ra-1BesprechungErnst MallyZur Theorie der Abstraktion    
 
HANS CORNELIUS
Über Gestaltqualitäten

"Die Ausdrücke  Vorstellung eines abstrakten Inhalts, abstrakter Inhalt  oder  abstrakte Vorstellung  sind also Abbreviaturen für  Vorstellung eines Inhalts mit Beurteilung desselben in bestimmter Hinsicht  oder  Vorstellun g der in bestimmter Hinsicht bestehenden Ähnlichkeit eines Inhalts mit anderen Inhalten." 

In meiner Psychologie (1) habe ich versucht, die Darstellung der psychischen Tatsachen mit Hilfe einer möglichst geringen Zahl fundamentaler Begriffe zu leisten und - zu diesem Zweck - aus der Darstellung der Tatsachen all jene Begriffe auszuschließen, welche sich nicht empirisch legitimieren lassen, welche also der Darstellung einen dogmatischen oder hypothetischen Charakter verleihen würden.

Es war mir an jener Stelle zunächst nur um die positive Durchführung einer solchen rein empirischen Darstellung der Grundtatsachen des psychischen Lebens zu tun. Für speziellere Probleme die Folgerungen aus den gewonnenen Prinzipien zu ziehen blieb späterer Arbeit vorbehalten; ebenso hatte sich die Auseinandersetzung mit hergebrachten Theorien zunächst auf das zur Abwehr von Mißverständnissen notwendige Maß zu beschränken. Was in der einen wie in der anderen Richtung zu tun blieb, schien mir besser, als in Buchform in einer Reihe einzelner Abhandlungen seine Stelle zu finden.

Den Anlaß, die Reihe dieser Abhandlungen nunmehr zu eröffnen, entnehme ich der jüngst erschienenen Arbeit MEINONGs über Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältnis zur inneren *Wahrnehmung. (2)

Indem MEINONG in dieser Arbeit die Einwände zu entkräften sucht, welche von SCHUMANN (3) gegen den EHRENFELSschen Begriff der "Gestaltqualitäten" erhoben worden sind, wendet er sich nicht bloß gegen die Ausführungen SCHUMANNs, sondern auch gegen die - das Abstraktionsproblem im Allgemeinen betreffenden - Aufstellungen, welche SCHUMANN den Vorlesungsdiktaten G. E. MÜLLERs (4) entnommen und seinen eigenen Betrachtungen vorangeschickt hat. Soweit die SCHUMANNsche Veröffentlichung einen Einblick in die MÜLLERsche Abstraktionstheorie gewährt, deckt diese sich so gut wie vollkommen mit der von mir (5) für die betreffenden Tatsachen gegebenen Erklärung. MEINONGs Widerspruch gegen die erstere trifft daher indirekt auch meine Ausführungen.

Meine Absicht ist, zunächst diesen Widerspruch abzuwehren, soweit er sich gegen die Grundlagen der genannten Theorie richtet, weiter aber auf eine  Folgerung  aus dieser Theorie hinzuweisen, welche von SCHUMANN anscheinend übersehen worden ist und welche gerade diejenige Lücke ausfüllt, durch die allem Anschein nach MEINONG zum Widerspruch gegen die Theorie herausgefordert worden ist.  Weit  gefehlt nämlich, daß sich aus den MÜLLERschen Aufstelungen irgendwelche Einwände gegen den Begriff der Gestaltqualitäten herleiten ließen, ergibt sich dieser Begriff vielmehr als unmittelbare Konsequenz der in Rede stehenden Theorie.

Bei der ersten Lektüre von SCHUMANNs Abhandlung hatte ich geglaubt, von einer nochmaligen Äußerung hinsichtlich des letzterwähnten Punktes absehen zu dürfen, da ich meine eigenen Untersuchungen über diese Frage gerade vorher veröffentlicht hatte: auf eben erst Gesagtes sogleich nochmals hinzuweisen schien mir weder erforderlich noch passend. MEINONGs Artikel zeigt mir, daß meine Publikation auf die Entwicklung und Schlichtung der Streitfrage bisher keinen Einfluß gewonnen hat. Ich sehe mich daher in die Notwendigkeit versetzt, nochmals das Wort zu derselben zu ergreifen.


1. Die "distinctio rationis" bei einfachen Inhalten.

Unter einfachen "Inhalten" ist im Folgenden dasjenige verstanden, was MÜLLER (6) als einfache "Qualitäten" bezeichnet. Ich ziehe den ersteren Ausdruck vor, um Mißverständnisse bezüglich des später zu gebrauchenden Terminus "Gestaltqualitäten"  auszuschließen, welcher nicht "Inhalte", sondern nur  Eigenschaften  oder  Merkmale  (nach MÜLLERs (7) Terminologie  Modifikationen ) von (komplexen) Inhalten bezeichnen soll. Der Gegensatz von "Inhalt" und "Merkmal oder Modifikation des Inhaltes" trifft zusammen mit dem Gegensatz der sonst wohl üblichen Bezeichnungen "konkreter" und "abstrakter" Inhalte. Ich adoptiere diese Bezeichnungen hier deshalb nicht, weil die folgenden Betrachtungen erst darüber entscheiden sollen, wie weit jene "abstrakten Inhalte" überhaupt als  Inhalte,  d. h. als  unmittelbar  Vorgefundenes oder Vorgestelltes auftreten können.

Die Unterscheidung verschiedener Merkmale oder Modifikationen eines Inhaltes gründet sich nach MÜLLER darauf, daß die Inhalte nach ihren *Ähnlichkeiten in Gruppen zusammengefaßt und mit gemeinsamen Namen bezeichnet werden. Nichts anderes als die Zugehörigkeit eines Inhaltes zu  verschiedenen  solchen Gruppen von unter einander ähnlichen und deshalb gleich benannten Inhalten ist es hiernach, was wir meinen, wo wir von den verschiedenen Merkmalen eines Inhaltes sprechen. "So kann z. B. ein einfacher Klang gleichzeitig der Gruppe der sogenannten tiefen Töne, sowie der schwachen Töne angehören und man kann alsdann an demselben die drei Modifikationen seiner Tiefe, Schwäche und Weichheit unterscheiden. (8)

Die primäre Tatsache, auf die sich die Unterscheidung mehrerer Merkmale an einem einfachen Inhalt gründet, ist hiernach die, daß der betreffende Inhalt verschiedenen Gruppen ähnlicher Inhalte angehört, oder, wie ich dies früher (9) ausgedrückt habe, daß er Ähnlichkeiten mit verschiedenen Inhalten aufweist, die untereinander nicht dieselbe Ähnlichkeit zeigen. Die gleiche Tatsache bezeichnet der Ausdruck, daß ein Inhalt  in verschiedener Hinsicht  oder  in verschiedener Richtung  Ähnlichkeiten mit anderen Inhalten zeigt. Im Wesentlichen stimmt die gegebene Erklärung der Unterscheidung einer Mehrzahl von Merkmalen an einem einfachen Inhalt mit derjenigen überein, welche *HUME (10) für die "distinctio rationis" [rein begriffliche Unterscheidung - wp] gegeben hat, aus der er aber die Konsequenzen für die Abstraktions- und Urteilslehre zu ziehen versäumt hat.

Die Entwicklung und Verfeinerung der in Rede stehenden Unterscheidungen habe ich anderwärts (11) ausführlich besprochen. Ich habe daselbst inbesondere gezeigt, wie die  *Bedeutung der Worte  zustande kommt, die zur Bezeichnung jener Ähnlichkeitsgruppen und eben damit der verschiedenen Merkmale der betreffenden Inhalte dienen. Der an jener Stelle (12) gegebene Hinweis auf Prädikate, wie "schneeweiß", "glockenrein" und ähnliche mag als plausible Illustration der oben allgemein bezeichneten Tatsache hier nochmals seine Stelle finden: Prädikate dieser Art lassen noch in der Form des sprachlichen Ausdrucks deutlich jene Bezugnahme auf die Ähnlichkeiten des Bezeichneten mit bestimmten vorhergegangenen Erlebnissen erkennen, auf die sich Bedeutung und Anwendung dieser Prädikatsworte gründet.

Es bedarf kaum der Erwähnung, daß nach der soeben getragenen Theorie die "gemeinsamen Merkmale" einfacher Inhalte nicht etwa allgemein zur  Erklärung  der zwischen diesen Inhalten bestehenden Ähnlichkeit einer Tapete mit einer anderen auf die Gleichheit der Farbe oder die Ähnlichkeit zweier Nuancen von Rosa auf das gemeinsame Merkmal der roten Färbung zurückzuführen gewohnt ist. Denn die Behauptung jener Gleichheit der Farbe oder dieser gemeinsamen roten Färbung  ist  nach der vorgetragenen Theorie nichts als die Behauptung der Ähnlichkeit  beider  Inhalte mit von früher her bekannten  anderweitigen  Inhalten. Insofern diese  beiderseitige  Ähnlichkeit mit anderen Inhalten auch die  gegenseitige  Ähnlichkeit der beiden betrachteten Inhalte bedingt, kann die erstere allerdings als der  allgemeine Fall  zur "Erklärung" des  vorliegenden besonderen Falles  herangezogen werden. Aber nur eben dieser oder jener besondere Fall, nicht aber der Begriff der Ähnlichkeitsbeziehung im Allgemeinen kann in dieser Weise seine Erklärung finden: eine allgemeine Erklärung dieser Art würde einen Zirkel enthalten, indem sie die Ähnlichkeit eben auf die Ähnlichkeit zurückführte. Die Tatsache, daß sich Ähnlichkeiten zwischen unseren *Bewußtseinsinhalten vorfinden, werden wir vielmehr im Allgemeinen als eine nicht weiter erklärbare Grundtatsache des psychischen Lebens betrachten müssen; womit aber natürlich, wie die eben angeführten Beispiele zeigen, einer  "Erklärung" einzelner Fälle durch Zurückführung auf allgemeinere Gesetzmäßigkeiten  in keiner Weise Eintrag geschieht.

Zur Abwehr der Einwände, welche gegen die soeben nochmals formulierte Theorie erhoben worden sind, ist es notwendig, noch einige Konsequenzen derselben ins Auge zu fassen, die ich zwar bereits an anderer Stelle gezogen haben, (13) deren Wiederholung an dieser Stelle jedoch nicht zu entbehren ist.

Die Behauptung,  daß ein Ton der Ton a  sei, oder  daß ein starker Ton, ein Ton von der Klangfarbe der Klarinette  sei, hat nach den obigen tatsächlichen Feststellungen eine völlig bestimmte Bedeutung: die Bedeutung nämlich einer Aussage über  die Zugehörigkeit des betreffenden Tones zu den durch die betreffenden Prädikatsworte bezeichneten Gruppen ähnlicher Inhalte.  Sie ist also mit anderen Worten eine Behauptung über die  Ähnlichkeit  des betreffenden Inhalts  mi  bestimmten - und zwar von früher her bekannten und in bestimmter Weise bezeichneten -  Gruppen anderer Inhalte. 

Soweit die Aussagen über unsere Bewußtseinsinhalte mit Hilfe von Prädikaten der angegebenen Art zustande kommen, ist die eben formulierte Deutung dieser Aussagen eine unmittelbare Konsequenz der vorausgeschickten Theorie. (14)

Ob MÜLLER die Konsequenz gezogen hat, ist aus den von SCHUMANN reprodzierten Diktaten nicht mit Sicherheit zu erkennen.  Gegen  eine solche Annahme scheint MÜLLERs Behauptung zu sprechen, daß "das Wissen von einem Wechsel ... nicht eine von den Empfindungen und den Vorstellungsbildern derselben wesentlich verschiedene höhere geistige Tätigkeit, eine besonderes beziehendes Wisse" zur Voraussetzung hat. (15) Tatsächlich  ist  doch bereits die in den obigen einfachen Benennungsurteilen auftretende Erkenntnis der Ähnlichkeit eines Inhalts mit anderen Inhalten etwas, was sich von "Empfindungen und ihren Vorstellungsbildern" wesentlich unterscheidet (16) und was auch wohl adäquat als ein "beziehendes Wissen" - wenn auch vielleicht nicht als eine "höhere geistige Tätigkeit" - zu bezeichnen wäre. - Daß aber Erkenntnis größerer und geringerer Ähnlichkeiten von Inhalten tatsächlich stattfindet, wird MÜLLER kaum in Abrede stellen.

Andererseits sprechen  für  jene Annahme die in MÜLLERs Diktaten auf die eben angeführte Stelle folgenden Sätze. Denn wenn dort z. B. gesagt wird, daß wir uns die  Bedeutung  des Ausdrucks "Tontiefe"  nur  durch Vorstellung einer Anzahl tiefer Töne vergegenwärtigen können, so folgt aus einer solchen Position die oben dargelegte Auffassung der Benennungsurteile für alle diejenigen Fälle, in welchen wir uns  die Bedeutung des Prädikatsworts vergegenwärtigen,  d. h. nicht  gedankenlos  die Worte sprechen, sondern  wissen, was wir mit denselben meinen. (17) Auch für das "Gewohnheitsurteil" im Sinne STUMPFs (18) gilt das Gleiche: auch hier kann von einem  Urteil,  d. h. von einer Behauptung, der seitens des Sprechenden irgendein  Sinn  beigelegt wird, nur die Rede sein, wenn das Prädikatswort nicht  blind  assoziiert, sondern in seiner dem Sprechenden von früher her bekannten Bedeutung wiedererkannt wird. (19)

Der  *Urteilsvorgang  (20) schließt demnach in Fällen der bezeichneten Art außer dem beurteilten Empfindungsinhalt zwei weitere Faktoren in sich: die "Reproduktion" der Inhalte, welche die Bedeutung des Prädikatsworts bedingen, und die Erkenntnis der "Zugehörigkeit" des beurteilten Inhalts zu den Inhalten dieser Gruppe, oder, was dasselbe sagt, die Erkenntnis der  Ähnlichkeit,  die jener mit den letzteren aufweist. Die "Reproduktion", von welcher hier im Anschluß an MÜLLERs Terminologie gesprochen wird, ist natürlich nicht als Wiederauftreten der betreffenden Empfindungen, sondern nur ihrer "Vorstellung-" (=Gedächtnis-)bilder zu verstehen.

Der vorgetragenen Theorie nach besteht also der psychische Vorgang, welcher der  Benennung  eines Inhalts zugrunde liegt, durchaus nicht bloß in einer  Assoziation. 

Welches der verschiedenen Merkmale eines Inhalts jedesmal bezeichnet, nach welcher "Richtung" der Inhalt beurteilt wird, hängt von der Theorie nach davon an, welche jener verschiedenen Ähnlichkeiten und zu Bewußtsein kommt von uns "innerlich wahrgenommen" wird. Die Assoziation des betreffenden Benennungswortes ist ihrerseits von dieser Ähnlichkeitserkenntnis abhängig, wie ich an anderer Stelle betont habe. (21) Die Forderung,  sich  ein Merkmal eines Inhalts in abstracto vorzustellen (oder sich einen "abstrakten Inhalt" vorzustellen), kann demnach zwar nicht in der Weise erfüllt werden, daß ein Inhalt vorgestellt würde, der nur dieses Merkmal besäße - also etwa ein Ton, der nur Höhe, aber keine Stärke, oder nur Klangfarbe, aber keine Höhe usw. besäße - wohl aber in der Weise, daß ein Inhalt vorgestellt und nur hinsichtlich des fraglichen Merkmals  berurteilt  wird, oder, was dasselbe heißt, daß man sich der Ähnlichkeit erinnert, die der vorgestellte Inhalt mit einer bestimmten Gruppe anderer Inhalte aufweist. Die Ausdrücke "Vorstellung eines abstrakten Inhalts", "abstrakter Inhalt" oder "abstrakte Vorstellung" sind also Abbreviaturen für "Vorstellung eines Inhalts mit Beurteilung desselben in bestimmter Hinsicht" oder "Vorstellung der in bestimmter Hinsicht bestehenden Ähnlichkeit eines Inhalts mit anderen Inhalten".


2. Die Einwände gegen die Theorie

Die eben gezogenen Konsequenzen der vorgetragenen Theorie dürften bereits genügen, um diese vor der  nominalistischen Auslegung  zu bewahren, die ihr MEINONG gibt und durch die er sich zur Ablehnung der Theorie veranlaßt sieht. (22)

Der Vorwurf des *Nominalismus wäre begründet, wenn die Theorie nur in dem zur Bezeichnung des Merkmals dienenden  Wort  das Gemeinsame suchte, was die verschiedenen mit diesem Wort bezeichneten Inhalte verbindet - mit anderen Worten, wenn sie dieses Gemeinsam nur darin fände, daß die genannten Inhalte sämlich die Fähigkeit besitzen  das gleiche Wort zu assoziieren. 

Der Wortlaut der MÜLLERschen Diktate kann allerdings gelegentlich den Anschein erwecken, als ob MÜLLER diese Meinung vertrete. Ihre Stütze würde diese Annahme vor allem darin finden, daß MÜLLER behauptet, alle Fähigkeiten und Erkenntnisse, die sonst auf ein "beziehendes Wissen" zurückgeführt werden, ließen sich dadurch erklären, daß Vorstellungen "sich in den Assoziationen, die sie mit anderen Vorstellungen eingegangen sind, für einander substituieren können." (23)

Die letzten Betrachtungen zeigen aber deutlich, daß mit einer Behauptung dieser Art der Sinn unserer Theorie keineswegs erschöpfend bezeichnet ist. Nicht auch die nackte Tatsache jener Assoziationen, sondern auf den in den verschiedenen Ähnlichkeitsbeziehungen der Inhalte gelegenen  Grund  der Assoziation jener Prädikatsworte führte die Theorie die Unterscheidung die Merkmale zurück. Das Prädikatswort bezeichnet seinen Ursprung und seiner Bedeutung nach nicht diesen oder jenen einzelnen Inhalt, noch auch eine gewisse  Anzahl  partikulärer Inhalte, sondern vielmehr etwas, was all diesen Inhalten gemeinsam ist: die "*allgemeine Vorstellung", die an das Prädikatswort assoziiert ist und dessen Bedeutung bedingt, ist die (nicht näher zu beschreibende, aber jedem aus innerer Wahrnehmung unmittelbar bekannte) Erinnerung an die  Ähnlichkeit,  welche all jene Inhalte unter einander verbindet. Wenn also unter Nominalismus die Ansicht verstanden wird, nach welcher es "nichts Universales gibt als Namen", (24) so kann die vorgetragene Theorie sicher nicht als eine nominalistische bezeichnet werden.

Aber freilich erhebt sich gegen die eben angegebene Konsequenz der Theorie abermals ein Einwand, (25) der auf den ersten Blick noch weit bedenklicher scheint, als der erste: der Einwand nämlich, daß die Theorie sich mit der gegebenen Erklärung im Zirkel bewege. Wir müssen, um die distinctio rationis zu erklären, voraussetzen, daß  Ähnlichkeiten  vorgestellt werden können; die Bedeutung der für die Merkmale gebrauchten Worte gründet sich auf diese Vorstellung. Ist nicht hiermit gerade dasjenige schon vorausgesetzt, was die Theorie erst erklären wollte? Verlangt nicht die "Vorstellung der Ähnlichkeit" genau in derselben Weise eine Erklärung, wie wir diese vorher für die Vorstellung der Stärke, der Höhe, der Klangfarbe eines Tones forderten und zu leisten suchten? Ähnlichkeit aber von den ähnlichen Inhalten in der Vorstellung zu trennen ist sicher keine weniger komplizierte Forderung, als diejenige der Trennung von Höhe und Stärke des Tones. Die Theorie scheint also in der Tat die distinctio rationis in den einfacheren Fällen durch eine viel kompliziertere distinctio rationis erklärt zu haben.

Allein zum Glück für die Theorie  scheint  es sich eben nur so zu verhalten. Was den Schein bedingt, ist die  Terminologie,  auf die wir uns in Ermangelung exakterer Ausdrucksweise angewiesen sehen. Wenn davon die Rede ist, daß die an ein Prädikatswort assoziierte Vorstellung diejenige einer bestimmten Art von Ähnlichkeit sei, so wird hiermit allerdings der Anschein erweckt, als müßte eine "abstrakte Vorstellung des betreffenden Merkmales - der Tonhöhe, Stärke usw. - zu ermöglichen. Nun  kann  zwar, wie unten zu besprechen sein wird, die "abstrakte Vorstellung von Ähnlichkeit" gebildet werden und zwar aufgrund desselben Mechanismus, wie bei den genannten "Merkmalen", allein in den Fällen der in Rede stehenden Art wird sie  nicht  gebildet und ihre Bildung ist für diese Fälle in der Tat nicht erforderlich. Alles, was für diese nach der vorgetragenen Theorie erfordert wird, ist vielmehr nur die  Erkenntnis von Ähnlichkeit zwischen konkreten Inhalten,  sowie die Erinnerung an solche Erkenntnis. Diese Ähnlichkeitserkenntnis fällt aber mit der  abstrakten Vorstellung  von Ähnlichkeit in keiner Weise zusammen. In den (jedem unmittelbar bekannten) Erlebnissen, die wir bezeichnen, wenn wir das Grün auf einem Bild für "dasselbe" erklären, wie das Grün der Wiese vor dem Fenster und als "verschieden" vom Blau des Himmels oder den Ton einer Glocke als "denselben" wie das  a  der großen Oktave unseres Klaviers und als "verschieden" vom eingestrichenen  c,  wird niemand die  abstrakten Vorstellungen  von Ähnlichkeit und Verschiedenheit entdecken können, während ihm die  Ähnlichkeit  jener Inhalte unmittelbar erkennbar ist; und ebensowenig setzt die  Erinnerung  an Erlebnisse dieser Art jene abstrakte Vorstellung voraus.  Nur Erlebnisse dieser Art aber waren es, welche unsere Theorie für die Erklärung der distinctio rationis zugrunde legte.  Man sieht, daß eine "Unterscheidung zwischen der Ähnlichkeit und den ähnlichen Gegenständen", die MEINONG (26) für eine Voraussetzung der gegebenen Erklärung hält, in diesen Erlebnissen nicht vorliegt; diese Erlebnisse sind uns allen unmittelbar bekannt, ohne daß wir eine solche Scheidung vollziehen und ohne daß wir auch nur zu verstehen brauchen, was mit einer solchen Scheidung  gemeint  sein mag.

Der Einwand des Zirkels scheint mir demnach die vorgetragene Theorie so wenig zu treffen, als der Vorwurf des Nominalismus.

MEINONG deutet lediglich an, in welcher Richtung er selbst die Lösung des Abstraktionsproblems sucht. Seine Meinung ist, daß der Abstraktionsprozeß durch eine Leistung der Aufmerksamkeit zustande kommt, die auf das eine oder das andere Merkmal gerichtet wird, während die übrigen nicht  beachtet  werden. (27) Unsere Theorie steht zu dieser Lösung des Problems tatsächlich nicht im Gegensatz, sondern sie gibt ihr nur eine  bestimmtere Form.  Während jene von MEINONG angedeutete allgemeine Form der Lösung die Abstraktion auf den  Begriff der Aufmerksamkeit  zurückführt, der einer Erklärung gewiß nicht minder bedürftig erscheint, als der Abstraktionsvorgang selbst, andererseits aber keine Auskunft darüber gibt, wie die Aufmerksamkeit an der tatsächlich untrennbaren Einheit eines konkreten einfachen Inhalts verschiedene "Seiten" zu unterscheiden vermag, gibt unsere Theorie nicht nur eine völlig bestimmte Antwort auf die letztere Frage,  sondern sie zeigt zugleich den elementaren Tatbestand, auf welchen sich in diesem Falle die Bedeutung des vieldeutigen und erklärungsbedürftigen Begriffs der Aufmerksamkeit zurückführen läßt.  Die "Aufmerksamkeit" auf das eine oder das andere Merkmal eines Inhalts  ist  nichts anderes, als die Erkenntnis seiner Ähnlichkeit mit den Inhalten der einen oder der anderen Ähnlichkeitsgruppe: je nachdem wir seine Ähnlichkeit mit den Inhalten der einen oder der anderen Gruppe erkennen (bzw. uns dieser Ähnlichkeit erinnern), sagen wir, daß wir auf das eine oder auf das andere seiner Merkmale  achten. 

Die vorgetragene Theorie leistet also nicht nur dasjenige, was MEINONG von der richtigen Lösung des Problems fordert, indem sie tatsächlich das Problem "auf die Phänomene der Aufmerksamkeit und Ideenassoziation zurückführt", (28) sondern sie gibt noch weit mehr als verlangt war, indem sie für das  hier  in Betracht kommende "Phänomen der Aufmerksamkeit" selbst die Erklärung darbietet.


3. Die distinctio rationis bei komplexen Inhalten

Wie die einfachen Inhalte, so zeigen auch  Komplexe  von Inhalten Ähnlichkeiten unter einander nach verschiedenen Richtungen. Auch sie lassen sich nach diesen Ähnlichkeiten in Gruppen anordnen und es lassen sich an ihnen wiederum gemäß ihrer Zugehörigkeit zu der einen und der anderen dieser Gruppen  Merkmale  verschiedener Art unterscheiden. Und zwar werden auch hier ebensoviele Merkmale eines Komplexes zu unterscheiden sein, so vielen  verschiedenen  Gruppen ähnlicher Komplex er angehört, d. h. so viele verschiedene  Arten  von Ähnlichkeiten dieses Komplexes mit anderen Komplexen sich finden.

Diese  Ähnlichkeiten der Komplexe  sind nun aber keineswegs überall durch die Ähnlichkeiten ihrer entsprechenden  Teilinhalte  bedingt. Vielmehr finden sich Ähnlichkeiten zwischen Komplexen auch bei weitgehendster Verschiedenheit der entsprechenden Teilinhalte. Wir haben es also hier mit  neuen  und von den Ähnlichkeiten der Teilinhalte  unabhängigen  Arten von Ähnlichkeit von Komplexen zu tun. Entsprechend diesen Ähnlichkeiten kommen den Komplexen  neue  Merkmale zu, durch die sich der Komplex von der bloßen "Summe" seiner Teilinhalte unterscheidet.

Ähnlichkeiten dieser Art, die sich nur an den Komplexen, nicht aber an ihren Teilinhalten finden, sind allbekannt. Es gehören hierher vor allem diejenigen Ähnlichkeiten, die zur Entstehung des Begriffs gleicher und verschiedener  Anordnung  von Inhalten Anlaß geben. Alle Komplexe, "in welchen ein Inhalt  a  auf einen Inhalt  b  folgt", weisen untereinander eine Ähnlichkeit auf, die sie mit den Komplexen "entgegengesetzter Anordnung" nicht aufweisen: die verschiedenen Begriffe solcher Anordnung  entstehen  für uns nach der vorgetragenen Theorie eben durch die Erkenntnis dieser Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten. Ebenso gehören hierher die Ähnlichkeiten von Melodien, die, von verschiedenen Tönen ausgehend, in "gleichen Intervallen" fortschreiten, die Ähnlichkeiten von Figuren, die an verschiedenen Stellen des Gesichtsfeldes in "gleicher Form" wahrgenommen werden usw. Die Begriffe gleicher Intervalle (gleicher "Melodie"), gleicher Form usw.  entstehen  aufgrund solcher Ähnlichkeitserkenntnis.

Die Merkmale, die wir von den Komplexen aufgrund dieser neuen, nur den Komplexen eigentümlichen Arten der Ähnlichkeit aussagen, nennen wir  Gestaltqualitäten"  der Komplexe.

Zu den so definierten Gestaltqualitäten gehören also nach dem vorigen auch die - von MÜLLER a. a. O. aus der vorgetragenen Theorie abgeleiteten - Begriffe der verschiedenen Arten zeitlicher Ordnung. Bestimmte, uns geläufige Arten von Ähnlichkeiten zwischen Komplexen geben uns zur Bildung dieser Begriffe in derselben Weise Anlaß, wie die Ähnlichkeiten der Töne uns zur *Bildung der Begriffe* von Tonhöhe, Stärke usw. veranlassen. (29) Es gehören aber ferner zu den in der angegebenen Weise definierten Merkmalen noch eine große Reihe weiterer Begriffe - nämlich genau so viele, als sich verschiedene, von den Ähnlichkeiten der Teilinhalte unabhängige Arten von Ähnlichkeit zwischen Komplexen finden. Jeder der oben angeführten Arten von Ähnlichkeiten der Komplexe entsprechen bestimmte Merkmale dieser Art: die gleiche Form, die wir an verschiedenen Punktsystemen, die gleiche Melodie, die wir an verschiedenen Tonfolgen, die gleiche Klangfarbe, die wir an verschiedenen Zusammenklängen bemerken, (30) sind "Gestaltqualitäten" in dem hier definierten Sinne des Wortes.

Daß einer jeden der genannten Ähnlichkeiten eines Komplexes mit anderen ein neues Merkmal des Komplexes im Gegensatz zu den sämtlichen Merkmalen seiner Teilinhalte entsprechen muß, scheint SCHUMANN entgangen zu sein. Er hätte sich sonst dem EHRENFELSschen Begriff der Gestaltqualitäten gegenüber nicht wohl einfach ablehnend verhalten können - er hätte vor allem nicht davon sprechen können, daß diese Qualitäten "direkt nicht nachweisbar" seien (31) - sondern er hätte suchen müssen, den Begriff der Gestaltqualitäten der MÜLLERschen Theorie entsprechend zu bestimmen, wie ich es im vorigen getan habe.

In der Tat stimmt der oben gewonnene Begriff der "Gestaltqualitäten" in allem Wesentlichen mit demjenigen überein, welchen EHRENFELS in seiner bekannten Abhandlung (32) definiert hat. Die Verschiedenheit des im vorigen gewonnenen Ergebnisses von demjenigen der EHRENFELSschen Darstellung ist, so viel ich sehe, nur eine terminologische. EHRENFELS bezeichnet die Gestaltqualitäten nicht als  Merkmale,  sondern als  "positive Vorstellungsinhalte",  die zu den Elementen der betreffenden Komplexe hinzutreten. Allein jene Vorstellungsinhalte sind nach ihm "an das Dasein dieser Komplexe gebunden" - was doch wohl so zu verstehen ist, daß sie nicht von diesen Komplexen  Trennbares,  sondern etwas nur  mit  und  in  ihnen Auftretendes sind, in derselben Weise, wie die Merkmale eines einfachen Inhaltes (Tonhöhe, Intensität usw.) nicht von diesem getrennt, sondern nur in und mit ihm vorstellbar sind. Auch  diese Merkmale  werden vielfach als "Inhalte" bezeichnet; entsprechend dieser Terminologie wäre natürlich auch den Gestaltqualitäten der Name "positiver Vorstellungsinhalte" (33) nicht zu versagen. Aber die einen wie die anderen sind nicht konkrete, sondern "abstrakte" Inhalte (34)  Was oben über die Bedeutung dieses Audrucks und die Vorstellungsmöglichkeit "abstrakter Inhalte" gesagt wurde, muß somit auch auf die EHRENFELSschen Gestaltqualitäten Anwendung finden. 

Besteht demnach zwischen dem im vorigen gewonnenen Begriff der Gestaltqualitäten und der von EHRENFELS definierten Bedeutung dieses Begriffs keinerlei Unterschied, so ist doch - entsprechend einer oben für die  einfachen  Inhalte gemachten Bemerkung - auf eine Differenz hinzuweisen, die sich hinsichtlich der  Anwendung  des fraglichen Begriffs in einer bestimmten Hinsicht ergibt.

Die im vorigen gegebene Ableitung des Begriffs der Gestaltqualitäten stützte sich auf die Tatsache bestimmter Ähnlichkeiten von Komplexen. Der gewonnene Begriff ist nichts als der einfache Ausddruck dieses Tatbestandes. Er soll diesen Tatbestand in keiner Weise  erklären,  sondern er soll nur zur  Bezeichnung  desselben dienen. In der Tat würde es gemäß der Ableitung dieses Begriffs keinen Sinn haben, jene Ähnlichkeiten durch die "Übereinstimmung der Gestaltqualitäten" erklären zu wollen, da eine solche Erklärung denselben Zirkel enthalten würde, der oben in der Scheinerklärung der Ähnlichkeit einfacher Inhalte aus den "gemeinsamen Merkmalen" aufgezeigt wurde. Nicht die Gestaltqualitäten, sondern die Ähnlichkeiten, auf welche sich dieser Begriff gründet, sind das primär Gegebene: die letzteren können daher nicht auf die ersteren zurückgeführt werden.

EHRENFELS scheint diesen Tatbestand zu übersehen, wenn er (35) seinen Beweis für die Existenz der Gestaltqualitäten mit den Worten beschließt: "Es kann also keinem Zweifel unterligen, daß die Ähnlichkeit von Raum- und Tongestalten  auf  etwas anderem beruth" als auf der Ähnlichkeit der Elemente". Diese Worte lassen schließen, daß die Gestaltqualitäten als  Mittel zur Erklärung  der Ähnlichkeiten angenommen werden, während nach der obigen Darlegung der Begriff der Gestaltqualität nur der  Ausdruck für das Vorhandensein  jener Ähnlichkeiten ist. Die "unausweichliche Stringenz" des EHRENFELSschen Beweises besteht nur, wenn man die Forderung einer  Erklärung  der betreffenden Ähnlichkeiten als berechtigt erkennt. Die  Tatsache  dieser Ähnlichkeiten und die  darauf  gegründete Unterscheidung der Gestaltqualitäten als besonderer Merkmale der Komplexe bedarf dagegen eines besonderen Beweises überhaupt nicht, da sie als Tatsache der "inneren Wahrnehmung" niemandem unbekannt bleiben kann.

Was die Klassifikation der Gestaltqualitäten, die Besprechung ihrer wichtigsten Spezialfälle und einer Reihe auf dieselben bezüglicher Gesetzmäßigkeiten angeht, darf auf früher von EHRENFELS (36), MEINONG, (37) und mir selbst (38) Gesagtes verwiesen werden. Nur einige - teils neue, teils trotz früher gegebener Erklärungen abermals aufgetauchte - Mißverständnisse sollen hier noch kurz zur Sprache kommen.

Ein Teil dieser Mißverständnisse läßt sich in der Frage zusammenfassen: "Wozu die Annahme von Gestaltqualitäten, da wir doch in den  Relationen der Bestandteile  des Komplexes ein völlig genügendes Mittel zur Erklärung jener besonderen Arten von Ähnlichkeit besitzen?"

Mißverständlich ist an dieser Frage erstlich die schon im vorigen zurückgewiesene Meinung, als ob die Ähnlichkeiten der Komplexe durch die Gestaltqualitäten  erklärt  werden sollten; mißverständlich ist ebenso die Meinung, daß die Gestaltqualitäten nur eine "Annahme" seien, während im vorigen die  empirischen  Tatbestände aufgezeigt worden sind, die durch diesen Begriff ihre Bezeichnung finden. Diese beiden Punkte bedürfen hier nicht nochmaliger Erläuterung. Weiter aber ist es ein Mißverständnis, wenn man meint, durch die "Relationen" den Begriff der Gestaltqualitäten zu  ersetzen:  denn die Relationen sind  selbst  Gestaltqualitäten im oben definierten Sinn des Wortes. Wer also die Gestaltqualitäten allgemein durch die Relationen ersetzen will, will in der Tat nur  die Gesamtheit  der ersteren auf  eine bestimmte Klasse  derselben zurückführen.

Daß aber diese Zurückführung nicht zulässig ist, ergibt sich daraus, daß wir die Ähnlichkeiten, auf die sich der Begriff der Gestaltqualitäten gründet, auch bei größeren Komplexen unmittelbar erkennen können, ohne uns von der Gleichheit der einzelnen Relationen zwischen den entsprechenden Bestandstücken zu überzeugen. Richtig ist, daß zwischen diesen Relationen und jenen Gestaltqualitäten "höherer Ordnung" gesetzmäßige Beziehungen entstehen, so daß einer bestimmten Konstellation der ersteren jeweils eine völlig bestimmte Gestaltqualität der letzteren Art entsprechen muß. Aber einerseits enthält eben dieser Begriff der "Konstellation" der *Relationen bereits eine "höhere" Gestaltqualität in sich, die sich nicht in die einzelnen Relationen auflösen läßt; andererseits würde die Beschreibung der Tatsachen  unvollständig  werden, wollte man die auf Ähnlichkeiten  größerer Komplexe im Ganzen  gegründeten Merkmale dieser Komplexe vermöge jener Gesetzmäßigkeiten durch die Relationen ersetzen, da die Erkenntnis jener Merkmale mit der Erkenntnis dieser Relationen eben nicht zusammenfällt.

Ein Mißverständnis ähnlicher Art gibt sich kund im Versuch, die Gestaltqualitäten durch "Gefühle" zu ersetzen. Soll die Ähnlichkeit etwa zwischen den in verschiedenen Höhenlagen gespielten Tonschritten gleichen Intervalls "auf einem in beiden Fällen gleichen *Gefühl beruhen", so darf dieses Gefühl nicht ein an diese Tonschritte bloß  assoziiertes  sein, sondern es muß durch die betreffenden Komplexe  bedingt,  etwas dieser und nur dieser Art von Komplexen Zugehöriges sein, was nur in und mit Komplexen auftritt. Denn andernfalls könnte ja  dieselbe  Art von Ähnlichkeit auch zwischen  diesen  Komplexen und  ganz anders  zusammengesetzten Komplexen bestehen, wenn nur aufgrund irgenwelchen Zusammentreffens dasselbe Gefühl sich an die letzteren assoziierte. (39)  Eine Gefühlsqualität aber, die in der genannten Weise an bestimmte Komplexe gebunden aufträte, wäre ex definitione als eine Gestaltqualität dieser Komplexe zu bezeichnen.  Ob man die Gestaltqualitäten allgemein als "Gefühle" bezeichnen will, ist eine Frage für sich; ich für meinen Teil kann einen bestimmten Lust- oder Unlustcharakter an den Gestaltqualitäten durchaus nicht überall entdecken - während ich allerdings umgekehrt nicht anstehen würde, alle bestimmten Lust- oder Unlustfärbungen unserer Erlebnisse auf Gestaltqualitäten zurückzuführen.


4. Die "Vergleichungsurteile"

Der Mechanismus der sogenannten Vergleichungsurteile ergibt sich aus den Betrachtungen des vorigen Abschnitts in derselben Weise, wie wir im ersten Abschnitt aus der Analyse der distinctio rationis bei einfachen Inhalten über den Mechanismus der Prädiktion dieser Inhalte Aufschluß erhielten. Wenige Worte werden genügen, um die vollkommene Analogie beider Arten von Urteilen hervortreten zu lassen.

Zu den im vorigen definierten Gestaltqualitäten gehören, wie alle Relationen, so auch speziell die Begriffe der Ähnlichkeit und ihrer verschiedenen Grade. Nicht als ob die  psychischen Tatsachen,  die wir bezeichnen, wo wir davon sprechen, daß wir zwei Inhalte als  ähnlich,  einen dritten als  mehr oder minder ähnlich  mit dem ersten im Gegensatz zum zweiten erkennen, den Begriff der Gestaltqualitäten bereits  voraussetzten;  nur die  Begriffsbildungen,  die wir anwenden, wo wir diese Urteile aussprechen, gründen sich auf den im vorigen beschriebenen Prozeß. Indem wir zwei Inhalte für ähnlich, ein anderes Paar von Inhalten für minder ähnlich erklären als das erste, haben wir bestimmte Eigentümlichkeiten dieser aus je zwei Inhalten bestehenden Komplexe bezeichnet: nicht ein Merkmal  eines  Inhaltes, sondern dasjenige eines  Komplexes von zwei  Inhalten wird durch die Behauptung der Ähnlichkeit dieser Inhalte getroffen.  Wie wir uns, um die Bedeutung des Wortes "Tontiefe" zu verstehen, solcher Worte erinnern müssen, die wir bisher als tiefe Töne zu bezeichnen gelernt haben, so müssen wir uns, um die Bedeutung des Wortes Ähnlichkeit zu verstehen, solcher Paare (bzw. größerer Komplexe) von Inhalten erinnern, die wir bisher als "Paare ähnlicher Inhalte" zu bezeichnen gelernt haben;  und um ein neu vorgelegtes Paar mit diesem Prädikat zu belegen, müssen wir nicht nur die Bedeutung des Prädikatswortes in dieser Weise uns vergegenwärtigen, sondern zugleich  die  Zugehörigkeit des vorgelegten Paares zu der bisher mit dem Prädikat belegten Gruppe von Komplexen, d. h. die Ähnlichkeit des ersteren mit den letzteren erkennen.

Diese  Ähnlichkeitserkenntnis  setzt, wie oben gezeigt, noch nicht die "abstrakte Vorstellung" von Ähnlichkeit voraus: die letztere ist vielmehr, wie die gegenwärtige Betrachtung zeigt, geradeso auf die Erkenntnis bestimmter Ähnlichkeiten zwischen Komplexen gegründet, wie die abstrakten Vorstellungen der Merkmale einfacher Inhalte auf bestimmte Ähnlichkeiten dieser Inhalte.

Die Vergleichungsurteile, welche über Ähnlichkeit, Verschiedenheit und deren verschiedene Grade zwischen zwei (einfachen oder komplexen) Inhalten eine Behauptung aufstellen, setzen sich demnach aus folgenden Faktoren zusammen. Erstlich müssen für jedes solches Urteil die beiden zu vergleichenden Inhalte - entweder beide als Empfindungen oder einer oder beide in Form von Gedächtnisbildern - dem Bewußtsein gegenwärtig sein. Weiter aber muß, damit das Urteil über die Ähnlichkeit dieser Inhalte in bestimmter Hinsicht , eventuelll über den Grad der Verschiedenheit (Distanz) zustande komme, der Komplex der gegebenen beiden Inhalte als  zugehörig zu derjenigen Gruppe  solcher Komplexe erkannt werden, durch welche in der vorhin angegebenen Weise die  Bedeutung  des Begriffs der "Ähnlichkeit in der betreffenden Hinsicht", eventuell des "besonderen Grades der Verschiedenheit" seine Bestimmung erhalten hat. Dieser zweite Faktor des Vergleichungsurteils ist seinerseits zusammengesetzt aus der Nachwirkung eben dieser zuletzt genannten Komplexgruppe und der Erkenntnis der  Ähnlichkeit  des neuen Komplexes mit jenen früheren.

Der Mechanismus des Vergleichungsurteils ist demnach völlig gleichartig demjenigen des Benennungsurteils bei einfachen Inhalten, nur daß an der Stelle des einfachen Inhalts ein Komplex von (mindestens) zwei Inhalten getreten ist und das beurteilte Merkmal dieses Komplexes eben dasjenige ist, welches wir als die betreffenden zwischen diesen Inhalten bestehende Vergleichungsrelation zu bezeichnen gelernt haben.

Zur Verdeutlichung des Gesagten mag das Beispiel einer Vergleichung bestimmter Verschiedenheitsgrade, das  Intervallurteil im Tongebiet  dienen. Wir bezeichnen mit den bekannten Intervallnamen bestimmte Gestaltqualitäten zweigliedriger Tonkomplexe, deren Begriff wir in der früher beschriebenen Art aufgrund unmittelbar vorgefundener Ähnlichkeiten solcher zweigliedrigen "Melodien" gewinnen. Um den "Höhenunterschied" zweier Töne zu beurteilen, also etwa den vorgelegten Tonschritt f - b als "Quarte" zu erkennen, ist die Erinnerung an diejenige Gruppe solcher Komplexe erforderlich, die dem Wort "Quarte" seine - uns von früher her bekannte - Bedeutung gegeben hat: nur indem wir den vorgelegten Melodienschritt als zugehörig zu dieser Gruppe erkennen, können wir den Abstand (40) der beiden Töne als denjenigen einer "Quarte" beurteilen,  ohne den bisherigen Sinn dieses Wortes zu alterieren. 

Die Frage, was es heiße, auf die Distanz der Glieder im Gegensatz zu den anderen Merkmalen des Komplexes seine  Aufmerksamkeit  zu richten, beantwortet sich analog der früher über die "Aufmerksamkeit auf ein Merkmal" bei einfachen Inhalten gestellten Frage.

Die Unterordnung der von SCHUMANN (41) angeführten Fälle unter die vorgetragene Theorie ergibt sich ohne weiteres. Die Beurteilung des "kontinuierlich wachsenden Tones" ist nicht bloß auf diesen Inhalt, sondern auch auf diejenigen "Vorstellungsbilder" gegründet, auf die sich für uns die bisherige, geläufige Bedeutung der gebrauchten Worte gründet und zu welchen der vorgefundene Inhalt als "zugehörig" erkannt wird.  Warum  eine Tonempfindung konstanter Intensität ein anderes Urteil bedingt, als eine solche von zunehmender Intensität, ist demnach ohne weiteres klar; daß aber das in Rede stehende Urteil über den "kontinuierlich wachsenden Ton" nur vom Verhältnis der sukzessiven Intensitäten und nicht von der Anfangsintensität abhängt, liegt eben daran, daß über eine  Gestaltqualität  geurteilt wird, die ex definitione von der absoluten Beschaffenheit der Teilinhalte unabhängig ist.

Auf die spezielle Anwendung der im vorigen gewonnenen Ergebnisse zur Erklärung der Zeiturteile und der Veränderungsauffassung, deren Prinzipien ich anderwärts (42) entwickelt habe, gedenke ich demnächst zurückzukommen.
LITERATUR - Hans Cornelius, Über Gestaltqualitäten, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinneswahrnehmung, Bd. 22, 1903
    Anmerkungen
    1) HANS CORNELIUS, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Leipzig 1897
    2) Diese Zeitschrift 21, ALEXIUS MEINONG, Über Gegenstände höherer Ordnung und deren Verhältnis zur inneren Wahrnehmung, Seite 182f
    3) Diese Zeitschrift 17, SCHUMANN, Zur Psychologie der Zeitanschauung, Seite 106f
    4) Diese Zeitschrift 17, SCHUMANN, Zur Psychologie der Zeitanschauung, Seite 107
    5) HANS CORNELIUS, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Leipzig 1897, Seite 50f
    6) Diese Zeitschrift 17, SCHUMANN, Zur Psychologie der Zeitanschauung, Seite 107
    7) Diese Zeitschrift 17, SCHUMANN, Zur Psychologie der Zeitanschauung, Seite 107
    8) Diese Zeitschrift 17, SCHUMANN, Zur Psychologie der Zeitanschauung, Seite 107. - Wenn SCHUMANN (daselbst S. 112) seine eigenen Ausführungen, denen er die MÜLLERschen Diktate vorausschickt, mit der Bemerkung beginnt,  daß es nicht sicher festgestellt sei, wie wir dazu kommen, an der untrennbaren Einheit einer Tonempfindung die Eigenschaften der Intensität, Qualität und zeitlichen Dauer zu unterscheiden  und diese Frage zu den  "anderen  fundamentalen Problemen" rechnet, die noch nicht gelöst seien - so verstehe ich nicht, weshalb er die MÜLLERsche Theorie vorher mitteilt. Diese zeigt ja gerade, wie jene Unterscheidung zustande kommt.
    9) CORNELIUS, Psychologie, Seite 50
    10) DAVID HUME, Treatise on human nature, ed. by Green and Grose, Vol. I, Seite 332
    11) HANS CORNELIUS, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Seite 41f, 50f und besonders 62f
    12) CORNELIUS, Psychologie, Seite 69
    13) CORNELIUS, Psychologie, Seite 67f
    14) Wohl zu unterscheiden von  diesen  Aussagen sind jene Urteile, welche den betreffenden Inhalt in einen  Erwartungszusammenhang  einordnen. Vgl. das in meiner Psychologie Seite 91f über "empirische" (= Zusammenhangs-) Begriffe im Gegensatz zu den "Wahrnehmungsbegriffen Gesagte.
    15) CORNELIUS, Psychologie, Seite 111
    16) Sollte die Negation der "höheren" geistigen Tätigkeiten an jener Stelle nur darauf weisen wollen, daß für die  Zeitauffassung  keine  anders gearteten "Tätigkeiten" in Frage kommen, als für die  Beurteilung einfacher Empfindungsqualitäten,  so würde hiergegen von dem hier vertretenen Standpunkt aus nichts zu erinnern sein; vgl. unten Abschnitt 3 und 4.
    17) Daß die (in der angegebenen Weise bestimmte) Bedeutung der Prädikatsworte nicht jedesmal in Form gesonderter Vorstellungen zu erscheinen braucht, sondern in rudimentärer "Assoziation" - als  *fringe nach JAMES  Terminologie - gegeben sein kann, ohne daß das betreffende Wort darum seine Bedeutung für uns verlöre, habe ich a. a. O. gezeigt; siehe meine Psychologie Seite 155f, sowie namentlich Seite 318f
    18) CARL STUMPF, Tonpsychologie, Bd. I, Seite 6
    19) Vgl. CORNELIUS, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Seite 68
    20) Die Frage nach der Existenz eines vom "Vorstellen" verschiedenen  Urteilsvorganges  würde demnach für die in Rede stehenden Benennungsurteile mit der Frage nach der Existenz der im Text genannten Faktoren zusammenfallen. SCHUMANN, dem die "innere Wahrnehmung" von Urteilsvorgängen keine Kunde gibt (a. a. O. Seite 113), läßt zum Mindesten die "Reproduktion" als Faktor des "Vergleichungsurteils" gelten (daselbst Seite 117, Zeile 19 von unten). Ob ihm die innere Wahrnehmung nicht doch auch  Ähnlichkeiten  zwischen *Empfindungen - und zwischen diesen und den Vorstellungsbildern zeigt?  Meine  innere *Wahrnehmung läßt mit über das Dasein dieser Faktoren und deren Mitwirkung im Urteilsvorgang nicht den geringsten Zweifel. Ein Urteilsvorgang der Art, wie ihn BRENTANO und seine Schule dem Vorstellen entgegensetzt, liegt bei der hier betrachtetetn Art von Urteilen nicht vor; diese Urteile werden durch die BRENTANOsche Urteilslehre nicht erklärt, sondern überall stillschweigend vorausgesetzt. Vgl. meine Schrift "Versuch einer Theorie der Existenzialurteile", München 1894, Seite 20, 21f
    21) CORNELIUS, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Seite 63
    22) Diese Zeitschrift 21, Seite 234
    23) bei SCHUMANN Seite 111 (vgl. MEINONG, Über Gegenstände ..., Seite 234
    24) ALEXIUS MEINONG, Hume-Studien I, (Sitzungsbericht der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, phil.-hist. Klasse 87), Seite 216
    25) Ausdrücklich formuliert findet sich dieser Einwand in MEINONGS oben zitierter Abhandlung, Seite 246
    26) ALEXIUS MEINONG, Hume-Studien I, Seite 247
    27) ALEXIUS MEINONG, Hume-Studien I, Seite 196f
    28) ALEXIUS MEINONG, Hume-Studien I, Seite 198
    29) Das Merkmal der  Dauer  und die  Unterschiede  "konstanter" und "veränderlicher"  Inhalte  finden sich schon an  einheitlichen  Inhalten; vgl. CORNELIUS, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Kap III, besonders Seite 132. Die Frage, wie weit sich diese Qualitäten eventuell als "Gestaltqualitäten unanalysierter Inhalte" auffassen lassen, ist aufgrund der in jenem Kapitel aufgestellten Prinzipien - unter Bezugnahme auf die Seiten 164 - 165 gegebene Definition - in jedem einzelnen Fall zu unterscheiden.
    30) Über die hierin liegende Ausdehnung des Begriffs Gestaltqualitäten auf  unanalysierte  Komplexe vgl. CORNELIUS, Psychologie ..., Seite 164f
    31) SCHUMANN, ebenda Seite 135
    32) CHRISTIAN von EHRENFELS, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 14, Seite 249f
    33) EHRENFELS, ebenda Seite 262
    34) Ich möchte mich aus diesem Grunde nicht der Terminologie MEINONGs anschließen, der die Gestaltqualitäten als "fundierte Inhalte" (diese Zeitschrift 2, Seite 215) oder "Gegenstände höherer Ordnung" (*diese Zeitschrift 21, Seite 190f) bezeichnet; während ich dem Ausdruck "fundierte  Merkmale"  nichts entgegenzuhalten hätte (vgl. CORNELIUS, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Anmerkung 71 zu Seite 70).
    35) CHRISTIAN von EHRENFELS, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 14, Seite 260
    36) CHRISTIAN von EHRENFELS, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 14, Seite 249f
    37) MEINONG, Diese Zeitschrift 2, Seite 245
    38) CORNELIUS, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie 17, Seite 60f; Psychologie als Erfahrungswissenschaft Seite 70f, 164f, 202, 217f und mehrfach
    39) Ob es überhaupt erlaubt sei, von einer  Assoziation  der Gefühle zu sprechen, ist eine Frage, die hier nicht erörtert werden soll, - die aber wohl kaum anders als negativ zu beantworten sein wird.
    40) Ich habe bereits früher (Psychologie als Erfahrungswissenschaft Seite 192) darauf hingewiesen, daß der aufgrund unmittelbarer Ähnlichkeitserkenntnis bei zweigliedrigen Komplexen gewonnene Begriff der Distanz ihrer Glieder nichts mit dem Distanzbegriff gemein hat, den man in künstlicher Weise durch die Anzahl der zwischen den beiden Gliedern gelegenen "ebenmerklichen Abstände" definiert hat. Man darf sich daher auch nicht wundern, wenn die aufgrund letzterer Definition experimentell bestimmten "Distanzen" mit den Ergebnissen der unmittelbaren Vergleichung nicht übereinstimmen.
    41) SCHUMANN, diese Zeitschrift 17, Seite 115
    42) CORNELIUS, Psychologie als Erfahrungswissenschaft, Seite 128f, 141f