p-4tb-1H. HöffdingF. MauthnerW. SchuppeWindelbandR. Hönigswald     
 
BENNO ERDMANN
Umrisse zur
Psychologie des Denkens

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"Die Logik selbst bewegt sich wie jede dargestellte Wissenschaft ausschließlich in den Bahnen des formulierten Denkens, des Aussagens in allen seinen Kombinationen und er aus ihm abgeleiteten Folgebeziehungen. Sie kennt als Elementarlehre nur diese Formen. Es folgt daher auch von hier aus, was wir vorweg behaupten durften, daß das formulierte, und zwar das vollständige formulierte Denken den eigentlichen Gegenstand der logischen Normierung bildet."

"Das intuitive Denken geht dagegen in allen seinen Formen nur auf die Arten der sachlichen Gegenstände  (res),  nicht auf die sprachlichen  (verba).  Das grammatische Denken kann nur ein formuliertes sein. Sein Wesen haftet an den Benennungen, die für das intuitive Denken ausfallen: ... der Musiker denkt in Tönen, der Maler in Farben und Raumformen, der Bildhauer und Architekt in Gestalten, der Techniker in Bewegungen usw. So erfährt auch der Umkreis der Gegenstände für das formulierte Denken eine Einschränkung."

"Auch wenn der sachliche Inhalt des Denkens durch Gegenstände gegenwärtiger Wahrnehmung gegeben ist, führt im intuitiven und im vorbewußten Denken die Aufmerksamkeit, im formulierten Denken überdies die prädikative Gliederung dieses Inhalts, über das Gebiet der bloßen Wahrnehmung hinaus."

Wir haben demnach auch aus psychologischen Gründen die Wirklichkeit eines unformulierten Denkens als eines teils hypologischen, teils metalogischen anzuerkennen. Aber es bleibt bestehen, daß beide Formen dieses Denkens, wenn auch nicht tatsächlich, so doch im Prinzip der sprachlichen Formulierung unterstehen, daß ihr Inhalt sprachlich formuliert werden  kann.  Wir haben sogar zu behaupten, daß diese Formulierung unvermeidlich wird, wenn wir uns und andere über den Gehalt dieses Denkens, den Sinn seiner Gewißheit und deren Bestand Rechenschaft geben wollen. Wir besitzen kein Mittel, den Gegenstand der abstrahierenden Aufmerksamkeit zu  fixieren,  d. h. dauernd festzuhalten, als die prädikative Gliederung seines Inhalts, die Bindung also seiner Glieder an die prädikative Ordnung von Subjekt und Prädikat. Auch die Analyse dieses Inhalts, die ihn präzisiert, fordert, um fest zu werden, um der verlöschenden Wirkung des Vergessens zu entgehen, eine solche Formulierung; desgleichen die nachprüfende Begründung in allen ihren Formen, sowie die nachbessernde Einordnung in den Gesamtgehalt unseres Wissens: kurz alle die wissenschaftlich sichernde Arbeit, die das Erworbene uns und anderen zum festen Besitz macht. Eben dadurch werden wir den Tieren überlegen.

Die Logik, welche die Formen dieser wissenschaftlichen Sicherung normiert, ist daher nicht lediglich ein Prokrustesbett für das metalogische Denken. Sie liefert die Bedingungen für seinen wissenschaftlichen Gebrauch, für alles, was seinen Gehalt dauernd verwertbar macht. Und sie selbst bewegt sich wie jede dargestellte Wissenschaft ausschließlich in den Bahnen des formulierten Denkens, des Aussagens in allen seinen Kombinationen und er aus ihm abgeleiteten Folgebeziehungen. Sie kennt als Elementarlehre nur diese Formen. Es folgt daher auch von hier aus, was wir vorweg behaupten durften, daß das formulierte, und zwar das vollständige formulierte Denken den eigentlichen Gegenstand der logischen Normierung bildet. Sie kann die beiden Arten des unformulierten Denkens nicht in ihrem grundlegenden, sondern nur in ihrem methodologischen Teil in Betracht ziehen; und auch da nur zu dem Zweck, um in der Weise des formulierten Denkens nachzuweisen, daß sie sich den Bedingungen möglicher Formulierung fügen müssen, also keine anderen Gesetze enthalten können, als diejenigen, die auch den sachlichen Inhalt des formulierten Denkens bilden; sie hat endlich darzulegen, welche Bedeutung ihnen für die Wege und Ziele des wissenschaftlichen Denkens überhaupt zukommt.

Unsere psychologische Aufgabe ist jedoch mit den Scheidungen des vollständig und unvollständig formulierten sowie des hypologischen und metalogischen intuitiven Denkens nicht erschöpft.

Das formulierte und das intuitive Denken sind nicht so reinlich voneinander getrennt, wie die vorstehende Erörterung auf den ersten Blick annehmen läßt. Im entwickelten Vorstellungsverlaut wechseln die prädikativ verknüpften und die rein intuitiven Reproduktionen der sachlichen Gegenstände vielfach miteinander ab. Ein reines intuitives Denken ist so wenig häufig, wie ein bedeutungsleeres unvollständig formuliertes. Drängen sich beim unvollständig formulierten Denken die Bedeutungsinhalte zu, sobald die Spannung der Aufmerksamkeit auf ihren Bestand die Macht der abschleifenden Gewohnheit bricht, so treten im intuitiven Denken die spezifischen Wortvorstellungen für seine Gegenstände, deren Merkmale und Beziehungen auf, sobald ein Anlaß vorliegt, das in ihm Erfaßte zu präzisieren, festzuhalten, zu begründen oder gar mitzuteilen. Denn für das alles liefert das prädikative Formulieren, wie wir sahen, die natürliche Symbolik. Die assoziativen Verknüpfungen zwischen den Worten und deren Bedeutungsinhalten durch Verflechtung und (bei den onomatopoetischen [lautmalerischen - wp] Worten) durch Ähnlichkeit sind im intuitiven Denken so wenig aufgehoben wie im unvollständig formulierten. In diesem bleibt der durch Gewöhnung abgeschliffene Bedeutungsbestand, in jenem der geläufig gewordene formulierende Sprachverlauf nur  unbewußt erregt.  Es klingt nur, aber es ist nicht paradox zu sagen, daß dort die Gewohnheitswirkungen eine analoge Funktion haben, wie hier die Spannung der Aufmerksamkeit auf den sachlichen Bestand der Gegenstände des Denkens. Denn wie die Gewohnheit das, was ihr verfallen ist, für das Bewußtsein zurückdrängt und weiterhin aufhebt, so schiebt die Aufmerksamkeit auf einen Teil einer Vorstellungsverknüpfung die übrigen Teile zurück oder aus dem Bewußtsein heraus. Das die Residuen der Wortvorstellungen hier, ebenso wie die Residuen der Bedeutungsvorstellungen dort, reproduktiv erregt sind, auch wenn keine Spur dieser Vorstellungen im Bewußtsein anzutreffen ist, dürfen wir als sicher ansehen. Dafür spricht erstens die Tatsache, daß überall in unserem Vorstellen die reproduktive Erregung, die einem Teil einer assoziativen Verknüpfung zufließt, auf die übrigen Bestandteile nach Maßgabe der Enge des assoziativen Zusammenhangs reproduktiv erregend einwirkt. Und wie beim unvollständig formulierten Denken die Gedächtnisresiduen der Wortvorstellungen für die benennbaren Bestandteile der sachlichen Gegenstände mit dem vorliegenden Bewußtseinsbestand im engsten assoziativen Zusammenhang. Außerdem aber bekunden auch hier direkte Erfahrungen diesen Erregungsbestand. Denn wie dort die bekannten Bedeutungen, so werden hier die vertrauten Worte beim geringsten Anlaß schnell, sicher und deutlich bewußt. Die den Wortvorstellungen entsprechenden Residuen lassen sich also gleichfalls als erregte, wenn auch unbewußt bleibende Dispositionen zu Bewußtseinsinhalten erschließen.

Wir dürfen somit die Bedeutungsdispositionen des unvollständig formulierten sowie die Wortdispositionen des intuitiven Denkens, das sprachlicher Formulierung zugänglich ist, noch in einem anderen Zusammenhang betrachten. Wir haben früher gesehen, daß jeder Wahrnehmungsbestand des entwickelten, d. h. durch abgeleitete Vorstellungen aller Art unterstützten, Bewußtseins in solchen Vorstellungen eine apperzeptive Ergänzung findet. Das Gebiet dieser apperzeptiven Ergänzung ist nach dem eben Ausgeführten auch für das denkende Wahrnehmen größer, als zuerst angenommen werden durfte. Tritt das unvollständig formulierte Denken aufgrund von Wortwahrnehmungen ein, wie beim Sprach- und Schriftverständnis, also beim Hören und Lesen, so umfaßt die apperzeptive Ergänzung nicht nur die  Bewußtseins inhalte der Bedeutungen, sondern auch den ganzen Bestand der von den wahrgenommenen Worten aus erregten, aber unbewußt bleibenden Bedeutungs residuen.  Vollzieht sich andererseits das intuitive Denken an Gegenständen der Wahrnehmung, so gehören die nicht bewußt werdenden  Gedächtnisresiduen der Worte,  die dem Denkenden zur Verfügung stehen, nicht bloß also die hin und wieder auftauchenden Wort vorstellungen,  in den Umkreis der apperzeptiven Ergänzung hinein. Sowohl die sachliche wie die sprachliche apperzeptive Ergänzung wird auf diese Weise beträchtlich größer, als sie im ersten Augenblick scheint.

Noch von einem anderen Gesichtspunkt aus lassen sich die Übergangsformen zwischen dem intuitiven und dem formulierten Denken beleuchten. Das metalogische Denken ist in den Formen, die wir oben besprochen haben, ein mögliches formuliertes. Seine Gegenstände waren zwar nicht als benannt, aber in dem Sinne als benennbar vorausgesetzt, daß sie für alle Beziehungen des Vergleichens und Unterscheidens, in denen es sich vollzieht, mit spezifischen Wortvorstellungen assoziiert seien. Unter dieser wiederholt betonten Voraussetzung werden die Reproduktionen der Gedächtnisresiduen als Dispositionen zu Wortvorstellungen möglich, deren Auftreten im Bewußtsein das intuitive Denken in ein formuliertes überführt. Diese Bedingungen sind für das metalogische Denken jedoch nur teilweise gegeben. Das  schöpferische  metalogische Denken ist erfüllt von Vergleichen und Unterschieden deren Benennungen noch nicht hergestellt sind, sondern erst hergestellt werden müssen. Es wirkt nicht nur gedanken-, sondern auch sprachschaffend auf allen Gebieten, denen es zugewandt ist. Diese sprachschöpferische Energie geht nicht nur auf die bezeichnenden Worte selbst, also auf die Terminologie im engeren Sinne, sondern auch auf neue prädikative Wendungen des vorhandenen Sprachschatzes. Für diese höchste Form des intuitiven Denkens kommen daher nur die Reproduktionen spezifischer Worte unmittelbar in Betracht, die dem überlieferten, bereits assoziierten Wortschatz entstammen. Die neuen Worte und Wendungen werden erst lebendig, wenn der Versuch gemacht wird, die Ergebnisse dieses Denkens zu formulieren. Der konträre Gegensatz zwischen dem unvollständig formulierten und dem intuitiven Denken trifft demnach reinlich nur die schöpferische Form der Intuition.

Noch in einer zweiten Hinsicht sind indessen die Glieder des Gegensatzes, um den es sich hier handelt, einander nicht koordiniert. Der Bedeutungsbestand, der im unvollständig formulierten Denken mehr oder weniger unbewußt erregt bleibt, geht, wie wir sahen, auf jeden möglichen Gegenstand unseres Denkens. Er umfaßt nicht bloß die sachlichen, sondern auch alle Arten von sprachlichen Wortbedeutungen: auch die Bedeutungen der Worte als Redeteile und deren syntaktische Beziehungen, also Worte wie Substantiv und Verbum, Satz, Subjekt, Prädikat usw. Das intuitive Denken geht dagegen in allen seinen Formen nur auf die Arten der sachlichen Gegenstände  (res),  nicht auf die sprachlichen  (verba).  Das grammatische Denken kann nur ein formuliertes sein. Sein Wesen haftet an den Benennungen, die für das intuitive Denken ausfallen.

Freilich darf man die Bestimmung, die schon oben für das Bedeutungsgebiet des formulierten Denkens in Anspruch genommen wurde, nicht mißverstehen: es gibt, so wurde ausgeführt, keinen Gegenstand unseres Denkens, der der Benennung unzugänglich wäre. Aber die Benennung ist nicht für alle Gegenstände möglichen Denkens die adäquate Form der Symbolik. Unter den Künsten ist sie es nur für die Poesie. Und sie ist eine solche Symbolik, wie schon aus der Charakteristik des metalogischen Denkens hervorgeht, nicht für jeden: der Musiker, so könnte man, wenn auch mit einiger Paradoxie sagen, denkt in Tönen, der Maler in Farben und Raumformen, der Bildhauer und Architekt in Gestalten, der Techniker in Bewegungen usw., die auch im Rhythmus bis hinauf zu dem der Poesie als Bewegungsempfindungen eine Rolle spielen. So erfährt auch der Umkreis der Gegenstände für das formulierte Denken eine Einschränkung.

Aber auch durch alle diese Übergangsformen zwischen dem intuitiven und dem formulierten Denken haben wir den Reichtum des tatsächlichen Denkverlaufs noch nicht erschöpft. Wir können den beiden bisher besprochenen noch eine  dritte Einteilung  des Denkens zur Seite setzen, die auf die Übergangsformen zwischen dem formulierten und dem intuitiven Denken noch ein anderes Licht wirft.

Wir gehen zu dem Zweck von einer genaueren Analyse der Bewußtseinsfunktionen der Aufmerksamkeit im engeren Sinne aus, d.h. wiederum der Aufmerksamkeit, bei der die Erwartungsspannung auf künftig eintretende, mehr oder weniger vorweg bestimmte Gegenstände noch ausgeschlossen ist.

Der Aufmerksamkeit ist diesem eingeschränkten Sinn ist nicht nur ein schneller gegenständlicher, sondern auch ein schneller  Intensitäts wechsel eigen. Die Konzentration der Aufmerksamkeit besteht in deren Einengung auf ein kleines Gebiet von Gegenständen. Bei den Intervallen höchster Konzentration ist dieses Gebiet sehr klein, wenn auch nur ausnahmsweise durch einen einzigen einfachen Bewußtseinsinhalt gegeben. In der Regel des Geschehens bilden diese Fälle jedoch seltene Ausnahmen. Zumeist ist die Aufmerksamkeit mehr oder weniger konzentriert, d. h. mehr oder weniger eingeengt, auf mehr oder weniger Bestandteile des jeweiligen Bewußtseins im oben formulierten Sinne des Worts gleichzeitig bezogen. Aber auch wenn sie wenig konzentriert ist, bleibt das Gebiet der Gegenstände, denen sie momentan zugespannt ist, ein verhältnismäßig kleiner Ausschnitt aus dem gleichzeitig vorliegenden Bewußtseinsbestand. Jenes engere Gebiet der Aufmerksamkeit macht, in räumlichen Bildern geredet, den  Vordergrund,  dieses weitere des gegenwärtigen Bewußtseins den  Hintergrund  des Bewußtseins aus; dieses, so sagt man auch kürzer, bildet das  Unter-,  jenes das  Ober bewußtsein. Das intuitive Denken umfaßt demnach wie das formulierte, so wie wir beide bisher betrachtet haben, in jedem Augenblick nur einen verhältnismäßig kleinen Bestandteil aus dem Inbegriff des gegebenen Bewußtseins: den Vordergrund des Bewußtseins oder das Oberbewußtsein. Aber auch diese Scheidung des Bewußtseinsbestandes ist nur eine künstliche, logische. Beide Gebiete greifen in Wirklickeit vielfach ineinander über: im Fluß des Bewußtseins, den der kontinuierliche Wechsel der äußeren und inneren Reizlage herbeiführt, im assoziativen Zusammenhang, der die einzelnen Bestandteile des Bewußtseins miteinder verknüpft, endlich ein einem schnellen gegenständlichen Wechsel der Aufmerksamkeit liegt eine Reihe von Bedingungen, die einen fortwährenden Austausch der Gegenstände des Denkens herbeiführen: was die Aufmerksamkeit in diesem Augenblick erfaßte, beginnt im nächsten unterbewußt zu werden; Elemente des gegenwärtigen Unterbewußtseins strömen dementsprechend im nächsten Augenblick in das Oberbewußtsein ein. Diese unaufhörliche Verschiebung der Bewußtseinsströme vollzieht sich beim geistig Angeregten ungemein schnell und in reichster Verwicklung. Und noch ein zweites Moment kommt, diese ersten Übergangsformen komplizierend, bei einiger Schulung der Selbstbeobachtung zum Vorschein. Neben dem formulierten und dem intuitiven Denken, wie wir beide bisher ausschließlich betrachteten, findet sich zumeist eine Reihe gedanklicher Unterströmungen, ein flüchtiges Vergleichen und Unterscheiden auf dem Gebiet des Unterbewußten mit geringerer Spannung der Aufmerksamkeit. Wir dürfen dementsprechen dem Denken im bisher erörterten Sinn ein  Neben denken zugesellen und können jenes demgemäß als  Haupt denken bezeichnen. Die Gegenstände des Nebendenkens sind zum Teil solche, die mit denen des Hauptdenkens in enger Beziehung stehen. Unser Nebendenken verweilt z. B. bei Gegenständen, die nach dem assoziativen Zusammenhang der Bewußtseinselemente den Gegenstand des Hauptdenkens  ergänzend  gleichsam umgeben. Aufgrund dieses Zusammenhangs kann den Gegenstand eines gegenwärtigen Nebendenkens bilden, was eben noch Gegenstand des Hauptdenkens war oder im nächsten Augenblick berufen ist, Gegenstand des Hauptdenkens zu werden. Viele der Bewußtseinsbestandteile, die das gegenwärtig Wahrgenommene durch apperzeptive Ergänzung bereichern oder irgendwelche abgeleitete Gegenstände assoziativ vervollständige, können in dieses Nebendenken einbezogen sein. Das Nebendenken ist in diesen Fällen ein gleichsam abklingendes oder vorklingendes Hauptdenken. Das Nebendenken kann ferner Gegestände betreffen, die lediglich ein Mittel zum Zweck des Hauptdenkens bilden: die vertrauten Hilfsmittel zur Beobachtung, speziell zur instrumental bewaffneten Beobachtung des Gegenstandes für unser Hauptdenken, das Minenspiel des Mitunterredners, die Physiognomien der Zuhörer, die Saiten der Violine, die Klaviatur des Flügels, die Gehörswahrnehmungen der Laut-, die Gesichtswahrnehmungen der Schriftworte, das Papier und die Schriftzüge beim Schreiben, die Bewegungsgeräusche der Schreibmaschine usw. Es ist dieses,  a potiori  [nachher - wp] bezeichnet, ein gleichsam  instrumentales  Nebendenken. Das Nebendenken kann drittens in zweifacher Hinsicht ein  symbolisches  sein. Ist uns etwa in der Wahrnehmung oder im abgeleiteten Vorstellen statt des Gegenstandes, über den wir im Hauptdenken reflektieren, eine Abbildung, ein Grundriß, ein Schema, eine Karte, ein Modell gegenwärtig, so kann es, das Hauptdenken begleitend, diesen zugewendet sein. Ähnlich verhält es sich, wenn sich uns abstrakte Gegenstände unseres Hauptdenkens innerlich in einem jener geometrischen oder mechanischen, dem gemeinten Inhalt des Abstrakten oft sehr fremdartigen, zumeist optischen Symbole schematisieren, die einen typischen Bestandteil des Denkens über solche Gegenstände bilden.

Aber es ist nicht notwendig, daß ein solcher ergänzender, instrumentaler oder symbolischer Zusammenhang zwischen den Gegenständen des Haupt- und des Nebendenkens besteht. Wir können bei der praktischen und wissenschaftlichen Gedankenarbeit in allen Situationen, zuhause, im Kontor, in der Werkstatt, im Unterricht, auf der Straße, während des Spaziergangs, im Gespräch oder während der Debatte, selbst bei konzentriertester Aufmerksamkeit auf Gegenstände, die uns völlig in Anspruch nehmen, ein flüchtiges Denken konstatieren, das Gegenständen zugewendet ist, die mit unserem Hauptdenken garnichts zu tun haben: den Dingen, Personen, Geräuschen der täglichen Umgebung, irgendwelchen Zufälligkeiten der Begegnung, die uns im Grunde nicht interessieren, auch wohl einem gewohnten Spiel mit dem Bleistift usw. Weniger häufig greift das Nebendenken bei den meisten Menschen über den Bewußtseinsbestand des Vorstellens hinaus, also in den gleichzeitigen der Gefühle aller Art, die überdies im Bewußtsein gegeben sind, und damit auch in das eigentliche Willensgebiet hinein. Aber bei den Naturen, die mehr nach Innen als nach Außen gerichtet sind, liefert nicht selten auch der Umkreis der feinen und feinsten Gefühlsregungen, die im Unterbewußtsein bleiben, und nicht nur in den Reflexionen des mittelbaren Willensbewußtseins, Gegenstände des Nebendenkens. Nunmehr können wir dieses Denken auch auf die frühere Unterscheidung des formulierten und intuitiven beziehen. Bei diesem gehören die sich gelegentlich zudrängenden sprachlichen Bestandteile des formulierten Denkens, solange es nicht in ein solches übergeht, dem Nebendenken an, bei jenem bilden die Bedeutungen, sobald sie weder den eigentlichen Gegenstand der Aufmerksamkeit ausmachen noch unbewußt bleiben, den Bestand des Nebendenkens.

Auch  individuelle  Modifikationen des formulierten und intuitiven Haupt- und Nebendenkens müssen wir verzeichnen. Je nach Anlage, und damit je nach Gewöhnung und Bedürfnis, kann das intuitive oder das formulierte zum vorherrschenden werden, sich das eine also zum individuellen Haupt-, das andere zum individuellen Nebendenken entwickeln. Das nachbildende Denken ist freilich zumeist enger sprachlich gebunden, als das vorbildende oder schöpferische. Aber auch dieses wird nur bei den Naturen, die zu weitgehendem praktischen oder tiefgreifendem künstlerischen Gestalten auserwählt sind, ein vorwiegend intuitives. Bei denen, die zu wissenschaftlicher Forschung berufen sind, kann sowohl das intuitive, wie das formulierte Denken zum Hauptdenken werden. Die Geschichte der wissenschaftlichen Persönlichkeiten zeigt, wie ungleich auch hier die Gaben verteilt sind. Die Gedankenentwicklung, die uns z. B. in den Schriften eines ARISTOTELES, LEIBNIZ, HUME, HERBART oder JOHN STUART MILL entgegentritt, entbehrt in ihrer begrifflichen Schärfe der Frische der Intuition, die uns aus den Fragmenten eines HERAKLIT, den Dialogen PLATONs, den Werken SCHOPENHAUERs oder den Aphorismen NIETZSCHEs entgegenleuchtet. Wie verkümmert erscheint der Versuch, dem intuitiven Denken gerecht zu werden, in den Erörterungen über die tätige Vernunft bei ARISTOTELES, in der Lehre von den  vérités innées  [angeborene Wahrheiten - wp] bei LEIBNIZ; HUME gar weiß es nur andeutend zu fassen. Ein seltenes Gemisch beider Denkweisen finde ich bei genauerer Analyse in den Darstellungen SPINOZAs und KANTs. Intuitiv erfaßt sind von beiden die leitenden ideen, von SPINOZA früh, von KANT nach harter systematischer Gedankenarbeit; dort treten sie in der Lehre von der Substanz und der  intuitio  zutage; hier ergeben sie sich bei schärferem Zusehen aus der ethischen Substruktion des Lehrgebäudes durch den  mundus intelligibilis  [die geistige Welt - wp]. Mit der Zuerteilung eines wesentlich formulierten Hauptdenkens darf jedoch keine Geringschätzung verbunden werden. Die angeführten Namen seiner philosophischen Vertreter beweisen, daß für dasselbe nichts weniger als nur repräsentative Geister in Betracht kommen. Einem LEIBNIZ oder HUME gegenüber ist die produktivie Kraft eines GIORDANO BRUNO, MALEBRANCHE, ROUSSEAU oder SCHELLING doch nur eine geringe. Bei all dem darf natürlich nur die Art der Gedankenentwicklung, nicht die Kunst der sprachlichen Darstellung als Grundlage genommen werden. KANT besitzt diese so wenig wie BRUNO, HUME dagegen in kaum geringerem Maße als PLATON oder NIETZSCHE. Für die Darstellung spielen noch andere Momente mit.

Auch mit diesen Typeneinteilungen ist jedoch die psychologische Analyse des Denkens nicht zu Ende geführt. Wir müssen vielmehr die bisher besprochenen Formen als Denken im engeren Sinne, und zwar als  bewußtes  Denken zusammen, um in unserer Gliederung für eine letzte, fünfte (oder siebente) Art des Denkens, ein  vorbewußtes  Denken, Raum zu schaffen.

Nachstehende Tatsachen nötigen, ein solches Denken anzunehmen.

Sowohl im formulierten wie im intuitiven Haupt- und Nebendenken erleben wir nicht selten, beim intuitiven vielleicht häufiger als beim formulierten, daß die Arbeit des Denkens, die wir bisher als eine ausschließliche Funktion des Bewußtseins angenommen haben, bereits getan ist, wenn die Vergleichungen und Unterscheidungen im Bewußtsein auftauchen. Wir quälen uns vielleicht des Abends, abgespannt von der Arbeit des Tages, mit der Lösung einer Schwierigkeit im praktischen oder theoretischen Denken - und wenn wir am nächsten Morgen aufwachen, taucht die vergeblich gesuchte Lösung scheinbar unvermittelt, freisteigend wie HERBART auch für solche Fälle irreführend gesagt hat, im Oberbewußtsein auf. Eine ähnliche Wirkung spüren wir selbst nach längeren Zwischenräumen. Müde von fortgesetzter geistiger Arbeit finden wir uns unfähig, eine Frage, die uns hemmt, vielleicht eine bedeutsame Frage für den Zusammenhang unserer Arbeit, recht zu beantworten und zu formulieren. Wir suchen ausspannende Erholung auf einer Reise, die uns aus der täglichen Umgebung und Arbeit heraus und neuen, reizvollen Eindrücken zuführt. Nach einigen Wochen kehren wir arbeitsfrisch zurück. Wir finden uns in die Arbeit, die wir verließen, aufs neue hinein. Und wiederum zeigt sich, obgleich wir in der Zwischenzeit unser Sinnen gelassen hatten, die Arbeit im Grunde getan: die Antwort und ihre Formulierung verstehen sich von selbst. Charakteristischer noch sind andere Erfahrungen, die wir gelegentlich an uns machen oder staunend als den Auserwählten eigen vernehmen: ein plötzliches Aufdämmern von Einfällen oder Einsichten im Unterbewußtsein, ein plötzliches Aufleuchten ebensolcher Gedanken im Oberbewußtsein, die wir nicht, wie beim Nebendenken, gleichsam  in statu nascendi  [im Zustand der Geburt - wp] beobachten können, sondern die auftreten - wir wissen nicht, woher sie gekommen und wie sie entstanden sein mögen. Unmerklich gehen diese Erzeugnisse eines für das Bewußtsein fertigen Denkens in die Formen des produktiven intuitiven oder formulierten Neben- und Hauptdenkens über, das sie erweitert oder vertieft, berichtigt oder ergänzt. Dennoch bilden sie in der genialen Produktion der wissenschaftlichen, künstlerischen, technischen und im engeren Sinn praktischen Phantasie einen deutlichen Bestandteil für den, der gelernt hat, sie zu suchen.

Ohne Zweifel ist es ein Denken, das sich in ihnen offenbart, eine gedankliche Arbeit von nicht selten höchster Energie, deren Intensität mit allen anderen Formen produktiver Arbeit das Schicksal teilt, daß sie nicht lange andauert und nicht geringe Abspannung mit sich führt. Aber dieses Denken ist im Gegensatz zu den vorher besprochenen Arten nicht selbst ein Glied unseres Bewußtseins, sondern wird ein solches nur in seinen Produkten. Als ein unbewußtes könnten wir es demnach bezeichnen. Aber wir tun besser, es nach seinen Leistungen, wie eben geschehen, als ein  vorbewußtes  zu charakterisieren.

Diese Charakteristik muß im ersten Augenblick paradox erscheinen. Denn die vergleichenden und unterscheidenden Urteile und die aus ihnen sich aufbauenden Schlüsse, die wir dem Denken bei logischer, sowie die Aufmerksamkeit, die wir ihm bei psychologischer Betrachtung eigen gefunden haben, sind Vorgänge unseres  Bewußtseins.  Ebenso sind die Gegenstände, an denen jenes Vergleichen und Unterscheiden sich vollzieht oder diese Aufmerksamkeit sich bestätigt, Bestandteile unseres  Vorstellens.  Aber die paradoxe Bezeichnung ist doch nur ein adäquater Ausdruck für eine in dem Sinne paradoxe Tatsache, daß sie vom Standpunkt hergebrachter, nächstliegender Auffassungen aus widersprechend erscheint.

Auf folgende Weise läßt sich das deutlich machen. Schon oben, bei der Besprechung der reproduktiven Funktionen der Aufmerksamkeit, ist hervorgehoben worden, daß wir dieses Wort bisher lediglich in engerer Bedeutung genommen haben, nicht in dem weiteren Sinn, der die  Erwartungs spannung mitumfaßt. Diese Art der Aufmerksamkeitsspannung ist ein spezieller Fall der  apperzeptiven  Aufmerksamkeit, d. h. derjenigen, die nicht sowohl  (perzeptiv)  durch einen vorliegenden Reiz, sondern vielmehr durch den vorliegenden Bestand des Bewußtseins und der unbewußten reproduktiven Bedingungen und Ergänzungen dieses Bestandes gegeben ist. Die Aufmerksamkeit, die wir, stets unwillkürlich, einem unerwartet, also von unserer Reproduktionslage unabhängig funktionierenden Reiz zuwenden, einem plötzlich auftretenden Sinnes- oder Gefühlsreiz etwa, ist perzeptiv erregt. Apperzeptiv dagegen ist diejenige Art des Aufmerkens ausgelöst, die im Reproduktionsbestand des Subjekts selbst ihre Quelle hat, gleichviel ob ihr gegenständlicher Wechsel, wie auch in diesen Fällen zumeist, unwillkürlich verläuft, oder nach Maßgabe gegenwärtiger Gefühlsantriebe willkürlich mitbedingt ist. Diese apperzeptive Aufmerksamkeit ist die eigentliche Seele des Denkens. Denn die perzeptiv ausgelöste Aufmerksamkeit wird gedanklich erst bedeutungsvoll, nachdem der plötzlich hereinbrechende Reiz unsere Reproduktionslage verändert, die Bestandteile unseres Ober- und Unterbewußtseins der neuen Erregungsbedingung angepaßt, und damit den Gegenstand, dem sie zugewendet ist, zu einem Zentrum reproduktiver Energie für einen apperzeptiven Aufmerksamkeitsverlauf umgebildet hat. Die perzeptive Aufmerksamkeit hat demnach das Schicksal, daß sie nach Maßgabe ihrer Intensität und Dauer zur apperzeptiven wird. Die apperzeptive kann dagegen von sich aus nie zur perzeptiven werden. Es bedarf eines selbständig auftretenden Reizes, der ihren Reproduktionsverlauf hemmt oder in neue Bahnen leitet; sie kann ihm nur gleichsam entgegenkommen, indem ihre Spannung nachläßt.

Die Art der apperzeptiven Aufmerksamkeit, die wir bisher allein betrachtet haben, ist dadurch charakterisiert, daß das, worauf sie gespannt ist, während des Bestandes dieser Spannung ihr als gegenständlich bewußt ist. Denn auch wenn sie einem gegenwärtigen Gefühls- oder Willensbestand zugewendet ist, wird dieser gegenständlich, also in der Weise des Vorstellens erfaßt, z. B. als dieses, so beschaffene, jener Gattung zugehörige Fühlen oder Wollen. Aber in der Erwartungsspannung auf einen künftig, vielleicht im nächsten Augenblick eintretenden Reiz kann dieses gegenständliche Bewußtsein fehlen. Es pflegt sogar aufgrund der Gewohnheitswirkungen zu fehlen, wenn uns der erwartete Gegenstand vertraut ist; es fehlt in der Regel auch dann, wenn er nur in geringem Maße vorweg bestimmt werden kann. Die Analyse der Erwartungsspannung, die DODGE und ich im letzten Kapitel unserer "psychologischen Untersuchung über das Lesen auf experimenteller Grundlage" gegeben haben, bietet eine, durch alltägliche Erfahrungen leicht vermehrbare Reihe spezieller Belege für diesen Tatbestand des Bewußtseins.

Die Aufmerksamkeit ist also nicht durchaus an ein Bewußtsein des Gegenstandes gebunden, dem sie zugespannt ist. Trotzdem bleibt diese unbewußte Bedingung der Erwartungsspannung das Zentrum der gegenwärtigen Reproduktion. Das bekunden die bekannten Wirkungen dieser Spannung: die Schwellenvertiefung, die Zeitverkürzung, die Verdeutlichung des durch den Reiz ausgelösten Gegenständlichen Inhalts, sobald jener wirksam wird usw. Das unbewußt bleibende Zentrum der Reproduktion ist also, so müssen wir auch hier schließen, unbewußt  erregt. 

Aber die Erwartungsspannung ist nicht notwendig an den vorwegbestimmten Eintritt eines äußeren oder inneren Reizes gebunden. Wir erleben sie vielmehr auch fast in jedem Fall des stillen Denkens über Gegenstände, für deren Gestaltung wir die befreiende Intuition oder die Art der Formulierung  suchen.  Alle Bewußtseinselemente der Erwartung lassen sich in solchen Fällen konstatieren: die Konzentration der reproduktiven Energie um den gesuchten Gegenstand, und das diese Konzentration kennzeichnende Spannungsgefühl; ebenso die äußeren Ausdrucksweisen der nach innen gerichteten Aufmerksamkeit, etwa der in die Ferne eingestellte Blick; nicht minder endlich das vorläufige Fehlen dessen im Bewußtsein, was im nächsten Augenblick vielleicht der Intuition zuströmt, oder auf die Lippen tritt oder in die Feder fließt. Das Vergleichen und Unterscheiden, das wir als Merkmal des Denkens in logischer Bestimmung verwertet haben, fehlt allerdings in allen diesen Formen der Erwartung. Soll das Vergleichen und Unterscheiden einen verständlichen logischen Sinn behalten, so müssen wir sagen, es sei an das Bewußtsein gebunden. Aber diesem logischen Bestand der Grundform aller zweigliedrigen Beziehungen entsprechen psychologisch die assoziativen Verknüpfungen durch Verflechtung und Ähnlichkeit, deren Wirkungen im Bewußtseinsbestand der Aufmerksamkeit im engeren Sinne wir bisher bestimmten. Diese assoziativen Verknüpfungen sind jedoch, wie die eben geschilderten Formen der Erwartung bekunden, nicht ausschließliche Funktionen des Bewußtseins. Sie vollziehen sich vielmehr im weiten Bereich der unbewußt bleibenden erregten Residuen auch dann, wenn sie die gegebenen assoziativen Zusammenhänge durchbrechen und umformen.

Vollständig ist die Arbeit des vorbewußten Denkens durch diese Beziehung auf die Erwartungsspannung noch nicht erklärt. Gerade das, was diese Aufmerksamkeitsspannung als Erwartung charakterisiert, fehlt den Bewußtseinszuständen, in denen sich die Produkte jener Arbeit bemerkbar machen. Ungesucht und unerwartet treten sie vielmehr, wie wir sahen, im Ober- oder Unterbewußtsein auf, als Einfälle, die uns vielfach selbst überraschen. Aber die Analogie versagt doch nur scheinbar, auch im entscheidenden Punkt. Tritt eine Lösung, die wir unter dem Druck der Abspannung vergeblich suchten, bei wiedergewonnener Arbeitskraft wie von selbst ein, so spüren wir die Spannung der Aufmerksamkeit, die von den sich herstellenden Verknüpfungen in der Tiefe des unbewußten Geschehens zeugt. Und diese Formen des vorbewußten Denkens sind mit denen, wo die Bilder und Formulierungen völlig ungesucht auftreten, durch mannigfache Zwischenstufen verknüpft. Die Fälle durchaus unerwarteten Auftretens der Produkte vorbewußter Arbeit im Ober- und Unterbewußtsein werden dadurch zu Ausnahmen, welche die Regel bestätigen. Wir müssen nur annehmen - und ich sehe nichts, was einer solchen Annahme widerstreitet -, daß diese Verknüpfungen sich unter Umständen vollzogen haben, bei denen die entsprechende Spannung von stärkeren, anders gerichteten Spanungen nicht getrennt wurde, so daß durch jene vorwiegenden Bedingungen der Reproduktion Hemmungen eintreten, die das Auftauchen der vollzogenen Assoziationen auch nur im Unterbewußtsein hinderten. Sind diese Hemmungen beseitigt, ist unsere Aufmerksamkeit dem entsprechenden Gebiet von Reproduktionen zugewandt, dann treten die Assoziationen in der Weise von formulierten und intuitiven Urteilen fertiggebildet, wie ATHENE aus dem Haupt des ZEUS, überraschend zutage. Wenn irgendwo auf dem Gebiet des Denkens. so wäre hierbei Anlaß von "unbewußten Schlüssen" zu reden. Aber auch hier hieße dies nur, die entwickeltste Leistung des formulierten, d. h. in den Formen der logischen Normen sich vollziehenden, Denkens ungehörig auf Vorgänge übertragen, denen die Grundlage des Schließens, das formulierte Urteilen, fehlt. Denn dieses bleibt an den prädikativen Verlauf des Bewußtseins gebunden.

Der Bereich des vorbewußten Denkens weist jedoch noch ein zweites Gebiet auf. Es kommt nicht ausschließlich als schöpferisches, also als Werkzeug für den Gewinn neuer Einsichten in Betracht. Der Einfluß der Gewohnheit macht sich vielmehr für den Gedankenverlauf in noch stärkerem Maße geltend, als die Erörterung über das unvollständig formulierte Denken erkennen ließ. So wenig fürs Erste das vollständige Denken nach Früherem die Regel des formulierten gedanklichen Geschehens bildet, so sind doch im wissenschaftlichen Denkgebraucht die Fälle, in denen es für die Begründung und Mitteilung wirklich wird, sicher vorhanden. Es sei, einem solchen Fall entsprechend, ein Urteil als Schlußsatz aus induktiv oder ursprünglich allgemeinen Prämissen, der uns anfänglich neu war. Wir nehmen ferner an, daß ein Anlaß gegeben ist, den Schlußvorgang, der ihn gewinnen ließ, wiederholt zu bilden. Die Behauptung des Schlußsatzes werde endlich wiederholt auch dann von uns gebraucht, nachdem alle Zweifel an der Gültigkeit der Prämissen und der Strenge der Deduktion geschwunden sind. Der Erfolg einer solchen Gewöhnung kann nur sein, daß vorerst an die Stelle des vollständig formulierten Denkens ein mehr oder weniger unvollständig formuliertes tritt. Weiterhin aber liegt kein Antrieb mehr vor, daß auch nur die formulierenden Wortvorstellungen bewußt würden. Lediglich der Schlußsatz selbst bedarf noch des Bewußtseins. Aber der Zusammenhang zwischen den Prämissen und dem Schlußsatz, psychologische genommen also die assoziative Verflechtung der gegenständlichen Inhalte der Prämissen und des Schlußsatzes, wirddurch diese Gewohnheitswirkungen nicht aufgehoben. Es kommt vielmehr lediglich dazu, daß die ursprünglich vorgestellten Bestände der Prämissen, die sachlichen und sprachlichen, unbewußt erregt bleiben, bis sie etwa unter Umständen zuletzt ganz ausfallen. In jenen Fällen aber haben wir gleichfalls ein vorbewußtes Denken. Daß dieselben Bedingungen für die assoziativen Reproduktionen des bloß intuitiven Denkens wirksam werden können, wird keiner Belege bedürfen. Wir dürfen somit sagen: es gibt ebensowohl ein vorbewußtes  Nach denken wie ein vorbewußtes  schöpferisches  Denken. Die Scheidung dieser beiden Arten des formulierten und intuitiven Denkens findet also auch im vorbewußten ihr Seitenstück.

Damit aber erlangen wir das Recht zu einer weiteren Konsequenz. Die Tatsachen, die zur Annahme eines vorbewußten Denkens nötigen, waren, wie sich gehört, dem uns eigenen seelischen, d. h. dem geistigen Leben entnommen, das uns als bewußtes allein unmittelbar gegeben werden kann. Jedoch weder die reproduktiven Vorgänge, noch die Arten der Aufmerksamkeitsspannung, in denen das vorbewußte Denken besteht, sind auf das menschliche Seelenleben beschränkt. Sie erstrecken sich vielmehr, wie das hypologische Denken, in primitiveren Formen durch das Reich der beseelten Organismen - so weit als wir Grund finden, diesen nach Maßgabe ihrer reagierenden Bewegungen die Vorgänge der assoziativen Reproduktion und der Erwartungsspannung zuzuschreiben. Wir kommen damit entwicklungsgeschichtlich zu einer zweiten Wurzel des uns eigenen Denkens, die nicht weniger tief hinunterreicht, als die Wurzel des uns eigenen hypologischen. Wir können, indem wir das Wort  hypologisch  in einem weiteren Sinne nehmen, auch sagen: das uns eigene hypologische Denken hat zwei Vorstufen, es kann als bewußtes ein hypologisches intuitives, als vorbewußtes ein hypologisches im engeren Sinne sein.

Mit dieser Annahme über das vorbewußte Denken haben wir eine letzte Erweiterung des Denkens vollzogen. Die hieraus entspringende Aufgabe, die Gattung zu allen diesen verschiedenen Arten des Denkens zu formulieren, ist nicht ganz leicht. Die Schwierigkeit besteht nicht lediglich darin, daß das intuitive Denken als solches der Formulierung widerstrebt. Sie hat vielmehr auch darin ihren Grund, daß wir das ansich gleichfalls unformulierbare vorbewußte Denken hineinziehen müssen. Beide Bedenken lassen sich indessen berücksichtigen, wenn wir sagen, das Denken überhaupt ist die durch Aufmerksamkeit geleitete Reproduktion, deren Ergebnisse sich logisch als ein Vergleichen oder Unterscheiden bestimmen lassen. Die apperzeptive Reproduktion, die Reproduktion durch Verschmelzung, geht auf die Präsente der Wahrnehmung, die assoziative auf deren Ergänzung: auf die Repräsente der Erinnerung, Einbildung und Abstraktion, sowie auf die  Repräsentabilien.  Als solche lassen sich die unbewußt bleibenden Erregungen der Gedächtnisresiduen bezeichnen, sofern sie als unerregte oder Gedächtnisresiduen in engerer Bedeutung mittelbare, als erreget unmittelbare Dispositionen zu möglichen Vorstellungsinhalten sind. Die Aufmerksamkeit, die wir durch den ganzen Verlauf der Analyse nicht als einen Willensvorgang, sondern als reproduktive Energie vorausgesetzt haben - die hier vertretene Reproduktionspsychologie braucht nicht, wie ihre Vorstufe, die assoziative, vor der Aufmerksamkeit Halt zu machen -, ist teils Aufmerksamkeit im engeren Sinne, bei der das Zentrum der Reproduktion einen Bestandteil des Bewußtseins bildet, teils Erwartungsspannung in allen ihren Abstufungen, bei der jenes Zentrum dem weiteren Gebiet des unbewußt Erregten zugehört.

Versuchen wir nach dem allen, die Ergebnisse unserer psychologischen Analyse zusammenzufassen, so können wir das vorerst in der Reihenfolge tun, die der unerläßliche Ausgangspunkt einer solchen Analyse von den Tatsachen der Selbstwahrnehmung notwendig macht. Wir kommen dann zu folgendem Schema der Einteilung:

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Aber wir können auch versuchen, die Arten des Denkens in entwicklungsgeschichtlicher, synthetischer Darstellung stammbaumförmig zu gliedern; natürlich mit all den Vorbehalten, die bei einem solchen Aufbau von hypothetischer, statt von tatsächlicher Grundlage aus geboten sind. Dann können wir den ersten Teil des Schema etwa so schreiben:

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Die Ergänzung dieses Schemas ist dem ihm voranstehenden ohne weiteres zu entnehmen. Blicken wir zum Schluß auf die historisch gegebenen Anfangsrichtungen der begrifflichen Bestimmungen des Denkens zurück, so kann es scheinen, daß wir weit von ihnen abgelenkt worden sind. Man kann so sagen. Aber wir dürften entgegenhalten: nicht mehr, als die veränderten Gesichtspunkte fordern. Bei unbefangener Schätzung lassen überdies die Unterschiede, welche bestehen, eine weitgehende sachliche Anknüpfung zu. In folgendem Sinne.

Erhalten ist der grundlegende Gegensatz gegen die sinnliche Wahrnehmung. Denn auch, wenn der sachliche Inhalt des Denkens durch Gegenstände gegenwärtiger Wahrnehmung gegeben ist, führt im intuitiven und im vorbewußten Denken die Aufmerksamkeit, im formulierten Denken überdies die prädikative Gliederung dieses Inhalts, über das Gebiet der bloßen Wahrnehmung hinaus.

Erhalten ist auch die Scheidung eines intuitiven und diskursiven Denkens, obgleich die zweite dieser Bezeichnungen durch die des formulierten Denkens ersetzt worden ist. Jene ältere Bezeichnung sollte lediglich das vollständig formulierte Denken, das allein Berücksichtigung gefunden hatte, charakterisieren, sofern ihm ein Durchlaufen des Mannigfaltigen eigen sei. Aber die Zeitbeziehung der Sukzession ist kein spezifisches Moment des formulierten Denkens. Sie kommt, wenn auch in den schöpferischen Formen des intuitiven sowie den Bewußtseinsergebnissen des vorbewußten Denkens vielfach verkürzt, dem Denken überhaupt zu. Denn alle reproduktiven Vorgänge verlaufen in der Zeit. Die Annahme freilich, daß das intuitive Denken eine ihm eigene, dem formulierten Denken überlegene Gesetzmäßigkeit besitze, mußte aufgegeben werden. Es unterscheidet sich vom formulierten nach dem Vorstehenden nur durch den Ausfall der diesem eigenen prädikativen, auf einer sprachlichen Fassung beruhenden Beziehungen. Die mannigfach formulierten Gesetze, die als der bloß hyperlogisch gefaßten und mit dem schöpferisch vorbewußten Denken vermischten Intuition zukommend angesehen worden sind, lassen sich als irrige, oder als irrig gedeutete Formulierungen logischer Normen dartun.

Auch für das vorbewußte Denken fehlt in der Überlieferung nicht jede Analogie. Ein Keim zu seiner Bestimmung steckt, wie oben anzudeuten war, in manchen der überlieferten Auslassungen über das ekstatische intuitive Denken. Ein zweiter läßt sich an einer versteckten Stelle der logischen Überlieferung finden. Ein langsam festgewordener logischer Sprachgebrauch bezeichnet als "enthymematisches" diejenige Form des deduktiv schließenden Denkens, bei der eine der beiden Prämissen des Syllogismus für das formulierte Denken, oder gar für das Bewußtsein des Schließenden ausfällt. Im ersten dieser beiden Fälle, die nicht unterschieden zu werden pflegen, stehen wir vor einer der besprochenen Mischformen zwischen dem formulierten und intuitiven Denken; im zweiten haben wir eine Mischform zwischen dem vorbewußten und dem formulierten Denken. In der Anerkennung dieses enthymematischen Denkens liegt eine der gelegentlichen Rücksichtnahmen der überlieferten Logik auf den tatsächlichen Verlauf des Denkens, das sie in den Geltungsbedingungen des formulierten normiert, ein Sprung also in das Gebiet der psychologischen Analyse. Wie es zu geschehen pflegt, ist die Eigenart des nebenbei berührten Gebietes damit nicht zu ihrem Recht gekommen. Wir haben oben gesehen, daß auch  beide  Prämissen lediglich unbewußt erregt sein können. Damit ordnet sich das oben so bezeichnete vorbewußte Nachdenken als ein neues Glied in das enthymematische Denken der Überlieferung ein. Für den Verlauf des vorbewußten schöpferischen Denkens bietet die landläufige Bestimmung des enthymematischen freilich keinen Ansatzpunkt.

Auszuschließen waren dagegen die Bestimmungen der Spontaneität und der Synthesis, die ebenso wie die Bestimmung der Sinnlichkeit als Rezeptivität in der metaphysischen Deutung der funktionellen Einheit des Selbstbewußtseins als einer substantialen ihre Wurzeln haben. Die seelischen Lebensvorgänge sind wie die physischen durchweg reagierende, nicht teils aktive, teils passive.

Ausfallen mußte ebenso der Anspruch auf Allgemeingültigkeit, der dem "Wissen" im Platonischen und Aristotelischen Sinn eigen ist. Über das Wesen der Allgemeingültigkeit, und damit der Wahrheit hat die Logik zu handeln. Ich habe die in der ersten Auflage der hier angefügten Ausführungen unterdrückt, weil sie aus dem Rahmen der psychologischen Analyse zu weit herausfallen. Es sei deshalb nur hervorgehoben, daß die Allgemeingültigkeit im logischen Sinne, d. h. die Gewißheit des Gegenstandes und die prädikative Denknotwendigkeit der Formulierung, lediglich dem formulierten Denken zukommt. Sie zerfällt entsprechend den Graden der Gewißheit in die beiden Stufen der assertorischen [als gültig behaupteten - wp] und apodiktischen [logisch zwingenden, demonstrierbaren - wp]. Dem intuitiven Denken fehlt mit der Formulierung die prädikative Denknotwendigkeit; für sein Reich bleibt lediglich die Komponente der (unmittelbaren oder mittelbaren) Gewißheit übrig. Auf das vorbewußte Denken sind diese normierenden Kriterien überhaupt nicht übertragbar; sie gelten nur für seine intuitiven oder formulierten Bewußtseinsergebnisse. Freilich kann man das Wissen im Sinne eines üblich gebliebenen Sprachgebrauchs auf das allgemeingültige Urteilen beschränken. Aber als glücklich kann diese Namengebung nicht bezeichnet werden. Wer sie beibehält, verharrt in einer Auffassung, die in der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens im Prinzip seit HUME, von der Logik seit JOHN STUART MILL aufgegeben ist. Die abendländische Logik hat bis um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts unter dem bann der Aristotelischen Begriffsphilosophie keinen Weg gefunden, das induktive, kausale Denken begrifflich zu bewältigen und in der rechten Weise zu werten. Die Erkenntnis, daß alles Wissen von Tatsachen auf Hypothesenbildung beruth, daß alle nicht rein assertorischen Aussagen über Tatsachen demnach lediglich eine problematische Geltung beanspruchen dürfen, ließ sich erst gewinnen, nachdem seit HUME und KANT der empirisch synthetische Charakter aller speziellen Kausalurteile erkannt war. Das weite Reich des Wahrscheinlichen, in dem wir die Ungewißheit formulieren, die assertorischen Tatsachen der Erfahrung durch induktive, hypothetische Verallgemeinerungen und Ergänzungen zu einem Werkzeug für das Voraussagen gestalten, auch das  savoir  [Wissen - wp] von Tatsachen zu einem  prévoir  [Vorhersehen - wp] umformen, greift tief in das Reich der Wahrheit hinein.

Dazu kommt, daß auch für das enge Gebiet des Apodiktischen [unumstößlich Gewissen - wp], der Aussagen über die Bedingungen unseres Denkens in der Logik und Mathematik, die alten rationalistischen Deutungen nicht mehr aufrechterhalten werden können, wenn anders es eine Tatsache der Erfahrung ist, daß und wie wir denken, und wir weiterhin anzunehmen genötigt sind, daß auch unser Denken auf einer Entwicklung aus primitiveren Arten der Reproduktion beruth.

Damit fällt auch der metaphysisch-kosmologische Gedankengang, der ein Wissen vom göttlichen Denken konstruiert. Alle Aussagen über dieses "unendliche", absolute schöpferische Vordenken, das mit einem "unendlichen" absoluten schöpferischen Wollen ineinsfällt, erweisen sich bei genauerer Analyse als bloße Negationen des uns eigenen "endlichen" Denkens. Es wäre ein ungeheuerliches Unterfangen, eine Psychologie und eine Logik des göttlichen Denkens entwerfen zu wollen. Die Argumente für den direkten Beweis dieser Abweisung eines positiv bestimmten unenendlichen Denkens sind der Transzendenz des Absoluten für unser endliches Erkennen zu entnehmen. Die Materialien zu einem indirekten Beweis liefert die Kritik der metaphysischen Versuche, das Wesen Gottes zu bestimmen, die bezeichnenderweise durchweg auf deduktiven Wegen erfolgt sind, in der aristotelisch-scholastischen Philosophie, wie die genauere Prüfung zeigt, nicht weniger, als im geometrisch rationalen Gedankengang SPINOZAs und den dialektisch rationalen Erörterungen der nachkantischen Metaphysik, bei FICHTE, SCHELLING und HEGEL. Die anthropopathischen Bilderkonstruktionen, durch die das religiöse Bewußtsein seine gedanklich berechtigten Postulate hypothetisch zu ergänzen liebt, geben keine Wissenschaft.

Das gültige Erkennen, das in den älteren Bestimmungen des Denkens mit diesem ineinsgesetzt worden ist, tritt hier in prinzipieller Scheidung vom Denken auf. Eine solche ist durch KANTs Kritizismus angebahnt. Bei KANT geht das reine Denken in der ihm zugeschriebenen intellektuellen Spontaneität auf die Dinge überhaupt und ansich. KANT konstruiert von ihm aus, indem er sich auf den kategorischen Imperativ des sittlichen Bewußtseins beruft, die metaphysischen Voraussetzungen über den  mundus intelligibilis.  Das Erkennen ist für KANT dagegen das auf das phänomenale Material der rezeptiven Sinnlichkeit bezogene Denken. Diese Unterscheidung ist im Vorstehenden aufgegeben. Das Erkennen ist vielmehr als der Inbegriff des Vorstellens genommen, dessen Gegenstände als wirklich vorausgesetzt werden. Mit dieser Wirklichkeit ist demnach nicht die Wirklichkeit gemeint, die jedem Vorstellungsinhalt als solchem zukommt, nicht also das  esse  im Sinne des  percipi.  Es handelt sich in ihm vielmehr um die Wirklichkeit, die den Gegenständen unabhängig von ihrem Vorgestelltwerden zugeschrieben wird: sowohl um die unmittelbar gegebene Wirklichkeit dessen, was uns die sinnliche Wahrnehmung als Außenwelt, die Selbstwahrnehmung als Innenwelt darbietet, als um die Wirklichkeit auf beiden Gebieten, die, logisch gesprochen, aus dem unmittelbar Gegebenen der Wahrnehmung erschlossen wird. Das Erkennen schließt demnach das Denken ein. Das Denken aber reicht insofern weiter als das Erkennen, als es auch Gegenständen zugewandt sein kann, denen keine Wirklichkeit unabhängig von ihrem Vorgestelltwerden zuerkannt wird. Es führt in seinen Grenzbestimmungen überdies zu Postulaten über das Seiende, das der erkennbaren Wirklichkeit zugrunde liegt und diese Wirklichkeit wirkt. Denn dieses Seiende kann nicht selbst wiederum als Gegenstand möglicher Erkenntnis angenommen werden, ist also für die Erkenntnis transzendent. Das Denken ist daher hier nicht das allgemeingültige Erkennen, sondern das Erkennen ist ein Denken über die Gegenstände, die als von ihrem Vorgestelltwerden unabhängig bestehend vorausgesetzt werden. Den Sinn und die objektive Geltung dieser Voraussetzung hat die Erkenntnistheorie zu bestimmen. Damit stehen wir demnach vor Fragen, die nicht Probleme der Psychologie sind, sondern von dieser ebenso vorausgesetzt werden, wie von jeder Wissenschaft von Tatsachen. Die Umrisse einer psychologischen Bestimmung des Denkens, als einer Art von reproduktiven Vorgängen, die das Vorstehende enthält, sind von den Voraussetzungen der viel gescholtenen Assoziationspsychologie aus entworfen worden. Aber der Gedankengang unserer Analyse unterscheidet sich von dem der überlieferten Assoziationspsychologie in zwei wesentlichen Punkten. Fürs erste sind die Annahmen über die Arten der Reproduktion, die hier benutzt worden sind, durch eine Analyse des Wahrnehmungsbestandes und seiner Bedingungen gewonnen, die der Assoziationspsychologie bisher fremd gewesen ist. So wurde es möglich, das sperrige Problem der Aufmerksamkeit in den Bereich der reproduktiven Vorgänge einzuordnen. Sodann sind, wie ich hoffe, die Grenzen zwischen der psychologischen Analyse und der logischen Normierung des Denkens nicht weniger berücksichtigt, als die Grenzen zwischen jener Analyse und der erkenntnistheoretischen Untersuchung. Die Erkenntnistheorie liefert eine Ergänzung der Psychologie, die diese von ihrem Boden aus und mit ihren Methoden so wenig erreichen kann, wie etwa die Physik, die Physiologie oder eine der Kulturwissenschaften. Für die logischen Normierungen aber bietet die Psychologie eine Reihe von Voraussetzungen, die von der Logik Anerkennung fordern, weil auch das logische Sollen eine Normierung des Wirklichen ist, von der Einsicht in den tatsächlichen Bestand des Wirklichen also nicht losgelöst werden darf. Die Assoziationspsychologie hat sich seit HUME vom Vorurteil der Grenzvermischung psychologischer, logischer und erkenntnistheoretischer Untersuchung nicht freimachen können. Sie hat gemeint, durch die Analyse des tatsächlichen Bestandes unseres Denkens auch die Bedingungen seiner Gültigkeit und die Voraussetzungen über den Sinn der Wirklichkeit begreifen zu können. Diesem Vorurteil war auf Schritt und Tritt zu begegnen.

Die  physiologischen  Annahmen, die eine Ergänzung der psychologischen Untersuchung bieten können, sind in diesen Umrissen nicht angedeutet worden. Es ist vorerst unratsam, sie mit der psychologischen Analyse zu verflechten. Noch immer kommt, auch in diesem Punkt, ein solches Bündnis zu früh. Die physiologischen Annahmen lagen so wenig auf dem Weg unserer Analyse, als die seelischen Vorgänge auf dem Weg einer rein physiologisch gerichteten Untersuchung der Lebensvorgänge zu finden sind, wenn der lückenlose Zusammenhang der Bewegung gewahrt bleiben soll, den die mechanische Konstruktion der Außenwelt fordert. Aber nicht bloß die Grundgedanken des hiermit angedeuteten psycho-physischen Parallelismus sind unausgesprochen mitleidend gewesen. Auch die psychophysiologischen und pathologischen Ergebnisse, auf die zu Anfang hingewiesen wurde, haben, wie ich hoffe, ohne daß ihnen Worte gegeben wurden, die erforderliche Rücksicht gefunden.

Rein psychologisch sollte die Untersuchung auch in einer letzten Hinsicht bleiben. Kein anderer Punkt der psychologischen Analyse außer dem allgemeinen Problem des durchgängigen gesetzmäßigen Zusammenhangs zwischen den seelischen und den mechanischen Lebensvorgängen treibt in dem Maße zu erkenntnistheoretischen Erörterungen, wie die Frage nach der Einheit des Seelenlebens, die sich im Denken darstellt. Diese Einheit ist hier entgegen den metaphysischen Annahmen nicht als eine substantiale, sondern als eine funktionale gedeutet worden. Das fordert die Auffassung des Baus und der Funktionen des cerebrospinalen Nervensystems, die im Lauf des letzten Jahrhunderts in ihren Anfängen errungen worden ist. Die Ausführung und Begründung dieser Deutung läßt sich jedoch in dem Rahmen, in dem diese Untersuchung gefaßt werden sollte, nicht geben, und es wäre ein Rückfall in die Methoden der früheren Psychologie gewesen, die Deutung des Einzelnen von Erwägungen abhängig zu machen, die zuletzt nur erkenntnistheoretisch gesichert werden können.
LITERATUR - Benno Erdmann, Umrisse zur Psychologie des Denkens, Tübingen 1908