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WILHELM SCHLECHTWEG
Moderne Willenstheorien

"Wir können die Ergebnisse der Untersuchungen, die in jüngster Zeit dem Trieb gewidmet wurden, in zwei Gruppen sondern. Die erste bestreitet, daß der Trieb überhaupt eine Willensregung ist, die zweite läßt ihn als solche gelten."

Einleitung

In den letzten Jahren hat sich das Interesse an psychologischen Fragen und Untersuchungen in erfreulicher Weise gesteigert. Das hat seinen Grund einmal in dem zunehmenden Interesse an philosophischen Problemen überhaupt, andererseits wohl in den Ergebnissen einer neuen Methode, wie sie in der "Experimentalpsychologie" Verwendung findet. Es wäre zu wünschen, daß die Aufmerksamkeit, die man heute der Psyche und ihren Vorgängen mehr denn je zuwendet, Resultate erzielte, die einen Fortschritt in der Erkenntnis der Wirklichkeit bedeuten. Leider macht die uns vorliegende psychologische Literatur einen recht vielfältigen Eindruck, der uns dazu verleiten könnte, an einem solchen Fortschritt zu zweifeln, wenn wir nicht doch an das Vordringen der Wahrheit glaubten. Denn man streitet nicht nur über diesen oder jenen psychischen Vorgang, der noch nicht genügend aufgeklärt ist, sondern über jedeweden. Von diesem Streit der Meinungen, die sich auf genaue Beobachtungen und gewissenhafte Versuche gründen, wird nicht in letzter Linie der "Wille" betroffen, obgleich im allgemeinen die spezielle Untersuchung des Willenslebens das Aschenbrödel psychologischer Forschung ist. Geradezu um alles und jedes, was im Willensleben aufstößt, handelt es sich in diesem Hin und Her der Ansichten, nicht nur um einzelne nebensächliche Spezialpunkte, sondern um das Wesen des Wollens selbst, um seine charakteristische Eigenheit. Angesichts dieser Tatsache ist es eine nicht uninteressante Aufgabe, die hauptsächlichsten Lösungsversuche des willenspsychologischen Problems, wie sie von modernen Psychologen angestellt wurden, klar voneinander zu sondern und zu prüfen. Diese Prüfung hat sich lediglich auf Daten der psychischen Erfahrung zu stützen. Sie könnte theoretisch unser Willensleben neu beleuchten und dadurch auch der Praxis dienen, wo es so unendlich viel bedeutet.

Gar oft bietet die Sprache des gewöhnlichen Lebens treffliche Anhalts- und Richtungspunkte für psychologische Untersuchungen; denn in ihr gelangt das, was der Seele eignet und in vorgeht, zum Ausdruck. Sie bildet so gleichsam die Urkunde, aus der der "Tatbestand" seelischer Vorgänge zu ersehen ist. Wie aber eine solche Urkunde in keinem Fall ganz genau bis in die kleinsten Einzelheiten das wiederzugeben vermag, was der Augen- und Ohrenzeuge bei der Beobachtung eines Vorfalls wirklich gesehen und gehört hat, so ist auch die Sprache nicht immer das getreue Abbild dessen, was wirklich an Seelengeschehnissen auftritt. Soviel ist gewiß, daß sie eine reiche Schatzkammer von Resultaten richtiger Beobachtungen ist, aus der die Psychologie schon manches Kleinod hat nutzbringend verwerten können und der sie niemals ganz entraten sollte. Mustern wir also zu Beginn auch unserer Untersuchung zunächst den Inhalt dieser Kammer, um zu sehen, ob wir unter ihm nicht irgendwelche Objekt erspähen, die uns in unserem Fall dienlich sein könnten. Wir finden solche in der Tat. Der gemeine Mann spricht von dem, was er  will,  in gar vielen Augenblicken seines Lebens. Oft aber folgt diesem "ich will" in einem anderen Satz das "ich möchte" oder "ich wünschte" unmittelbar auf dem Fuße auch dann, wenn derselbe seelische Akt durch diesen zweiten Satz ausgedrückt werden soll, der auch im ersten seine wörtliche Einkleidung fand. Erst wenn der Sprechende ganz nachdrücklich und unzweideutig hervorheben will, daß ein Wollen bei ihm vorliegt, gebraucht er das Verbum "wollen" im bewußten Gegensatz zum "wünschen". In dieser Erfahrung, die wir täglich machen können, ist uns ein Fingerzeig dafür gegeben, daß Wollen und Wünschen höchstwahrscheinlich verwandt und auf gemeinsame Grundelemente zurückzuführen sind. An diese Vermutung, die die Befragung der Sprache nahelegt, lassen sich nun prüfende Beobachtungen anschließen, die auf die Feststellung des wirklichen Inhalts der in Betracht kommenden Akte eingestellt sind. Ein Blick in die Literatur der psychologischen Wissenschaft im allgemeinen und in die Monographien, die sich mit dem Willensleben beschäftigen, im besonderen zeigt, daß fast alle bezüglichen Untersuchungen ergeben haben, daß wir von einem Wollen im weiteren und einem solchen im engeren Sinne zu sprechen haben. Daß die von den einzelnen Psychologen gewählten Benennungen sehr voneinander abweichen, tut der einheitlichen Einteilung in jene beiden Gattungen des Wollens keinen Abbruch. Welche Phänomene nun aber zu dieser oder jener Gattung von Willenserlebnissen zu rechnen sind, ob und wie sie sich voneinander abgrenzen lassen, ferner, was in diesen Erlebnissen wesentliche und was zufällige Momente sind, das sind alles Fragen, die man sehr verschieden beantwortet hat. Die diesbezüglichen Lösungsversuche alle in ihrem wahren Lebensnerv zu erkennen und demgemäß zu sondern und zu ordnen, ist eine Aufgabe, die mehr Schwierigkeiten in sich schließt, als ein erster Blick erraten läßt. Denn häufig will es scheinen, als ob zwei Ansichten völlig konform sind, die in Wirklichkeit soweit auseinanderklaffen, daß sie als ganz unvereinbar gelten müssen. Dazu gesellt sich dann noch der Umstand, daß die von den Autoren verwendeten Begriffe stets mit Vorsicht gebraucht werden müssen, da sie bei gleichem Namen oft verschiedenen Inhalt haben. Aus ihm erwächst an manchen Stellen die Notwendigkeit, einige Einzelheiten gewisser Gegenstände schon da klarzulegen, wo diese Gegenstände selbst noch nicht zur ausführlichen Besprechung stehen. Der gerade Gang der Darstellung mag notgedrungen etwas darunter leiden.

Es soll von einem weiteren Begriff des Willens ausgegangen und zu einem engeren fortgeschritten werden, da auf diese Weise eine Bestimmtheit nach der anderen aufgebaut wird, während beim umgekehrten Gang immer mehr abgebrochen werden müßte. Wir haben dann gleichzeigit größere Gewißheit, bei den weiteren Untersuchungen festen Boden unter den Füßen zu haben. Vorher muß aber noch ein vielumstrittener psychischer Vorgang eingehend besprochen werden, der von vielen weder zum Bereich des Willens im weiteren noch desjenigen im engeren Sinne gerechnet wird; und auch diejenigen, die ihn hier oder dort eingliedern, pflegen ihr für sich zu betrachten. Wir meinen den Trieb. Es möchte geboten erscheinen, erst den Willen und danach den Trieb in den mannigfachen Auffassungen zu beleuchten und diese nach ihrer Berechtigung zu prüfen, aber aus wohlerwogenen Gründen, die im Verlauf der Untersuchung deutlich werden, soll zuerst dem Trieb unsere Aufmerksamkeit gelten.


1. Kapitel
Der Trieb

Für die Beantwortung der strittigen Frage, was der Trieb ist und zu welcher Art von seelischen Bestimmtheiten er zu zählen ist, kann selbstredend nichts anderes in Betracht kommen, als das Wesen des Triebes selbst und sein Vergleich mit anderen psychischen Phänomenen. Lassen wir zunächst die wesentlichsten Auffassungen vom Trieb an unserem Auge vorüberziehen, um sie mit den Daten unserer Erfahrung zu vergleichen, ihre etwaigen Schwächen und Fehler zu erkennen und, wo es nötig erscheint, zu korrigieren. Eine solche Behandlung wird dann schon notwendigerweise Bausteine für unsere eigene Ansicht liefern. Ihre ausführliche Darstellung und Begründung soll die Besprechung des Triebes schließen.

Wir können die Ergebnisse der Untersuchungen, die in jüngster Zeit dem Trieb gewidmet wurden, in zwei Gruppen sondern. Die erste bestreitet, daß der Trieb überhaupt eine Willensregung ist, die zweite läßt ihn als solche gelten.


A. Der Trieb, keine Willensregung

1. Einerseits wird behauptet, der Trieb sei ein Zusammen von Gefühl, Vorstellung und Empfindung (1). Um diese Ansicht verstehen zu können, bedarf es einer etwas weiteren Auseinandersetzung. Die Theorie geht von einem Standpunkt aus, von dem eine dreifache Wirkungsweise der Seele angenommen wird. Die Seele bildet in jedem dieser drei Fälle die wirkende Bedingung für eine auftretende Veränderung, sei diese nun eine innere oder äußere Handlung. In ihrer gegenständlichen Bestimmtheit (in den Besonderheiten von Wahrnehmung oder Vorstellung) kann sie nur unbewußt und unwillkürlich, d. h. ohne Bezugnahme auf die zu bewirkende Veränderung, zur wirkenden Bedingung werden. "Alle unmittelbaren Wirkungen der Seele sind Gehirnveränderungen" (Sete 436). Durch diese Veränderungen kann die Seele aber auch mittelbar auf sich wirken. Dies geschieht jedesmal dann, wenn eine Vorstellung eine andere oder eine Wahrnehmung eine Vorstellung reproduziert, oder besser, wenn wir uns irgendeines Gehabten erinnern. Dann übt die gegenständliche Bestimmtheit eine Wirkung auf das Gehirn aus, durch die die zweite Vorstellung im Bewußtsein auftritt. Daß alle diese Wirkungen unbewußt und unwillkürlich sind, wird uns deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß sie z. B. jederzeit während unseres Denkens ausgeübt werden. Auch das Zustandsbewußtsein, sei es Lust oder Unlust, vermag eine solche Stellung im Wirken einzunehmen, insofern nämlich die "Äußerungen der Gemütsbewegungen" ohne unseren Willen und ohne das Bewußtsein, daß wir selbst, oder besser, unsere Seele selbst die tatsächliche Bedingung ist, Veränderungen bewirken können.

Die zweite Art des Wirkens zeigt die Seele  in ihrer Beziehung  auf die vorgestellte Veränderung. Sie ist sich ihres Wirkens in diesem Fall bewußt und vollzieht das Wirken "mit Willen".

In der Mitte nun zwischen jenem unbewußten, unwillkürlichen und diesem bewußten, willkürlichen Wirken unserer Seele steht das zwar bewußt, aber unwillkürliche Wirken. In ihm wird die wirkende Bedingung durch ein Zusammen von Zustands- und Gegenstandsbewußtsein gebildet. Wir haben in den Augenblicken, in denen wir ein solches Wirken vorfinden, also das Bewußtsein, daß wir selbst wirkende Bedingung für eine auftretende Veränderung sind, ohne daß wir diese bewirken "wollen". "Soviel steht fest, daß diese seelische Bestimmtheit die Bezeichnung "Trieb" erhält, weil die ihres Handelns sich bewußte Seele zugleich jener ihrer Bestimmtheit als der eigentlichen wirkenden Bedingung der Handlung, die eben Triebhandlung heißt, sid bewußt ist" (2). Eine Grundstellung nimmt in diesem "Zusammen" das Zustandsbewußtsein ein, also das Gefühl, während das Gegenstandsbewußtsein von untergeordneter Bedeutung ist. Dieses aber umfaßt zur Zeit des bewußten, unwillkürlichen Wirkens zweierlei, eine Vorstellung (oder Wahrnehmung) und eine Empfindung. Letztere ist als eine sogenannte Muskelempfindung näher gekennzeichnet. Als solche bringt sie uns ein "Drängen" unbestimmter Art zum Bewußtsein. "Drangempfindung ist eine bestimmte Muskelempfindung, aber keine Empfindung  nach Veränderung,  wie ohne weiteres klar sein wird." (3) In diesem Tatbestand nun, den unsere Seele bei dieser dritten Art des Wirkens, also beim bewußten, unwillkürlichen Wirken aufweist, soll das zu suchen sein, was den Namen "Trieb" führt. - Es ist klar ersichtlich, welche Bestimmtheiten nach dieser Anschauung dem Trieb zugeschrieben werden: er ist ein Zusammen von Gefühl, Vorstellung (bzw. Wahrnehmung) und Empfindung. In dieser Dreiheit kann das Zustandsbewußtsein durch Lust oder Unlust besondert sein, während auf Seiten des Gegenstandsbewußtseins stets eine Muskelempfindung zu finden ist. Welcher Art die Vorstellung, die als drittes Glied des "Zusammen" auftritt, ist, wird nicht näher dargelegt; vielmehr wird eine besondere Beziehung zwischen Gefühl, bzw. Empfindung und Vorstellung (Wahrnehmung) mit Absicht nicht hergestellt (4). Es muß eben zum Trieb auch eine Vorstellung (Wahrnehmung) gehören, weil sich schlechterdings kein Augenblick der Seele denken läßt, in dem wir nicht Zuständliches und Gegenständliches zugleich hätten. So diese Theorie. -

Es ist nicht schwer zu erkennen, wodurch der Trieb nach ihr sein eigentümliches Wesen erhält. Da auf eine Verbindung der drei erwähnten Elemente und auf ihre Beziehung untereinander wenig oder gar kein Gewicht gelegt wird, das Gegenstandsbewußtsein in den beiden Besonderheiten von Vorstellung (Wahrnehmung) und Empfindung (5) aber nur unwesentliche Bestimmtheiten für den Trieb liefert, so liegt das eigentliche Wesen des Triebes im Gefühl, in Lust oder Unlust. Nicht jedes Gefühl aber wird als Trieb angesprochen. Darum bedarf es einer genauerer Bestimmung desjenigen Gefühls, das nun gerade den Kern des Triebes bilden soll. Sie ist im "Wirken", das durch das Gefühl und nicht durch den Willen besorgt werden soll, gegeben: "Der Trieb ist aber nichts anderes als eben Gefühl, das nur  Trieb  heißt, wenn wir es als wirkendes besonders begreifen." (6) Ganz folgerichtig wird darum auch aus dieser Behauptung der Schluß gezogen, "daß wir, ob etwas ein Trieb sein soll bzw. ob ein Trieb da ist, immer erst aus einer vorliegenden  Wirkung  erschließen und festlegen können, während wir z. B., ob etwas ein Gefühl ist, an sich selber feststellen können, ohne etwa die Wirkung des Gefühls in Betracht zu ziehen." (7)  So mußte  man schließen, nachdem einmal mit Nachdruck hervorgehoben wurde, daß sich der Trieb nicht auf eine künftige Veränderung bezieht. Es taucht bei einer solchen Auffassung aber notwendig die Frage auf, ob das Wesen eines Objekts durch etwas außer ihm Liegendes bestimmt werden kann, d. h. für unseren Fall, ob eine  folgende  Veränderung über das Wesen des Triebes Auskunft geben kann. Nach unserer Überzeugung ist dies nicht möglich. Wenn wir das Wesen des Triebes feststellen wollen, so müssen wir ihn selbst und nicht seine Wirkung untersuchen und bestimmen. Auch läßt sich schwerlich denken, wie ich ein Bewußtsein davon haben soll, daß ich die Bedingung einer Veränderung bin, ohne diese selbst zu kennen. Es kann dieses Bewußtsein vielmehr erst dann eintreten, wenn die Veränderung bereits bewirkt und diese selbst nun nachträglich wahrgenommen wird. Auch dieses Bewußtsein fiele somit als Charakteristikum des Triebes selbst fort, wenn wir allein auf seine psychische Beschaffenheit sehen und seine Wirkungen aus dem Spiel lassen. Als einziger Unterschied von den Gefühlen bliebe dann nur noch die mit dem Gefühl zusammen auftretende Muskelempfindung. Durch sie kann aber unmöglich das Wesen des Triebes gekennzeichnet werden; denn wir haben auch sonst Gefühle, die mit Muskelempfindungen zugleich im Bewußtsein vorhanden sind, ohne daß wir diejenige Bewußtseinslage verspüren, die wir mit "Trieb" bezeichnen. Dahin gehören zum großen Teil die Bewußtseinsaugenblicke, die wir beim Verlauf von Reflexbewegungen antreffen. Schließen wir z. B. beim Einfall eines grellen Lichtstrahls plötzlich das Auge, so haben wir ein Unlustgefühl mit einer Muskelempfindung, ohne etwas von jenem "Treiben" zu entdecken, das wir wahrnehmen, wann immer wir von einem Trieb zu sprechen berechtigt sind. Alle sogenannten Ausdrucksbewegungen, die oftmals unsere Gemütslage begleiten, geben dasselbe Zeugnis. - Ferner müssen wir bezweifeln, daß die Gefühle, die beim Trieb in Frage kommen, nur Lust oder Unlust sind. Es entspricht schon nicht den Tatsachen, wenn es überhaupt nur diese beiden Gefühlsbesonderungen geben soll. Unserer Meinung nach haben wir noch neutrale Gefühle, wie wir an anderer Stelle genauer ausführen werden. Desgleichen läßt sich nicht einsehen, warum es nicht gemischte Gefühle geben soll. Ebensogut wie man als gegenständliche Bestimmtheitsbesonderheiten Wahrnehmung  und  Vorstellung zugleich haben kann, würden doch auch zwei Besonderheiten des zuständlichen Bewußtseins zugleich denkbar sein. Und sie sind nicht nur denkbar, sondern wir erleben sie: jedermann kennt ein Gefühl wie das der Wehmut (8). Nach unseren Erfahrungen kommen gerade beim Trieb zuständliche Erregungen in Betracht, die nicht in die Kategorie der Lust- oder Unlustgefühle gehören. Daneben aber machen sich auch diese geltend. - Was diese Theorie richtig geschaut hat, ist der bedeutende Anteil, den das Gefühl bei allem "Treiben" hat. Daß ihm allein aber der eigentliche Inhalt des Triebes zugeschrieben wird, ist nicht zu rechtfertigen, und somit vermögen wir die Definition des Triebes (Trieb = wirkendes Gefühl) (9) nicht zu unterschreiben.


B. Der Trieb, eine Willensregung

2. Während in der soeben dargelegten Theorie mit besonderem Nachdruck hervorgehoben wird, daß der Trieb keine  Beziehung  auf eine Veränderung in sich schließt, die Seele also in dem Augenblick, wo der Trieb da ist, sich nicht auf die in Betracht kommende Veränderung irgendwie bezieht, stellt eine andere Ansicht den Trieb in die Reihe der Begehrungen. Welcher Gegensatz in dieser Ansicht zur oben besprochenen Auffassung besteht, wird uns erst im ganzen Umfang deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß diese vor allem betont wissen will, daß im Trieb nichts von einem "Streben" steckt, daß ihn ihm also nichts von em ist, was gerade den Willen ausmacht. Läßt es sich demnach die erste Theorie angelegen sein, eine Eingliederung des Triebes in die Willensprozesse zu bekämpfen, so vollzieht die zweite mit Bewußtsein die Einreihung desselben in die Begehrungen oder in die Willensregungen im weiteren Sinn (10). Die Triebhandlung wird nach dieser Auffassung als wesentlich unterschieden von den Reflexbewegungen und ideomotorischen Handlungen hingestellt, weil diese entweder durch einen äußeren Reiz oder durch eine Vorstellung einfach ausgelöst werden, die Triebhandlung aber nur einen seelischen Faktor anderer Art als Ursache haben kann. Diesen nun stellt eben das dar, was wir unter Trieb verstehen. Auf seine Untersuchung kommt es an, wenn wir das Wesen des Triebes zu bestimmen suchen. Die psychologische Analyse gelangt zu dem Ergebnis, daß jenes seelische Moment nichts anderes ist als ein Gefühl, aber ein solches, das den Gefühlen der Lust und der Unlust nicht unter-, sondern nebenzuordnen ist. Es wird im Gegensatz zu Lust und Unlust als ein "Gefühl des Verlangens" bezeichnet (11). Da es nicht weiter zu analysieren ist, so repräsentiert es ein eigenes psychisches Element. Bildet dieses Gefühl des Verlangens gleichsam den Kern des Triebes, so ist damit noch nicht gesagt, daß nicht noch andere Momente hinzutreten können. Vielmehr wird jeder Trieb weiterhin dadurch charakterisiert, daß das Verlangen oder Begehren eine Handlung auslöst, ohne daß irgend ein inneres oder äußeres Hindernis dieser Handlung entgegentritt und ihre Ausführung unmöglich macht. Es fehlt beim Trieb die Absicht, jenes bewußte Begehren durch eine Handlung zu befriedigen; wir werden gedrängt oder getrieben, wir "wollen" nicht. Als begleitende Momente können ferner Organempfindungen auftreten, die manchmal wiederum Gefühle der Lust oder Unlust erwecken. Im entwickelten Bewußtsein kommen dann noch Vorstellungen in Betracht, die der zugeordneten Handlung entsprechen. -

Der Trieb wird nach dieser Theorie, wie wir sahen, zu den Begehrungen gerechnet. War in der ersten Auffassung das Wesen des Triebes im Lust- oder Unlustgefühl gefunden, das zur wirkenden Bedingung einer Veränderung wird, so findet man es hier in einer  neuen Art von Gefühlen,  den sogenannten Gefühlen des Begehrens oder Verlangens. In Wirklichkeit wird also auch hier eine Ausscheidung des Triebes aus der Gattung von Willensregungen vorgenommen. Es wird gegenüber der ersten Theorie wohl eine gewisse Eigenart der Triebe festgestellt, die dort nicht zum Ausdruck kam, aber es bleibt bei der Auffassung, daß der Trieb dem Zustandsbewußtsein zugeschrieben wird, mithin im  Gefühl  aufgeht. In diesem Sinne stellen beide Anschauungen eine Beziehung des Triebes zum Willen gleichstark in Abrede. Aber andererseits läßt sich doch nicht verkennen, daß in der zweiten Theorie eine gewisse Verwandtschaft zwischen Trieb und Wille festgestellt wird. Denn das "Gefühl des Verlangens", das eigentliche Grundmoment des Triebes wird auch dem Willen nicht abgesprochen. Immer, wenn es sich um einen Willensprozeß handelt, soll ein Begehren (Gefühl des Verlanges) vorliegen, ohne ein solches eben ein Wollen gar nicht denkbar sein. So ist der Trieb oder das Begehren zwar selbst noch keine Willensregung, aber aus ihm kann eine solche erwachsen. Das ist es aber, was die erste Theorie mit Bewußtsein verneint. Sie betont die gänzliche Unvereinbarkeit des Triebes mit dem Willen, der Trieb gehöre dem Zustandsbewußtsein an, der Wille dagegen habe nicht mit dem Zustandsbewußtsein zu tun. Unseres Erachtens lehrt uns die Erfahrung, daß ein Trieb in der Tat mehr ist als eine Besonderheit des Zustandsbewußtseins, und daß aus dem Trieb wohl ein Wollen werden kann. Darin hat die Theorie vom "Gefühl des Verlangens" recht. Daß aber dieses Plus, das sich im Trieb gegenüber dem Gefühl von Lust oder Unlust zeigt, im Gefühl selbst liegen soll, wodurch dieses zum "Gefühl des Verlanges" wird, widerspricht durchaus dem Wesen des Gefühls. Durch eine derartige Interpretation des Trieblebens werden die einfachsten Daten seelischen Geschehens geradezu verkehrt. Im "Gefühl des Verlangens" liegt ein Widerspruch, der die ganze Theorie von vornherein illusorisch macht. Wir unterlassen es, diese unsere Behauptung an dieser Stelle zu begründen, da wir weiterhin ausführlich und im Zusammnhang mit anderen ähnlichen Gedankengängen auf sie zurückkommen werden.

3. Wesentlich anders wird der Trieb in einer dritten Theorie aufgefaßt, die im Verein mit der ganzen Basis psychologischer Anschauung, auf der sie ruht, ziemlich viel Anklang gefunden (12). Nach ihr wird dem Trieb eine weitgehende Bedeutung zugeschrieben. Er wird in das Gebiet des Willenslebens gerechnet und zwar als die einfachste von allen Willensregungen angesehen. Aus dem primitiven Willensvorgang "Trieb" entwickelt sich in einem weiteren Stadium das Wollen im engeren Sinne. Der Trieb selbst hinwiederum ist eine entwickelte Form eines anderen seelischen Vorgangs, nämlich des Affekts. Dieser wird als ein zusammenhängender Verlauf von Gefühlen aufgefaßt, die sich jeweilig als eigenartiges Ganzes mit deutlicher Abgrenzung aus den seelischen Vorgängen herausheben. Der Unterschied des Triebes von den Affekten wird nun dadurch charakterisiert, daß zum Affekt noch zwei andere psychische Daten hinzutreten. Das ist einerseits eine bestimmte mehr oder minder gefühlsstarke Vorstellung, die mit der Handlung, die durch den Trieb ausgelöst wird, in unmittelbarer Verbindung steht, d. h. für diese eine  Beziehungsvorstellung  darstellt. Sie bildet den "Beweggrund" des Triebes. Dazu gesellt sich dann andererseits noch eine Gruppe besonderer Gefüle, sogenannter  Tätigkeitsgefühle,  die der Handlung voraufgehen und sie in ihrem Verlauf begleiten. Die Gefühle bilden auf jeden Fall das maßgebende Moment. Wie nahe der Trieb dem Wollen im engeren Sinn steht, daraus wird ersichtlich, daß das Wollen ebendieselben Unterscheidungsmerkmale aufweist, nur daß es anstatt  einer  Vorstellung mehrere Vorstellungen als "Beweggründe" in sich schließt (13).

Der Trieb wird in dieser Analyse als ein seelisches Geschehen aufgefaßt, das sich aus drei Momenten zusammensetzt. Das Fundamentalmoment bildet der Affekt, als Nebenmomente werden Tätigkeitsgefühle und eine gefühlsstarke Beziehungsvorstellung angesprochen. In den beiden letzteren sollen aber die eigentlichen Charakteristika des Triebes liegen. Da aber jeder Affekt nichts anderes als einen bestimmten Gefühlsverlauf bedeuten soll, also nur eine formale Besonderheit des zuständlichen Bewußtseins, so würde die dreimomentige Einheit auf eine zweimomentige zurückzuführen sein, die durch die Gleichung:  Trieb = Gefühle (einschließlich von Tätigkeitsgefühlen) + Beziehungsvorstellungen  ihre Darstellung erhält. In der so gewonnenen Gleichung nehmen die Gefühle gegenüber der Vorstellung eine akzentuierte Stellung ein. Somit wird auch in dieser Theorie dem Zustandsbewußtsein ein bevorzugter Anteil am Trieb zuerkannt. Ob nun aber das, was wir im Trieb unterschiedlich vom Gefühl erfahren, nämlich jenes Drängen und Treiben, dem erst der Trieb seinen Namen verdankt, im Affekt oder in den Tätigkeitsgefühlen zu suchen sei, darüber läßt uns die Ansicht, die uns hier beschäftigt, im Zweifel. Da aber doch offenbar auch schon beim Affekt gewisse Tätigkeitsgefühle, die der Handlung, durch die der Affekt selbst seinem Ende entgegengeführt wird (14), voraufgehen und sie begleiten, sich bemerkbar machen, würde das einzige Charakteristikum des Triebes nur noch in der Beziehungsvorstellung zu suchen sein. Wie aber in einer Vorstellung das ausschlaggebende Moment für einen Trieb gegeben sein soll, ist bei einiger Aufmerksamkeit in der Beobachtung unserer psychischen Erlebnisse unbegreiflich. Es ist eine mit der  Erfahrung  niemals zur Deckung zu bringende Behauptung, wenn dem Trieb überhaupt eine Vorstellung zugesprochen wird, die in unmittelbarer Beziehung zu ihm steht, d. h. die als ein Gegenstand in Betracht käme, auf den sich das Treiben richtet. Da, wo eine solche Vorstellung auftritt, haben wir es schon nicht mehr mit einem Trieb zu tun, sondern entweder mit einem Wünschen oder aber mit einem Wollen im engeren Sinne. Es widerspricht auch durchaus dem  Sprachgebrauch,  von einem Treiben und Drängen, mithin von einem Trieb zu reden, wenn das Ziel der Willensregung bereits gegeben und erkannt worden ist. In jenem Drängen liegt jederzeit etwas Unbestimmtes, Zielloses; so lehrt es uns die unbefangene Befragung der Tatsachen wenigstens. Wie oft haben wir schon ein unlustvolles Treiben verspürt, das auf eine Leere des Magens zurückzuführen war, das uns aber als solches speziell nicht zu Bewußtsein kam? Es "fehlte" uns in solchen Augenblicken etwas, ohne daß wir wußten, was es war. Erkannten wir aber schließlich auf irgendeine Weise, daß dieses oder jenes Objekt dazu geeignet sein könnte, das vorhandene Treiben zur Ruhe zu bringen, so trat ein Wünschen eben dieses Objektes ein. Die Vorstellung, die diesem Objekt entsprach, also die Beziehungsvorstellung, bewirkte eine Aufhebung dessen, was dem Trieb seine eigentümliche Beschaffenheit verleiht. Wie wollte man sie bei einer solchen Sachlage in die Reihen der Wesensmerkmale des Triebes stellen? Glaubt man aber durch die Einführung einer derartigen Vorstellung eine enge Verwandtschaft zwischen Trieb und Wille zu erzielen, so rückt man dadurch die Vergewaltigung der Seelentatsachen, wie sie in einer solchen Einführung zweifelsohne liegt, in ein noch helleres Licht. Denn die Beziehung des Treibens zum Wollen liegen auf einem ganz anderen Gebiet, wie weiter unten an geeigneter Stele gezeigt werden soll. Andererseits müssen wir noch hervorheben, daß bei einer Auffassung, wie sie in dieser Theorie durchleuchtet, für ein spezifisches Willenselement im Trieb kein Platz bleibt; es handelt sich vielmehr um eine besondere Komplikation von Gefühl und Vorstellung, um eine Einheit, die aus Besonderungen des zuständlichen und gegenständlichen Bewußtseins besteht. Die Lust- und Unlustgefühle, die in der erstgenannten psychologischen Analyse den eigentlichen Nerv des Triebes bilden, werden hier als Anfangsstadium eines Vorgangs aufgefaßt, der sich in einer auf den künftigen Erfolg gerichteten Vorstellung und gewissen Spannungefühlen weiterhin entwickelt und mit Lösungsgefühlen als Begleiterscheinungen der Handlung seinen Abschluß findet. Wohl finden wir zwar Gefühle der Lust und Unlust sowie Muskelempfindungen (bzw. Spannungsgefühle) in beiden Ansichten als Elemente des Triebes, aber im Hinblick auf das Gegenständliche treten beide in einen schroffen Gegensatz. Die erst leugnet eine Beziehung auf ein Ziel und will dadurch eine unüberbrückbare Grenze zwischen Trieb und Willen ziehen, während in der zweiten jene Beziehung als wesentlich betont und der Trieb zum Wollen gestempelt wird.
    Anmerkung: Wie hier, so sind noch andere Versuche angestellt worden, die Grenze zwischen Gefühl und Willen aufzuheben. Zum Beispiel Franz Brentano in seiner Schrift "Von der Klassifikation der psychischen Phänomene" (Leipzig 1911) zeigen, daß Gefühl und Wille eine einzige Grundklasse psychischer Phänomene ausmachen. Er bezeichnet sie als  Liebe  und  Haß  und glaubt, auf diese Weise Gefühls- und Strebungselemente in eins zu fassen. Inwiefern er sich dazu für berechtigt hält, kann uns kurz das Resultat auf Seite 92 verdeutlichen: Als Ergebnis unserer Erörterung dürfen wir also aussprechen, daß die innere Erfahrung deutlich die Einheit der Grundklasse für Gefühl und Willen offenbart. Sie tut es, indem sie uns zeigt, daß nirgends zwischen ihnen eine scharf gezogene Grenze ist, und daß ein gemeinsamer Charakter ihrer Beziehung auf den Inhalt sie von den übrigen psychischen Phänomenen unterscheidet. Was die Philosophen der verschiedensten Richtung und selbst die, welche das Gebiet in zwei Grundklassen sondern, darüber äußerten, wies deutlich auf diesen gemeinsamen Charakter hin und bestätigte, ebenso wie die Sprache des Volkes, die Richtigkeit dieser Beschreibung der inneren Erscheinungen.
4. Die Ergebnisse einer vierten Reihe von Untersuchungen, die auf willenspsychologischem Gebiet angestellt wurden (15), lassen das Wesen des Triebes abermals in einem anderen Licht erscheinen. Gewisse Berührungspunkte mit den bisherigen Anschauungen bleiben damit nicht ausgeschlossen. Wenn hier aber die Einordnung der Triebe in die Willensprozesse in einem weiteren Sinn gefordert wird, so geschieht dies aus Gründen, die mit denen, wie sie in den vorigen Theorien vorgetragen wurden, unvergleichlich sind. Im Unterschied von ihnen allen wird der Trieb in dieser Theorie als ein Bewußtseinsdatum aufgefaßt, das ein durchaus spezifisches Element enthält. Dieses ist zugleich das wichtigste aller einzelnen Triebmomente: es ist das Begehren oder das Streben. Als solches iste es ein seelisches Geschehen, das dem Zustands- und dem Gegenstandsbewußtsein als eine dritte Art von Bewußtsein, die man das Strebungsbewußtsein nennen könnte, in seiner individuellen Eigenart gegenübersteht. Bei einer solchen Betrachtungsweies handelt es sich also beim Trieb nicht um eine besondere Komplikation von schon vorhandenen Elementen, die dem zuständichen oder gegenständlichen Bewußtsein angehören, sondern um eine spezifisch neue Gattung seelischer Elemente. Das Begehren oder Streben bietet sich als Moment in mehreren Prozessen dar, die in den übrigen Bestimmtheiten voneinander abweichen und mit dem gemeinsamen Namen der "Begehrungen" belegt werden. Es sind dieselben, die wir als Willensregungen im weiteren und im engeren Sinne bezeichneten. Der Trieb unterscheidet sich von anderen Begehrungen dadurch, daß er etwas Bleibendes, in aller Zeit Verharrendes in sich birgt. Dieses Bleibende wird in einer gewissen Disposition des leiblichen oder seelischen Lebens gefunden. Die Triebe werdendaher als dem Menschen angeboren hingestellt, wobei man genauer meint, daß eben jene Dispositionen für ihr Auftreten angeboren sind. (16) Diese äußern sich gelegentich immer wieder als Bedürfnisse ganz bestimmter Art, wie wie sie z. B. im Hunger (leiblich) oder beim Wissenstrieb (seelisch) jeden Tag erfahren können. Mit den Bedürfnissen werden Gefühle der Lust oder der Unlust geweckt, die schließlich ein Verlangen oder Begehren erzeugen, jene Bedürfniss zu befriedigen. -

Es ist eine ganze Reihe von einzelnen Momenten, die nach dieser Analyse den Trieb bilden soll: Disposition (Anlage), Bedürfnis, Gefühl und schließlich Begehren. Wenn wir die Triebe, die sich in unserem Leben geltend machten, mustern, so müssen wir zugeben, daß gewisse Anlagen des Leibes und der Seele für ihre Entstehung Bedeutung haben. Es ist aber durchaus unberechtigt, nun solche Anlagen als Elemente des Triebes selbst auszugeben und sie geradezu als dasjenige zu betonen, was dem Trieb seine Einzigartigkeit gegenüber anderen Begehrungen verleihen soll. Dagegen lassen sich im besonderen zwei Gründe ins Feld führen. Einmal kommen nicht nur bei Trieben Dispositionen in Betracht, sondern auch bei anderen psychischen Erlebnissen. Man denke beispielsweise nur an das individuelle Gepräge, das bei verschiedenen Menschen die Phantasie trägt; unverkennbar hängt auch dieses mit gewissen körperlichen und seelischen Anlagen eng zusammen. Es läßt sich schlechterdings kein geistiges Geschehen anführen, das nicht durch Anlagen irgendwelcher Art eine besondere Gestaltung gewönne.  Es gibt also Dispositionen ohne Trieb.  Zum anderen wird die Behauptung, daß jeder Trieb in der Wurzel eine Disposition ist, durchaus nicht durch Daten der Erfahrung bezeugt. Eine Darstellung des Triebes, wie sie hier vorliegt, hat sich augenscheinlich nur auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen in der Tat etwas Konstitutives zutage tritt, wie z. B. beim Nahrungs-, Geschlechts-, Bewegungstrieb u. a. Sollte es aber außer solchen nicht auch Lagen des Verlangens oder Treibens geben, in denen die hier mit Nachdruck hervorgehobene Dispositionsgrundlage offensichtlich fehlt? Gewiß gibt es solche! Wie wäre sonst z. B. ein triebhaftes Verlangen nach etwas Eßbarem möglich in Augenblicken, wo wir auch nicht den geringsten Hunger verspüren? (17) Jedem sind aber derartige Augenblicke bekannt; wir sprechen dann gerne von einem "Sinn nach etwas haben".  Es gibt demnach zweifellos Triebe ohne Disposition.  In Anbetracht dieser beiden gewichtigen Gründe müssen wir der Ansicht entgegentreten, daß eine Disposition zum Wesen des Triebs gehört. Damit fällt das erste Glied der Reihe: Dispositionen konstituieren den Trieb nicht. Wie steht es nun aber mit dem zweiten? Konstituieren Bedürfnisse den Trieb? Von vornherein breitet sich über den Begriff "Bedürfnis" ein mystisches Dunkel. Es bleibt die Frage offen, ob das Bedürfnis dem Körperlichen oder dem Seelischen zuzurechnen ist. Soll es körperlich gefaßt werden, so kann es nichts anderes bedeuten als ein leibliches Erfordernis. Als solches kann es aber wiederum nicht als dem Trieb wesentlich angesehen werden, da es auch ein Treiben gibt, das nicht auf körperlichen Erfordernissen beruth. Soll es seelisch gefaßt werden, so bedarf es einer genaueren Darlegung, aus der zu erkennen wäre, was denn eigentlich unter einem Bedürfnis verstanden werden soll. Nach den Ergebnissen unserer eigenen Untersuchungen liegt in der Tat in jedem Trieb ein Bedürfnis eingeschlossen; es näher zu charakterisieren, muß der bald folgenden ausführlichen Darstellung überlassen bleiben. Hier sei nur soviel erwähnt, daß es allen in dieser Beziehung beobachteten Erlebnissen zuwiderläuft, wenn das Bedürfnis durch die Vermittlung eines Gefühls noch erst ein Begehren wachrufen soll. Es wird weiter unten klar werden, daß das Bedürfnis ein wesentliches Moment des Begehrens selbst ausmacht. Auf richtige Beobachtung gründet sich einzig und allein die Behauptung, daß Bedürfnisse die zuständliche Seite unseres Bewußtseins erregen, und daß in diesen Erregungen wichtige Momente des Trieblebens zu suchen sind.

Es ist unmöglich und für den Zweck, den unsere Arbeit verfolgt, überflüssig, alle einzelnen Darstellungen, die sich mit dem Trieb beschäftigen, in ihren unwichtigen Abweichungen zu besprechen. Uns mußte daran liegen, nur die Hauptansichten, die in unseren Tagen geltend gemacht werden und Anerkennung fordern, darzustellen und zu prüfen. Was wir am Anfang über den Konflikt sagten, der sich um die psychischen Phänomene fortdauernd erhebt, hat sich hier voll und ganz bestätigt. In kaum einem einzigen Punkt stimmen die Anschauungen vom Trieb überein. Man müßte denn als solchen schon die Behauptung ansehen, die dem Gefühl durchweg widerfährt, wenngleich auch dieses in ganz verschiedener Weise betont wird. In jeder anderen Hinsicht aber fehlt es trotz der scheinbaren Berührungspunkte an Übereinstimmung. Die Theorien 1 - 3 sprechen dem Trieb ein spezifisches Element ab, das dem Fühlen und Vorstellen gegenüberzustellen wäre. Während in 2 und 3 wenigstens insofern etwas Spezifisches anerkannt wird, als ein von Lust- und Unlustgefühlen wesensverschiedenes Gefühl ein Kennzeichen der Triebe sein soll, so leugnet 1 auch dieses. Nur die 4. Theorie entdeckt im Moment des Begehrens etwas Neues, das sich nicht in Gefühls- und Vorstellungselemente auflösen läßt.
LITERATUR - Wilhelm Schlechtweg, Moderne Willenstheorien, Elmshorn 1913
    Anmerkungen
    1) JOHANNES REHMKE, Lehrbuch der allgemeinen Psychologie, 2. Auflage, Leipzig 1904. Ebenso derselbe Autor in REINs "Enzyklopädie" unter  Trieb. 
    2) REHMKE, Enzyklopädie a. a. O., Seite 115
    3) REHMKE, Enzyklopädie a. a. O., Seite 116
    4) Die gegenständliche und zuständliche Bestimmtheit der Seele sollen stets zueinander in einer funktionalen Beziehung (mathematisch gedacht!) stehen.
    5) Empfindung wird von REHMKE auch als Wahrnehmung aufgefaßt.
    6) REHMKE, Lehrbuch a. a. O. Seite 537
    7) REHMKE, Lehrbuch a. a. O. Seite 537
    8) Oder man denke an die von KANT besprochenen Gefühle der Erhabenheit und der Achtung!
    9) REHMKE, Lehrbuch a. a. O., Seite 538
    10) ELSE WENTSCHER, Der Wille, Versuch einer psychologischen Analyse, Leipzig 1910.
    11) WENTSCHER, a. a. O., Seite 12
    12) WILHELM WUNDT, "Grundzüge der physiologischen Psychologie", 6. Auflage, Leipzig 1911 und "Grundriß der Psychologie", Leipzig
    13) Über die sogenannten "angeborenen" Triebe oder Instinkte bei WUNDT, vgl. Theorie 4!
    14) siehe WUNDT, Physiologische Psychologie III, 6. Auflage, Leipzig 1911
    15) In folgenden Werken scheint sich die früher allgemein übliche Auffassung vom Trieb erhalten zu haben: DUBOC, Lehrbuch der Psychologie, JODL, Lehrbuch der Psychologie; WUNDT, Physiologische Psychologie III; BERGEMANN, Lehrbuch der Pädagogischen Psychologie; ZIEGLER, Das Gefühl; OSTERMANN und WEGENER, Lehrbuch der Psychologie.
    16) WUNDT nimmt in dieser Beziehung eine Sonderstellung ein. Auch er betrachtet "gewisse" Triebe als angeboren und nennt sie im Unterschied zu den oben unter 3 behandelten Instinkte: "Jedes Wesen bringt bestimmte Triebe als angeborene Anlagen zu Welt mit" (Physiologische Psychologie III, Seite 237). Die andere Ansicht aber, daß die Triebe in ihren psychischen Momenten spezifische Bewußtseinselemente darstellen, wird nicht von ihm geteilt. Er rechnet sie ausschließlich in das Gebiet des Gefühlslebens.
    17) Vgl. MAETERLINCK, "Der blaue Vogel", "Das Glück zu essen, wenn man keinen Hunger hat".