cr-3Gewalt durch SpracheNichtverbale KommunikationAnders reden: Aber wie?
Gesellschaft und SprachverhaltenPaargesprächeDas fiktive Geschlecht
 
JUDITH BUTLER
Wie Sprache verletzen kann
"Ja, Sprechen ist eine Form des Handelns. Ja, es gibt Handlungen, die nur die Sprache ausführen kann. Aber es gibt auch Handlungen, die Sprechen allein nicht vollbringen kann. Sie können die Kranken nicht heilen, indem Sie zu ihnen sagen, daß sie gesund seien. Sie können den Zustand der Armen nicht dadurch verbessern, daß sie sie zu Reichen erklären." - Henry Louis Gates Jr."

Welche Art von Behauptung stellt man eigentlich auf, wenn man sagt, durch Sprache verletzt worden zu sein? Im Grunde schreibt man der Sprache eine Handlungsmacht zu, nämlich die Macht zu verletzen, wobei wir uns selbst in die Position der Objekte dieser Verletzung versetzen. Man behauptet also, daß die Sprache handelt, und zwar gegen uns handelt. Und auch diese Behauptung ist ein sprachliches Geschehen, wie jenes erste der sprachlichen Verletzung; man will es deren Kraft entgegensetzen. Wir machen also auch dann von der Kraft der Sprache Gebrauch, wenn wir versuchen, ihr entgegenzutreten. Wir sind gefangen in einer Bindung, die keine Zensur zu lösen vermag.

Es stellt sich die Frage, ob Sprache uns verletzen könnte, wenn wir nicht in einem bestimmten Sinne "sprachliche Wesen" wären, die der Sprache bedürfen, um zu sein. Beruht unsere Verletzbarkeit durch die Sprache vielleicht darauf, daß es ihre Bedingungen sind, die uns konstituieren? Denn wenn wir sprachlich geprägt sind, dann geht diese prägende Macht jeder Entscheidung, die wir im Hinblick auf sie treffen, voraus und beleidigt uns sozusagen von Anfang an durch ihre vorgängige Kraft.

Doch enthüllt die Beleidigung ihr wahres Ausmaß erst mit der Zeit. Eine der ersten Formen sprachlicher Verletzung, die man kennenlernt, ist die Erfahrung, bei einem Schimpfnamen gerufen zu werden. Aber nicht jede Namensgebung ist verletzend. Einen Namen zu erhalten, gehört auch zu den Bedingungen, durch die das Subjekt sich sprachlich konstituiert. Tatsächlich zählt die Benennung zu den Beispielen, die ALTHUSSER anführt, um die "Anrufung" zu erläutern. Folgt nun die Macht der Sprache, uns zu verletzen, aus ihrer Macht der Anrufung? Und wenn dem so ist, auf welche Weise schält sich aus dieser ermächtigenden Verletzbarkeit die sprachliche Handlungsmacht heraus?

Das Problem des verletzenden Sprechens wirft die Frage auf, welche Wörter verwunden und welche Repräsentationen kränken, wobei wir zugleich angewiesen sind, unsere Aufmerksamkeit auf die geäußerten, äußerbaren und ausdrücklichen Aspekte der Sprache zu konzentrieren. Allerdings ist die sprachliche Verletzung offenbar nicht nur ein Effekt der Wörter, mit denen jemand angesprochen wird, sondern ist der Modus der Anrede selbst, ein Modus - eine Disposition oder eine konventionelle Haltung -, der das Subjekt anruft und konstituiert.

Durch den Namen, den man erhält, wird man nicht einfach nur festgelegt. Insofern dieser Name verletzend ist, wird man zugleich herabgesetzt und erniedrigt. Doch enthält der Name auch eine andere Möglichkeit, da man durch die Benennung auch eine bestimmte Möglichkeit der gesellschaftlichen Existenz erhält und erst in ein zeitliches Leben der Sprache eingeführt wird, das die ursprünglichen Absichten, die der Namensgebung zugrunde lagen, übersteigt. Während also die verletzende Anrede ihren Adressaten scheinbar nur festschreibt und lähmt, kann sie ebenso eine unerwartete, ermächtigende Antwort hervorrufen. Denn wenn "angesprochen werden" eine Anrufung bedeutet, dann läuft die verletzende Anrede Gefahr, ein Subjekt in das Sprechen einzuführen, das nun seinerseits die Sprache gebraucht, um der verletzenden Benennung entgegenzutreten. Die verletzende Anrede übt ihre Kraft auf denjenigen aus, den sie verletzt. Doch um was für eine Kraft handelt es sich, und wie lassen sich ihre Bruchstellen ausfindig machen?

Wenn behauptet wird, daß "Sprache verletzt" oder, um die Redewendung von RICHARD DELGADO und MARI MATSUDA zu zitieren, daß "Wörter verwunden", so verknüpfen sich hier ein sprachliches und ein physisches Wortfeld. Der Gebrauch eines Ausdrucks wie "verwunden" suggeriert, daß man aufgrund bestimmter Handlungsweisen der Sprache das Hervorrufen eines körperlichen Schmerzes und die Verletzung parallel setzen kann. CHARLES R. LAWRENCE III beschreibt die rassistische Rede als "sprachlichen Angriff", wobei er betont, daß der Effekt rassistischer Beschimpfungen "wie ein Schlag ins Gesicht ist. Die Verletzung erfolgt unmittelbar". Einige Formen rassistischer Beschimpfung "rufen (auch) physische Symptome hervor, die das Opfer zeitweise außer Gefecht setzen". Solche Formulierungen suggerieren, daß die sprachliche Verletzung wie eine physische Verletzung verfährt; doch weist gerade die Gleichsetzung darauf hin, daß es sich letztlich um zwei ungleiche Sachverhalte handelt.

Der Vergleich könnte aber auch implizieren, daß beide nur metaphorisch gleichzusetzen sind. Allem Anschein nach gibt es für das Problem der sprachlichen Verletzung keine spezifische Sprache, so daß diese sozusagen gezwungen ist, ihr Vokabular der körperlichen Verletzung zu entlehnen. In diesem Sinne scheint die Verknüpfung zwischen physischer und sprachlicher Verletzbarkeit für die Beschreibung der letzteren selbst wesentlich zu sein. Die Tatsache, daß es keine eigentümliche Beschreibung der sprachlichen Verletzung gibt, macht es einerseits schwierig, die Besonderheit der sprachlichen Verletzbarkeit gegenüber der körperlichen zu bestimmen. Andererseits deutet die Tatsache, daß bei nahezu jeder Beschreibung sprachlicher Verletzungen auf körperliche Metaphern zurückgegriffen wird, auf eine besondere Bedeutung dieser somatischen Dimension für das Verständnis des durch Sprache erzeugten Schmerzes hin. Bestimmte Wörter oder Anredeformen wirken nicht nur als Bedrohungen des körperlichen Wohlbefindens; vielmehr gilt in einem strengeren Sinn, daß der Körper durch die Anredeformen wechselweise erhalten und bedroht wird.

Wenn die Sprache den Körper erhalten kann, so kann sie ihn zugleich in seiner Existenz bedrohen. Die Frage, in welcher spezifischen Art und Weise die Sprache Gewalt androht scheint an die primäre Abhängigkeit gebunden, die jedes sprachliche Wesen durch die anrufende oder konstitutive Anrede des Anderen erfährt. In ihrem Buch  The Body in Pain  stellt ELAINE SCARRY die These auf, daß die Androhung von Gewalt eine Bedrohung für die Sprache in ihrer weltschaffenden und sinn-konstituierenden Möglichkeit ist. Ihre Formulierung stellt tendenziell Gewalt und Sprache als Gegensätze gegenüber. Doch was, wenn Sprache in sich selbst ihre eigene Möglichkeit der Gewalt und Zerschlagung der Welt birgt? SCARRY begreift den Körper nicht nur als der Sprache vorgängig, sondern legt überzeugend dar, daß der körperliche Schmerz sprachlich nicht auszudrücken ist, daß er die Sprache zersetzt und daß zugleich die Sprache dem Schmerz entgegentreten kann, selbst wenn sie ihn nicht zu fassen vermag. Durch die Unrepräsentierbarkeit des Schmerzes, den man repräsentieren möchte, wird das moralisch gebotene Bemühen, den Körper in seinem Schmerz zu repräsentieren, unterlaufen (wenn auch nicht ganz unmöglich). Nach SCARRY besteht eine der verletzenden Folgen der Folter darin, daß der Gefolterte die Fähigkeit einbüßt, das Geschehen der Folter sprachlich zu bezeugen.

Die Folter hat also unter anderem den Effekt, das eigene Zeugnis auszulöschen. SCARRY zeigt, wie bestimmte Diskursformen, z. B. das Verhör, den Folterprozeß unterstützen und ihm Vorschub leisten. Hier kommt die Sprache der Gewalt zu Hilfe, ohne offenbar ihre eigene Gewalt auszuüben. Damit stellt sich die Frage: Wenn bestimmte Formen der Gewalt die Sprache gleichsam außer Kraft setzen, wie läßt sich dann die spezifische Form von Verletzung erklären, die Sprache selbst ausübt?

Um die Frage zu entscheiden, was eine Drohung ist oder was ein verwundendes Wort, reicht es nicht, die Wörter einfach zu prüfen. Deshalb scheint eine Untersuchung der institutionellen Bedingungen erforderlich, um zu bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Wörter unter bestimmten Umständen verwunden werden. Doch auch die Umstände allein bewirken nicht, daß Worte verwunden. So drängt sich die These auf, daß jedes Wort verwunden kann, je nachdem wie es eingesetzt wird, und daß die Art und Weise dieses Einsatzes von Wörtern nicht auf die Umstände ihrer Äußerung zu reduzieren ist. Letzteres erscheint sinnvoll, doch vermag eine solche Sichtweise nicht zu erklären, warum bestimmte Wörter so verwunden, wie sie es augenscheinlich tun, oder warum bestimmte Wörter schwerer als andere von ihrer Macht, zu verwunden, abzulösen sind.

Tatsächlich scheitern neuere Versuche, die unbestreitbar verwundene Macht bestimmter Wörter zu begründen, offenbar an der Frage, wer diese Interpretation vornimmt, was diese Worte bedeuten und welche Sprechakte sie vollziehen. Neuere Bestimmungen zur Regelung der lesbischen und schwulen Selbstdefinition in der Armee oder neuere Kontroversen um die Rap-Musik weisen darauf hin, daß kein eindeutiger Konsens über die Frage möglich ist, ob es eine klare Verbindung zwischen den geäußerten Worten und ihrer mutmaßlichen verletzenden Macht gibt. Die These einerseits, daß der anstößige Effekt der Wörter vollständig vom Kontext abhängt und daß dessen Verschiebung diesen Effekt vergrößern oder verringern könnte, enthält noch keine Aussage über die Macht, die solche Worte angeblich ausüben. Die Behauptung andererseits, daß diese Äußerungen immer, d. h. unabhängig vom Kontext, anstößig sind und gleichsam so mit ihrem Kontext verwoben, daß sie ihn kaum abschütteln können, bietet immer noch keine Möglichkeit zu verstehen, wie der Kontext im Augenblick der Äußerung aufgerufen und neu inszeniert wird.

FOUCAULT hat davor gewarnt, nominalistischen Voraussetzungen des Versuchs, Macht als einen Namen zu konstruieren.

FOUCAULT schreibt:
"Zweifellos muß man Nominalist sein: die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit bestimmter Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt." 1)
Macht ist also ein Name, der einer Komplexität zugesprochen wird, die sich nicht einfach benennen läßt. Macht tritt zunächst nicht in Gestalt eines Namens in Erscheinung; ihre Strukturen und Institutionen sind nicht derart, daß der Name perfekt zu ihrem wie immer gearteten Wesen passen würde. Ein Name tendiert dazu, das Benannte festzuschreiben, es erstarren zu lassen, zu umgrenzen und als substantiell darzustellen. Er ruft eine Metaphysik der Substanz, der wohlunterschiedenen, singulären Arten von Seiendem in Erinnerung. Der Name gleicht nicht dem undifferenzierten zeitlichen Prozeß oder dem komplexen Schnittpunkt von Relationen, die unter die Kategorie "Situation" fallen. Doch dieser Komplexität wird der Name Macht zugesprochen, der sich damit an die Stelle dieser Komplexität setzt und gleichsam "griffig" macht, was sonst als zu ungreifbar oder vielschichtig erscheinen könnte.
LITERATUR - Judith Butler, Hass spricht, Berlin 1998
    Anmerkungen
    1) Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd.1, (Der Wille zum Wissen), Ffm 1983, Seite 114