ra-3 Der Zweck im RechtMauthner - ZweckDer Kampf gegen den Zweck     
 
RUDOLF GOLDSCHEID
Der Richtungsbegriff und
seine Bedeutung für die Philosophie

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"Suchen wir nach dem obersten Zweck des Menschendaseins, so fragen wir damit, welche Richtungsstrebigkeit müßte in den Einzelnen sich entwickeln, damit sich die Menschheit als Ganzes in jener Richtung bewegen kann, nach der ihr Richtungsbewußtsein, wenn ich so sagen darf, halb unbewußt hindrängt. Weil somit die Zweckerkenntnis letzten Endes Richtungserkenntnis ist, ist eine Beweisbarkeit der Richtigkeit des letzten Zweckes, den wir uns setzen, unmöglich.  Das Gerichtetsein ist ein Urphänomen, es ist vor aller Kausalität da, es ist das, was uns zur kausalen Forschung drängt und kann darum durch die Kausalität nicht vollends legitimiert werden.  Die Richtung kann nur entdeckt und in ihrer Evidenz aufgezeigt werden, aber sie ist unbeweisbar wie jede Elementartatsache."

2.

Suchen wir nun auch ganz klar festzustellen, welche greifbaren Vorteile der Wissenschaft durch die exakte Bearbeitung des Richtungsbegriffes erwachsen können. Da ist vor allem Eines hervorzuheben. Für die mechanistische Weltanschauung, die alles Geschehen auf Bewegung, auf Attraktion und Repulsion, zurückführt, ist der Richtungsbegriff deshalb von der größten Bedeutung, weil die Richtung eines der zwei immanenten Attribute der Bewegung ist. Jede Bewegung hat eine bestimmte Geschwindigkeit bzw. Intensität und eine bestimmte Richtung. Die Richtung unterscheidet sich dadurch fundamental von der Intensität, daß die letztere ohne weiteres durch die bloße Vergleichung quantitativ bestimmt werden kann, während die erstere nur mittels Aufstellung eines Koordinatensystems ermittelt zu werden vermag. Diese Besonderheit könnte als ihr gleichsam  überquantitativer Charakter  bezeichnet werden, welcher die Richtung dazu geeignet erscheinen läßt, die Brücke zwischen der quantitativen und qualitativen Naturbetrachtung wie zwischen Natur- und Geisteswissenschaft zu bilden. Bei erkenntnistheoretischer Bearbeitung des Richtungsbegriffs drängt sich nun freilich eine Erwägung immer wieder von neuem auf: ist es nicht vielleicht doch überflüssig, umfassende Untersuchungen über das Richtungsmoment anzustellen, indem es doch eigentlich selbstverständlich ist, daß, da alle Bewegung im Raum verläuft, naturgemäß jede Bewegung auch eine Richtung haben muß. Bedenkt man jedoch, daß, genau genommen, die Bewegung eigentlich das Gegebene ist, so daß Raum und Zeit nur als Abstraktionen aus der gegebenen Bewegung erscheinen, dann gewinnt man doch den Eindruck, daß schließlich die Richtung das Ursprünglichere und namentlich das Konkretere ist und daß der Raum nichts anderes ist, als die Summe aller vorstellbaren Richtungen. Wenn OSTWALD darum sagt, der Raum ist richtungsfrei, so ist das sicherlich richtig. Indem der Raum die Summe aller Richtungen ist, ist er zugleich richtungsfrei; aber er hat keine Existenz außerhalb der Richtung, er ist bloß der abstrakte Sammelname für die Unendlichkeit der Richtungen. Auch ARISTOTELES meint, wir würden ohne Bewegung nicht nach dem Raum fragen. Und MACH sagt gelegentlich einmal: "In physiologischer Beziehung sind Zeit und Raum Systeme von Orientierungsempfindungen." In der Richtungsempfindung erblickt also MACH die Wurzel der Raum- und Zeitanschauung. Das läßt als brennendstes Problem die Frage erscheinen: Was liegt unserer Richtungsempfindungen zugrunde? Die Antwort der Physiologen hierauf findet sich in den hochbedeutsamen Untersuchungen über den statischen Sinn. Der Philosoph könnte, anknüpfend an unsere Darlegungen über das Phänomen der Richtung, diese Frage etwa in folgender Weise beantworten: Es ist eine Urtatsache, wo Bewegung ist, wo Energie ist, da ist auch Richtung, das Sein ist also ein Gerichtetsein, es kann darum nicht Wunder nehmen, wenn einer der primärsten Faktoren unseres Seelenlebens die Richtungsempfindung ist.

So zeigt sich also, daß der Richtungsbegriff schon für die Fundamentalfragen der Erkenntnistheorie von größter Bedeutung ist. Eine der wichtigsten seiner Funktionen wäre aber doch wohl die, daß er, sobald er einmal exakt bearbeitet ist, auf allen Gebieten des Geschehens zu einer bestimmten Fragestellung nötigt. So wird z. B. der Mechanist nicht anders können, als zugeben, daß alle Bewegung, auch die verborgene, irgendwie gerichtet sein muß. Wir aber auch jeder Energetiker geneigt sein, das unbedingt betreffs der Energie  und zwar sowohl für die kinetische wie für die potentielle,  zuzugestehen? Sowohl die positive wie die negative Stellungnahme zu unserer Frage würde aber zu sehr bedeutungsvollen Konsequenzen führen. Namentlich hinsichtlich des Tendenzbegriffs, der ein Gerichtetsein zum Ausdruck bringt, das nicht notwendig zugleich Bewegung sein soll.

Noch interessanter als die Untersuchung über das Verhältnis des Richtungsbegriffs zum Raumbegriff gestaltet sich die Gegenüberstellung des Richtungsbegriffs und des Zeitbegriffes. Die Zeit wird als einsinnig bezeichnet und der Ausdruck  einsinnig  kann nichts anderes besagen, als daß die Zeit eine nicht umkehrbare Richtung hat. Oder sollte der Sinn, den der Geometer von der Richtung unterscheidet, tatsächlich etwas anderesn bedeuten können als Richtung? Sollte darin etwa das Anthropomorphe, Physiologische an der Richtung erhalten sein? Ich glaube allerdings kaum an die Möglichkeit, diesen Unterschied bis ins Letzte aufrecht zu erhalten. Wie steht es nun mit der nichtumkehrbaren Richtung der Zeit? Spricht man von der Richtung der Zeit, so haben wir, da die Zeit eine unanschauliche Anschauung ist, Richtung im unanschaulichen Sinne vor uns. Und wir betonten ja bereits früher, wie wichtig es ist, zwischen anschaulicher und unanschaulicher Richtung zu unterscheiden. Wenn nun aber die Zeit auch unanschaulich Richtung ist, so bestreiten wir doch, daß hier der Begriff der Richtung etwa lediglich im metaphorischen Sinne gebraucht wird. Und zwar aufgrund folgener Erwägung: Denken wir uns die Welt als Ganzes in der spezifischen Konstitution des gegenwärtigen Augenblicks, so müßte sie sich aufgrund unserer heutigen naturwissenschaftlichen Auffassung für den LAPLACEschen Geist in einer energetischen Formel zum Ausdruck bringen lasse, und ebenso die Welt als Ganzes in jedem beliebigen Zeitpunkt. Die Weltformel des gegenwärtigen Augenblicks unterscheidet sich also von der Weltformel des Universums in hundert Jahren nur durch die veränderte Gruppierung ihrer energetischen Elemente. Da die Energiesumme weder vermehrt noch vermindert werden kann, kann alle Veränderung, die sich vollzieht, nur eine Veränderung der Gruppierung sein und bei genauem Zusehen enthüllt sich die Veränderung der Gruppierung als energetischer Richtungswechsel. Mit anderen Worten, betrachten wir die starren Systeme der Weltformel des gegenwärtigen Augenblicks und der Weltformel, die die Welt nach hundert Jahren erfassen, statt statisch,  dynamisch  als die Entwicklung der ersteren zur letzteren, wie das Kontinuitäts- und Kausalitätsprinzip es von uns fordern, so können wir nicht anders als im Gruppierungswechsel, als aktuellem Geschehen, einen Richtungswechsel erkennen. Es hat darum sicherlich keinen bloß metaphorischen Sinn, wenn man von der Richtung der Zeit spricht, wenn alle unsere Erkenntnis in der Erkenntnis der Entwicklungsrichtung gipfeln will, ja wenn aller unser lebendiger Kampf als Kampf um die Entwicklungsrichtung bezeichnet wird. Der Beweis hierfür liegt in der Übereinstimmung der Einsinnigkeit allen Geschehens und der Einsinnigkeit der Zeit. Die Einsinnigkeit des Geschehens bedeutet nichts anderes als das bestimmt gerichtete Sein des Geschehens. So zeigt sich also, daß der Begriff der Richtung, angewendet auf die Zeit, nicht nur kein lediglich metaphorischer, kein willkürlich bildlicher Begriff ist, sondern daß wir uns seiner bedienen, weil es mit seiner Hilfe gelingt, die Zeit in den Gesamtzusammenhang unseres Erkennens einzuordnen und wir die durch irgendeinen anderen, angeblich nicht metaphorischen Begriff überhaupt nicht vermöchten. Es sei denn vielleicht mittels des Qualitätsbegriffs!

Wenden wir uns nunmehr dem Verhältnis des Richtungsbegriffs zum Qualitätsbegriff zu. Wir bemerkten bereits, daß die Richtung sich zumindest aufgrund der mechanistischen Weltanschauung, die alles Geschehen als Bewegung zu begreifen sucht, definieren läßt als eine Qualität, als ein Quale der Bewegung. Und man kann darum sicherlich ganz allgemein sagen:  Die Qualität läßt sich schon deshalb nicht vollkommen in reine Quantität auflösen, weil sich die Richtung nicht vollkommen in Intensität auflösen läßt. Die Richtung ist also ein überquantitatives Moment. Aber sie hat eine besondere Eigenart: sie ist das Überquantitative, das Nichtmehrquantitative, das doch meßbar ist und darin liegt ihre tiefste Bedeutung.  Die Richtung erweist sich somit als ein mathematisch erfaßbares Phänomen und bezeichnen wir deshalb die Richtung als eine Qualität der Bewegung, so haben wir hier eine Qualität vor uns, welche mathematisch bestimmmbar ist. Wo es darum gelingt, den Qualitätsbegriff durch den Richtungsbegriff zu substituieren, da ist ein großer Fortschritt erreicht, da ist das Phänomen, welches es zu beschreiben gilt, der mathematischen Formulierbarkeit angenähert. Erkennen wir also die Richtung als eine Qualität der Bewegung, so ist für uns das gewonnen, daß wir nicht mehr einen Begriff, der der Beschreibung in der Sprache des Innenseins entspricht, für die Beschreibung der Sprache des Außenseins zu verwenden brauchen oder, anders ausgedrückt, wir haben es dann nicht mehr nötig, uns für die energetischen Vorgänge eines seelischen Fremdwortes zu bedienen, das verwertet auf Zwecke, für die es nicht geprägt wurde, nur allzuleicht zu unexakten, ja irrigen Auffassungen verleitet. Es wird jeweils vom Zustand unserer Erkenntnisse abhängen, ob wir in einem gegebenen Fall von der Richtung oder von der Qualität eines energetischen Phänomens sprechen. Dort, wo uns allein die Innenseite vertraut ist, ohne daß wir über die Außenseite auch nur im Gröbsten umrissene Vorstellungen haben, werden wir uns des Qualitätsbegriffs bedienen. Dort aber, wo die Außenseite bereits in festeren Linien uns bekannt ist, da werden wir versuchen, mittels des Richtungsbegriffs der Probleme Herr zu werden. - Wie groß die Verwandtschaft des Qualitäts- und des Richtungsbegriffs ist, zeigt schon der flüchtigste Blick auf alle jene Phänomene, wo wir uns in der Wissenschaft, namentlich in den Geisteswissenschaften und in der Psychologie, sowie Biologie des Richtungsbegriffs bedienen. Sprechen wir z. B. von der Geistesrichtung oder der Willensrichtung und sichen wir hier den Begriff der Richtung durch einen anderen zu substituieren, so fällt und das äußerst schwer. Wir könnten höchstens von einer Willenstendenz sprechen. Da wir aber unter Wille bereits eine Strebigkeit verstehen, so kann der Zusatz Tendenz, der ja auch wiederum nur die Strebigkeit zum Ausdruck bringt, bloß dann nicht als tautologisch erscheinen, wenn man unter  Willenstendenz  sprechen. Da wir aber unter Wille bereits eine Strebigkeit verstehen, so kann der Zusatz Tendenz, der ja auch wiederum nur die Strebigkeit zum Ausdruck bringt, bloß dann nicht als tautologisch erscheinen, wenn man unter Willenstendenz die bestimmte Richtung des Willens versteht. Willenstendenz heißt also entweder Strebenstreben oder bestimmt gerichtetes Streben. Man ersieht hieraus, wie außerordentlich schwer es ist, dort, wo man von Willensrichtung spricht, den Begriff der Richtung durch einen anderen zu ersetzen. Man könnte höchstens sagen, im Ausdruck Willenstendenz sei mit Tendenz nicht die Richtung, sondern die besondere  Art  der Aktivität bezeichnet. Was ist aber mit diesem Ausweg gewonnen? Er zeigt uns nur das eine: die von uns betonte Verwandtschaft des Qualitäts- und Richtungsbegriffs. Der Richtungsbegriff kann in den Geisteswissenschaften lediglich durch den Qualitätsbegriff ersetzt werden, eine andere Substitution liegt außerhalb des Möglichen. Kann aber der Begriff der Richtung nur durch den Qualitätsbegriff ersetzt werden und läßt sich obendrein beobachten, daß der Qualitätsbegriff den Richtungsbegriff vielfach nur in sehr nebulöser Weise zu ersetzen imstande ist, dann ist offenbar, daß der Richtungsbegriff seinerseits geeignet sein muß,  zumindest in einer Reihe von Fällen,  den Qualitätsbegriff zu substituieren, ein Ergebnis, welches für die Wissenschaft zweifellos von Belang ist.


3.

Das weitaus Wichtigste am Richtungsbegriff ist jedoch das, was er für die Erkenntnis des Zweckmomentes zu leisten vermag und damit also seine Bedeutung für die Geisteswissenschaften. Ist die Natur als Ganzes ein System von Richtungselementen, so daß jedes einzelne Ding als Konglomerat von Richtungselementen erscheint und richtungslose lebendige Kraft - wenn auch nur im relationistischen Sinn - schon im Anorganischen etwas Unvorstellbares ist, dann kann es uns nicht verwundern, daß es auch im Organischen richtungslose lebendige Kraft nicht geben kann. Daraus folgt aber, daß es ganz verkehrt war, zu glauben, die Einheit zwischen Organischem und Anorganischem lasse sich nur in der Weise herstellen, daß man eine Allbeseelung annimmt und auch dem Anorganischen und den allerniedrigsten Organismen Zielstrebigkeit zuspricht. Es ist vielmehr weitaus entsprechender, anknüpfend an den Richtungsbegriff, von der Selbstverständlichkeit der Einheit des Anorganischen und Organischen auszugehen. Mittels des Richtungsbegriffs sind wir nämlich imstande, dem Begriff der Zielstrebigkeit den Begriff der  Richtungsstrebigkeit  an die Seite zu setzen. Was für ein Gewinn darin liegt, darüber kann kein Zweifel bestehen, denn der Richtungsbegriff und namentlich der Begriff der Richtungsstrebigkeit und Richtungsintensität hebt den bisherigen unvermittelten Gegensatz zwischen Kausalität und Teleologie auf. Die Zielstrebigkeit setzt Bewußtsein voraus: wollte man darum bisher das Weltganze als ein System von Zielstrebigkeiten betrachten, dann mußte man auch den kleinsten Einheiten Bewußtsein zuschreiben und tatsächlich wurde ja auch von Zellseelen und Ähnlichem gesprochen. Ganz anders liegt es mit der Richtungsstrebigkeit bzw. Richtungsintensität. Das abgeschossene Projektil, der losgeschnellte Pfeil, sie besitzen Richtungsintensität, aber keine Zielstrebigkeit. Die anorganischen Gebilde unterscheiden sich nun von den anorganischen nicht etwa dadurch, daß die einen Richtungsintensität besitzen, während diese den anderen nicht zukommt, sondern Richtungsintensität ist eine Grundwesenheit aller wirkenden Kräfte und die Organismen unterscheiden sich von den anorganischen Stoffen vor allen dadurch, daß die Richtungsintensität der ersteren teils eine kompliziertere und bestimmt kombinierte, teils eine bewußte ist. Ja, daß alle Zielstrebigkeit, genau genommen, Richtungsstrebigkeit ist, das sehen wir sogar beim vollendetsten Kulturmenschen. Verlangt man von ihm, er möge seine letzten Ziele angeben, so ist auch er nur imstande, über die  Richtung  seines Willens Auskunft zu geben, nicht jedoch über das Endziel überhaupt. Und ebenso die Menschheit.

Aufgrund des Richtungsbegriffs wird uns somit die Natur des Zwecks erheblich klarer. Der Zweck läßt sich definieren als die reflektierte Richtungsstrebigkeit. Haben wir nun die Richtungsintensität als eine Grundwesenheit der Energie erkannt, dann wissen wir auch, daß die gerichtete Bewegung, bzw. die bestimmt gerichtete Energie, mithin das  Gerichtetsein  als solches überhaupt, das gemeinsame Apriori der Natur- und Geisteswissenschaften ist. Ich verweise hier auf TRENDELENBURG, der auch die Bewegung als das dem Physischen wie Psychischen gemeinsam zugrunde Liegende ansah. Nach unseren Darlegungen käme die Richtung als weiteres Gemeinsamkeitsmoment hinzu. Und es ist namentlich interessant zu beobachten, wie die Psychologie, je weniger sie sich des Begriffs der Bewegung bedient, destor mehr mit dem Begriff der Richtung und dem ihm verwandten der Tendenz operiert. Weil nun die gerichtete Bewegung das allem zugrunde liegende Apriori ist, kann es nicht Wunder nehmen, daß auch im Menschen Richtungsstrebigkeiten wirksam sind, die offensichtlich apriorischen Charakter tragen, d. h. die sich trotz aller aufgewandten Forschungsarbeit nicht restlos aposteriorisch erklären lassen.

Bei allem Messen kommt es in erster Linie immer darauf an, die einzelnen Faktoren, die gegeneinander abgemessen werden sollen, gleichsam auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Im ähnlichen Sinne ist auch alles Einheitsstreben der Wissenschaft die eifrige Bemühung, alle bunte Mannigfaltigkeit auf einen gemeinsamen Nenner zu vereinigen. Wenn man sucht, die Qualitäten in Quantitäten aufzulösen, ist das gleiche Motiv bestimmend. Der reine Quantitätsbegriff hat nun bisher versagt, wo es galt, eine volle Erfassung der bunten Lebendigkeit des Seins zu bewerkstelligen. Man hat bei Anwendung des Quantitätsbegriffs gleichsam die Empfindung: der Quantitätsbegriff tötet. Und auch, wenn man zwecks Erfassung des Dynamischen statt mit Quantitäten mit Intensitäten operiert, fühlt man sich unbefriedigt. Denn die Insuffizienz [Unzulänglichkeit - wp] des reinen Intensitätsbegriffs wird nur allzubald offenbar. Diese Erscheinung läßt sich lediglich begreifen aufgrund des Umstandes, daß wir uns bloß gerichtete Bewegung vorstellen können, aufgrund der Tatsache, daß die Richtung eine unablösbare Grundwesenheit der Kraft ist. Daraus folgt, daß der Richtungsbegriff zum Quantitätsbegriff hinzukommen muß, wenn der Quantitäts- bzw. der Intensitätsbegriff ausreichen soll, die Lebendigkeit der Erscheinungen wissenschaftlich zu erfassen. Die anorganische Naturwissenschaft operiert nun schon seit langem mit dem Richtungsbegriff, wenn sie auch denselben noch nicht erkenntnistheoretisch exakt herausgearbeitet hat. In der Biologie, Physiologie, Psychologie, Soziologie hingegen, in alledem also, was wir Menschennaturwissenschaft nennen könnten, spukt der Richtungsbegriff nur metaphysisch herum und stiftet statt Ordnung die verhängnisvolle Verwirrung. In den organischen Naturwissenschaften und namentlich in den Geisteswissenschaften wirkt nämlich oft  statt  des Richtungsbegriffs der  Zweck,  bzw. der Zielbegriff und dieser Umstand hat zur Folge, daß sich hier die ungeheuerlichsten Widersprüche in unabsehbarer Kluft auftun.

Das letzte Jahrundert hat die reichste Klärung und glänzendste Entfaltung des Kausalbegriffes gebracht, die teleologische Weltanschauung, die vorher beinahe alleinherrschend war, wurde durch die kausale immer mehr verdrängt. Aber die Teleologi hat sich doch fort und fort zu behaupten vermocht und in unseren Tagen zeigt sich mit immer größerer Deutlichkeit, daß ein weiterer rapider Fortschritt der Wissenschaft, namentlich der organischen Disziplinen und der Geisteswissenschaften, nicht möglich ist, wenn nicht auch dem berechtigten Kern des Teleologiebegriffes zur Geltung verholfen wird. Und man kann darum sehr wohl sagen: die nächsten Jahrzehnte werden der Klärung und Entfaltung des Zweckbegriffs gewidmet sein müssen. Wir werden nun zeigen können, daß es der Richtungsbegriff ist, der die Brücke zwischen der quantitativen und qualitativen Naturbetrachtung bildet, daß es das Gerichtetsein ist, was den Ursachen- und Zweckbegriff versöhnt, was Kausalität und Finalität auf den gesuchten gemeinsamen Nenner bringt. Für uns ist die geschlossene Kausalkette geschlossene Richtungskette und die Kausalforschung bedeutet für uns darum zugleich die Erforschung der Kausalität der Richtung. Wir sagen nicht wie die Hylozoisten, daß alles beseelt ist, daß jedem winzigsten Urteilchen Beseelung zukommt, sondern wir behaupten, daß alles Sein ein System von Richtungsintensitäten ist. Für uns sind die Organismen Systeme von Richtungselementen, ebenso wie alles Anorganische Zusammensetzung von Richtungseinheiten darstellt. Handelt es sich somit darum, das Verhältnis des Organischen und Anorganischen zu bestimmen, so haben wir einfach mit den gegebenen Richtungsintensitäten zu rechnen.

Versuchen wir unsere Auffassung durch ein ganz grobes, willkürlich gewähltes Beispiel zu illustrieren. Denken wir uns ein Gebäude, an dem ein Blitzableiter angebracht ist. Im Moment, wo die Spannung in der über dem Gebäude lagernden Atmosphäre durch einen Blitz gelöst wird, zieht der Blitzableiter den elektrischen Funken an sich und leitet ihn zur Erde ab. Es wäre nun eine plump anthropomorphe Anschauung, dem Blitzableiter irgendeine Art Zielstrebigkeit zuzuschreiben, als ob ihm der Zweck bewußt vorschwebte, den elektrischen Funkten zur Erde abzuleiten. Nichtsdestoweniger ist es eine Tatsache, daß er den Blitz von seiner natürlichen Richtung ablenkt. Würden wir dieser Tatsache dadurch gerecht zu werden suchen, daß wir sagen: dem Blitzableiter kommt eine bestimmte Richtungsstrebigkeit zu, so würden wir uns gleichfalls eines unberichtigten Anthropomorphismus schuldig machen. Vollkommen zutreffend ist das gegebene Verhältnis lediglich dann erfaßt, wenn man hier nicht nur nicht von äußerer und innerer Richtungsstrebigkeit spricht, sondern einfach ein inneres und äußeres Gerichtetsein annimmt und dementsprechend sagt: Die Richtung des Geschehens ist die Resultierende im jeweiligen Kräfteparallelogramm der Richtungsintensitäten. Und ganz analog verhält es sich, wenn Organisches in Betracht kommt. Die Umwelt ist genauso ein System bestimmt gerichteter Energien wie der tierische oder menschliche Organismus. Und der Blitzableiter in unserem Beispiel ist genauso ein bestimmt Gerichtetes, wie irgendein lebendes Gebilde bestimmt gerichtet ist. Das bestimmt gerichtete Sein des Blitzableiters besteht darin, daß er auf verschiedene äußere Reize typisch reagiert. und genau dasselbe beobachten wir auch bei den Organismen, nur daß hier eine weitaus größere Reaktionsmannigfaltigkeit vorliegt und daß sich die Einheiten in größerer Abhängigkeit voneinander befinden. Aber in einer Beziehung gleichen sich Blitzableiter, ja jedes chemische Element und der lebendige Organismus, bzw. das einfachste Protoplasmaklümpchen vollkommen. Sie sind nämlich durch weg Systeme von latenten Richtungsintensitäten, Systeme von Funktionsmöglichkeiten, bei denen es von den jeweiligen äußeren Reizen abhängt, welche von ihnen zu Funktionswirklichkeiten werden. - Spricht man von Kausaler Determination des Organischen oder des menschlichen Willens, so ist damit die jeweilige Gruppierung in einem bestimmten System von Richtungselementen zum Ausdruck gebracht. Der Wille ist die jeweilige Resultierende eines zu einem besonderen System verbundenen Komplexes von Richtungselementen, die den Organismus selber zusammensetzen, bestimmt sein muß. Als Persönlichkeit erscheint uns z. B. jenes Individuum, dessen innere Richtungsintensität verhältnismäßig stark im Vergleich zu den äußeren Richtungsintensitäten ist. Wer in der verschiedensten Umgebung den verschiedensten Einflüssen ausgesetzt, der Gleiche bleibt, der wird von uns mit Recht als ein Wesen von höherer Eigenkraft betrachtet; sein Wille ist vermöge der starken angeborenen Richtungsintensitäten verhältnismäßig frei gegenüber dem Willen desjenigen, der überall zum Spielball seines Milieus wird. Wir sehen also: Indem wir die Kausalität als das Verhältnis der jeweiligen Richtungsintensitäten auffassen, werden wir sowohl den von rückwärts her drängenden, wie den nach vorwärts strebenden Kräften gerecht. Und es ist der Begriff der Richtung, welcher uns diese Auffassung ermöglicht. Wir sagten vorhin, Kausalforschung ist Richtungsforschung. Es wird sich uns nun zeigen, welche Konsequenzen aus dieser Einsicht für das Willensproblem und damit für die Geisteswissenschaften überhaupt naturgemäß erwachsen. (1) Haben wir im gesamten Sein ein Spiel von bestimmt gerichteten Energien vor uns und zeigt es sich, daß sich das Anorganische und das Organische nur dadurch voneinander unterscheiden, daß das Anorganische verhältnismäßig nicht allzu komplizierte Richtungsintensität ohne Bewußtsein ist, während das höher entwickelte Organische äußerst komplizierte und ganz bestimmt kombinierte Richtungsintensität mit Bewußtsein ist, so verengt sich dadurch die Kluft zwischen Anorganischem und Organischem ganz wesentlich. Freilich verschwinden hierdurch keineswegs die tiefsten Rätsel des Seins. Aber es kann ebensowenig als wunderbar erscheinen, daß bei einer bestimmten Kombination der Richtungselemente Gefühl bezw. Bewußtsein auftritt, wie es von uns nicht als Wunder aufgefaßt wird, daß bei einer anderen bestimmten Gruppierung der Richtungselemente ein Glühen oder ein Leuchten zustandekommt.

Am allerwenigsten wird aber bei der Auffassung der Dinge, zu der uns der Richtungsbegriff hinführt, daß Bewußtsein zu einer belanglosen Begleiterscheinung der physiologischen Prozesse degradiert. Ganz im Gegenteil wird vielmehr erst hierdurch die ungeheure Bedeutung des Bewußtseins für das Geschehen vollends offenbar. Bewußtsein ist nach unserer Auffassung Richtungsbewußtsein. Es ist also nicht etwa bloß etwas rein Kontemplatives, die äußeren Erscheinungen passiv Widerspiegelndes, sondern ein aktiv sich Betätigendes, es ist das Bewußtwerden des Kampfes der äußeren und der inneren Richtungsintensitäten. Das Bewußtsein zeigt uns, solcherart dynamisch aufgefaßt, jeden Augenblick die Resultierende der uns konstituierenden Richtungselemente klar oder unklar an. Zu einer je höheren Vervollkommnung sich unser Bewußtsein nun emporhebt, desto mehr wachsen wir aus dem Mikrokosmos, der wir selber sind, heraus zum Makrokosmos der gesamten, bestimmt gerichteten Energien. Je mehr sich unser Bewußtsein also weitet, desto deutlicher werden wir uns nicht nur der eigenen Richtung bewußt, sondern wir gelangen auch zur Erkenntnis der Voraussetzungen, unter denen allein unsere Grundrichtung gegen die Umgebung sich durchzusetzen vermag. Suchen wir nach dem obersten Zweck des Menschendaseins, so fragen wir damit, welche Richtungsstrebigkeit müßte in den Einzelnen sich entwickeln, damit sich die Menschheit als Ganzes in jener Richtung bewegen kann, nach der ihr Richtungsbewußtsein, wenn ich so sagen darf, halb unbewußt hindrängt. Weil somit die Zweckerkenntnis letzten Endes Richtungserkenntnis ist, ist eine Beweisbarkeit der Richtigkeit des letzten Zweckes, den wir uns setzen, unmöglich.  Das Gerichtetsein ist ein Urphänomen, es ist vor aller Kausalität da, es ist das, was uns zur kausalen Forschung drängt und kann darum durch die Kausalität nicht vollends legitimiert werden.  Die Richtung kann nur entdeckt und in ihrer Evidenz aufgezeigt werden, aber sie ist unbeweisbar wie jede Elementartatsache. Aufgrund des Richtungsbegriffes wird auch klar, weshalb es müßig ist, darüber zu grübeln, ob unsere letzten Zwecke uns von Anbeginn her gesetzt sind oder frei von uns gesetzt werden. Dem kausalen Denken ist es bekanntlich noch nicht gelungen, eine letzte Ursache zu finden und ebensowenig gelang es der Finalität, unseren letzten Zweck zu erkennen. Der Richtungsbegriff liefert uns den Schlüssel zur Lösung dieser wunderbaren Erscheinung.  Weil alles Sein Richtungsintensität ist und weil die Energie bloß als gerichtete Energie existiert, kann es keine letzte Ursache und keinen letzten Zweck geben; die Richtung hat keinen Anfang und kein Ende.  Schon die Annahme der Unendlichkeit, die unser endliches Erkenntnisvermögen nicht voll zu erfassen vermag, zwingt uns vom Endzweck und vom Endziel völlig zu abstrahieren. Müssen wir aber vom Endzweck und Endziel abstrahieren, dann gelangen wir zwangsgemäß zum Richtungsbegriff, der uns lehrt, daß alle unsere Zwecke nur Stationen auf der Bahn unseres Gerichtetseins sind und daß wir es darum letztlich nur mit Richtung zu tun haben.  Indem wir uns also entschließen, auf die Erkenntnis des Endzwecks zu verzichten und uns mit der Erkenntnis unserer Grundrichtung begnügen, stellen wir uns allerdings eine geringere Aufgabe als die, die uns vorher vorschwebte, aber dafür eine lösbare und das ist sicherlich eine für die Entwicklung der Wissenschaft sehr bedeutungsvolle Reduktion. 

Und auch noch ein anderes ist durch unsere Auseinandersetzungen über das Verhältnis des Zweckbegriffs zum Richtungsbegriff gewonnen. Unsere Auffassung bringt zum Ausdruck, was von innen gesehen als Zweck, bzw. Ziel erscheint, das ist von außen erfaßt Richtung. Damit vertreten wir den Standpunkt: wir vermeinen nicht den Zweckbegriff mittels des Richtungsbegriffes vollends aus der Welt schaffen zu können, sondern wir wollen mittels des Richtungsbegriffs den Zweckbegriff vor allem für die mechanistischen Naturerklärung entbehrlich machen. Jeder Kausalfaktor ist gerichtete Energie und dasselbe ist auch der Fall hinsichtlich jedes Finalfaktors. Der Finalfaktor hat demnach keine andere Richtung als der Kausalfaktor. Der zeitliche Widerspruch hinsichtlich der Kausal- und Finalfaktoren ist aufgrund des Richtungsbegriffes aufgehoben. Der Zweck als psychologisches Phänomen ist freilich nicht gleichbedeutend mit dem Zweck als energetischem Phänomen, aber der Richtungsbegriff gestattet mit dem Zweck als energetischem Phänomen zu operieren, den Zweck so zu behandeln, wie die anderen energetischen Phänomene und zwar ist das aufgrund des Richtungsbegriffes darum zulässig, weil der Richtungsbegriff Erfassung des Weltbildes sub specie [unter dem Gesichtspunkt - wp] der Richtung ist, weil der Richtungsbegriff die Kausalität zugleich als Richtungskausalität kenntlich macht. Indem es nun auf keinen Widerspruch stoßen kann, wenn man den Begriff der Zweckursache durch den Begriff der Richtungskausalität substituiert, haben wir die Hauptschwierigkeit im Teleologieproblem beseitigt, wobei freilich hervorzuheben ist: wir haben nur die Schwierigkeiten beseitigt, welche der naturwissenschaftlichen Behandlung des Teleologieproblems entgegenstanden, nicht die metaphysischen Schwierigkeiten, auf welch letztere es uns ja aber auch gar nicht ankam.

So bietet der Richtungsbegriff also den einen großen Vorteil, daß er das stets gesuchte Bindeglied zwischen Kausalität und Teleologie darstellt. Er ermöglicht es, die äußere Welt in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit und Lebendigkeit darzustellen, ohne daß man genötigt wäre, hierbei zu irgendeinem seelischen Fremdwort seine Zuflucht zu nehmen. Er rettet den berechtigten Kern der teleologischen Weltbetrachtung leidet, ohne daß dadurch der geschlossene Kausalzusammenhang durchbrochen wird. Der Richtungsbegriff zeigt, daß das Weltbild der Naturwissenschaft nicht auf rein quantitative Messung ausgeht, sondern auf Erfassung des Weltgeschehens in Quantität und Richtung. Der im Richtungsbegriff vervollständigte Quantitätsbegriff verliert seine Totenstarre, wer wird mit einem Mal lebendig und nichts charakterisiert vielleicht die Bedeutung des Richtungsbegriffs mehr, als der Hinweis auf die ungeheure Lebendigkeit, die ihm innewohnt, auf seine Fähigkeit, allem Leben einzuhauchen, womit er in Berührung kommt.

Alle diese Darlegungen lassen es vielleicht nicht als übertrieben erscheinen, wenn man es als im Bereich der Möglichkeit liegend ansieht, daß der Richtungsbegriff zum Zweckbegriff in ein ähnliches Verhältnis treten wird, wie der Energiebegriff zum Kraftbegriff. Der Energiebegriff machte den Kraftbegriff quantitativ meßbar, indem er von dessen seelisch qualitativen Eigenschaften abstrahierte. In ähnlicher Weise würde der Richtungsbegriff den Zweckbegriff umzugestalten vermögen. In welchem Umfang freilich der Richtungsbegriff imstande sein wird, den Zweckbegriff zu verdrängen, darüber kann uns allein die Weiterentwicklung der Weiterentwicklung der Wissenschaft belehren.  Aber äußerst wahrscheinlich erscheint uns das Eine: Ebenso wie wir mit dem Energiebegriff sehr fruchtbar zu arbeiten imstande waren, wenn auch der Kraftbegriff letzten Endes als etwas Unbekanntes verharrte, so werden wir auch mit dem Richtungsbegriff in den Geisteswissenschaften wertvolle Arbeit leisten können, wenngleich der Zweckbegriff neben ihm schließlich und endlich doch als ungelöste Rätselfrage zurückbleibt.  - Nur weil man bisher im strikten Gegensatz zur erforderlichen Einheit der monistischen Naturauffassung annahme, die Richtung sei ein sekundäres, nicht ein primäres Moment der Energie, die Richtung sei etwas, was sich nur aus der Lagebeziehung ergibt, nicht aber zugleich den Krafteinheiten immanent ist, nur weil sie also die monistische Naturauffassung bisher gegen ihr eigenes Prinzip versündigte und mit Anschauungen operierte, die der dualistischen Weltanschauung zugrunde liegen, ist das Ergebnis zutage getreten, daß die teleologische Weltanschauung gerade durch den Sieg des Monismus ihr Haupt wieder mächtig erheben kann gegen die kausale Weltanschauung. Die Vernachlässigung des Richtungsbegriffs ist die Todsünde der mechanistischen Naturbetrachtung, ist die Verleugnung seiner eigenen Grundprinzipien seitens des Monismus. Indem er den Richtungsbegriff einer exakten Untersuchung und Bearbeitung unterzieht, beraubt er die teleologische Weltanschauung alten Stiles ihres einzige berechtigten Kerns und drängt sie damit definitiv in die Metaphysik zurück.


4.

Sehen wir nun, zu welchen weiteren Konsequenzen unsere Anschauung führt: Betrachtet man das Weltgeschehen rein mechanistisch oder rein energetisch, so ist es ein kontinuierlicher Wechsel in der Gruppierung der Grundelemente. An der Gesamtqualität ändert sich nichts. Eine Veränderung in der Gruppierung kann aber nicht anders zustande kommen als durch eine bestimmt gerichtete Bewegung der Grundelemente. Genau genommen, haben wir also hauptsächlich ein Interesse an der Geschwindigkeit und an der Richtung des Geschehens. Nennt man die Entwicklung nun dort zielstrebig, wo schließlich eine bestimmte Gruppierung, die vorausgesehen werden kann, erreicht wird, so ist klar, daß man hier ein Durchgangsstadium des Geschehens Ziel nennt. Oder man müßte ganz unzuverlässigerweise einfach das Ende mit dem Ziel identifizieren. In Wirklichkeit durchläuft das Geschehen in jedem einzelnen Zeitdifferential ein Ziel. Das Ziel ist, mechanistisch oder energetisch gesprochen, nichts andrees, als die jeweilige Konstitutionsformel des Weltganzen in einem bestimmten Zeitdifferential.  Die Zeit ist inhaltlich eine kontinuierliche Reihe von erreichten Zielen.  Das Ziel ist gleichsam ein Differential des Geschehens, was ersichtlich macht, daß die Richtungskomplexion etwas weitaus Umfassenderes ist, als der Zielbegriff. Von einem Ziel oder einem Zweck kann dort gesprochen werden, wo man in der Erreichung einer bestimmten Konstitutionsformel des Weltganzen den innersten Sinn allen Geschehens erblickt. Wir können dann diese bestimmte Formel als unser Ziel bezeichnen, müssen uns aber wohl dessen bewußt sein, daß in jedem Augenblick ein Ziel durchlaufen wird, bzw. daß jeder spätere Augenblick im Verhältnis zum früheren sich als ein Ziel charakterisiert. Bezeichnet man deshalb die Natur überhaupt als zielstrebig, dann muß man einsehen, daß fortwährend Ziele erreicht werden. Will man das jedoch nicht zugeben, dann muß man sich damit begnügen, zu sagen, jedes Urelement durchläuft eine bestimmte Bahn, jede Bewegung hat ihre bestimmte Kurve und darum ist in der Welt während jedes Zeitdifferentials eine bestimmte Gruppierung der Grundelemente anzutreffen. Bei dieser Auffassung erscheint uns die Natur zwar nicht als zielstrebig, aber als bestimmt gerichtetes Sein oder, besser gesagt, als bestimmt gerichtetes Geschehen.  Der Zielbegriff erweist sich bei dieser Anschauung der Dinge also als der Versuch einer statischen Erfassung des Dynamischen, als besondere Bezeichnung für die Konstitutionsformel des Weltganzen in einem bestimmten Zeitdifferential. 

Nun müssen wir aber unterscheiden: das Ziel als die Formel, welcher das Weltganze sich immer mehr annähert und das Ziel begriffen als menschliche Zielvorstellung. Diese Unterscheidung wird uns zwingen, uns darüber auszusprechen, was der Richtungsbegriff für die Lösung der Grundfrage des gesamten Teleologieproblems zu leisten vermag, nämlich für die Frage, wie vermag die Zweckvorstellung in den geschlossenen Kausalzusammenhang einzugreifen? Diese Erörterung soll den Schluß unserer Abhandlung bilden, den Schluß und den Gipfel. Denn wie mir scheinen will, liegt die tiefste Bedeutung des Richtungsbegriffs in dem, was er für die Geisteswissenschaften zu leisten imstande ist. Und wir werden in den jetzt folgenden Erörterungen zeigen können, wie der Richtungsbegriff durch die Beziehungen, die ihn sowohl mit dem Richtigen, wie dem Wert verbinden, berufen ist, namentlich auf dem Gebiet der Ideenlehre eine große Rolle zu spielen.

Eine Erörterung dessen, was der Richtungsbegriff zur Klärung des Zweckmäßigkeitsproblems, in der Gestalt, in der es etwa den Darwinismus beschäftigt, beitragen könnte, müssen wir uns im Rahmen unseres heutigen Aufsatzes versagen. Wir werden bei anderer Gelegenheit - in einem voraussichtlich schon Ende dieses Jahres erscheinenden Buch über die Voraussetzungen der Höherentwicklung - ausführlich darauf eingehen. Nur so viel sei schon hier bemerkt: da wir ebenso wie BREUER und andere von der Anschauung ausgehen, daß in den meisten Fällen, wo von Zweckmäßigkeit gesprochen wird, weitaus richtiger der Ausdruck  Erhaltungsgemäßheit  gebraucht würde, ist für uns der Zusammenhang zwischen Zweckmäßigkeit und Richtung naturgemäß gegeben. Genau genommen, nennen wir nirgends etwas anderes objektiv zweckmäßig, als dasjenige, was mit der in der Menschheit am intensivsten wirksamen Grundrichtung am meisten harmoniert, als subjektiv zweckmäßig hingegen bezeichnen wir das der bestimmten Grundrichtung eines bestimmten Einzelwesens Entsprechendste; es ist also unser Interesse an einem bestimmten Zusammenhalt, das uns zum Begriff Zweckmäßigkeit verleitet. Brechen wir darum ebenso radikal mit der organo-, bzw.  biozentrischen Weltanschauung,  wie wir die geozentrische und anthropozentrische aufgegeben haben, d. h. nehmen wir nicht an, daß alles, was sich erhält, sich auch erhalten  soll,  dann wird uns das Erhaltungsgemäße und die Steigerung der Erhaltungsgemäßheit, d. i. die größere Übereinstimmung der Funktion der einzelnen Teile mit der Grundrichtung des irgendwie zu einer Einheit verbundenen Ganzen, nicht mehr so wunderbar erscheinen. - Mit diesen wenigen Worten kann natürlich nur in den dürftigsten Umrissen angedeutet werden, was uns vorschwebt. Es sollte aber auch nur darauf hingewiesen werden, in welcher Weise der Richtungsbegriff in bezug auf die aufgeworfene Frage methodologisch, gleichsam als heuristisches Prinzip verwendet werden könnte. Und vielleicht reichen diese aphoristischen Bemerkungen schließlich doch aus, um zumindest den Zusammenhang zwischen Richtungsbegriff und Entwicklungsproblem einigermaßen zu markieren und namentlich, um zu zeigen, warum wir uns sowohl über die Höherentwicklung wie über die Richtung nur aufgrund eines bestimmten Koordinatensystems orientieren können. Es scheint mir nälich als eines der wichtigsten Ergebnisse unserer Bearbeitung des Richtungsbegriffs, daß offenbar wird:  Was in den exakten Naturwissenschaften die Richtungsbestimmung ist, das ist in den Geisteswissenschaften die Wertung Daher die Rolle, die das Wertmoment in der Wissenschaft überhaupt spielt, daher die aus dem ungeklärten Richtungsbegriff erwachsene Verwirrung, welche mit dem Wertmoment bisher so vielfach in die Wissenschaft hineingetragen wurde.

In diesem Zusammenhang will ich auch gleich bemerken, daß ich auf dem Weg werttheoretischer Untersuchungen auf den Richtungsbegriff stieß. Und es wird vielleicht am besten zur Charakteristik des Richtungsbegriffs dienen, wenn ich bei diesem Umstand mit einigen Worten verweile. Ich untersuchte den Ursprung des Wertes, um Stellung zur objektiven und zur subjektiven Begründung der Wertlehre nehmen zu können. Deutlich kamen mir hier die Schwierigkeiten zu Bewußtsein, sowohl wenn man den Wert auf die Arbeit, wie wenn man ihn auf das Begehren zurückführt. Je mehr ich mich in das Problem vertiefte, desto klarer wurde mir nun, daß das Werten, kurz gesagt, der psychische Ausdruck unseres Gerichtetseins ist. Wir halten etwas für wert, weil es Verkörperung von Arbeit ist und wir schätzen die Arbeit, weil wir Arbeit benötigen, um uns erhalten und in einer bestimmten Weise entfalten zu können. Fragt man aber weiter, warum wir uns erhalten und in dieser bestimmten Weise entfalten wollen, so können wir nur auf ein so geartetes Gerichtetsein verweisen. Eine weitere Auflösung, eine weitere Zurückverfolgung, liegt außerhalb der Möglichkeit. So führt also die Reduktion des Wertbegriffes schließlich auf den Richtungsbegriff. Und man kann darum sagen, das Werten ist das Messen bezw. Schätzen in Bezug auf die Richtung und zwar nicht nur in Bezug auf die Einzelrichtung in ihrem Verhältnis zu den Richtungselementen der engeren Umgebung, sondern in Bezug auf das Verhältnis der Einzelrichtung in ihrer Bedeutung für die Erreichung der beabsichtigten Konstitutionsformel des Ganzen. Indem ich einen Einzelvorgang werte, prüfe ich, ob er geeignet ist, die Annäherung an die gewünschte Konstitutionsformel zu begünstigen, untersuche ich, ob er so geartet ist, in der kürzesten Zeit das gewünschte Ergebnis herbeizuführen. Die Verwandtschaft des Wertmomentes und des Richtungsmomentes geht übrigens auch daraus hervor, daß man, wie bereits bemerkt, ähnlich wie zur Bestimmung der Richtung auch zur Bestimmung des Wertes eines Koordinatensystems nicht entbehren kann.

Ein weiterer interessanter Ausblick, den die erkenntnistheoretische Untersuchung des Richtungsbegriffes gewährt, ist der bemerkenswerte Zusammenhang zwischen dem Begriff der Richtung und dem Begriff des Richtigen. Es könnte als eine sprachliche Zufälligkeit erscheinen, daß im Begriff des Richtigen der Begriff der Richtung nachklingt. Aber uns will bedünken, daß hier keine Zufälligkeit, sondern ein tiefgründiger Kausalnexus vorliegt. Schon LEIBNIZ hat die Wahrheit mit der Zweckmäßigkeit in Verbindung gebracht, indem er hervorhob, daß die  Ptolemäische Weltanschauung  ebenso der Wahrheit entspricht wie die  Kopernikanische  und daß sich die Kopernikanische nur durch ihre größere Zweckmäßigkeit auszeichnet. In neuester Zeit wird nun von verschiedenen Seiten versucht, die Wahrheit auf die Zweckmäßigkeit zurückzuführen, d. h. man ist der Ansicht, daß uns das als wahr erscheint, was sich als zweckmäßig bewährt hat, was uns dazu verhilft, uns in der Naturbeherrschung zu vervollkommnen. Sehen wir darum ab von all jenen Wahrheiten, die sozusagen auf formaler Evidenz beruhen und unterscheiden wir überhaupt zwischen dem Wahren und dem Richtigen in der Weise, daß wir das wahr nennen, was mit Evidenz ausgestattet ist und das als richtig erachten, was sich widerspruchsfrei in ein geordnetes System einreihen läßt, dann können wir nicht daran zweifeln, daß uns als richtig dasjenige erscheint, was geeignet ist, unsere Annäherung an jene Konstitutionsformel des Weltganzen, die wir anstreben, zu befördern und daß uns das als unrichtig erscheint, was diese Annäherung hemmt. Als richtig bezeichnen wir also das einer gewissen komplexen Grundrichtung Entsprechende; als unrichtig das einer gewissen komplexen Grundrichtung Widersprechende. Aus diesen Ausführungen ist zu entnehmen, wie eng der Begriff des Richtigen mit der Richtung zusammenhängt. Und in gleicher Weise sehen wir die innige Berührung zwischen dem Wert und dem Richtigen, die beide die gleiche Verwandtschaft mit dem Richtungsgemäßen offenbaren. Angesichts dieser Verwandtschaft ist ohne weiteres die Bedeutung des Richtungsbegriffs für die gesamte Ideenlehre einleuchtend und der flüchtigste sprachkritische Überblick zeigt ja auch, daß nirgends der Begriff der Richtung häufiger gebraucht wird und eine größere Rolle spielt, als in den organischen Naturwissenschaften und namentlich in den Geisteswissenschaften.


5.

Wir wollen nunmehr zum letzten Punkt unserer Abhandlung übergehen. Wir behaupteten: der Richtungsbegriff bringt die Kausalität und die Finalität auf einen gemeinsamen Nenner. Wir haben uns deshalb jetzt darüber auszusprechen, wie wir uns denken, daß die Zweckvorstellung in einem geschlossenen Kausalzusammenhang einzugreifen vermag. Es gibt zwei Betrachtungsweisen des Geschehens. Wir können fragen, welcher Konstitutionsformel strebt das Weltganze, bzw. namentlich derjenige Teil des Weltganzen, der uns für unsere Zwecke besonders interessiert, zu und wir können andererseits fragen, welcher Konstitutionsformel soll das Weltganze, bzw. der uns interessierende Teil desselben zustreben? Die Zulässigkeit dieser Doppelfrage ist nun aber eben eines der tiefsten Grundprobleme der Philosophie.  Wie kann man angesichts der Tatsache, daß alles, was geschieht, geschehen muß, danach fragen, ob etwas, bzw. was geschehen soll.  Dieses Problem muß, obwohl es über den Rahmen der vorliegenden Abhandlung naturgemäß weit hinauswächst, doch wenigstens in Kürze noch erörter werden, weil es  das interessanteste aller Richtungsprobleme  zum Ausdruck bringt, nämlich  die Frage nach der Entwicklungsrichtung.  Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß, wo von Entwicklungsrichtung gesprochen wird, der Begriff der Richtung keineswegs bloß metaphorischen Sinn hat. Die Entwicklungsrichtung, das ist die Entwicklung der Konstitutionsformel des Weltganzen im gegenwärtigen Augenblick zur Konstitutionsformel des Weltganzen in einem künftigen Zeitdifferential und diese Entwicklung kann angesichts der Konstanz der Quantität nur ein Gruppierungswechsel sein; jeder Gruppierungswechsel ist aber, dynamisch aufgefaßt, Richtungswechsel. Wie steht es nun mit der Entwicklungsrichtung? Geschieht, was geschehen muß, und ist es darum unsinnig zu fragen, was geschehen soll, oder hat das, was geschehen soll, einen Einfluß auf das, was geschehen muß? Diese Frage ist bei unserer Auffassung der Dinge nicht mehr schwer zu entscheiden.

Vergegenwärtigen wir uns doch nur: Was ist der Inhalt, der tiefste Sinn unseres gesamten Forschens? Wir trachten zu erkennen, welche Konstitutionsformeln das Geschehen von Zeitdifferential zu Zeitdifferential durchlaufen muß und wir fragen, welche Konstitutionsformel das Weltganze im spätesten Zeitpunkt, den wir uns denken können, annehmen wird. Diese Erkenntnis suchen wir in der Weise zu gewinnen, daß wir die einzelnen Gebilde in die kleinsten Einheiten aufzulösen trachten und nun das Verhältnis der Bewegungsformeln der kleinsten Einheiten in ihrem Zusammenwirken feststellen. Wäre es nun energetisch möglich, daß irgendein Geschöpf, MÜNCHHAUSEN gleich, sich an seinem eigenen Zopf aus dem Wasser ziehen könnte, so würden wir hoffen dürfen, mit vollkommener Gewißheit das Gesamtgesetz allen Geschehens bis in die kleinsten Details dereinst erforschen zu können. Da wir aber wissen, daß niemand sich an seinem Zopf aus dem Wasser ziehen kann, bzw. da wir wissen, daß so genau wir auch die Bewegungsformeln aller Kräfteeinheiten in ihrem geschlossenen Kausalzusammenhang berechnen mögen, doch  diejenigen Kräfteeinheiten, welche die Betrachtung selbst ausführen, stets aus dem Kalkül wegbleiben,  so ist es für uns ein Gebot gerade streng kausalen Denkens, in Bezug auf das Einzelne nicht von Entwicklungsgesetzen, sondern nur von relativen Entwicklungskonstanten und hinsichtlich des gesamten Systems nur von Entwicklungsmöglichkeiten zu sprechen. Die Tatsache, daß jede Lageveränderung eines Sandkorns, ja des winzigsten Uratoms gerade aufgrund des Kontinuitätsprinzips die Konstitutionsformel des Weltganzen verändern muß, zwingt uns die Verpflichtung auf, wo wir von geschichtlicher oder kosmischer Notwendigkeit sprechen, zweierlei haarscharf zu unterscheiden. Nämlich zu berücksichtigen, daß es wohl nur  eine  Entwicklungsnotwendigkeit geben kann, daß aber die erkenntnistheoretische Besinnung uns verlassen muß, einzusehen, daß die Welt der Notwendigkeit uns entschieden nicht als etwas anderes  erscheinen  kann, denn als eine Welt der Möglichkeiten. Indem wir selbst als Betrachter notwendig im Betrachteten fehlen, reißen wir naturgemäß immer eine Lücke im Weltganzen auf, die wir auszufüllen absolut nicht imstande sind, bzw. die wir nur ausfüllen können aufgrund von Analogieschlüssen, denen keine Gewißheit zukommt. Die Lückenhaftigkeit unseres Erkennens ist natürlich beim gegenwärtigen Stand unserer Erkenntnis, auch abgesehen von der Lücke, die wir selbst verursachen, eine sehr große. Umso mehr ziemt es sich für uns, statt einem fruchtlosen Suchen der  einen  historischen Notwendigkeit nachzugehen, statt also das  eine  Entwicklungsgesetz des Weltganzen erforschen zu wollen, an der Feststellung der zahlreichen Entwicklungsmöglichkeiten zu arbeiten, um durch die Abwägung der vorhandenen Entwicklungsmöglichkeiten zu einem Schluß über die Entwicklungsmöglichkeiten höchster Wahrscheinlichkeit zu gelangen. (2)

Es ist die Folge der Kontinuität allen Geschehens, daß im selben Maße als das unendlich Große das unendlich Kleine determiniert, auch umgekehrt das unendlich Kleine das unendlich Große zu determinieren vermag. Die ungeheure Gewalt dessen, was die Wissenschaft Auslösungsursache nennt, ist nichts als der lebendige Ausdruck des Einflusses des unendlich Kleinen auf das unendlich Große, der in der Mehrzahl der Fälle nur zu unsichtbarer, nicht zu sichtbarer Wirkung gelangt. Das Wissen und Können des Menschen ist gleich einem Sandkorn im Unendlichen; aber die richtige Lagerung eines Sandkornes im Unendlichen reicht aus, um im Unendlichen alles von unterst zu oberst zu kehren. Vertieft sich darum unsere Einsicht in das Verhältnis der Systeme bestimmt gerichteter Energien, die die menschlichen Organismen konstituieren, wie in jenes System bestimmt gerichteter Energien, welches das Naturganze darstellt, so braucht uns vor unserer Ohnmacht nicht bange zu sein. So gering unsere Kraft im Vergleich zu den Elementarkräften ist, wir spielen die Rolle von Auslösungsfaktoren, und wenn wir nur zu immer ausgebreiteterer Erkenntnis über die Gewalt und Fülle der Auslösungsursachen gelangen, dann können wir unsere Stellung in der Natur ganz ungeheuerlich verbessern. Das Problem des Fortschritts ist das Problem der Energierichtung. Auf dieser Tatsache baut sich die Bedeutung umfassender Richtungserkenntnis unübersehbar auf.

Wo immer der menschliche Geist die Fähigkeit besitzt, als Auslösungsfaktor wirksam zu sein, da ist es deshalb weitaus exakter, aus dem, was geschehen soll, auf das zu schließen, was geschehen wird, statt es umgekehrt aus dem, was geschehen ist, entnehmen zu wollen. Trotzdem wird freilich immer wieder behauptet, es könne unmöglich die Aufgabe der Wissenschaft sein, zu erforschen, was geschehen soll, das Sollen könne ja doch nicht auf das Sein einwirken. Das Amüsanteste bei dieser Behauptung ist wohl der Umstand, daß diejenigen, welche sie vertreten, gar nicht bemerken, wie sie, indem sie sagen, die Wissenschaft hat diese und jene Aufgabe, bereits jenes Sollen postulieren, von dem sie nachher erklären, es könne nicht die Aufgabe der Wissenschaft bilden, sich mit demselben zu beschäftigen.  Sie sagen, die Wissenschaft soll etwas und wenn man frägt, was die Wissenschaft soll, dann antworten sie: die Wissenschaft soll - sich nicht um das Sollen kümmern.  Mit all dem ist wohl sonnenklar bewiesen, daß, sobald man sich als berechtigt erachtet, für die Wissenschaft eine ideale Norm aufzustellen, man zur Aufstellung idealer Normen überhaupt berechtigt ist. Handelt es sich deshalb darum, die künftige Entwicklungsrichtung zu ermitteln, dann kann für mich nicht nur das Soll maßgebend sein, welches die Umstände in den Individuen, die meine Umgebung bilden, erzeugen, sondern ich habe mich auch zu orientieren über das Soll, welches in dem Kausalnexus, der ich selber bin, zustande kommt. Ich habe mich also auch zu orientieren am Soll, welches mir in meiner tiefsten Erkenntnis zu Bewußtsein kommt. Orientiere ich mich nun weiter an den gegebenen Tatsachen, so sehe ich, daß das Wollen und Sollen der einzelnen Menschen ein sehr variables Moment darstellt, und daß es namentlich der Beeinflussung durch andere Menschen außerordentlich zugänglich ist. Fühle ich deshalb in mir ein Sollen nach Ausdruck ringend, das sich vom Sollen, welches in meinen Mitmenschen ist, wesentlich unterscheidet und fühle ich weiteres mit Klarheit und Intensität, daß das in mir wirksame Wollen und Sollen an meinen individuellen Energien einen starken Rückhalt hat, dann ginge ich nach einer ganz verkehrten Methode vor, wenn ich aus den äußeren Umständen allein berechnen wollte, welchen Gang die Entwicklung nehmen wird, sondern wende die allein richtige Methode an, indem ich mich an den in mir lebendigen Wollen und Sollen orientiere und nun, sobald ich auch darüber im Klaren bin, daß das Sollen, welches in mir wirkt, übereinstimmt mit einer der gegebenen Entwicklungsmöglichkeiten, auf die Realisation dieser gegebenen Entwicklungsmöglichkeit mit allen in mir aufgehäuften Kräften hinzuarbeiten suche.  Das heißt mit anderen Worten: Ich kann unter Umständen über die Entwicklungsrichtung zu weitaus richtigeren urteilen gelangen, wenn ich mich an meinem lebendigen Wollen und Sollen orientiere, statt lediglich an den Tendenzen, welche in der Vergangenheit wirksam waren oder in Anderen gegenwärtig wirksam sind. 

Man kann deshalb sagen: das Besondere, was jeweils geschehen muß, geschieht, soweit es sich um menschheitliches Geschehen handelt, in dieser besonderen Weise vielfach nur, weil irgendjemand fordert, daß dieses Besondere geschehen soll. Das Sollen wirkt auf das Geschehen ein, weil es eine bestimmte Richtungsstrebigkeit bestimmter Intensität ist, also eine Richtungsintensität neben anderen Richtungsintensitäten darstellt.  Das Sollen und das Müssen befinden sich deshalb nicht in einem Gegensatz.  Das Sollen ist vielmehr eingebettet im Müssen, es ist ein Kausalfaktor im zwangsläufigen Geschehen. Jenes  Laplacesche  Geist, der aus der Konstitutionsformel des Weltganzen im gegenwärtigen Augenblick alles künftige Geschehen berechnet, würde, da er notwendig die Fähigkeit besitzen müßte, die physischen Daten ins Geistige übersetzen zu können, auch anzugeben imstande sein, daß auf  A B  folgte, weil in einem bestimmten Zeitpunkt in irgendeinem Individuum oder in irgendeiner Gruppe ein bestimmtes Ideal sich konstituierte. Die Richtung des Geschehens hängt also nicht nur von den äußeren Faktoren ab, sondern von der Richtungstransformation, welche die äußeren Reize in den einzelnen Individuen erfahren und wenn darum in einem besonders glücklich veranlagten Individuum eine Richtungstransformation zustande kommt, welche bewirkt, daß eine größere Harmonie zwischen der menschlichen Grundrichtung und der Richtungsdynamik der Kräfte überhaupt eintritt, so ist dies für die Entwicklung  sub specie hominis  [unter dem Blickwinkel des Menschen - wp] von der größten Bedeutung. Mit all dem soll zum Ausdruck gebracht sein, daß derjenige, der ein Ideal der Entwicklung aufstellt, keineswegs im Widerspruch zu der Erkenntnis handelt, daß nur das geschieht, was geschehen muß. Ganz im Gegenteil. Hat er die Entwicklungstendenzen richtig erkannt, dann ist er als Finalfaktor eben jener Kausalfaktor, welcher notwendig war, damit das, was geschehen muß, auch wirklich geschieht. Jedes menschliche Individuum, das etwas vom  Laplaceschen  Geist in sicht trägt, wirkt teleologisch im besten Sinne des Wortes, es nähert uns jener Konstitutionsformel des Weltganzen, nach der die Grundrichtung unseres Wesens hindrängt.

Es ist nur ein Problem der Methodologie, ob man im einen Fall frägt, was geschehen soll und im anderen, was geschehen muß. Soll irgendeine Unternehmung ins Werk gesetzt werden oder soll irgendein Fest veranstaltet werden, dann wäre es eine sehr unzweckmäßige Methode, statt danach zu fragen, was geschehen soll, erforschen zu wollen, was geschehen muß. Und umgekehrt würde der Astronom sehr unsinnig vorgehen, welcher statt zu berechnen, welche Bahn die Gestirne nehmen müssen, darüber grübeln wollte, welchen Weg sie nehmen sollen. Handelt es sich deshalb darum, die Entwicklungsrichtung zu ermitteln, so kann es einzig und allein die Aufgabe der Wissenschaft sein, festzustellen, welches Sollen sich im Menschen wird entwickeln müssen. Dieses Sollen wird dann notwendig die Richtung der Entwicklung bestimmen. Diesen Sinn hat auch die materialistische Geschichtsauffassung bei richtiger Interpretation. Bringt sie aber in extremer Fassung etwa zum Ausdruck, daß wir Menschen nicht vermögen, die Richtung der Entwicklung, sondern höchstens das Tempo derselben zu bestimmen, so behauptet sie etwas Unsinniges. Wir Menschen können nicht nur, sondern wir müssen die Richtung der Entwicklung bestimmen, weil wir selbst Richtungsintensitäten neben anderen Richtungsintensitäten sind. Aus diesem Grund können wir entweder sowohl die Richtung wie das Tempo der Entwicklung bestimmen oder wir können weder das Eine noch das Andere. Geschwindigkeits- und Richtungsänderung unterstehen demselben Grundgesetz.

Eine detaillierte Ausführung dieser Gedanken würde hier zu weit führen. Ich möchte nur noch soviel sagen: Weil Sollen und Müssen keinen Gegensatz bilden, weil im menschlichen Geschehen das, was geschieht, vielfach nur geschehen muß, weil jemand fordert, daß es geschehen soll, ist es berechtigt, trotz der geschlossenen Naturkausalität ein Entwicklungsideal aufzustellen und es ist in vielen Fällen der kürzeste Weg, die zweckmäßigste Methode die zukünftige Entwicklung zu erschließen, wenn man sich nicht einseitig am äußeren Sein, sondern zugleich am eigenen Wollen und Sollen orientiert, wenn man aus dem exakten Ideal - nicht etwa aus einem phantastischen Ideal - erschließt, was kommen wird, statt rein aposteriorisch aus den bisherigen Erfolgen das künftige Geschehen entnehmen zu wollen.  Aus diesem Grund kann im menschlichen Geschehen ein teleologisch gerichteter Laplacescher Geist ebenso wertvolle Dienste leisten, wie ein rein kausal gerichteter Laplacescher Geist. Mit anderen Worten: wer mögliche Zwecke entdeckt, leistet ebenso Großes wie der Erforscher der Ursächlichkeit.  Die Stellung von uns Menschen in der Natur ist so beschaffen, daß wir als Richtung bestimmende Auslösungsfaktoren fungieren. Wir sind gleichsam die Weichensteller im Unendlichen. ...
LITERATUR - Rudolf Goldscheid, Der Richtungsbegriff und seine Bedeutung für die Philosophie, Annalen der Naturphilosophie, Bd. 6, Leipzig 1907
    Anmerkungen
    1) Vgl. hierzu auch RUDOLF GOLDSCHEID, Zur Ethik des Gesamtwillens - eine sozialphilosophische Untersuchung. Bd. I, Leipzig 1902; sowie desselben "Grundlinien zu einer Kritik der Willenskraft" - willenstheoretische Betrachtung des biologischen, ökonomischen und sozialen Evolutionismus, Wien 1905.
    2) Über historische Gesetze vergleiche RUDOLF GOTTSCHEID, Grundlinien zu einer Kritik der Willenskraft, Wien 1905. Kapitel X: "Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit der Naturgesetze und die willenstheoretische Notwendigkeit der sogenannten historischen und Wirtschaftsgesetze."