cr-2tb-2<KraftDiltheyFreytagZellerFreytagBergmann     
 
WILLY FREYTAG
[mit NS-Vergangenheit]
Die Erkenntnis der Außenwelt
[3/11]

Einleitung
I. Die erkenntnistheoretischen Standpunkte
II. Allgemeine Fragen der Transzendenz
III. Allgemeine Gesetze der Naturwissenschaft
IV. Der Zusammenhang der Wahrnehmungen
V. Von der Beweisbarkeit des Realismus
VI. Von der Art des realistischen Denkens

"Wir können nicht behaupten, daß der dualistische Realismus der natürliche Standpunkt des nicht durch Philosophie verdorbenen Menschen ist; denn dieser unterscheidet in der Wahrnehmung, um gleich das entscheidende Beispiel zu nehmen, wohl die wahrnehmende Tätigkeit des Ich vom wahrgenommenen Gegenstand, aber er rechnet zu den vom Ich oder seinem Nervensystem unabhängigen Stücken des Gegenstandes auch die Sinnesqualitäten, die psychischen Farben, Töne usw."

I. Hauptstück
Die erkenntnistheoretischen
Standpunkte

[ Fortsetzung ]

Damit haben wir die für unser Vorhaben zunächst wichtigen Begriffe erklärt. In den Behauptungen der Parteien spielen ja noch andere eine nicht zu unterschätzende Rolle, wie z. B. die des subjektiven und des objektiven. Deren Bedeutung aber liegt vor allem darin, daß sie eine bestimmte Bedeutung beinahe überhaupt nicht besitzen und darum in allen möglichen Fällen gebraucht werden können: sie haben, wie bekannt, schon eine wandlungsreiche Geschichte hinter sich und bedeuten heute so ziemlich das Gegenteil von dem, was man sich früher bei ihnen dachte; - aber was bedeuten sie denn heute? Wir finden sie verwendet als Synonyme für  psychisch  und  physisch,  von  immanent  und  transzendent,  von  Innenwelt  und  Außenwelt,  von  Erscheinung  oder  Vorstellung  und  Realität  oder  Ding an sich!  Und damit nicht genug: auch im Gegensatz nicht rein auf die realistische Frage, sondern auf die Logik oder Erkenntnistheorie im allgemeinen gerichteter Theorien, wie sie durch die Schlagwörter "Skeptizismus" und "Dogmatismus" etwa gekennzeichnet werden, wird von unseren Begriffen ein ausgiebiger Gebrauch gemacht; das subjektive ist hier das nicht allgemein, das etwa nur in Bezug auf den Menschen oder einen bestimmten Menschen gültige, das objektive aber das uneingeschränkt, absolut gültige und absolut sichere. Und dazu kommen dann noch die durch Anklänge an die Grammatik bedingten Bedeutungsschattierungen! Da wir es nun hier nur mit der Frage des Realismus zu tun haben und die dafür wichtigen Begriffe schon unzweideutigere Bezeichnungen gefunden haben, so wird es am besten sein, wenn wir die Worte subjektiv und objektiv für unsere besonderen Zwecke überhaupt zu vermeiden suchen; jedenfalls ist es nicht nötig, uns hier schon für eine bestimmte Bedeutung derselben zu entscheiden, - vielleicht daß sich später oder in einer allgemeinen Logik Gelegenheit findet, ihnen noch eine passende Stelle im wissenschaftlichen Begriffssystem anzuweisen.

So bleiben noch zwei Begriffe übrig, der der Erscheinung und der des Dings an sich. Sie gehören eng zusammen, und das gibt sich auch darin kund, daß sie ähnliche Schwierigkeiten bieten, darauf berufend, daß an beide bestimmte Theorien anknüpfen, die durch bloße Entwicklung des in den Begriffen schon enthaltenen gewonnen zu sein scheinen. Wir können uns aber hinsichtlich des Begriffs der Erscheinung rasch entscheiden. Wenn dieser Begriff so verwendet wird, daß aus ihm folgt, es muß aus dem "Erscheinung" genannten notwendigerweise noch etwas geben, das da erscheint, etwas, das nicht selbst Erscheinung ist, aber in der Erscheinung zum Ausdruck oder zur Erkenntnis kommt, so gilt von einem solchen Verfahren dasselbe, wie hinsichtlich der oben besprochenen Begriffe "Subjekt" und "Bewußtsein". Es ergibt sich also dementsprechend, will man den Begriff  Erscheinung  im eben angegebenen Sinne gebrauchen, so muß man vorher beweisen, daß es hint dem "Erscheinung" zu nennenden noch etwas anderes gibt, das nicht "Erscheinung" genannt werden soll und darf; das heißt aber, da der Beweis hier die Hauptsache ist und der Begriff der "Erscheinung" nichts weiter zu ihm beiträgt, als daß er ihn mit der Gefahr begrifflicher Erschleichung bedroht, so ist es am besten, den Begriff in so bedenklichem Sinne überhaupt nicht zu gebrauchen - es bleiben ihm ja auch nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch noch Bedeutungen genug, auf die wir aber hier keinen Anlaß haben, näher einzugehen.

Weit wichtiger und weit schwieriger zu behandeln ist die Theorie oder die Frage, die den Begriff des Dinges an sich betrifft. Bei ihm handelt es sich nicht bloß um verschiedene Bedeutungen und Folgerungen aus diesen, sondern darum, ob dieser Begriff im strengen Sinne denn überhaupt ein Begriff ist, ob er nicht einen Widerspruch in sich selbst enthält. Nicht einen Sprachgebrauch festzustellen, gilt es also, sondern eine Theorie zu untersuchen; das aber überlassen wir den späteren Abschnitten und gehen nunmehr dazu über, mit Hilfe der gewonnenen Begriff der Frage des Realismus eine genauere Fassung zu geben.

Wir erhalten so folgende Teilfragen:
    I. Unterliegt das Denken infolge der Prinzipialkoordination einer Änderung?

    II. Ist die menschliche Erkenntnis auf das Gegebene beschränkt oder nicht?

    III. Ist das Erkennen auf die Bewußtseinsinhalte beschränkt oder geht es darüber hinaus?

    IV. Existiert nur die Bewußtseinswelt (Innenwelt) oder gibt es noch eine Körperwelt (Außenwelt)?

    V. Ist die Erkenntnis der Welt, im besonderen der Außenwelt mittelbar oder unmittelbar?

    VI. Sind Innen- und Außenwelt gleich oder verschieden?
Natürlich ließen sich noch mehr derartige Fragen aufwerfen und sind auch in diesem Sinne aufgeworfen worden. So wird gewiß eine Reihe wichtiger erkenntnistheoretischer Systeme durch ihre Antwort auf eine weitere Frage, die nach dem allgemeinsten Begriff des Wirklichen, wie sie durch die Stichworte des Spiritualismus, des Materialismus usw. gegeben ist, in ihrer Gesamterscheinung charakteristisch bestimmt, aber die Beantwortung dieser Frage ist weder vom Standpunkt der Logik aus möglich, noch hat sie für diese Wissenschaft irgendein besonderes Interesse.

Auch die vierte und die sechste der obigen Fragen scheinen aus dem Gebiet der Logik herauszufallen. Indessen was die vierte angeht, so sind die Gründe, die zu ihrer Entscheidung ins Feld geführt werden, wesentlich aus Erkenntnissen oder Annahmen hergeholt, die das Denken ebensosehr oder noch mehr angehen, als die Außenwelt; und die Antworten, die auf die sechste Frage gegeben werden, dienen selbst wieder als Gründe zur Entscheidung der übrigen.

Aber wenn wir nun daran gehen, die verschiedenen erkenntnistheoretischen Standpunkte nach ihren Antworten auf unsere Fragen zu charakterisieren, so stoßen wir bald auf Schwierigkeiten: zum Teil sind die Antworten, wie nach den obigen Ausführungen ja zu erwarten, nicht so genau wie unsere Fragen, zum Teil aber machen sie für diese noch weitere Zerlegungen nötig. So hält man vielfach die drei ersten Fragen nicht genügend auseinander: das Gegebene, das Psychische, die Prinzipialkoordination werden als mehr oder weniger gleichwertig genommen. Andererseits aber unterscheidet man in der Transzendierung des Gegebenen, des Psychischen, der Prinzipialkoordination eine prinzipiell vollständige und eine mehr oder minder beschränkte; und hinsichtlich der Gleichheit oder Verschiedenheit von Innen- und Außenwelt wird man folgende Fälle zu sondern haben:
    1. Innenwelt und Außenwelt sind identisch.

    2. Innenwelt und Außenwelt sind numerisch verschieden und dabei:
      a) inhaltlich gleich;
      b) inhaltlich zum Teil gleich, zum Teil verschieden;
      c) inhaltlich gänzlich verschieden
Gibt man nun die Antworten nach diesem Schema, so ist leicht ersichtlich, welche Menge von verschiedenen erkenntnistheoretischen Systemen vorhanden sind oder sich gewinnen lassen. So ist als strenger Konszientalismus der Standpunkt zu bezeichnen, nach welchem die Existenz der Außenwelt geleugnet, aber die Transzendenz der Erkenntnis zu gestanden wird. Der gewöhnliche Konszientalismus dagegen - oft als Idealismus, Positivismus usw. bezeichnet - leugnet sowohl die Transzendenz der Erkenntnis wie die Existenz der Außenwelt. Damit macht er sich aber eines deutlichen Widerspruchs schuldig; denn auch die Behauptung, daß die Außenwelt nicht existiert, ist ein Urteil, welches über die Welt der Bewußtseinsinhalte, hinausgeht, eine transzendente Erkenntnis also in dem Sinne, in welchem hier zunächst unbestimmter Weise von Transzendenz gesprochen wird. Als strengerer Positivismus (Agnostizismus) würde dann die Ansicht zu bezeichnen sein, daß die menschliche Erkenntnis auf das Gegebene, Psychische, die Bewußtseinswelt beschränkt ist und daher über eine Welt jenseits des Bewußtseins überhaupt nichts ausgemacht werden kann. Wie der Positivismus aber im strengsten Sinne zu fassen wäre, davon weiter unten!

Noch deutlicher tritt der Widerspruch in den gewöhnlich als Phänomenalismus bezeichneten Behauptungen hervor, eine Außenwelt existiere wohl, aber sie sei nicht erkennbar - wir brauchen unsere früheren in "Realismus und Transzendenzproblem" über diesen Gegenstand wohl nicht ausführlich zu wiederholen. Das Urteil, eine Welt jenseits des Bewußtseins existiert, ist eine Erkenntnis, die über die Welt des Bewußtseins hinausgeht; der strenge Phänomenalismus kann daher nicht das Überschreiten der Bewußtseinsinhalte durch das Erkennen überhaupt in Abrede stellen, sondern nur etwa hinsichtlich des Grades dieser Transzendenz Einschränkungen machen, etwa in der Weise, daß behauptet wird, eine Außenwelt existiert, aber weiter sei von ihr nichts zu erkennen, als daß sie existiere oder wie sich RUDOLF EISLER in "Das Bewußtsein der Außenwelt", Seite 49 ausdrückt:
    "Eine Erkenntnis der transzendenten Faktoren der Dinge ist allerdings nur in sehr beschränktem Maß möglich. Und zwar kann erkannt werden: 1. die Existenz von transzendenten Faktoren, 2. ihre allgemeine Beschaffenheit als unserem Innensein Analoges."
Für ein Mittelding zwischen Phänomenalismus und Konszientalismus könnte der Standpunkt JOHN STUART MILLs und der vielen von ihm abhängigen Denker erklärt werden, der andererseits meistens als Positivismus bezeichnet wird. Nach ihm gibt es nicht "Dinge" außerhalb der sogenannten Bewußtseinsinhalte, sondern nur beharrende Möglichkeiten zu Wahrnehmungen (permanent possibilities). Legt man den Nachdruck darauf, daß die Möglichkeiten, oder was sie sonst sein mögen,  existieren,  so hat man eine deutliche Anerkennung der Außenwelt mit phänomenalistischer Beschränkung der Erkenntnis; wird aber betont, daß diese sogenannte Außenwelt doch eben nur  möglich  daher nichts Wirkliches sei, so scheint ein konszientalistischer Positivismus die Folge zu sein.

An die Stelle des vielumstrittenen Begriffes der "Möglichkeit" ist von anderen der des "gesetzmäßigen Zusammenhanges", der "funktionalen Beziehung" gesetzt worden, so z. B. von MACH - aber die einfache Frage, ob damit die Existenz einer Außenwelt zugegeben oder geleugnet wird, ist kaum je mit derselben Einfachheit beantwortet worden. In der Tat liegt hier ein Problem vor, das nicht auf eine Wortstreitigkeit zurückgeführt werden kann: nicht, ob die Möglichkeit eine Wirklichkeit, der gesetzmäßige, nicht im Bewußtsein zustande gebrachte Zusammenhang eine Außenwelt heißen kann, ist die Frage, sondern, ob ich wirklich berechtigt bin anzunehmen, daß irgendetwas, sei es Ding, Eigenschaft, Vorgang, Beziehung oder was auch sonst immer, auch dann existiert, wenn es nicht von irgendeinem Subjekt wahrgenommen wird und ob diese Annahme dann denselben Charakter trägt, wie die vielen Einzelannahmen, die wir tagtäglich im Leben und in der Wissenschaft machen.

Leichter zu durchschauen ist die Unklarheit, die sich in den Erklärungen KANTs und mancher Kantianer gegenüber dem Idealismus BERKELEYs findet. BERKELEY selbst ist ja gar nicht als ein entschiedener Vertreter des Konszientalismus (Idealismus) zu fassen: man kann in ihm die Stellung MILLs und seiner Nachfolger, ja die eines strengen Realismus finden, da er außerhalb der psychischen Inhalte etwas als existierend anerkennt, das zur Erklärung derselben notwendig ist, nur daß er dieses Etwas GOtt nennt. KANT beachtete diese positive Seite des BERKELEYschen Standpunktes nicht genügend, aber wenn er die negative, die Leugnung der Außenwelt, durch sein System widerlegt glaubte oder noch besondere Beweise dagegen vorbrachte, so ist doch unleugbar, daß die Richtung seines Systems im Ganzen durchaus nicht mit solchen freilich vorhandenen und nicht zu unterschätzenden realistischen Zügen zusammenstimmt. Die Außenwelt, deren Dasein er erweist oder erweisen will und deren Wesen er als ebenso unmittelbar erkennbar nimmt, wie das der Innenwelt, wird von ihm allerdings in Gegensatz gebracht zu den Bewußtseinsinhalten der einzelnen Individuen, aber sie wird dabei doch in allen ihren Bestandteilen als abhängig vom erkennenden Subjekt gedacht, als Schöpfung des Ich. Stark realistisch ist dann freilich wieder die Hartnäckigkeit, mit der KANT an der Annahme der Einwirkung von Dingen an sich festhielt, trotz des Widerspruchs, den dieser Gedanke in allen seinen Teilen gegen sein System enthält. So sehen wir in KANTs Denken die beiden Gedanken des Realismus und des Konszientalismus sich bis zum Widerspruch miteinander verbinden; die Erklärung aber dafür dürfte in den Schwierigkeiten liegen, die den Begriffen des erkennenden Subjekts, des Gegenstandes, der Abhängigkeit vom Subjekt usw. anhaften und zu deren Bezeichnung wir oben den Namen Prinzipialkoordination benutzten: Auch die Außenwelt ist Gegenstand des erkennenden Ich, ist sie deshalb von ihm abhängig? oder was bedeutet überhaupt dieser Gegenstand  sein  für das Erkennen? Die Erörterung des Begriffs der Prinzipialkoordination wird uns darüber Aufschluß geben.

Mit der Erwähnung dieses Begriffs gelangen wir zu der letzten auffälligen Unklarheit der vorliegenden Systeme, die so allgemein ist, daß wir sie mit in unser Schema aufnehmen mußten. Wenn ein Ding, um erkannt zu werden, Glied einer Prinzipialkoordination werden muß, muß es deshalb auch Bewußtseinsinhalt werden und hört es deshalb auf, das zu sein, was es an sich war? Und ist der Bewußtseinsinhalt schlechtweg identisch mit dem Gegebenen, dem sogenannten Ausgangspunkt des Erkennens? Muß eine Erkenntnis, die das Gegebene transzendiert, auch das Bewußtsein und auch die Prinzipialkoordination überschreiten?

Die gröbere Verwechslung, die dem Begriff des Gegebenen oder der Prinzipialkoordination den der Bewußtseinswelt unterschiebt, wird nun von den bedeutenderen unter den antirealistischen Philosophen meist vermieden - wenn auch vielleicht nicht bis in alle Einzelausführungen hinein -; dagegen finden wir fast durchgängig, so auch bei SCHUPPE und AVENARIUS, die Affassung, daß in der Prinzipialkoordination oder der Beziehung des denkenden Ich zu seinem Gegenstand diejenige Tatsache gegeben sei, von der als der "gegebenen" oder "vorgefundenen" in der Erkenntnis und in der Erkenntnistheorie ausgegangen werden müsse. Da dann die Forderung erhoben wird, über das Gegebene dürfe nicht hinausgegangen werden oder die Annahme von Dingen außerhalb des Gegebenen sei als unsinnig zu verwerfen, so muß die gesamte Wirklichkeit unter der Form der Prinzipialkoordination gedacht werden und so wird die Welt schließlich doch in eine durch die Beziehung auf das Subjekt bestimmte Welt verwandelt, auch als Bewußtseinswelt bezeichnet, wobei freilich der Begriff des Bewußtseins seiner gewöhnlichen Bedeutung entkleidet werden muß. Diese Sachlage bringt es mit sich, daß man selbst bei AVENARIUS in Zweifel geraten kann, ob er die Existenz einer Außenwelt annimmt oder nicht. In seiner Erstlingsschrift: "Philosophie als Denken der Welt nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes" ist er wohl einfach als Konszientalist zu fassen: der allgemeinste Begriff, dem alles Wirkliche seinem Inhalt nach untersteht, ist der der Empfindung. In den späteren Werken aber ist der Standpunkt doch wesentlich verändert; das Hauptwerk, die "Kritik der reinen Erfahrung", würde jeder, der AVENARIUS sonst nicht kennt, wohl als die hervorragende Leistung eines ausgesprochenen Realisten ansehen, dem die Erkenntnis der Außenwelt nicht nur ebenso sicher ist, wie die der Innenwelt, sondern sogar in dem Maße sicherer, daß sie als Grundlage für die Erkenntnis dieser genommen wird. Im "menschlichen Weltbegriff" aber kommt wieder die positivistisch-konszientalistische Seite des Empirio-Kritizismus zum Durchbruch: die Frage, ob auch dann, wenn kein Subjekt, kein Zentralglied der Prinzipialkoordination vorhanden ist, noch etwas existiert, kann nicht mehr schlechthin bejaht werden - das wird neuerdings auch von einem der bedeutendsten Schüler des AVENARIUS, JOSEPH PETZOLDT in seiner "Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung" (II. Band, II. Abschnitt, III. Kapitel) unumwunden als Schwäche des AVENARIUSschen Standpunktes anerkannt. PETZOLDT macht damit einen energischen Schritt über den Konszientalismus oder Positivismus hinaus zum Realismus hinüber; nur in der festgehaltenen Abneigung gegen den harten Dualismus von Innenwelt und Außenwelt als wirklich verschiedener Welten dürfte noch ein starker Rest jener Standpunkte erhalten sein: physische Inhalte und psychische Inhalte sind im Grunde dieselben, nur die verschiedene Betrachtung macht sie verschieden!

Es ist das eine Auffassung, wie sie dem naiven Menschen nahe liegt und wie sie wissenschaftlich, früherer Versuche nicht zu gedenken, in neuerer Zeit einerseits von KIRCHMANN in realistischem Sinne, andererseits von allem von MACH in positivistisch-konszientalistischem Sinne vertreten worden ist - es ist innerhalb der MACHschen Philosophie einer derjenigen schon oben berührten Gedanken, welche es zweifelhaft machen, ob man sie wirklich als eine konszientalistische oder positivistische bezeichnen darf. Wir nehmen keinen Anstand, den Gedanken für einen realistischen zu erklären, ohne daß wir damit hier etwas über seine Richtigkeit oder Unrichtigkeit ausmachen wollen; wir sehen eben, es sind auf dem Boden des realistischen Standpunktes, für den allgemein eine erkennbare Außenwelt existiert, noch verschiedene Ausgestaltungen oder Richtungen möglich, entsprechend den in der obigen Übersicht gegebenen Unterabteilungen.

Damit wollen wir die Widersprüche oder Unklarheiten, der erkenntnistheoretischen Standpunkte, die schon anhand unseres Schemas festzustellen sind, erledigt sein lassen und das Ergebnis der ganzen Übersicht kurz zusammenfassen.

Als zunächst formell möglich und den oben aufgestellten Fragen entsprechend ergeben sich folgende Standpunkte, deren Benennungen wir dem Sprachgebrauch möglichst anpassen:
    I. Die Prinzipialkoordination beherrscht Sein und Denken, der bloße Begriff des Dinges an sich ist daher schon ein Widerspruch und die Dinge so erkennen zu wollen, wie sie an sich sind, ist unsinnig

    II. Die menschliche Erkenntnis ist auf das Gegebene beschränkt (Positivismus).

    III. Erkennbar sind nur die Bewußtseinsinhalte, ob es sonst noch etwas gibt, können wir nicht wissen (Agnostizismus).

    IV. Außer der Bewußtseinswelt existiert nichts (Konszientalismus).

    V. Nur die Bewußtseinswelt ist vollständig zu erkennen, von der Körperwelt im wesentlichen nur, daß sie existiert (Phänomenalismus I).

    VI. Nur die Bewußtseinswelt ist unmittelbar zu erkennen, wie sie an sich ist, die Außenwelt nur mittelbar durch (unbewußte) Schlüsse (Phänomenalismus II).

    VII. Die Außenwelt (vielleicht die Welt überhaupt) ist nie ihrem eigentlichen Wesen nach zu erkennen, wir können uns nur Bilder von ihr machen, nach denen wir uns im Leben zu richten vermögen, die sich aber nicht mit ihrem Gegenstand (Original) genau decken (Bildertheorie).

    Dem gegenüber behauptet der Realismus: Die Erkenntnis ist prinzipiell in Bezug auf die Außenwelt nicht mehr beschränkt als in Bezug auf die Innenwelt.
Als Unterarten des Realismus wären dann zu bezeichnen:
    VIII. Der monistische Realismus: Innenwelt und Außenwelt sind identisch, unterscheiden sich nur , weil von verschiedenen Gesichtspunkten Gesichtspunkten aus betrachtet.

    IX. Die Abbildungstheorie: die Außenwelt ist der Innenwelt nur inhaltlich gleich und sie erkennen, heißt, sie durch unsere Vorstellungen abbilden.

    X. Der dualistische Realismus: die Außenwelt ist auch inhaltlich von der Innenwelt gänzlich verschieden oder beide können von einander gänzlich verschieden sein, ohne daß die Erkenntnis der Außenwelt irgendwie darunter zu leiden hat.
Es handelt sich für uns um den Beweis des letzten Standpunktes; so gehen uns die Beweise und Widerlegungen der neun übrigen - und aller etwa sonst noch vorhandenen oder möglichen - unmittelbar nichts an. Da aber in unserem Fall, wie allerdings meistens auf dem Gebiet der Philosophie, ein auch nach dem Urteil aller Gegner ganz strenger Beweis kaum zu führen ist, so werden wir gut tun, unsere Stellung nicht nur in sich, sondern tunlichst auch durch Angriff auf die gegnerische zu sichern.

Es ist viel darüber hin und her gestritten worden, wer in der Sache des Realismus wider den Antirealismus die Last des Beweises zu tragen habe. Man hat behauptet, der Realismus sei der dem Menschen natürliche, ursprüngliche Standpunkt, von dem auch derjenige Philosoph ausgehen muß, der ihn bekämpfen will; der Antirealist habe also den Beweis für seine Auffassung zu führen und andererseits, sei dieser Beweis des Antirealismus als irrig nachgewiesen, so trete damit der Realismus von selbst wieder in seine Rechte ein. Und wir sind gewiß der Meinung, daß diese juristische Überlegung für den ganzen Betrieb der Wissenschaft, ja für das Denken des Menschen überhaupt von großer Bedeutung ist: man kann nicht alles beweisen; wenn man daher nicht alles in Frage stellen will, wenn man vor allem im praktischen Leben zu einer Stellungnahme kommen will, so muß man sich die Frage nach der Beweislast stets gegenwärtig halten.

Obgleich uns nun in unserem Fall das, was zu Gunsten des Realismus geltend gemacht wird, nicht ganz zu treffen scheint, so darf doch ein zweiter Punkt nicht übersehen werden. Wir haben schon früher ausgeführt, daß mit der Frage des Realismus ein allgemeines logisches Interesse verbunden ist: die Schwierigkeiten, die zur Stellung der Frage und zur Aufstellung der abweichenden Theorien führen, betreffen allgemeiner Eigenschaften des Denkens und Erkennens und es wäre nach dieser Sachlage ein wenig wissenschaftliches Verfahren, wollte man sich mit einem beliebigen Beweis des Realismus begnügen und jene Schwierigkeiten einfach auf sich beruhen lassen.

Wir können nicht behaupten, daß der dualistische Realismus der natürliche Standpunkt des nicht durch Philosophie verdorbenen Menschen ist; denn dieser unterscheidet in der Wahrnehmung, um gleich das entscheidende Beispiel zu nehmen, wohl die wahrnehmende Tätigkeit des Ich vom wahrgenommenen Gegenstand, aber er rechnet zu den vom Ich oder seinem Nervensystem unabhängigen Stücken des Gegenstandes auch die Sinnesqualitäten, die psychischen Farben, Töne usw. Seine Auffassung ist also zumindest unklar und auf eine bloße Verteidigung derselben kann es daher die Wissenschaft nicht abgesehen haben, welche die Sinnesqualitäten für psychische vom Nervensystem abhängige Inhalte erklärt. Wohl aber kommt es darauf an, diejenigen Angriffe zurückzuweisen, die auch den wissenschaftlich geläuterten Realismus treffen, weil sie aus der Natur des Erkennens überhaupt hergeleitet sind.

Wir werden also einerseits versuchen, einen positiven Beweis für unseren Realismus zu geben, dabei aber andererseits beständig Rücksicht nehmen auf die in der Natur des Denkens selbst zu findenden Schwierigkeiten, wie sie zu den neun ersten der oben formulierten erkenntnistheoretischen Standpunkte geführt haben.

LITERATUR - Willy Freytag, Die Erkenntnis der Außenwelt, eine logisch-erkenntnistheoretische Untersuchung, Halle a. S. 1904