p-4Cornelius - Über GestaltqualitätenLipps - Zu den Gestaltqualitäten    
 
WILLIAM STERN
Besprechung
Psychologie als Erfahrungswissenschaft
von Hans Cornelius

"Der Wertbegriff wird in Parallele gebracht zum Dingbegriff, indem er in ähnlicher Weise eine Objektivation unserer Gefühle, wie jener eine Objektivation unserer Vorstellungen darstellt."

CORNELIUS' Buch ist weder ein Kompendium, noch ein Lehrbuch der Psychologie im landläufigen Sinn und will auch keines von beiden sein. Es ist durchaus eine "Standpunkts"-Psychologie, welche jenen, die den Standpunkt teilen, als eine  standard work  erscheinen muß, während wir anderen, die wir ihn nicht teilen, nur schwer eine positive Stellung dem Buch gegenüber gewinnen können. Der Standpunkt aber ist jede eigentümliche Art von "Empirismus, wie er neuerdings von AVENARIUS, MACH und anderen in mannigfachen Schattierungen vertreten wird, ein Empirismus, der Kausalerklärungen und Hypothesen grundsätzlich scheuend, die alleinige Aufgabe der Wissenschaft in einer "vereinfachenden Beschreibung der Tatsachen" sieht.

Dieser Empirismus ist nun bei CORNELIUS in merkwürdiger Weise verschwistert mit einem gewissen Scholastizismus, der an einer außerordentlich subtilen und scharfsinnigen Begriffszergliederung seine Freude hat und weniger danach strebt, Neues zu finden, als das Bekannte unter die rechten Rubriken und in die gehörigen Fächer zu bringen.

Als drittes allgemeines Charakteristikum des Buches sei endlich die Verschmelzung von Psychologie und Erkenntnistheorie erwähnt. Bestimmt einerseits der erkenntnistheoretische  Standpunkt  des Verfassers die ganze Art der psychologischen Betrachtung, so sind es andererseits die erkenntnistheoretischen  Probleme,  deren psychologische Losung CORNELIUS vor allem am Herzen liegt: der Begriff des Dinges und der objektiven Welt, des Raumes und der Zeit, der Wahrheit und des Irrtums. In der Tat geht diese völlige Hineinbeziehung der Erkenntnistheorie in die Psychologie mit Notwendigkeit aus dem ganzen wissenschaftlichen Glaubensbekenntnis des Verfassers hervor: denn wenn sich Wissenschaft in "Beschreibung" erschöpft, dann kann ja Erkenntnistheorie nichts anderes sein, als Darstellung des beim "Erkennen" vorhandenen psychischen Tatbestandes.

Wir besprechen zunächst die Kapitel von wesentlich psychologischem Inhalt: das 1., 3., 4., 7.

Mit den  elementaren Tatsachen des Bewußtseinsverlaufs  beschäftigt sich das  erste  Kapitel. Hierbei geht CORNELIUS nicht von einer künstlichen Atomisierung der Bewußtseinsinhalte aus - wie er sich überhaupt mit Recht gegen jede atomistische "Assoziationspsychologie" wendet - sondern vom wirklichen Tatbestand, welcher durchgängige Verknüpfung aller Erlebnisse zur Einheit des Lebens zeigt. (1) Letztes Faktum ist die Wahrnehmung einer Mehrheit von Inhalten und zwar eben so wohl einer simultanen, wie einer sukzessiven Mehrheit, als welch letzterer er sehr richtig die Unmittelbarkeit des zeitlichen Auffassens ableitet. Eine ebenfalls nicht weiter analysierbare Tatsache des Bewußtseins ist die Scheidung zwischen Empfindungen und Gedächtnisbildern oder Phantasmen; letztere sollen eine  symbolische  Funktion besitzen, auf Grund deren wir sie als Zeichen eines vergangenen Erlebnisses deuten. Hier verläßt CORNELIUS, ohne es zu bemerken, den Boden der Empirie, indem er nicht nur den Charakter der Gedächtnisbilder überhaupt, sondern auch ihre symbolische Bedeutung für etwas unmittelbar Gegebenes hält. Damit man von einem  b  aus auf ein  a  deuten könne, muß irgendwann einmal eine Verknüpfung von  a  und  b  in der Erfahrung vorhanden gewesen sein. CORNELIUS hält den Nachweis dieses Erfahrungszusammenhangs zwischen Empfindung und Erinnerungsbild für unmöglich, bzw. nicht. Denn da, wie ja auch CORNELIUS zugibt, der Inhalt einer kleinen Zeitspanne unmittelbare einheitliche Wahrnehmungstatsache sein kann, so vermag innerhalb dieser der Übergang einer Empfindung ins Gedächtnisbild direktes Erlebnis zu sein; und nur hierdurch wird es dann in anderen Fällen möglich, ein Gedächtnisbild, wo es allein auftritt, auf eine vergangene Empfindung zu beziehen (siehe diese Zeitschrift 13, Seite 339).

Nachdem CORNELIUS dann aus dem Gedächtnisbild das Wiedererkennen abgeleitet hat, benutzt er diese beiden Phänomene zur Entwicklung einer ganzen Reihe von Bewußtseinserscheinungen. Hierbei wird stets der Gedanke in zum Teil recht fruchtbarer Weise durchgeführt, daß er das Bewußtsein nicht synthetisch, sondern analytisch vorgehen läßt. Assoziation ist nicht die Verbindung ursprünglich isolierter Vorstellungen, sondern beruht auf Zerlegung eines ursprünglich einheitlichen Komplexes. Ein Gedächtnisbild ist nicht von Beginn an eindeutig und scharf umschrieben, sondern undifferenziert und vieldeutig, kann daher an zahlreiche Empfindungen erinnern und erst durch Übung Bestimmtheit erlangen. Im weiteren behandelt das Kapitel Ähnlichkeitserkenntnis und Abstraktion, Symbolik und Sprache, akzeptiert die EHRENFELS-MEINONGsche Lehre von den "Gestaltqualitäten" und gibt eine kurze Übersicht über die Gefühls- und Willensphänomene.

Die Tendenz, als eine Hauptfunktion des Bewußtseins die  Analyse  zu betrachten beherrschaft auch das  dritte  Kapitel. Das Bewußtsein hat die Fähigkeit, das, was ihm ursprünglich ein einheitliches Erlebnis, auch als Komplex geschiedener Teilinhalte zu erleben; dies gilt nicht nur von simultanen, sondern auch von sukzessiven Bewußtseinserscheinungen. Der letztere Hinweis ist wertvoll: auch das im Bewußtsein Aufeinanderfolgende ist durchaus nicht immer und von vornherein als gesonderte Vielheit gegeben; eine wahrgenommene Bewegung, ein gehörtes Wort kann durchaus eine Einheit bilden, genau wie eine weiße Fläche; erst nachträgliche Analyse vermag unter Umständen das eine wie das andere in eine Mehrheit von Teilinhalten aufzulösen. Somit ist die psychologische Gegenwart nicht punktuell, sondern von einer, wenn auch kleinen Dauer.

Aus diesen Betrachtungen läßt nun der Verfasser den wichtigen Begriff der  "unbemerkten Bewußtseinsinhalte"  hervorgehen, indem eben die Analyse zeigt, daß die jetzt erst bemerkten Inhalte vorher schon dagewesen sind. Hier möchte ich fragen: wie stimmt diese, sachlich ja durchaus gerechtfertigte Annahme zum "Empirismus"? Unbemerkte seelische Inhalte sind eine Hypothese, die niemals durch Erfahrung bestätigt werden kann; denn sobald die Inhalten "erfahren" werden, hören sie auf, "unbemerkt" zu sein; ihre Annahme entspringt auch nicht dem Wunsch, die Tatsachen "möglichst einfach zu beschreiben", vielmehr dem Bestreben, Kausalzusammenhänge dort anzunehmen, wo sie nie direkt aufzeigbar sind. Unbemerkte und doch seelische Inhalte sind daher nach CORNELIUS' Terminologie nicht eine "natürliche Theorie", sondern - horribile dictu [er fürchtet sagen zu müssen - wp] - eine metaphysische Hypothese.

Es folgt dann: die Analyse des Gleichzeitigen, die Analyse der "Vorbereitung", worunter der Verfasser den Inbegriff aller Nachwirkungen früherer Erlebnisse versteht, die Analyse der Relationen und die Aufmerksamkeit.

Viertes  Kapitel:  Empfindung, Gedächtnis, Phantasie.  Die  Empfindungen  werden definiert als solche Teilinhalte des Bewußtseins, welche nicht den Charakter von Nachwirkungen vergangener Erlebnisse tragen. Die Existenz unbemerkter Empfindungsunterschiede wird geleugnet; was um so mehr Wunder nimmt, da ja CORNELIUS sonst den Begriff des Unbemerkten und doch Psychischen nicht scheut. Für ihn ist das Vorhandensein von Empfindungsverschiedenheiten und das Konstatieren solcher Verschiedenheiten identisch, eine Annahme, die durch eine ganze Reihe psychologischer Erfahrungen widerlegt wird. Den Schwierigkeiten, die sich aus dieser Stellungnahme ergeben, sucht CORNELIUS dadurch auszuweichen, daß er die Empfindungen keine stetige, sondern eine diskrete Reihe bilden läßt; "eben merklich verschieden" sind dann die benachbarten Glieder dieser Reihe.

Phantasievorstellungen sind ihren Teilinhalten nach Gedächtnisbilder; sie sind aber als Komplexe neu und entbehren vor allem jener eigentümlichen Färbung gewisser Gedächtnisbilder, durch welche dieselebn auf bestimmte zeitlich zurückliegende Erlebnisse bezogen werden. Liegt diese Beziehung vor, so sprechen wir von  "Erinnerung";  CORNELIUS nennt das die "Relationsfärbung" eines Erinnerungsbildes, die durch dessen vielleicht selbst nicht bemerkten Hintergrund bedingt ist. Wie er dann aus der Erinnerung die Assoziationsgesetze auf einem vom Herkömmlichen zum Teil abweichenden Weg herleitet, möge man im Original nachlesen.

Wie stark im CORNELIUSschen Denken die Berücksichtigung der intellektuell-theoretischen Seiten des Seelenlebens vorwiegt, kann man schon daraus ersehen, daß  Fühlen  und Wollen in das letzte Kapitel (das  siebente)  zusammengedrängt sind, welches auch an Bedeutung mit den vorhergehenden nicht vergleichbar ist.  Gefühl  ist nicht irgendein Teilinhalt des Bewußtseins, sondern wird definiert als "der durch Vorbereitung und Eindruck konstituierte Gesamtinhalt, der je nach Beschaffenheit der Teilinhalte und ihrer wechselseitigen Beziehungen bald lust-, bald unlustbetont erscheint" - wobei, wie mich dünkt, zwischen Gefühl und "Stimmung" nicht genügend geschieden ist. Der Wertbegriff wird in Parallele gebracht zum Dingbegriff, indem er in ähnlicher Weise eine Objektivation unserer Gefühle, wie jener eine Objektivation unserer Vorstellungen darstellt. Die Vorstellung des Wertes führt zu Strebungsgefühlen; aus diesen werden dann durch Einbeziehung gewisser Urteile die Vorgänge des Wünschens, Begehrens, Wollens abgeleitet. Aus dem Wünschen wird ein  Wollen,  "wenn wir die Bedingungen für den Eintritt der gewünschten Tatsachen nicht nur als erfüllbar, sondern auch als abhängig von der Mitwirkung unserer Persönlichkeit beurteilen." Die Willenshandlungen sind entweder innere oder äußere; zu jenen gehört das willkürliche Denken und Aufmerken, zu diesen die einfachen und komplexen "Handlungen". Eine Betrachtung über die moralischen Werturteile und den Schönheitsbegriff schließt das Buch.

Die Kapitel mehr  erkenntnistheoretischen  Inhalts seien kürzer behandelt. Der "Zusammenhang der Erfahrung" wird nach CORNELIUS hergestellt durch ein umfassendes psychologisches Grundgesetz, das "Einheitsprinzip", welches mit dem MACHschen Prinzip der "Ökonomie des Denkens" und dem AVENARIUSschen des "kleinsten Kraftmaßes" identisch ist. CORNELIUS formuliert es dahin, "daß sich in unserem psychischen Leben überall das Bestreben kundgibt, verschiedenartige Erlebnisse nach ihren Ähnlichkeiten unter gemeinschaftliche Symbole zusammenzufassen." Solche "Abbreviaturen [Abkürzungen - wp] der Erfahrung" (Theorien) sucht nicht nur die Wissenschaft, sondern auch das natürliche Denken. Das "Ding", die "objektive Welt", die Annahme fremder seelischer Individuen, der "Kausalbegriff" seien nichts anderes, als natürliche Theorien. So ist der Dingbegriff, wie ausführlich dargetan wird, lediglich eine abgekürzte Bezeichnung für eine Reihe von Erfahrungen nebst daran geknüpften  Erwartungen.  Wie sich auf solche Weise aus den an sich indifferenten Bewußtseinsinhalten eine äußere objektive Ding- und Raumwelt und eine innere "subjektive" Welt herausschält, wird ausführlich entwickelt. Hierbei tritt überall jener erkenntnistheoretische "Psychologismus" zutage, der da wähnt, mit dem Nachweis des psychologischen Ursprungs eines Begriffs seine Prüfung vollendet zu haben; Dingbegriff und objektives Ding werden einfach miteinander identifiziert.

Zu den Ausführungen über den "objektiven Raum" sei noch eine Anmerkung rein psychologischer Natur gemacht. Ein objektiv kreisförmiges Gebilde ist für unsere optische Wahrnehmung fast nie kreisförmig, sondern mehr oder weniger elliptisch: wie kommen wir dazu, gerade die Kreisform zu objektivieren? Nach CORNELIUS, indem wir damit nur eine Bezeichnung für die uns bekannten Zusammenhänge einer Reihe optischer Formeindrücke zu geben suchen; ähnlich ist es, wenn wir von der objektiven Größe eines gesehenen Gegenstandes sprechen. Hier hätte CORNELIUS eine viel befriedigendere Erklärung finden können, wenn er den Zusammenhang zwischen Gesichts- und  Tastwahrnehmung mehr beachtet hätte. Denn während erstere für ein bestimmtes Objekt unbestimmt viele Form- und Größeneindrcke vermittelt, liefert letztere nur einen. Und so kann dieser eindeutige Tasteindruck zum Symbol für die vieldeutigen Gesichtseindrücke werden und ihrem Zusammenhang untereinander erst den rechten Kitt verleihen. - Die Tiefenwahrnehmung erklärt CORNELIUS empiristisch.

Da für den Verfasser die objektiven Vorgänge und Dinge im Grunde nichts als gewisse psychologische Tatbestände sind, so meint er, daß Psychophysik und Physik eigentlich nicht grundsätzlich verschiedene Aufgaben hätten. Und doch ließe sich auch von CORNELIUS' Standpunkt aus dieser Unterschied definieren: die Physik hätte nämlich lediglich den Zusammenhang jener empirischen Begriffe, die wir als objektive Vorgänge bezeichnen,  unter sich,  die Psychophysik den Zusammenhang solcher Begriffe mit einzelnen Empfindungserlebnissen zu untersuchen.

Das sechste Kapitel behandelt "Wahrheit und Irrtum", Sinnestäuschungen, formale und materiale Erkenntnisgründe.

Wenn ich zum Schluß noch auf eine Äußerlichkeit aufmerksam machen darf, deren Abstellung in einer künftigen Auflage zu wünschen wäre, so sei erwähnt, daß die Verweisung sämtlicher Anmerkungen an den Schluß des Buches im höchsten Grade störend wirkt. Wenn man, durch eine Anmerkungszahl beunruhigt, erst längere Zeit blättern muß, um dann zu finden. "Siehe Seite soundso" bedeutet ein ebenso empfindliches wie zweckloses Hindernis für den ruhigen Fortgang der Gedanken.
LITERATUR - William Stern, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 22, 1903
    Anmerkungen
    1) An einer anderen Stelle freilich will CORNELIUS mit diesem Zusammenhang zu viel beweisen, indem er ihn mit der "Einheit der Persönlichkeit" identifiziert (Seite 117f). Ist denn aber "Zusammenhang der Bewußtseinsinhalte" und "Bewußtsein des Zusammenhangs" dasselbe?