossen, besonders nachden MÜLLER und SCHUMANN ein methodisches Verfahren gefunden haben, welches die Bildung solcher Silben und Silbenreihen (Normalreihen) erleichtert und zugleich Regeln aufgestellt haben, die beim Aufbau der Silbenreihen zu beachten sind, um ein möglichst gleichartiges Memoriermaterial zu gewinnen. Daß übrigens auch andere Lernstoffe herangezogen werden, haben wir schon gesehen.

Allen Methoden gemeinsam ist, daß die unter wechselnden Bedingungen geschaffenen Dispositionen in Wirksamkeit gesetzt und dann ihre Leistungen verglichen werden. Derjenige Komplex erscheint zunächst am besten eingeprägt bzw. die Dispositionen da am stärksten, wo die meisten Glieder wiedergegeben worden sind oder wo bei der Reproduktion am wenigsten fehlt. Das ist die  Methode  der behaltenen Glieder.  Sie  ist aber mit Sicherheit nur bei Zahlen-, Buchstaben-, Silben- und Wörterreihen verwendbar. Ihr Vorzug besteht darin, daß sie sowohl mündlich wie schriftlich durchführbar ist und sich darum auch für Massenuntersuchungen eignet. Das Quantum, das bei nur einmaliger Darbietung erfaßt werden kann, bezeichnet man nach dem Vorbild des bei den englischen Psychologen beliebten Ausdruckes  mental span,  mit Gedächtnisspanne (POHLMANN) oder Gedächtnisspannung (MEUMANN). Daraus bildete sich eine  Methode der Gedächtnisspanne. 

Nicht die Stärke der Dispositionen dagegen, sondern die Disponibilität, die Fähigkeit Dispositionen zu erwerben, stellt in erster Linie die  Erlernungsmethode  fest. In je kürzerer Zeit oder mit je weniger Wiederholungen ein Lernstoff bis zur sicheren Wiedergabe eingeprägt ist, umso besser ist das Gedächtnis - richtiger: ist die Lernfähigkeit, welche sich aus der Disponibilität und der Fähigkeit die Aufmerksamkeit zusammenzufassen und dauernd dem Stoff zuzuwenden zusammensetzt.

Die Stärke der Dispositionen mißt ferner die minder mühsame  Methode der Treffer,  die MÜLLER und PILZECKER ausgebildet haben. Durch einmalige oder mehrmalige Kenntnisnahme wird eine Reihe - Silben, Wörter, Zahlen - eingeprägt. Die Assoziationsstärke wird nun geprüft, indem einzelne Glieder aus der Reihe mit der Aufforderung dargeboten werden, das unmittelbar folgende oder das vorausgehenden Reihenglied zu nennen. Wird dieses reproduziert, so ist es ein Treffer. So werden bekanntlich Vokabeln abgehört.

Wie das Quantum des richtig Behaltenen gibt übrigens auch die Zahl der Treffer nur ein Maß für die Dispositionsstärke oder den Einprägungsgrad der  ganzen Reihe.  Über die Stärke einer  einzelnen Disposition  lehren beide Methoden wenig, über die versagenden nur, daß eben die Zuleitungsdisposition oder die Vorstellungsdisposition oder beide nicht mehr imstande sind, den zugehörigen Inhalt zu erzeugen, unterwertig sind, über die anderen, die überwertigen, daß sie dazu imstande sind. Über die verschiedene Stärke der überwertigen wie der unterwertigen Dispositionen aber - und gleichstark sind diese zweifellos nicht - verschaffen sie keine Aufschlüsse.

Wir aber dabei auch die Schnelligkeit der Reproduktion d. h. die zur Entstehung des Inhaltes eines assoziativ angeregten Vorganges (des Treffers) nötige Zeit -  Trefferzeit oder Reproduktionszeit  - gemessen, dann gibt die Treffermethode als  Zeitmethode  einen guten Einblick in die Stärke wenigstens der überwertigen Dispositionen, bei Silben- und Wörterversuchen speziell der assoziativen Dispositionen (MÜLLER und PILZECKER) wie auch in die Verteilung der Aufmerksamkeit. Es gilt dabei der Satz: Die Trefferzeit steht im umgekehrten Verhältnis zur Stärke der Dispositionen. Das ist übrigens die sogenannte  rohe  Reproduktionszeit. Vom Darbieten eines Reizes, einer Silbe oder eines Wortes, durch den Versuchsleiter bis zum bei Bewußtwerden des damit assoziierten Gliedes (des Treffers) ausgeübten Druck auf den Taster des registrierenden Chronometers und dem Aussprechen der Silbe oder des Wortes (des Treffers) durch die Versuchsperson spielen sich mehrere psychophysische Vorgänge ab, von denen streng genommen nur zwei eng zusammengehörige, der Weitergang der Erregung von der Vorstellungsdisposition des vom Versuchsleiter dargebotenen auslösenden Reizes (Silbe, Wort) zur assoziierten Disposition des zu reproduzierenden Gliedes und das Anwachsen der in dieser Dispositionsstelle ausgelösten Erregung bis zum Bewußtwerden des zugehörigen Inhaltes, als Reproduktion angesprochen werden dürfen. Die zu dieser Weiterleitung und zur Entstehung eines die Bewußtseinsschwelle überschreitenden Erregungszustandes erforderliche Zeit ist die sogenannte  reine  Reproduktionszeit oder bei anderer Terminologie die reine Assoziationszeit. Da aber kein Grund ersichtlich ist, warum bei einer Verstärkung der Dispositionen auch die übrigen Vorgänge eine Verkürzung erfahren sollten, so nimmt man diese als konstant an d. h. wenigstens unabhängig oder unvariabel gegenüber einer Variation der Dispositionsstärke. Dadurch ist man berechtigt, sich zur Messung der Dispositionsstärken der viel leichter feststellbaren rohen Reproduktionszeit zu bedienen (vgl. ZIEHEN).

Und die Tatsache, daß die Treue (Richtigkeit) der Reproduktion der Reihen und die Reproduktionszeit in gewissem Zusammenhang stehen, daß die richtigen Reproduktionen sich schneller vollziehen, als die falschen (MÜLLER und PILZECKER, BIGHAM) und daß ein ähnlicher Parallismus zwischen Trefferzeit und Trefferzahl (EPHRUSSI) besteht, beweist die Brauchbarkeit der Reproduktionszeit als eines Maßstabes der Dispositionsstärke. Und noch einen Vorzug hat die Messung der Trefferzeit. Bei den ersterwähnten Methoden ist eine weitere Stärkung der Dispositionen nicht mehr zu bemerken, wenn einmal alle Glieder fehlerlos reproduziert werden. Die Messung der Reproduktionszeit aber zeigt, daß bei weiteren Wiederholungen überwertiger Reihen die Reproduktionszeit bis zu einem Minimum immer noch abnimmt, also die Stärke der Assoziation noch wächst. Immerhin ist die Reproduktionszeit ein mit Vorsicht zu gebrauchender Maßstab. Wir beobachten ja oft genug, daß dieselben Vorstellungsinhalte und Gedanken sich heute langsam und morgen rascher einstellen, daß die Leichtigkeit unseres Vorstellungsganges im Laufe des Tages wechselt und von körperlichem Befinden, seelischer Stimmung und anderen Dingen abhängt. Und eine andere schon berührte Schranke liegt auch für diese Methode darin, daß sie nur über die überwertigen Dispositionen, aber nichts über die unterwertigen aussagen kann.

Auch die unterwertigen Dispositionen, richtiger: Assoziationen - denn in diesen Silbenversuchen handelt es sich nur um Assoziationsdispositionen, da die Vorstellungsdispositionen für die Silben als maximalstark und einer merklichen Steigerung nicht mehr fähig gelten - kommen bei dem von EBBINGHAUS angewendeten  Ersparnisverfahren,  das uns schon begegnet ist, erstmals zur Wirksamkeit. Man erspart beim Neulernen einer Silben- oder Wörterreihe bis zum fehlerfreien Hersagen umso mehr an Wiederholungen (Durchlesen, Vorsagen) oder an Lernzeit, je fester sie beim ersten Lernen eingeprägt wurde oder die Assoziationen erreichen umso eher wieder die ursprüngliche Höhe ihrer Fähigkeit, die Erregung weiterzuleiten und in den assoziierten Vorstellungsdispositionen das zur Erzeugung der Inhalte nötige Maß von Erregung herbeizuführen, je größer ihre Initialstärke war; von späterer Verstärkung (Maximalstärke) sei hier abgesehen. Es wird also ihre noch vorhandene Stärke (Präsenzstärke) indirekt durch die Zahl der zum Wiederlernen noch nötigen Wiederholungen oder durch ihr Zurückbleiben hinter dem zu erstmaligen Lernen nötigen Wiederholungszahl oder durch die Lernzeit gemessen. Diese Kumulativmethode gibt nur über die Stärke der Reihen, nicht der einzelnen Dispositionen Aufschluß. Ein Mangel der Methode ist auch, daß das entscheidende Urteil über Können und Nichtkönnen einer Reihe der Selbstbeobachtung der Versuchspersonen überlassen werden muß, also subjektiv ist.

Gerade die einzelnen und zwar die schwachen Stellen, die unterwertigen Assoziationen, werden durch die  Methode der Hilfen  geprüft. Eine Reihe wird eingeprägt und nach bestimmter Zeit ihre Reproduktion verlangt. Da, wo die Reproduktion stock, wird das erwartete Glied sofort mitgeteilt. Je größer die Zahl der Hilfen, umso schwächer ist die Reihe als Ganzes eingeprägt (EBBINGHAUS). Über die Stärke der einzelnen schwachen Dispositionen bei aufeinanderfolgenden Wiederholungen immer wieder der Hilfe bedürfen. Aus der Zahl der bis zur sicheren Reproduktion nötigen Hilfen, d. h. der nachträglichen Wiederholungen kann man auf die Stärke oder Schwäche, welche die Disposition nach ihrer Schaffung besaß (Anfangsstärke) zurückschließen.

Diesen Methoden als den  Reproduktionsmethoden  stellen sich die  Vergleichsmethoden  oder  Wiedererkennungsmethoden , speziell die von REUTHER ausgebildete  Methode der identischen Reihen  an die Seite. "Sie gründet sich auf die Tatsache, daß nach einer Zwischenzeit noch unverändert gebliebene Reihenglieder dem Beobachter den Eindruck der Neuheit machen und daß diese bei umso mehr Gliedern der Fall ist, je mehr Zeit seit der Einprägung verflossen ist, sei es nun, daß die Länge der verflossenen Zeit allein oder zum Teil auch die ungenügende Stärke der dispositionsschaffenden Faktoren im einzelnen Fall diese Wirkung ausüben." REUTHER bot Reihen vierstelliger Zahlen mehrmals dar und nach einer Zwischenzeit dieselbe (identische) Reihe zwischen neuen (Verhütungsreihen) wieder. Die Versuchsperson hatte nun anzugeben, welche Zahlen ihr "alt", welche "neu" vorkamen. Durch diese einfache Art, die Wirksamkeit einer Disposition zu erkennen, ist diese Methode den Reproduktionsmethoden überlegen, bei denen die sprachliche oder schriftliche Wiedergabe des Gelernten immerhin Störungen und Verzögerungen und damit Trübung des Ergebnisses bewirken kann. Aber ihr Mangel ist, daß das Wiedererkennen ein weniger einfacher Prozeß ist und daß durch die Entscheidung bloß zwischen "alt" und "neu" der Grad der Bekanntheit, d. h. die unterschiedliche Präsenzstärke der Dispositionen nicht zum Ausdruck kommt. Außerdem wird durch den - übrigens auch nicht immer gleich starken - Glauben der Versuchsperson, stets andere Reihen vor sich zu haben, ihr Urteil beeinflußt. In umgekehrter Richtung erfährt dieses einen Einfluß, wenn die Versuchsperson einmal dahinter gekommen ist, daß auch alte Reihen eingemischt sind.

Man kann dieses Verfahren, wie AUGUSTE FISCHER es tut, mit der Methode der Hilfen verbinden, indem man bei Stockungen der Versuchsperson, um ihr weiterzuhelfen, bald die richtige Silbe, bald eine unrichtige (Vexierhilfe) angibt. Die Versuchsperons muß dann entscheiden, ob die dargebotene Silbe die richtige war oder nicht  (Methode der Vexierhilfen). 

Schließlich haftet noch eine Schwierigkeit allen diesen Versuchen, die Stärke einer Assoziation festzustellen, an, die Schwierigkeit nämlich, die Verschiedenheit der Stärke der Vorstellungsdispositionen in Abrechnung zu bringen. Denn selbst die sorgfältigste Auswahl und Zusammenstellung von Zahlen, Buchstaben, Silben oder gar Wörtern kann es nicht verhindern, daß Elemente zusammengestellt werden, die noch nicht absolut gleich stark eingeprägt sind oder die mehr auffallen und dgl. Am wenigsten treffen diese Mängel vielleicht die Zahlen, sofern man Anklänge an Geschichtszahlen und dgl. vermeidet. Aber absolut homogenes Material läßt sich auch da noch nicht gewinnen.

Endlich ist nicht zu vergessen, daß das Material, mit dem die experimentelle Psychologie bei ihren nur die einfachsten Vorgänge erforschenden Versuchen zumeist arbeitet (Reihen von Buchstaben, Silben, Wörtern, Zahlen), so beschränkt und so einseitig und auch die Anzahl der bis jetzt geprüften Individuen verhältnismäßig noch so gering ist, daß man nicht ohne weiteres die an diesem Stoff gefundenen Gesetze auf alle Formen des Vorstellungslebens übertragen und das an diesen Individuen Gefundene auf alle anwenden darf. Diese Einschränkung hat man sich stets vor Augen zu halten, wenngleich schon viele erfolgreiche Versuche gemacht worden sind, die an jenem einseitigen Material gewonenen Gesetzmäßigkeiten auch für andere Gebiete nachzuweisen und zugleich durch wiederholte Überprüfung der Versuchsergebnisse mit stets anderen Personen verschiedenster Typen der individuelle Faktor sich immer mehr verkleinern, bzw. deutlicher feststellen und entsprechend in Rechnung setzen läßt.

Noch ein Maßstab für die Stärke einer Disposition, Assoziation wie Vorstellungsdisposition, ist endlich ihre  Wirksamkeit unter ungünstigen Umständen,  im Zustand der Krankheit, der Altersschwäche, des Affektes, besonders des Schreckens, endlich auch der Ermüdung. So fand HÖPFNER, daß mit zunehmender Ermüdung durch zweistündiges Diktatschreiben die in der Schule erworbene richtige Schreibung unsicherer wurde und immer mehr die viel früher erlernte und zuhuase gepflegte Umgangssprache, also ältere und öfter geübte Erwerbungen, die Schreibung beherrschte, d. h. orthographische oder Schreibfehler veranlaßte. Diejenige Disposition, die unter solch erschwerenden Verhältnissen noch wirksam bleibt, ist zweifellos stärker, als solche, die dadurch gelähmt werden. Exakte Messung ist aber dabei in den meisten Fällen natürlich ausgeschlossen.


C. Bedingungen der Stärke einer Disposition

1. Intensität des psychischen Vorgangs

Fragen wir nach den Umstänmden, welchen es ein Eindruck, ein Inhalt zu danken hat, daß sein Bild länger dauert, deutlicher, farbenfrischer, vollständiger ist, als dasjenige anderer, so sagt uns ein Blick auf die Alltagserfahrung, daß im allgemeinen ceteris paribus [unter vergleichbaren Verhältnissen - wp] das nachhaltigste Bild hinterlassen  die stärksten Eindrücke.  Verletzungen, die uns wenig Schmerz verursachten, vergessen wir bald, sehr schmerzhafte dagegen hinterlassen eine bleibende Erinnerung und Warnung. Darum sprechen wir die wichtigsten Worte unserer Reden laut und benutzt die Reklame große Lettern und schreiende Farben. Darum erinnern wir uns an selbsterlebte Ereignisse (Wahrnehmungsinhalte) viel besser, als an solche, die uns nur durch die Erzählungen anderer oder durch Lesen bekannt geworden sind (Vorstellungsinhalte). MÜLLER und SCHUMANN haben beim Lernen trochäisch [ohne Betonung - wp]gesprochener Silben gefunden, daß von einer stark betonten Silbe zur nächsten stark betonten sich eine stärkere sogenannte mittelbare Assoziation bildete, als von einer schwach betonten zu einer anderen schwach betonten.

Und es ist nur eine Bestätigung, wenn CALKINS, die sinnlose Silben mit Zahlen paarweise lernen ließ, bald unter starker Betonung bald ohne solche, von sehr laut vorgesprochenen Paaren 56 Prozent, von den nicht betonten nur 27 Prozent bei der Nachprüfung assoziiert fand oder wenn BIERVLIET konstatierte, daß Silbenreihen in sehr großer Schrift sich besser einprägten, als gleichlange in mittlerer.  Ceteris paribus ist also die zurückbleibende Disposition umso stärker, je stärker, je intensiver der die Disposition stiftende psychische Vorgang war. 

Diese Intensität oder Stärke des psychischen Vorganges fließt aber nicht aus  einer  Quelle. In den vorausgegangenen Beispielen schien sie zwar lediglich bedingt durch die Intensität der Reize. Aber davon allein kann die Lebhaftigkeit und Deutlichkeit der Inhalte doch nicht abhängen. Denn selbst schwache Empfindungsinhalte vermögen wir, sofern wir frisch sind und keine stärkeren oder doch gleichstarken Inhalte gleichzeitig im Bewußtsein stehen, recht deutlich aufzufassen und uns fester einzuprägen, als erheblich stärkere Inhalte, wenn wir ermüdet sind oder wenn noch stärkere Inhalte unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken. Gleichwohl müssen wir annehmen, daß die von den Reizen zugführte Erregung im ersten Fall gering, im zweiten erheblich war. Und wenn wir uns weiterhin erinnern, daß Reize, die objektiv nach Qualität wie Quantität völlig gleich sind, doch zu verschiedenen Zeiten verschieden auf uns wirken, uns das eine Mal wenig berühren, das andere Mal aber ganz in Anspruch nehmen, so sehen wir uns auch dadurch zu der Annahme gedrängt, daß zum dem vom Reiz hervorgerufenen psycho-physischen Vorgang noch etwas hinzutreten muß. Der Gesamtorganismus muß auch etwas beisteuern, muß ihm die Möglichkeit geben, sich zur Geltung zu bringen. Es ist, als ob der Vorgang von einem Vorrat nehme, der sich in der Dauer der Betätigung aufbraucht, der in den Zuständen der körperlichen Ermüdung und der Krankheit geringer ist und rascher zuende geht, der sich durch Ruhe und Nahrung wieder ergänzt. Wir wollen dieses nicht näher beschreibbare, aber quantitativ begrenzte Etwas in oder an der Seele, das zu einer von einem Reiz herbeigeführten Erregung hinzukommen muß, in und durch diese, um einen kaufmännischen Ausdruck zu benützen, erst flüssig gemacht werden muß, damit ein psychischer Vorgang und vor alle ein bewußter Vorgang enstehen kann, im Anschluß an LIPPS (2)  psychische Kraft  nennen. Von dieser psychischen Kraft fließt dem einzelnen psycho-physischen Vorgang besonders je nach der Reizstärke zu oder eignet sich von ihr nach Maßgabe seiner  psychischen Energie  an. Und was er sich so erringt, die Erregung, die sich so dank seiner Energie und dank der herangezogenen psychischen Kraft entfaltet, ist  seine Kraft,  wie LIPPS sagt, ist  seine Intensität,  wie ich es, um Verwechslungen zu vermeiden, lieber nennen möchte.

Ist seine Energie wie in jenem ersten Fall gering, aber der psychische Kraftvorrat groß und ihm nicht von mächtigeren Konkurrenten entzogen, dann erreicht er doch eine relativ hohe Intensität. Es entsteht ein deutlicher, sich fest einprägender Inhalt und bleibt es bleibt auch eine leistungsfähige Disposition zurück.

Ist hingegen zwar seine psychische Energie groß, aber der zur Verfügung stehende Kraftvorrat der Seele gering, wie in jenem zweiten Fall, dann ensteht ein weniger deutlicher und klarer Inhalt und bleibt eine weniger leistungsfähige Disposition zurück als sonst, d. h. die Eindrücke hinterlassen kein oder doch nur ein untreues, undeutliches, mattes Erinnerungsbild.

Verliert der psychische Vorgang an Intensität und hört er schließlich ganz auf, so liegt es am nächsten, an ein Nachlassen der beiden oder des einen der beiden Faktoren zu denken. Die psychische Kraft der Seele ist begrenzt, wie wir sahen. Sie braucht sich auf und ihr Nachlassen wird zunächst in einzelnen Betätigungen oder Vorgängen gleicher Art (spezielle Ermüdung) und dann in allen psychischen Vorgängen auch anderer Art (totale Ermüdung) (3) bemerkbar. Wo aber, wie bei einer einmaligen, kurzdauernden Empfindung, eine spezielle Erschöpfung der psychischen Kraft ausgeschlossen ist, da muß das Aufhören des Vorgangs seinen Grund im Nachlassen eines anderen Faktors, der Fähigkeit, sich psychische Kraft anzueignen und festzuhalten, im Schwinden der ebenfalls begrenzten psychischen Energie des Vorgangs haben. Die psychische Kraft kommt anderen Vorgängen zugute, weiter geleitet vornehmlich durch die Assoziationen als Bahnen zur Weiterleitung der Erregung wie der psychischen Kraft.

Nach diesem Exkurs in das der Hypothesen nicht entraten könnende Gebiet der erklärenden Psychologie, wodurch sich uns vom psychischem Geschehen ein Bild zeigte, das sich mit dem Bild, das sich die Physiologie davon entworfen hat, besser verträgt, als es auf den ersten Blick scheinen mag, kehren wir wieder zurück zum Ausgangspunkt, zur Intensität eines psychischen Vorganges als dispositionsschaffendem Faktor. Intensität des psychischen Vorganges - nicht des Reizes - und Stärke der zurückbleibenden Disposition stehen also in direktem Verhältnis.


2. Dauer des psychischen Vorganges

Die mangelnde Intensität eines Eindruckes, eines psychischen Vorganges wird bis zu einem gewissen Grad ersetzt durch seine  längere  Dauer. Flüchtige Eindrücke haften schlechter als länger anhaltende, gleichfalls eine Alltagserfahrung, die z. B. POHLMANN wiederholt bei seinen Assoziationsversuchen bestätigen konnte. Reihen von Silben und solche von einzelnen Wörtern ließ er je ein einziges Mal lesen oder sprach sie vor oder beides und zwar so, daß bei einer Versuchsgruppe je 2 Sekunden Darbietungszeit auf ein Glied entfielen, bei der anderen je 1 Sekunde. Bei der Prüfung ergaben sich ausnahmslos für die 2-Sekunden-Reihen erheblich mehr Treffer. Ebenso fanden mit dem Trefferverfahren TH. L. SMITH und EPHRUSSI, welche als Maximalgeschwindigkeit für das einübende Lesen dasjenige Tempo wählte, bei dem die Versuchsperson den vorgeführten Lernstoff gerade noch laut und ohne sich zu versprechen ablesen konnte, daß längere Darbietungszeiten leistungsfähigere Dispositionen - mehr richtige Reproduktionen und kürzere Reproduktionszeiten - schufen. Wenn dagegen EPHRUSSI, LOTTIE STEFFENS, EBBINGHAUS mit Hilfe des Erlernungsverfahrens fanden, daß größeren Lesegeschwindigkeiten auch kürzere Lernzeiten entsprachen, so erklärt sich diese Abweichung aus den Eigentümlichkeiten des Erlernungsverfahrens, das sich für die Frage nach dem dauernden Lernerfolg der Dispositionsstärke als weniger brauchbar erweist. Denn bei der Prüfung durch sofortige Reproduktion ist das Ergebnis nicht bloß bedingt durch die Dispositionsstärke, sondern auch durch die Perseveration, was übrigens EPHRUSSI nicht entgangen ist.

EPHRUSSIs Versuche und diejenigen JACOBs haben auch gezeigt, daß die durch rascheres Lesen gestifteten Assoziationen mit der Zeit viel rascher abfallen als die bei langsamerem Lesen gestifteten, daß ferner das Lernen mit größerer Lesegeschwindigkeit die Versuchsperson in ihrer Auffassungsfähigkeit stärker beeinträchtigt, mehr ermüdet als das Lesen mit geringerer Geschwindigkeit.  Mit Abnahme der Zeitdauer der Darbietung von einer gewissen, von Individuum zu Individuum wechselnden Grenze ab, dem individuellen Optimum, aber auch mit ihrer Zunahme wegen des damit verbundenen Nachlassens der Aufmerksamkeit bleiben also zunehmend schwächere Dispositionen zurück.  Da sie somit rascher unterwertig werden, nimmt auch rascher, wenngleich unstetig, die Menge des Behaltenen ab (REUTHER).
LITERATUR - Max Offner, Das Gedächtnis, Berlin 1911
    Anmerkungen
    1) Die Methoden sollen im obigen nur kurz skiziiert werden. Wer sich einen Einblick verschaffen will, sei auf ERNST MEUMANN, Ökonomie und Technik des Gedächtnisses, Leipzig 1908 und R. SCHULZE, Aus der Werkstatt der experimentellen Psychologie und Pädagogik, Leipzig 1909 verwiesen. Über die Gedächtnisapparate von MÜLLER, RANSCHBURG, WIRTH und SCHULZE vgl. SCHULZE, ebenda Seite 181ff
    2) Vgl. meine Darstellung der LIPPschen Psychologie und E. BISCHOFF, Die Bedingungen der psychischen Energie, München 1906
    3) Vgl. dazu OFFNER, Die geistige Ermüdung, Seite 63