tb-1cr-2HönigswaldRickertLamprechtE. BarthelsA. Stadler    
 
RICHARD HÖNIGSWALD
Zur Wissenschaftstheorieund -systematik
[Mit besonderer Rücksicht auf Heinrich Rickerts
"Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft"]

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"Wissenschaftliche Philosophie ist im weitesten und tiefsten, selbst durch den philosophischen Kritizismus nur zum Teil erschöpften, Sinn des Wortes  Theorie des Objekts."  

"Wir überblicken noch einmal die gesamte Problemlage. Der Objektgedanke beherrscht als die oberste Bedingung die  Wirklichkeit.  Er  gibt  in solchem Sinne den Methoden deren Material. Zugleich aber definiert er den Begriff der Methode selbst."

"Wenn alle empirischen Wissenschaften das miteinander gemeinsam haben, daß sie wahre Urteile geben, d. h. nur wirklich vorhandene Objekte und nicht Produkte der Phantasie darstellen wollen, dann ist damit schon notwendig die  Wahrheit  der Urteile und die dieser korrespondierenden Faktoren in  Wirklichkeit"  und  Methode"  als die oberste Bedingung ihrer Geltung anerkannt."

"Man versuche nur einmal die Wirklichkeit mit allen ihren Einzelheiten  so wie sie ist , in Begriffe aufzunehmen, um dadurch ein Abbild von ihr zu bekommen und man wird wohl bald die Sinnlosigkeit eines solchen Unternehmens einsehen."

"Man interessiert sich für Individuelles  wissenschaftlich,  sofern das psychologisch und in solchem Sinn naturgesetzlich gegebene Prinzip der Wertung durch seine Beziehung auf den Objektgedanken zum Repräsentanten eines  Wertes  wird."

"Der Objektgedanke ist nicht der Gedanke von einem Ding, wenngleich jedes "Ding" durch ihn konstituiert wird. Er ist der Gedanke einer allgemeinsten Beziehung, der jede andere in einem ganz bestimmten Umfang unterworfen ist. Sein Gegenstand ist eine Art der Verbindung von Faktoren, die je nach diesen verschieden ist, von ihnen selbst aber nichts enthält; genauer, die Form einer Verbindung von Faktoren, kraft deren diese eine eigentümliche Bedeutung erhält."


III.

Die Frage nach der Eigenart des Geschichtsbegriffs gipfelt also, wie sich immer aufs neue zeigt, in der Frage nach dem Begriff der Methode überhaupt. Das bekannte und in solchem Zusammenhang vielfach, auch ernsthaft, variierte Wort GOTTFRIED HERMANNs: "Wer nichts von der Sache versteht, schreibt über die Methode" - mag mancher persönlichen Erfahrung entsprechen. Die  sachlichen  Schwierigkeiten wird es schwerlich beseitigen. Denn weder sagt es uns, wie  der  über die Methode schreibt, der etwas von der Sache versteht, noch klärt es über den Zusammenhang zwischen "Sache" und "Methode" überhaupt auf. Gerade diesen zusammenhang aber rücken die vorangegangenen Darlegungen in den Vordergrund. Eine Frage für sich ist es nämlich, ob und inwieweit  besondere  Methoden Objekte bestimmen können. "Kants Traktat von der Methode" ist als solcher ein Traktat vom Begriff des Objekts; aber er weiß im Grunde genommen nichts von der methodologischen Differenzierung des Objektbegriffs im Sinne von Naturwissenschaft und Geschichte. Liegt nun in der Forderung solcher Differenzierung ein Widerspruch zur Begründung des einheitlichen wissenschaftlichen Objekts oder ist dessen Begriff auch in der Mannigfaltigkeit jener Differenzierung wirksam? Eines ist hier zunächst, wenn sonst der Begriff der Methode einen Gegensatz zu Laune und Willkür bezeichnen soll, gewiß: Ein Verfahren ist methodisch nur dann zu nennen, wenn es irgendeinem Sinn des Wortes am Objektgedanken orientiert erscheint. Und im Hinblick darauf wird man erklären dürfen: Eine Methode schafft sich im Objekt die ihren Bedingungen angepaßte Wirklichkeit nur kraft ihrer eigenen Bestimmtheit, durch den Objektgedanken. Dieser muß mithin als allgemeine Bedingung jede besondere methodologische Konstellation beherrschen. Der Objektgedanke, als solcher ein letztes Geltungsprinzip, schafft durch das Medium der an ihm orientierten Methoden deren Objekt. Das Objekt der Wissenschaft  ist  m.a.W. - wie man unter teilweise anderen Gesichtspunkte schon oft und mti Recht erklärt hat nicht, es  wird  und zwar in dem gleichen Maße, als sich deren methodische Eigenart entfaltet. Diese methodische Eigenart ist also im Objektgedanken selbst nicht beschlossen, sie besteht vielmehr in jener noch völlig unübersehbaren Fülle von Relationen zwischen dem Objektgedanken, seinen möglichen Determinationen, deren immer wechselnden Verschlingungen und, was z. T. dasselbe bedeutet, seinen Beziehungen auf die ihm logisch wesensfremden Elemente der Wahrnehmung. Gerade den Vertretern einer Theorie von der unvermittelten und ungeschmälerten Geltung des Reihenprinzips auf allen Gebieten wissenschaftlicher Forschung gegenüber ist, sofern wenigstens jenes als das erschöpfende Symbol der Gesamtfunktion des Objektgedankens aufgefaßt wird, diese Feststellung besonders wichtig. Eines ergibt sich dabei aus allen diesen Betrachtungen von selbst: die Mehrdeutigkeit des Wortes "Methode".

Im Kantischen Sinn als reiner Objektgedanke ist sie die Quelle der Einheit der Wissenschaften und damit die Wurzel ihres "natürlichen" Systems; als Determination des Objektgedankens repräsentiert sie die formale Mannigfaltigkeit des wissenschaftlichen Betriebes; und als Symbol der in solcher Mannigfaltigkeit stets wiederkehrenden Identität der Schluß- und Kombinationsweisen schließlich bringt sie in veränderter Gestalt jenen zuerst genannten Gedanken der Einheit aufs neue zum Ausdruck. (65) - Wenn es die Aufgabe der besonderen Methode ist, ihr Objekt zu gestalten und sich damit  die  "Wirklichkeit" zu schaffen, von welcher ihre Ergebnisse der Natur der Dinge gemäß allein gelten können, so ist es der Objektgedanke, welcher der Methode - in einem vom üblichen freilich nicht unwesentlich abweichenden Sinn des Wortes - "das Mannigfaltige" "gibt". Er ist die Voraussetzung, an welche die "objektivierende" Funktion der Methode geknüpft erscheint. Er bedingt denn zunächst auch jene methodenindifferente "Wirklichkeit", aus welcher die Methoden selbst erst ihre Objekte schaffen; und andererseits bedeutet  Methode  wieder nur den zur Form einer besonderen Fragestellung differenzierten Objektgedanken.  Von zwei Seiten her umklammert also dieser gleichsam das Gefüge der Wirklichkeit, von der Seite der Wissenschaft und von derjenigen ihrer Gegenstände.  - Der Begriff der Wirklichkeit ist es dabei, der zunächst eine grundsätzliche Klärung erfährt. "Wirklichkeit" ist, in ihrer begrifflichen Struktur betrachtet, die Beziehung der nicht aus dem Objektgedanken deduzierbaren Wahrnehmungselemente auf den Inbegriff der im Objektgedanken selbst gestellten Bedingungen. Und diese Bedingungen sind - wie man sofort sieht - zugleicht die in den  Methoden  der wissenschaftlichen Forschung wirksamen. (66) Unter solchen Umständen ist es klar, daß sich auch der Begriff der Wirklichkeit gleich dem der Methode zu mehrfacher Bedeutung gliedert. Er will einmal die dem methodisch  differenzierten  Objektgedanken entsprechende Gegenständlichkeit bezeichnen. "Wirklichkeit" meint sodann das Ergebnis der Orientierung eines letzten inhaltlich bestimmten Faktors gemäß den Forderungen des Objektgedankens überhaupt. Und sie kann schließlich diesen inhaltlichen Faktor selbst bedeuten wollen. Es wird sich noch zeigen, inwieweit diese Gliederung für die Gestaltung der RICKERTschen Position in Frage kommt. Hier mag vorerst auf einen anderen Punkt verwiesen sein.

Wenn CASSIRER im Verlaufe seiner kritischen Erörterung des Gegensatzes zwischen "individueller" und "allgemeiner" Kausalität die übergreifende Einheitsfunktion des Gedankens der "Notwendigkeit" geltend macht, (67) um aus ihm einen "Zusammenhang" zwischen Natur- und Geschichtsbegriffen herzuleiten, so ist er damit unter ganz bestimmten Voraussetzungen im Recht; - dann nämlich, wenn entweder, wie dies ja auch zutrifft, die kategoriale - wir können jetzt auch sagen: die dem Begriff einer methodenindifferenten Wirklichkeit also dem reinen Objektgedanken entsprechende - Funktion des Kausalprinzips gemeint ist, oder aber sofern gewisse, von dieser Funktion abhängige formale Charaktere des Argumentationsverfahrens in Naturforschung und Geschichte ins Auge gefaßt werden. Das heißt er hat im wesentlichen recht insofern, als er aus der kategorialen Funktion des Kausalprinzipgs HESSEN gegenüber die erkenntnistheoretische Unzulänglichkeit des Begriffs einer individuellen Kausalität deduziert. Aber so wenig jene kategoriale Funktion die methodologische Diskrepanz zwischen Naturbegriff und Geschichtsbegriff beseitigt, ebensowenig wird diese auch durch den kritischen Wirklichkeitsbegriff aufgehoben. Denn der letztere, und mit ihm ist aus naheliegenden Gründen eben der jener methodenindifferenten Wirklichkeit gemeint, verhält sich zu den "Objekten" der besonderen Methoden, wie das  Prinzip  der Kategorien, d. h. eben der Objektgedanke, zu diesen Methoden selbst. Ja, es wiederholt sich weiterhin, wie sich eigentlich von selbst versteht, auch ein anderes, auf diese Bezeichnung gegründete Verhältnis. Wie die besonderen kausalen Gesetze als Determinationen des kategorialen Prinzips zu diesem in eine weit engere Beziehung zu treten scheinen, als die kausalen Urteile über individuelle, also historische Vorgangsfolgen, ebenso scheint auch der kritische Begriff der Wirklichkeit überhaupt dem des naturwissenschaftlichen Objekts weit näher zu stehen, als dem Gegenstand der historischen Begriffsbildung. Aber gleichwie dort, so bleibt auch hier letzten Endes die Niveaudifferenz zwischem den erkenntnistheoretischen und dem methodologischen Objektsbegriff, weiterhin das Problem vom Verhältnis zwischen Naturbegriff und Geschichtsbegriff grundsätzlich bestehen.

Unter dem Gesichtspunkt solcher Betrachtungen gewinnt nun RICKERTs Verhältnis zum Problem der Wirklichkeit ein ganz besonderes Interesse, das sich näher vielleicht in der Frage präzisieren ließe: Welcher Wirklichkeitsbegriff ergibt sich ihm aus seiner Formulierung der Diskrepanz von Naturforschung und Geschichte und welche Konsequenzen hat andererseits dieser Wirklichkeitsbegriff für die theoretische Bewertung jener methodologischen Diskrepanz selbst? - Der Unterschied, ja der Gegensatz zwischen "Erkennen" und "Abbilden" ist hier das erkenntnistheoretische Fundament der Argumentation. Dieses letztere freilich wurzelt selbst weniger in erkenntnistheoretischen als vielmehr in begriffstechnischen Motiven. Nicht so sehr das Geltungsmoment oder die Analyse des aus ihm abgeleiteten Begriffs der mathematischen Erkenntnis liefert etwa hier m.a.W. die Gründe für die Ablehnung einer "Abbildtheorie" als vielmehr die Einsicht in die Unmöglichkeit einer abbildsgemäßen "Beschreibung" der "Wirklichkeit" in Begriffen. "Man versuche nur einmal die Wirklichkeit ... mit allen ihren Einzelheiten  so wie sie ist , in Begriffe aufzunehmen, um dadurch ein Abbild von ihr zu bekommen und man wird wohl bald die Sinnlosigkeit eines solchen Unternehmens einsehen." Dem Streben nach einer restlosen Abbildung der "Wirklichkeit" stellen sich schlechthin unüberwindliche Hindernisse entgegen. "Die empirische Wirklichkeit erweist sich als eine für uns unübersehbare Mannigfaltigkeit, die immer größer zu werden scheint, je mehr wir uns in sie vertiefen und sie in ihre Einzelheiten aufzulösen beginnen, denn auch das  kleinste  Stück enthält mehr als irgendein endlicher Mensch zu beschreiben vermag, ja was er davon in seine Begriffe und damit in seine Erkenntnis aufnehmen kann, ist verschwindend gering gegen das, was er beiseite lassen muß." (68) Und wäre es dem Erkennen - durch ein Wunder - dennoch möglich, jene unübersehbare Fülle des Mannigfaltigen in sich abbildend aufzunehmen und zu reproduzieren - es wüßte mit ihr nichts anzufangen. Als eine "absolut vollständige Verdoppelung" bedeutete Erkenntnis jener Fülle des Mannigfaltigen gegenüber ja überhaupt nichts neues und eigenartiges. Ist sie nun ein solches, so vermag sie dies nur, indem sie zu einer "Reproduktion"  nach bestimmten Gesichtspunken  und  Kriterien  wird. Die letzteren sind es dann auch, durch die sie sich selbst bestimmt. Kraft jener Gesichtspunkte und Kriterien bildet sie nämlich die "Wirklichkeit" nicht  ab,  sondern nur  um;  weil aber die Prinzipien der Umbildung ihrer Natur nach der unbegrenzten Fülle des Mannigfaltigen der "Wirklichkeit" gegenüber übersichtlich und bestimmt sind, ist erkenntnismäßige "Umformung" der Wirklichkeit im Medium der Erkenntnis, eben dem Begriff, allemal zugleich "  Vereinfachung".  Und selbst wenn das Erkennen aus ganz bestimmten theoretischen Motiven nicht die den Sinnen sich unreflektiert darbietende Mannigfaltigkeit des "empirisch Wirklichen", sondern eine hinter diesem stehende transzendente Realität als den von ihm "abzubildenden" Gegenstand betrachten würde, müßte es, wie schon eine flüchtige Überlegung lehrt, nicht minder an die "empirische Wirklichkeit" im Sinne einer umformenden Vereinfachung ihrer "unübersehbaren Mannigfaltigkeit" anknüpfen. So ist es denn auch durchaus folgerichtig, in diesem Zusammenhang nur von einer "empirischen Wirklichkeit" zu sprechen. Wie läßt sich nun deren Begriff - das ist ein Grundmotiv der RICKERTschen Untersuchung - unter dem Gesichtspunkt der umformenden und vereinfachenden Funktion wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt bestimmen? Der Gedanke einer "unübersehbaren Mannigfaltigkeit" des empirisch Wirklichen differenziert sich einer schärferen Analyse zum Satz, daß es ein "heterogenes Kontinuum" darstelle. "Alles in der Wirklichkeit ist anders." Jede "Realität" ist "individuell". Aber jede Realität ist auch kontinuierlich. Nirgends finden sich in ihr "scharfe und absolute Grenzen, sondern durchweg allmähliche Übergänge." "Alles fließt." Das ist im Hinblick auf die "vereinfachende" Funktion des Begriffs die Beschaffenheit des Erkenntnisstoffs. Die Besonderheit dieser Funktion ist damit gegeben: sie muß entweder in der Aufhebung der "Heterogenität" oder in derjenigen der "Kontinuität" bestehen. Das begriffliche Produkt der Wissenschaft ist ein "homogenes Kontinuum oder ein heterogenes Diskretum." Als mögliches Objekt solcher vereinfachenden Umformung ihres eigentümlichen Wesens wäre die "Wirklichkeit" immerhin als "rational" zu bezeichnen; sie ist aber gewiss "irrational" unter dem Gesichtspunkt jenes unkritischen und methodologisch gar nicht realisierbaren Scheinbegriffs der Erkenntnis, der Wissenschaft einer Abbildung  ohne  Umformung und Vereinfachung gleichsetzen zu können glaubt. (69)

Es ist eine hier nicht näher zu erörternde Frage ganz für sich, inwieweit diese Betrachtungen der methodologischen Gliederung: "Naturwissenschaft - Geschichtswissenschaft" entsprechen. Wichtiger für unseren Zusammenhang ist die kritische Erwägung eines anderen Punktes. Der Satz von der "heterogenen Kontinuität" des Wirklichen hat in der Darstellung RICKERTs durchaus die logische Valenz eines  Empeirems  [Erfahrungselements - wp]. "Wohin wir den Blick richten" - heißt es in "Kutlruwissenschaft und Naturwissenschaft" (70) - "finden wir eine stetige Andersartigkeit". "Kein Ding und kein Vorgang in der Welt gleicht dem anderen vollkommen, sondern ist ihm nur mehr oder weniger ähnlich und innerhalb jedes Dings und jedes Vorgangs unterscheidet sich wiederum jeder noch so kleine Teil von jedem beliebigen räumlich und zeitlich noch so nahen oder noch so fernen. Jede Realität zeigt also, wie man auch sagen kann, ein besonderes, eigenartiges, individuelles Gepräge. Es dürfte wenigstens niemand behaupten wollen, daß er jemals auf etwas absolut Homogenes in der Wirklichkeit gestoßen wäre." Die stetige Andersartigkeit der Dinge ist hier m.a.W. als eine durch die Erfahrung bisher nicht widerlegte  Tatsache  aufgefaßt. Daraus aber folgt etwas für die prinzipielle Beurteilung der RICKERTschen Methodenlehre sehr bedeutsames: die grundsätzlich keineswegs auszuschließende  Möglichkeit  einer solchen Widerlegung. Ist m.a.W. der Satz von der stetigen Andersartigkeit der Dinge ein Erfahrungssatz, dann vermag er die These, daß man auch in der Wirklichkeit plötzlich einmal ein homogenes Kontinuum oder ein heterogenes Diskretum antreffen könnte, nicht zu entkräften. Und dieses unausweichliche Zugeständnis zöge sofort ein weiteres nach sich. Ist nämlich die Möglichkeit einer  tatsächlichen  Existenz homogener Kontinua und heterogener Diskreta einmal eingeräumt - und es wird dies unter den eben erörterten Voraussetzungen kaum zu vermeiden sein - dann ist zugleich implizite zugestanden, daß die Überwindung der unübersehbaren Mannigfaltigkeit des Wirklichen nicht nur  logisch,  von der Wissenschaft und deren Begriffen, sondern zum mindesten  auch  physisch, beziehungsweise metaphysisch, kurz, in einer "Realität" erfolgen könne. Das aber bedeutete zunächst einmal einen Widerspruch innerhalb der RICKERTschen Position selbst. Denn diese gipfelt, aus tiefer gelegenen Gründen, geradezu im Satz, daß die vereinfachende Umformung der Wirklichkeit im Sinn eines homogenen Kontinuums oder eines heterogenen Diskretums durch die Begriffe bildende  Wissenschaft  vollzogen werde und durch diese allein vollzogen werden könne, so zwar, daß Wissenschaft selbst durch diese ihre Funktion vollends definiert erschiene. Dann aber wäre auch durch den empiristischen Hintergrund der ganzen Beweisführung - und dies folgt eigentlich schon aus dem vorstehenden - der Begriff der Wissenschaft als eines Systems objektiv gültiger Relationen ernstlich in Frage gestellt. Könnten die Ergebnisse der Wissenschaft, ihrem formalen Charakter nach betrachtet, auch  tatsächlicher  Natur sein, dann hätte der Begriff der Wissenschaft aufgehört, durch ein System allgemeiner Geltungsforderungen definiert zu werden: sie wäre neben einem "Wert", der "gilt", zum mindesten auch ein Objekt, das "ist". Die Konsequenzen einer solchen Sachlage aber müßten letzten Endes das grundsätzliche Eingeständnis der Unmöglichkeit einer Bestimmung ihres Begriffs und damit den, wenigstens prinzipiellen, Verzicht auf einen diesem Begriff adäquaten Betrieb, sowie auf die Möglichkeit einer Systematik der Wissenschaft in sich schließen. Denn ist die Unerschöpflichkeit der heterogenen Kontinuität des Wirklichen "Tatsache", dann folgt daraus weder, daß die "Wirklichkeit" unerschöpflich sein  müsse,  es mithin ihrem  Begriff  nach sei, noch auch, daß sie  nur  in der Wissenschaft überwunden werden könne. Die Aufgabe und der Begriff der Wissenschaft wären eben grundsätzlich und mit allen Konsequenzen eines solchen Sachverhalts, auf den Boden der Erfahrung verpflanzt und diese selbst damit aus dem Kreis einer möglichen wissenschaftstheoretischen Problemstellung ausgeschaltet.

Nun kann ja keine Rede davon sein, wie es auch einem völligen Mißverstehen der Grundmotive des RICKERTschen Denkens gleichkäme, etwa behaupten zu wollen, daß die angedeuteten Folgen für RICKERT selbst irgendwie bedrohlich werden könnten. Eine solche Gefahr ist von vornherein ausgeschaltet und überparalysiert durch jenen idealistischen Geltungsbegriff, der als Grundmotiv der RICKERTschen Logik seinen primären Tendenzen nach das Wissenschaftsproblem hier vor jeder empiristischen Wendung der genannten Art sichert. Aber jene Konsequenzen völlig ausschalten, hieße auf der anderen Seite doch wieder eines der Grundmotive in unsachlicher Weise unterschätzen, welche in der RICKERTschen Position in unsachlicher Weise unterschätzen, welche in der RICKERTschen Position ohne Zweifel wirksam sind. Ist das Prinzip der Unübersehbarkeit eines heterogenen Kontinuums ein Empeirem, im Sinne einer der Wissenschaft gegebenen vor- und außerwissenschaftlichen Tatsache, dann involviert es den Begriff einer Wirklichkeit, die man im Hinblick auf ihren supponierten Erfahrungswert immerhin als empirisch bezeichnen kann, die aber durch ihre relative Unabhängigkeit von den Prinzipien eigentlicher Erkenntnis, sofern nämlich diese erst bei der Gliederung der Methoden begönne, die wissenschaftstheoretische Valenz einer metaphysischen Realität, also der Wirklichkeit etwa in der dritten ihrer oben genannten Bedeutungen erhält. Die Begriffe von Objektivität und Wissenschaft treten auseinander. Die Methode im engeren Sinn des Wortes und nicht der Objektgedanke wird, prinzipiell wenigstens, das letzte wissenschaftstheoretische Datum. Das Erkennen setzt nicht schon beim methodenindifferenten Objekt und dem Objektgedanken als der Bedingung der Objektivität und des Begriffs der Methoden selbst ein. Die Methoden sind wohl  tatsächlich  aber nicht  grundsätzlich  am Objektgedanken orientiert. Kein Prinzip überbrückt die "Spaltung" der Methoden, keine dominierende Einheit gibt dem System der Wissenschaften Halt und Bestand. - Die "Wirklichkeit", die mit Rücksicht auf das Allgemeine "Natur" mit Rücksich auf das Besondere "Geschichte" wird, (71) ist - das wollen diese Einwände m.a.W. besagen - nur dann  die,  d. h. die  eine  und mit sich selbst identisch definierte Wirklichkeit, wenn sie der Mannigfaltigkeit der Methoden und deren "Gegenständen" gegenüber den Repräsentanten der Funktion der Einheit im Objektgedanken darstellt. Dann aber ist sie jener Mannigfaltigkeit gegenüber nicht ein wesensfremdes, von ihr wie durch Zufall ergriffenes Element der Erkenntnis - ganz abgesehen von der prinzipiellen, an gewisse Schwächen der Abbildstheorie gemahnenden Schwierigkeit, den logischen Prozeß solchen Eingreifens begrifflich zu fixieren -, sondern eine der allgemeinen Bedingungen für die "Möglichkeit", d. h. für den Begriff jener Mannigfaltigkeit selbst.

Überhaupt erscheint in solchem Zusammenhang das Problem selbst, ob es denn eine an sich unüberwindliche Kontinuität des Wirklichen gleichsam als Material des Erkennens auch "gibt", - und die Berufung auf die "Tatsächlichkeit" der heterogenen Kontinuität kann hier kaum etwas anderes bedeuten - erkenntnistheoretisch keineswegs einwandfrei gestellt. Nur im Hinblick auf den Objektgedanken kann von einem "Dasein" der Wirklichkeit gesprochen werden; sei es, daß damit die Bestimmtheit jener Wirklichkeit durch den Objektgedanken selbst, sei es, daß der Inbegriff derjenigen Momente gemeint ist, den man kurz als das logisch-erkenntnistheoretische Phänomen der Distanz zwischen Inhalt und Form bezeichnen könnte. (72) In keiner anderen Bedeutung aber ist das "Dasein" der Dinge ein erkenntnistheoretisches oder ein logisches Problem, denn in keiner anderen Bedeutung beträfe es eine Geltungsfrage. Gleichwie man nach den Gründen der Geltung der euklidischen Geometrie aber nich nach denen des "Daseins" einer dreidimensionalen Raummannigfaltigkeit - sofern man nicht die psychologischen Voraussetzungen der Raumwahrnehmung meint (73) - fragen kann, so entscheidet auch hier das "Dasein" einer an sich unüberwindlichen Mannigfaltigkeit nicht über die Theorie ihrer erkenntnismäßigen Überwindung. Nur auf die letztere aber kommt alles an. Kraft welcher Faktoren - so allein könnte begründeterweise gefragt werden - stellt sich die Wissenschaft die Aufgabe der Überwindung einer möglichen "intensiven Mannigfaltigkeit"? So geringfügig diese Verschiebung der Fragestellung für den ersten Blick auch erscheinen mag, so bedeutungsvoll wäre sie doch in ihren theoretischen Konsequenzen. Denn sie erst verliehe der ganzen Problemgestaltung einen Hintergrund, der diese vor den Gefahren einer empiristisch-metaphysischen Entwicklung beschützte. Nur sie würde m.a.W. auch den naiven Wirklichkeitsbegriff dem logischen "Urphänomen" der Erkenntnis unterordnen und damit den Begriffen der "Wirklichkeit" und der "Wissenschaft" in allen ihren Modifikationen die sichere Grundlage des Objektgedankens geben, um sie in diesem zur Einheit der Erkenntnis zu verknüpfen. Nicht eine erkenntnisfremde Wirklichkeit würde dann in der Wissenschaft nach den Gesichtspunkten einer allgemeingültigen Ökonomik verarbeitet werden, sondern ein für solche Verarbeitung methodisch vorgebildeter, d. h. selbst schon den prinzipiellen Forderungen des Objektgedankens, und zwar nicht nur, gleich dem eines heterogenen Kontinuums,  tatsächlich  genügender, Begriff differenzierte sich in ihr, kraft einer von den gleichen Bedingungen des Objektgedankens beherrschten Fragestellung zur Bestimmtheit der besonderen Methoden. So gewiß die "Einschnitte" der Wissenschaft "in den Fluß der Wirklichkeit" (74) nicht einer psychologischen Bequemlichkeit entspringen, sondern objektiven Forderungen entsprechen, so gewiß muß "jener Fluß der Wirklichkeit" selbst schon, als durch die gleichen Forderungen definiert, auch diesen gemäß gestaltet sein. (75) Es ist unter solchen Gesichtspunkten in hohem Grad fraglich, inwieweit gerade die "Geschichte" den Anspruch auf den Beinamen einer eigentlichen "  Wirklichkeitswissenschaft"  (76) wird erheben können. Es scheint vielmehr, daß diese Bezeichnung, freilich in einem etwas veränderten Sinn, der  Erkenntnistheorie  allein vorzubehalten sein wird. Die Wirklichkeitsnähe der Geschichte ist im Hinblick auf ihr eigentümliches Objekt absolut, im Hinblick auf eine methodenindifferente Wirklichkeit aber wäre sie gewiß nicht größer, als die der Naturwissenschaft.

Zwischen dem Geschichtsbegriff und der durch ihn im formalen Sinn des Wortes zu erzeugenden "Wirklichkeit" steht eben das Problem der Methode; über alle die genannten Faktoren aber herrscht als logisches Prius die oberste Bedingung des sich in Wirklichkeit und Methode ausprägenden Objektgedankens. Wenn also die methodische Grundfrage hinsichtlich der Geschichte, an die "Tatsache" der Wissenschaft anknüpfend, folgendermaßen wird lauten müssen - und gerade RICKERTs Argumentation erhebt dies über jeden Zweifel: Welches sind die Momente, kraft deren die "gegebene" Mannigfaltigkeit so betrachtet wird, als bestünde sie aus "Individuen" und welches sind die Grenzen einer solchen Betrachtungsweise? - dann muß konsequenterweise auch das Problem der "Wirklichkeit" vom Inbegriff derjenigen Bedingungen ausgehen, durch welche sie selbst den Methoden "gegeben" wird. Diese Bedingungen aber können den Methoden, sollen nicht wieder alle Schwierigkeiten der Abbildstheorie auftauchen, nicht wesensfremd sein. Wie es m.a.W. nicht die Frage der Geschichtslogik sein kann, ob es Individuen "gibt" und wie sie beschaffen sind, ebensowenig kann die Frage der Erkenntniswissenschaft lauten:  "Gibt"  es eine unübersehbare Mannigfaltigkeit des Wirklichen als Material wissenschaftlicher Überwindung? Da wie dort ist vielmehr der Objektsgedanke Zentrum und Ausgangspunkt der Fragestellung. - Man glaube nicht, daß in solcher Wendung des Gedankens eine Mißachtung des Faktors "Erfahrung" gelegen sei. Im Gegenteil! Sie erst rückt die Erfahrung an die entscheidende Stelle im Gesamtzusammenhang des Problems. Wie die Wahrnehmung der regelmäßigen Abfolge allein das methodische Motiv für die Konzeption einer "Regel der Wahrnehmungen" und des kritischen Begriffs der Erfahrung darstellt, genau so sind die "Tatsache" eines heterogenen Kontinuums, bzw. das "Dasein" in ihrer Individualität bedeutsamer Gestaltungen der  Anlass  für die Bildung der Begriffe von Wirklichkeit und von Geschichte. Aber so wenig wie dort, schöpfen die Begriffe auch hier ihre logischen Qualitäten aus den Anlässen ihrer Entstehung. Ja, diese letzteren selbst erlangen überhaupt erst durch jene Qualitäten wissenschaftlichen Tatsachenwert. Das Geltungsprinzip des Objektgedankens ist die gemeinsame logische Wurzel von "Wirklichkeiten" wie von Begriffen. Gewiß sind diesem Geltungsprinzip gegenüber auch die Begriffe und Methoden selbst, in ihrer Besonderung betrachtet, "Tatsachen". "Es ist eine Tatsache, die man beklagen, aber dadurch nicht aus der Welt schaffen kann, daß die wirklich ausgeübte wissenschaftliche Begriffsbildung sich in diese zwei logisch einander entgegengesetzte Richtungen spaltet." Aber Tatsachen, so darf man hinzufügen, ähnlich wie es die einzelnen Urteilsformen in Beziehung auf das alle in gleicher Weise beherrschende Prinzip der Synthesis sind. Vielleicht wirkte gerade an dieser Stelle eine schärfere Sonderung der Begriffe "logisch" und "methodologisch" klärend. Sie würde einerseits die "Spaltung" in ihrer theoretischen Bedeutung anerkennen, andererseits aber verhindern, daß, wie RICKERT befürchtet, der Satz "alle Wissenschaft sei einheitlich" zu einer "allgemeinen Redewendung" herabsinke. (77) Sofern es nur auf die Feststellung jener methodologischen "Spaltung" selbst ankommt, wie in weitem Umfang bei RICKERT, ist ja die voranstehende Fixierung der Problemlage vielleicht nur von sekundärer Bedeutung. Für die Beurteilung der erkenntnistheoretischen Konsequenzen jener Spaltung aber erscheint sie unerläßlich. Wenn "alle empirischen Wissenschaften das miteinander gemeinsam" haben, "daß sie wahre Urteile geben, d. h. nur wirklich vorhandene Objekte und nicht Produkte der Phantasie darstellen wollen", dann ist damit schon notwendig die "Wahrheit" der Urteile und die dieser korrespondierenden Faktoren in "Wirklichkeit" und "Methode" als die oberste Bedingung ihrer Geltung anerkannt. In solchem Sinn gibt es in der Tat "nur eine einheitliche Wissenschaft, die auf die eine Wirklichkeit gerichtet ist." Sie kann darum nur die von der  Form  jeder besonderen Wissenschaft sein. Der Inhalt und die Mannigfaltigkeit der "Erfahrung" sind es, welche diese allgemeinen Bedingungen zur Besonderheit ihrer methodologischen Gestaltungen determinieren, aber in allen diesen Gestaltungen muß die Einheit ihres logischen Wesens, eben der Objektgedanke, wirksam sein. Ist, wie es RICKERT mit Recht betont, alle Systematik und Gliederung der Wissenschaft formal, dann kann sie es eben auch nur in Beziehung auf die  Form  aller Wissenschaft sein. Kein Einsichtiger wird der Geschichte den Namen einer Wissenschaft abstreiten wollen. Und es ist in der Tat eine wenig "glückliche Terminologie, die die Werke RANKEs und aller großen Historiker nicht zur Wissenschaft zu rechnen gestattet." (78) Aber diese terminologische Charakteristik kann nicht das letzte Wort in einer  Prinzipienfrage  sein; der Grund auch für die  Ablehnung  jener unglücklichen Terminologie muß m.a.W. begrifflich fixiert werden, soll sie sich selbst dem Vorwurf terminologischer Willkür wirksam und grundsätzlich entziehen können. Nur in unmittelbarer Beziehung auf den Begriff der Wissenschaft, welcher, wie der Objektgedanke selbst,  einer  ist, kann der historische Begriff in seiner methodologischen Valenz begründet werden.

Es ist vielleicht kaum nötig ausdrücklich hervorzuheben, daß diese Darlegungen sich, wie der Kundige ja auf den ersten Blick schon sieht, nur in sehr bedingtem Sinn gegen die eigentlichen Tendenzen der RICKERTschen Position wenden. Vielmehr handelt es sich hier um Betrachtungen, deren Notwendigkeit sich im wesentlichen nur aus der spezifischen und relativ zufälligen Form der Argumentation, wie sie insbesondere in "Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft" vorliegt, ergibt. Aber eben diese, vielfach von bestimmten didaktischen Zwecken geleitete Argumentationsform ist es gerade, welche auch die Haltung der kritizistischen  Gegner  RICKERTs verständlich macht und damit relativ gerechtfertigt erscheinen läßt. Das verknüpfende Band zwischen Naturwissenschaft und Geschichte wird vermißt, ein in seiner Grundsätzlichkeit unerträglicher Riss, der durch die Einschaltung von "Übergangsformen" kaum verkleinert wird, bedroht das Gefüge der Erkenntnis. Die Einheit der Wissenschaft erscheint gefährdet. Mit Recht wird nun deren Begriff auf der ganzen Linie geltend gemacht und der Geschichte im Namen jener Einheit die Legitimation als Wissenschaft abgefordert. Aber indem die Einheit des Prinzips wissenschaftlicher Erkenntnis in einfacherer oder komplexerer Beweisführung der  Einzigkeit der wissenschaftlichen Methode  gleichgesetzt und als Repräsentant jener Einheit nun, in erklärlicher Bevorzugung der logisch entwickelteren, die  naturwissenschaftliche  Methode betrachtet wird, erscheint die logische Selbständigkeit der Geschichte und ihrer theoretischen Ziele in hohem Grade gefährdet. Im gleichen Maß wächst demgegenüber das Gewicht der RICKERTschen Argumente und die Einsicht, daß Gesetz und Individuum der Forschung und deren Theorie verschiedene Aufgaben stellen, vertieft sich alsbald zur Überzeugung von der völligen theoretischen Divergenz beider; ein Umstand, der seinerseits wieder die Tendenz zeitigen muß, in der Spaltung der Methoden ein letztes theoretisches Datum zu erblicken und damit das System jener Einwände, die in dem unantastbaren Gedanken der Einheit der höchsten Bedingungen aller Erkenntnis, in solchem Sinne also aller Wissenschaft, wurzeln, aufs neue zu provozieren. man sieht also:  es handelt sich hier so lange um einen in seinen theoretischen Folgen wenig fruchtbaren logischen Kreisprozeß, als der erkenntnistheoretische Gedanke des Objekts von den methodologischen Gesichtspunkten seiner tatsächlichen Manifestation in der Forschung übertönt wird.  Gewiß, auch der Begriff der "Spaltung" und selbst schon der des bloßen "Unterschieds" zwischen den besonderen Methoden und Formen wissenschaftlichen Denkens involvieren ja gewissermaßen den Gedanken der objektiven Einheit. Aber nur im Rahmen einer ausdrücklichen theoretischen Begründung vermag dieser die oben aufgewiesenen Konsequenzen zu verhindern oder, was dasselbe bedeutet, die Position RICKERTs mit den letzten und eigentlichen Motiven seiner kritizistischen Gegner in prinzipielle Übereinstimung zu bringen. Ja, man darf es als unmittelbare Folge solcher Gesichtspunkte an dieser Stelle noch einmal aussprechen: nur insofern kann die Logik als Methodenlehre sich auf die "Formen" der Wissenschaften beschränken als sie deren einheitlichen Grund in der Form der Wissenschaft erkennt.

Je mehr nun diese Erkenntnis gelegentlich zurücktritt, umso mehr müssen folgerichtig in der Systematik der Wissenschaften  materiale  Gesichtspunkte an Boden gewinnen. Bei RICKERT selbst tritt diese Konsequenz, der entschieden festgehaltenen Forderung nach einem formalistisch gegliederten Wissenschaftssystem zufolge, freilich so wenig in Erscheinung, daß sich ihm der  materiale  Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft geradezu zum Ausgangspunkt und Instrument des Beweises für die methodische Identität der Kultur- und der historischen Wissenschaften gestaltet. "Als Kulturwissenschaften handeln sie" - die historischen Kulturwissenschaften - "von den auf die allgemeinen Kulturwerte bezogenen Objekten und als historische Wissenschaften stellen sie deren einmalige Entwicklung in ihrer Besonderheit und Individualität dar, wobei der Umstand, daß es Kulturvorgänge sind, ihrer historischen Methode zugleich das Prinzip der Begriffsbildung liefert, denn wesentlich ist für sie nur das, was in seiner individuellen Eigenart für den leitenden Kulturwert Bedeutung hat." (79) "Derselbe Begriff der Kultur, mit Hilfe dessen wir die beiden Gruppen von Objekten der Wissenschaften" - Natur- und Kulturobjekte - "gegeneinander abgrenzen konnten", bestimmt zugleich auch "das Prinzip der historischen oder der individualisierenden Begriffsbildung". (80) Aber so scharf diese Gesichtspunkte sich auch ausprägen mögen, sie können nicht verhindern, daß bei RICKERT - vielleicht als letzter Rest einer empiristischen Anfangssituation - jene unleugbare Toleranz gegenüber der Aristotelischen Auffassung des Begriffs als einer Allgemeinvorstellung platzgreife, die ohne das Wesen der Theorie von der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung zu berühren, bis zu einem gewissen Grade sich doch auch innerhalb dieser bemerkbar macht und deren berechtigte Kritik mehrfach zu einer, wie wir sahen, unberechtigten Ablehnung der RICKERTschen Lehren von der generalisierenden Tendenz des Naturbegriffs überhaupt geführt hat. Ja, vielleicht ist das unverkennbare gelegentliche Schwanken RICKERTs zwischen den Begriffen einer ungeschmälerten Mannigfaltigkeit der empirischen und dem Individuellen der historischen Wirklichkeit auf die gleichen Momente zurückzuführen. (81) - Die Annahme einer  absoluten  Spaltung in der Struktur des Wissenschaftsbegriffs im Sinne von Naturwissenschaft und Geschichte und der empiristisch-metaphysische Wirklichkeitsgedanke stehen in unleugbarer Wechselbeziehung. Wie jene Spaltung, soweit sie eben bei einer gegebenen Problemlage in Erscheinung tritt, den Objektgedanken theoretisch ausschaltet, um so auch den Begriff der Wirklichkeit der Beziehung auf ihn zu entkleiden, so fördert andererseits die empiristisch-metaphysische Bestimmung des Wirklichkeitsbegriffs, indem sie Wirklichkeit und Erkenntnis grundsätzlich voneinander trennt, die Tendenz, die besonderen Methoden als letzte wissenschaftstheoretische Data zu betrachten. Zwei Umstände sind es freilich, welche, wie schon angedeutet, die Schroffheit dieser Konsequenzen bei RICKERT wesentlich mildern: einmal das, der tatsächlich erhobenen Forderung nach Objektivität der historischen Methode entsprechende Bestreben, jeglichen Relativismus aus der Theorie der Wissenschaft zu verbannen; dann aber seine, damit übrigens zusammenhängende, formalistische Wissenschaftsdefinition mit allen ihren theoretischen Konsequenzen und Voraussetzungen.

Solche Erwägungen sind es naturgemäß, die - in der Sphäre der Methodenlehre - RICKERTs Verhältnis zum Objektgedanken repräsentieren. Diesen selbst in eingehender Analyse zu rechtfertigen, liegt als Aufgabe einer selbständigen erkenntnistheoretischen Untersuchung außerhalb der Grenzen dieser Darstellund. Nur auf einen Punkt mag hier noch hingewiesen und damit diese Untersuchung noch um einen Schritt weitergeführt sein. Der Objektgedanke ist nicht der Gedanke von einem Ding, wenngleich jedes "Ding" durch ihn konstituiert wird. Er ist der Gedanke einer allgemeinsten Beziehung, der jede andere in einem ganz bestimmten Umfang unterworfen ist. Sein Gegenstand ist eine Art der Verbindung von Faktoren, die je nach diesen verschieden ist, von ihnen selbst aber nichts enthält; genauer, die Form einer Verbindung von Faktoren, kraft deren diese eine eigentümliche Bedeutung erhält. Er ist der Gedanke von einem formalen Geltungsprinzip, das als höchste Bedingung jene Systeme von Beziehungen beherrscht, die man "Wissenschaft" und "Wirklichkeit" nennt. Denn beide wollen objektiv sein und beide sind es nur kraft jenes formalen Geltungsprinzips. Eine nicht objektive Wirklichkeit wäre eine contradictio in adiecto. Und selbst, wenn damit auch nur die Wirklichkeit des individuellen psychologischen Seins gemeint sein sollte, bleibt der Objektgedanke in vollem Umfang deren Bedingung. Aus dieser seiner Funktion aber ergibt sich seine nähere theoretische Bestimmtheit. Er muß die Art sein, mittels deren Vorstellungskombinationen überhaupt sich von solchen unterscheiden, die "wahr" sein wollen. Diese Art aber ist das  Urteil Die Theorie des Urteils, im umfassendsten Sinn des Wortes, ist im Hinblick auf dessen formale Wahrheitsfunktion letzten Endes die Theorie des Objektgedankens in Wissenschaft und "Wirklichkeit".

In welchem Umfang sind diese Momente nun für die Struktur von Naturwissenschaft und Geschichte bestimmend? - so lautet mithin, wie sich von selbst versteht, eine der zentralen Fragen des ganzen Problemkreises. Die Antwort auf sie erscheint hinsichtlich der Naturwissenschaft nur in  einem  Sinne möglich. Die Form des Naturgesetzes ist der Begriff der Objektivität. Das Naturgesetz "ist", gleichwie die Wahrheit des Urteils und gleich der Verbindung von Wahrnehmungen im Gedanken des "Dings": es "gilt" und die Bedingungen, die jedes besondere Naturgesetz als solches erfüllt, erweisen sich als Determinationen seiner Form. Trifft das auch für die letzten Orientierungspunkte der Geschichte als Wissenschaft zu? Ist der Begriff der "Kultur", im Hinblick auf welchen alle historische Begriffsbildung, sofern sie objektiv ist, letzten Endes erfolgt, seiner erkenntnistheoretischen Struktur nach betrachtet, das Analogon des Naturgesetzes? Ist das Prinzip der "historischen Reihe" ein formales Geltungsprinzip im Sinne der Determination von Substanz und Kausalität etwa im Satz von der Erhaltung der Energie? Folgt auch die Objektivität der Geschichte aus der logischen Form der Erfahrung? - Es liegt keine Möglichkeit vor, diese Fragen zu bejahen. Der Kulturgedanke, er mag bestimmt werden, wie immer, ist überhaupt nicht ein  Geltungsprinzip  bzw. die materiale Determination eines solchen, sondern ein System  gültiger Werte.  Nicht der Begriff der absoluten Geltung, sondern der Umstand,  daß "Werte"   absolut gelten oder als absolut geltend angenommen werden, konstituiert den Geschichtsbegriff. Nur im Sinne einer formalen Determination würde für diesen der reine Geltungsbegriff als solcher in Betracht kommen; das eigentliche historische Interesse dagegen leitet ein  inhaltlich  bestimmter Faktor, der nur den historischen Sonderproblemen gegenüber den Gedanken der allgemeingültigen Forderung repräsentiert. "Religion, Kirche, Recht, Staat, Wissenschaft, Sprache, Literatur, Kunst, wirtschaftliche Organisation usw." (82) sind solche Faktoren und wo sie nicht im einzelnen logisch in Erscheinung treten, da ist es die systematische Einheit der durch sie repräsentierten Gedanken, welche die Geschichte objektiv gestaltet und orientiert. "Wer Kulturwissenschaft" - und darunter ist hier Geschichte zu verstehen - "treiben will im höchsten Sinne des Wortes, so daß er die Auswahl des Wesentlichen als schlechthin gültig zu rechtfertigen unternimmt, wird auf die Notwendigkeit geführt, sich auf seine leitenden Kulturwerte zu besinnen und sie zu begründen." (83) Das aber wird nie die "Deduktion" eines formalen Erkenntnisprinzips bedeuten. Die Annahme objektiver oder  transzendenter  Werte aus rein logischen Gründen mag immerhin "unvermeidlich" sein; die  Identität  von transzendenten Werten und logischen Gründen wird sich, und das ist im Moment das Entscheidende, nicht erweisen lassen. Gerade das aber scheint die erkenntnistheoretische Parallelisierung von Naturwissenschaft und Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Forderungen des Objektgedankens zu verlangen. - Ist nun damit die  Dualität  der letzten Geltungsbedingungen nicht aufs neue und endgültig zum Prinzip erhoben? - Wer Geschichte treibt, wertet diejenigen Faktoren, in Beziehung auf welche er historisch urteilt, in absolutem, d. h. in objektivem Sinn. Seine zunächst nur psychologisch motivierten Wertungen, so darf man wohl auch sagen, erhalten einen Sinn, der sie über das Niveau "individueller Wünsche und Meinungen" (84) hinaushebt. Dazu aber ist letzten Endes einzig und allein der Objektgedanke imstande. Mag also die Wertvorstellung als selbständiger methodologischer Faktor neben dem Begriff des - Subsumtion gestattenden - Naturgesetzes stehen, der Begriff der  Objektivität  des Werte deutet unweigerlich hin auf das Problem vom Begriff des Objekts und der Objektivität. In einer vertieften Funktion beherrscht dieser also auch hier wieder die Situation; d. h. nicht allein, indem er dem psychologisch gegebenen Prinzip der zeitlichen Wertung naturwissenschaftliche Realität sichert, sondern indem er es zum Repräsentanten eines überpsychologischen und zeitlosen Faktors, eben des  Wertes,  macht. Das Wort Teleologie, mit dem sich daran traditionell anknüpfenden Vorstellungskreis besagt hier, so treffend es auch das Problem für ganz bestimmte Erkenntnisabsichten beleuchten mag, wenig; und nur die subtilste Analyse darf hoffen, die Fülle der logischen Beziehungen, die sich hinter ihm verbirgt, zu klären; Beziehungen, die, soviel man sieht, an diejenigen erinnern werden, welche die Korrelation der Glieder wahrer Urteile, kraft ihrer Verbindung durch die Kopula beherrscht. Die Einheit und die logische Valenz des Objektgedankens bleibt also ungeschmälert. Er konstituiert den "Wert" genau so - nur im Rahem eines anderen Bezugssystems - wie die "Wirklichkeit". Er beherrscht die Geschichte so gut, wie die Naturforschung und er definiert vor allen Dingen den Begriff der wissenschaftlichen Philosophie. Wissenschaftliche Philosophie ist im weitesten und tiefsten, selbst durch den philosophischen Kritizismus nur zum Teil erschöpften, Sinn des Wortes  Theorie des Objekts. 

Wir überblicken noch einmal die gesamte Problemlage. Der Objektgedanke beherrscht als die oberste Bedingung die "Wirklichkeit". Er "gibt" in solchem Sinne den Methoden deren Material. Zugleich aber definiert er den Begriff der Methode selbst. Er beherrscht damit in doppeltem Sinn die besonderen Gegenstände, deren Begriffe die Methoden bestimmen. Das heißt er überbrückt die spezifischen Differenzen der Methoden ohne sie aufzuheben und ist so in zweifacher Weise die Quelle ihrer systematischen Einheit. - Und sofort gesellt sich diesem ein weiteres bedeutsames Verhältnis hinzu: jene unerläßliche Beziehung alles Historischen auf die naturwissenschaftliche Bestimmtheit seiner Objekte, die, weil sie als Prinzip der Kritik Voraussetzung der historischen Begriffsbildung ist, so leicht mit dem Wesen dieser selbst verwechselt wird. - Die Art sodann,  wie  der Objektgedanke die Methoden bestimmt, begründet weiterhin eine Fülle neuer und bedeutsamer Relationen. Mit dem Gesetzesbegriff, diesem Grundmotiv aller naturwissenschaftlichen Methodik, ist die Beziehung gegeben, die in den Begriffen des Allgemeinen und Besondern ihren Ausdruck findet. Andererseits aber ist der Gesetzesbegriff eine Determination derjenigen Formen, in denen der Objektgedanke die Wirklichkeit gestaltet. Die Korrelation von Allgemeinem und Besonderem weist mithin auf die kategorialen Determinationen des Objektgedankens, so wenig diese selbst auch quantifiziert werden können, zurück. - Den positiven Sinn des kontradiktorischen Gegensatzes zu der in den Begrffen des Allgemeinen und des Besonderen gesetzten Subsumtionsbeziehung enthält der Begriff des  Individuellen.  Es ist m.a.W. eine vollständige Disjunktion [Trennung, Sonderung - wp], die er mit jener Subsumtionsbeziehung begründet. Involviert die letztere, soweit sie vom naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff allein beherrscht erscheint, erkenntnispsychologisch betrachtet, keine Wertforderung an den subsumierten Einzelfall - es sei denn, daß man den Akt des Subsumierens so  nennt  - so ist Wertung die erkenntnispsychologische Voraussetzung des ersteren. Man interessiert sich für Individuelles, im strengen, d. h. vom Besonderen unterschiedenen Sinn des Wortes, indem man es wertet. Und man interessiert sich für Individuelles  wissenschaftlich,  sofern das psychologisch und in solchem Sinn naturgesetzlich gegebene Prinzip der Wertung durch seine Beziehung auf den Objektgedanken zum Repräsentanten eines  Wertes  wird. - Die unter den gleichen Voraussetzungen wertbetonte und selbst wieder am Objektgedanken orientierte Beziehung der Werte aufeinander ist das System der Kultur. Es ist seinem Inhalt nach, gleich den empirisch gegebenen Prinzipien der Wertung, psychologisch determiniert. Die Einheit und Einzigkeit aber, auf die es dennoch den Anspruch erhebt, ist ein neuer Ausdruck seiner formalen Bedingtheit durch den alles beherrschenden Gedanken des Objekts. Mag also, so darf man in diesem Zusammenhang wohl sagen, Wissenschaft selbst eine Kulturerscheinung sein, die als solche über sich zu höheren Sphären hinausweist, so ist sie dies nur, weil alle "Kultur" die Form, und in diesem Sinn den Stempel der Wissenschaftlichkeit an sich trägt. RIEHLs prächtiges Wort, das RICKERT sich mit warmer Zustimmung zu eigen macht: "Ohne ein Ideal über sich zu haben, kann der Mensch im geistigen Sinn des Wortes nicht aufrecht gehen" (85) - bleibt richtig. Aber das letzte Kriterium der Richtung nach oben ist der Objektgedanke, wie er die  Logik  im weitesten Sinn ihres Begriffs und durch sie die Gesamtheit des möglichen wissenschaftlichen Denkens bestimmt.

Noch ist die Frage des Wissenschaftssystems, die, wie man sieht, das zentrale Problem der Wissenschaftstheorie darstellt, durch Erwägungen solcher Art lange nicht erschöpft. Aber so viel ist aus diesen Eröterungen vielleicht doch gewonnen: Auf den mannigfachsten Wegen und in einem kaum zu überblickenden logischen Formenreichtumg beherrscht der Objektgedanke als letztes Prinzip die Gesamtheit aller wissenschaftlichen Gestaltungen. Und wenn es eine Dualität der Erkenntnisprinzipien gibt, so steht diese, ungeachtet des der "Wirklichkeit" gegenüber formalen Charakters der Methoden, ganz und gar  innerhalb  des Objektgedankens. Die Idee eines Systems der Wissenschaften ist bestimmt durch deren Begriff.

"Geschichte als Wissenschaft, d. h. als Kulturwissenschaft" - erklärt einmal WINDELBAND (86) - "ist nur möglich, wenn es allgemeingültige Werte gibt, die den  Grund  für Auswahl und Synthesis der Tatsachen in ihr enthalten. Die philosophische Wissenschaft von den allgemeingültigen Werten aber ist die  Ethik  und insofern gilt es, was sachlich zuerst SCHLEIERMACHER erkannt hat, daß die  Ethik die Erkenntnistheorie der historischen Wissenschaften  ist." Es wird dagegen wenig einzuwenden sein, wenn man sich nur erinnert, daß die  Erkenntnistheorie  die Grundlage aller Ethik darstellt. Die theoretische "Spontaneität des Subjekts" ist die Voraussetzung auch aller Sittlichkeit: "Wissenschaft, kritisch gesucht und methodisch eingeleitet, ist die enge Pforte, die zur Weisheitslehre führt". Und wenn in früheren Zusammenhängen darauf verwiesen werden durfte, daß auch das "Aufgegebensein" ein "Gegebensein" bedeutet, so darf hier, vielleicht mit nicht geringerem Recht, ausgesprochen werden, daß auch der Begriff der "Beurteilung" die ganze Fülle der Probleme des "Urteils" voraussetzt. - Das ist denn der Punkt, an welchem RICKERTs Prinzip vom "transzendenten Sollen" in den Gesichtskreis dieser Darlegungen tritt. Darf es in uneingeschränktem Sinne als Ausdruck des Objektgedankens betrachtet werden? Kommt in seinem Begriff vor allen Dingen die  Einheit  des Objektgedankens ungeschmälert zur Geltung? Man wird diese Frage nicht unbedingt bejahen dürfen. Es wird nichts dagegen einzuwenden sein, daß man das höchste Prinzip theoretischer Allgemeingültigkeit im Hinblick auf seine alle Erkenntnis normierende Funktion als ein "Sollen" kennzeichne, das sich jedem psychologisch motivierten Meinen und Wünschen als "transzendentes" Gebot gegenüberstellt. Aber es ist andererseits nicht zu verkennen, daß diese Bezeichnung die Gefahr einer Äquivokation [Verwendung des gleichen Wortes für verschiedene Begriffe - wp] in sich birgt. Wenn einerseits das ethische "Soll", worüber kein Zweifel sein kann, ein objektiv gültiges Gebot sein will und wenn andererseits ein "Soll" auch der Träger des Gedankens der objektiven Gültigkeit selbst ist, dann kann die Bedeutung des "Sollens" da und dort nicht die gleiche sein. Ja, das "Sollen" als Gegenstand aller Erkenntnis (87) - und nicht allein der erkenntnistheoretischen - setzt den allgemeinsten Begriff des Gegenstandes schon voraus. Dieses Sollen ist objektiv eben nur kraft seines  logischen  "Seins". Das letztere aber ist das eigentliche Problem aller Wissenschaftstheorie und -systematik. Zu ihm hin und von ihm weg strebt das tausendfach verästelte Gebälk der Beziehungen, das den Bau der Erkenntnis trägt. Die Geschichte als ein Glied dieses Baues erkennen, heißt, sie seinen Bedingungen einordnen. Vor den Einwänden, die ihr eigentümliches Gefüge bedrohen, ist sie sicher. Aber nur insofern wird sie es, und zwar nicht allein in der Praxis der Forschung, die ja von solchen Erwägungen aus naheliegenden Gründen unberührt bleibt, sondern vor allem in der Theorie logischer Reflexion behaupten, als sie es in der Einheit des Erkenntnisbegriffs zu begründen vermag.
LITERATUR - Richard Hönigswald, Zur Wissenschaftstheorie und -systematik (Mit besonderer Rücksicht auf Heinrich Rickerts "Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft"), Kantstudien 17, Berlin 1912
    Anmerkungen
    65) Vgl. hierzu RIEHL, Logik und Erkenntnistheorie in der "Kultur der Gegenwart", Teil I, Abteilung VI, 1907, Seite 86, ebenso K. u. N. Seite 56.
    66) Es braucht kaum betont zu werden, daß alle diese Feststellungen rein begrifflicher Natur sind, daß es sich bei ihnen mithin nicht um distinctiones reales, also um zeitliche, respektive metaphysische Beziehungen handeln kann.
    67) ERNST CASSIRER, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Seite 3
    68) K. u. N. Seite 30f
    69) Vgl. hierzu K. u. N. Seite 30f
    70) K. u. N. Seite 32
    71) Vgl. WILHELM WINDELBAND, Präludien, 3. Auflage, 1907. Seite 355f, ferner K. u. N. Seite 55
    72) siehe WINDELBAND Seite 44f
    73) Vgl. meine Abhandlung "Über den Unterschied und die Beziehungen der logischen und der erkenntnistheoretischen Elemente im kritischen Problem der Geometrie". (III. Internationaler Kongreß für Philosophie, Heidelberg 1908).
    74) K. u. N. Seite 36
    75) Vgl. hierzu auch meine Schrift "Zur Kritik der Machschen Philosophie, 1903, Seite 25f
    76) HEINRICH RICKERT, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Seite 258
    77) K. u. N. Seite 55
    78) K. u. N. Seite 56
    79) K. u. N. Seite 101f
    80) K. u. N. Seite 80
    81) Die historischen Wissenschaften "wollen die Wirklichkeit, die niemals allgemein, sondern stets individuell ist, in ihrer Individualität darstellen." Vgl. K. u. N. Seite 53
    82) K. u. N. Seite 140
    83) K. u. N. Seite 146
    84) K. u. N. Seite 145
    85) ALOIS RIEHL, Friedrich Nietzsche, 3. Auflage 1901, Seite 170; K. u. N. Seite 151
    86) Vgl. Berichte des II. Internationalen Kongresses für Philosophie zu Genf 1904
    87) Vgl. HEINRICH RICKERT, Der Gegenstand der Erkenntnis, 1904, Seite 124