ra-3ra-2tb-1L. PongratzF. MauthnerTh. ElsenhansTrendelenburgP. Schilder     
 
ARNOLD RUGE
(1881-1945)
Begriff und Problem der Persönlichkeit
[in Beziehung auf die kantische Morallehre]

"Das Subjektiv-Individuelle ist in allem das Irrationale; es bildet in sich selbst eine dem Erkennen verschlossene Welt, es ist der Gegensatz des Allgemeinen wie auch des Objektiven, es ist dasjenige, von dem aus alle Werte erst ihren spezifischen Sinn als Normen erhalten, es ist vom Standpunkt des Allgemeinen und des objektiv Gewordenen aus gesehen das zu Überwindende. Wir können nur Handlungen und Leistungen erkennen und werten, die aus der Subjektivität herausgetreten sind, nicht die subjektiven Gründe und Abgründe, aus denen sie kommen."

"Das Pathos, das den Begriff der Persönlichkeit begleitet, ein ethisches Pathos ist. Im Begriff selbst liegt die Wucht einer Wertung, durch die wir ein gesteigertes Maß sittlicher und menschlicher Qualitäten gleichsam fordern. Persönlichkeit ist ein Wort herber Tragik in Zeiten, in den denen es deren keine gibt, und ein Wort des Stolzes und des Triumpfes in Zeiten, in denen man auf sie hinweisen kann."

"Die in sich geschlossene Persönlichkeit in ihrem Gegensatz zu den allgemeinen und objektiven Formen ist das Thema der vornehmsten Dichtungsgattungen, des Epos und der Tragödie und das stille In-sich-selbst-sein des Individuums lebt in den erhabensten Formen der Lyrik."

"Die Wirkung der Persönlichkeit ist etwas nicht zu beschreibendes, sie hängt ab von der subjektiven Empfindbarkeit für das Persönliche, wie die Wirkung der Musik abhängt von ihrer Empfänglichkeit. Auch ist die Wirkung der Persönlichkeit ohne die Leistung. Die Wirkung steht in einem engen Zusammenhang mit einem Wert."

"Die Vernunft ist für sich etwas Eigentliches, sie ist für sich Zweck, sie ist der Grund für alles Geltende, sie ist Zweck ansich. Das Unvernünftige im Menschen ist das Tierische im Menschen, oder wie Kant sagt die Tierheit, das Vernünftige aber als Zweck ist das eigentlich Menschliche im Menschen oder wie Kant sagt die Menschheit im Menschen. Von der Begründung aus, daß das Vernünftige Zweck ist, nennt Kant dieses Vernünftige auch das Persönliche im Menschen."

"Eigentümlich ist Kants Persönlichkeitsbegriff, daß er ihn auf eindeutige, festumschriebene Prinzipien baut. Mag er auch vermöge dieser Prinzipien zu einer einseitigen Formulierung gekommen sein, so ist es zumindest eine konsequente Formulierung von der sich alle idealistische Schwärmerei über Persönlichkeit und Individualität verbergen muß. Man bedenke, daß Kant in einer Zeit schrankenloser Betonung der Individualität lebte, daß von allen Seiten Freiheit und Gleichheit ertönte."

Ein Problem, das in allen Formen und in allen Gegensätzlichkeiten das philosophische Denken bewegt hat, erfassen und begreifen, heißt entweder historisch suchend aus der Mannigfaltigkeit der Benennungen und Deutungen das Gemeinsame zu finden, was diesen Gegensätzlichkeiten zugrunde liegt, oder abe von  einer allgemeinen Deutung  ausgehend die einzelnen Formen von dieser aus verstehen. Der letztere Weg ist der bei weitem einfachere und verspricht eher ein Resultat als der erstere, denn man hat, nachdem man einmal den Begriff definiert, das Problem eng umschrieben hat, ein Prinzip in der Hand, nach dem man all das von sich schieben kann, was nur scheinbar, der äußeren Benennung nach mit dem Sinn verwandt ist. Der letztere Weg hat aber auch den Vorteil,  in aller Kürze  zu etwas Systematischem zu führen und zugleich einen klaren Ausblick in die geschichtliche Entwicklung des Problems zu geben. Es soll deshalb an dieser Stelle der Begriff der Persönlichkeit nach allgemeinen Merkmalen festgestellt werden, um hernach zu zeigen, wie dieser Begriff seine besondere Bedeutung in einem System bekommt, nämlich im System der Moral bei KANT. Das Problem der Persönlichkeit, die Frage nach dem Sinn und damit nach dem Recht des Einzelnen in der Allgemeinheit, ist eine Frage, die in der Gegenwart auf allen Gebieten der Kultur auftaucht und oft mit einem überlauten Ton beantwortet wird. Das Wort  Persönlichkeit  ist ein schweres Wort, das nicht dazu degradiert werden sollte, Gedankenlosigkeit mit Gefühlsduselei zu bemänteln. Es gehört seinem Sinn nach in die reinsten Formen menschlichen Wollens und menschlichen Könnens. -

KANT ließ in seiner Erkenntnistheorie die Welt der Erkenntnisse, die Welt allgemeingültiger Erfahrung in den synthetischen Formen des Denkens entstehen, in den Kategorien eines Bewußtseins überhaupt, durch welche das Mannigfaltige der Empfindung eine für alle Vernunft- und Verstandeswesen gültige Prägung erhält. Mit dieser Begründung der Erkenntnis zog KANT um die Erfahrungswelt eine enge, in ihren Hauptpunkten verfolgbare Grenze: jenseits dieser Grenze, über alle mögliche Erfahrung hinaus, liegt der uferlose Ozean der Metaphysik, die Sphäre der leeren Begriffe, und unterhalb aller Erfahrung liegt die ebenso grenzenlose Weite des Irrationalen, die Welt der Empfindungen, die Welt des Unbestimmten und Unbestimmbaren. Jenes ist die Welt des Dings-ansich, bis an deren Grenze die transzendentale Analytik und die transzendentale Dialektik der "Kritik der reinen Vernunft" führte, und dieses ist die Welt des Dings-ansich, von dem die transzendentale Ästhetik anhebt, um in die transzendentale Logik überzuleiten. Erst, was ein besonderes Interesse der Vernunft aus der Welt der Empfindungen herausholt, wird Inhalt für die Formen, die Gesetze der Erfahrung. Genau analog zu diesen Resultaten und methodischen Wegen seiner Erkenntnistheorie gestaltet KANT die Welt möglicher allgemeiner Wollungen und die Welt möglicher allgemeiner ästhetischer Wertungen. In allen drei Kritiken der Nachweis der Unabhängigkeit der geltenden Gesetze von der Zufälligkeit des Empirischen, die Lehre von der zeitlosen Gesetzmäßigkeit in der Zeitlichkeit des vernünftigen Wesens. -

Von dieser Abstraktion aus lassen sich all die vielen Wissenschaftsbegriffe verstehen und prüfen; die Besonderheiten ihrer Interessen und damit die Eigenheit ihrer Methoden spezifizieren den rein formalen Begriff der Wissenschaft nach unendlich vielen Seiten hin. Die Untersuchungen über die Gründe dieser Spezifikation und die Art des dadurch bedingten Geltungsanspruchs für die erzielten Resultate schieben die  metaphysische  Spekulation bei Weitem in den Hintergrund und zwingen mit dem Empirischen und dem Empirisch-Gegensätzlichen fertig zu werden. Das Interesse am Empirischen einerseits und den letzthin geltenden Gesetzen andererseits greift sogar hinaus über die Formung des Empirischen in der  Wissenschaft es heftet sich an andere Dokumentationen gestaltender Wertungen, an die Kulturerscheinungen. Auf dem Gebiet der Wissenschaft die Mannigfaltigkeit der auf Geltung Anspruch erhebenden  Urteile in denen die allgemeinsten Formen des Denkens auf den besonderen Inhalt bezogen werden, hier der Streit über die methodische Richtigkeit in der Heranziehung des Inhaltes an die wissenschaftliche Form. Auf der anderen Seite die  Kulturerscheinungen,  die in ihrer Festigkeit dasind, gelten und Anerkennung erzwingen, aber gestellt sind unter den Wechsel der Zeit; hier die Aufforderung an die Spekulation, die Gründe der Zeitlichkeit ihres Geltens einerseits und andererseits das Zeitlose ihrer Geltung zu erforschen. Auf dem Gebiet der Wissenschaft der immerwährende Kampf der nach Absolutheit strebenden Urteile und hier der schwerfällige Kampf des Kommens und Gehens des Festgewordenen, des Historischen. Dort die Dokumentation der rationalen Form, der zeitlosen, im Denken begründeten Gesetzmäßigkeit am Irrationalen, und hier die  objektive zeitlich geltende Gesetzmäßigkeit des Feststehenden. Zwischen beiden Formen vielleicht die Entwicklung oder Entfaltung als Kategorie der Geschichte oder des Sich-selbst-Setzens der Vernunft, beide Formen in ihrer Verschiedenheit unverkennbar. Es sei ohne den metaphysischen Gedanken der Entwicklung aufzugreifen, nur auf die Verschiedenartigkeit dieser beiden Formen und ihrer Geltung hingedeutet, nur der Gegensatz klar gestellt zwischen den in allen auf Allgemeingültigkeit Anspruch erhebenden Urteilen und Beurteilungen geltenden Gründen der Beziehung des Inhaltes auf die letzten zeitlos geltenden Normen des Guten, Wahren und Schönen und den  zeitlich  geltenden objektiven Formen, die sich im Recht, in der Sitte, in der gesellschaftlichen Form, in der religiösen Handlung, in allen Tatsächlichkeiten dokumentieren, durch welche die  äußere  Verbindlichkeit zwischen Menschen als Vernunftwesen geschaffen und allgemein gestaltet wird. Auf den Kontrast dieser Gesetzmäßigkeiten und auf den Kontrast der durch sie gestalteten Wirklichkeiten kommt es an, wenn man ein Problem verstehen will, das sich mitten dazwischen erhebt.

Vielleicht hat die Verschiedenartigkeit der gesetzmäßigen Geltung der diese beiden Gebiete konstituierenden Formen in der Vernunft selbst ihren Grund, vielleicht nur in der Beziehung der Vernunft auf die Unvernunft - auf alle Fälle  empfunden  wird dieser Gegensatz nur durch das wertende Wesen, das entweder die Werte setzt oder sie nur in einem positiven oder negativen Sinn anerkennt. Eben durch das Setzen und Anerkennen von geltenden Werten, von Gesetzen, denen gehorcht werden muß oder soll, kommt das vernünftige Wesen über die unübersehbare Mannigfaltigkeit der sinnlichen Eindrücke hinweg zu dem, was es zu müssen oder zu sollen glaubt. Eben aus dieser Setzung und Beziehung von geltenden Gesetzen auf die empirische Mannigfaltigkeit erheben sich die Probleme der Ethik und die Formen eines möglichen Fortschrittes zu einem Endziel, indem der Anspruch erhoben wird auf etwas  Gültiges  die Fülle des Lebensinhaltes zu beziehen. Hier im wertenden Wesen ist der Widerstreit der letzthin geltenden Normen mit dem objektiv Gewordenen einerseits und dieser beiden Gesetzmäßigkeiten mit der eigenen empirischen Subjektivität eine empirische Tatsache, die aber wiederum nur begreiflich wird durch die ausdrückliche Einschaltung eines dritten Moments, den Begriff der  Individualität oder gesser gesagt, der  Subjektivität Das Subjektiv-Individuelle ist in allem das Irrationale; es bildet in sich selbst eine dem Erkennen verschlossene Welt, es ist der Gegensatz des Allgemeinen wie auch des Objektiven, es ist dasjenige, von dem aus alle Werte erst ihren spezifischen Sinn als Normen erhalten, es ist vom Standpunkt des Allgemeinen und des objektiv Gewordenen aus gesehen das zu Überwindende. Wir können nur Handlungen und Leistungen erkennen und werten, die aus der Subjektivität herausgetreten sind, nicht die subjektiven Gründe und Abgründe, aus denen sie kommen. Erst aus der Gleichartigkeit der Handlungen können wir auf subjektive Grundsätze schließen und erst aus der Totalität der Lebensäußerungen auf Grundsätze,  die sich gleichblieben.  Erst an der Linie, wo das wechselreiche Meer der individuellen Stimmungen, Empfindungen, Erlebnisse an feste Formen, an Überindividuelles grenzt, können wir versuchen - aber auch nur versuchen - einen Ausblick über dieses weite Meer der Zufälligkeiten zu bekommen. Wie weit die Karte reicht, die wir nach allgemeinen Zeichen für dieses Meer vom festen Land aus entwerfen, wie weit es überhaupt möglich ist, von uns aus in eine andere Subjektivität zu kommen - das ist die große Frage bei allen Versuchen, den Lebensinhalt auf eine Formel zu bringen. Können wir von subjektiver Gesetzmäßigkeit reden oder widerstreitet nicht geradezu der Begriff der Subjektivität dem der Gesetzmäßigkeit? Können wir subjektive, objektive, und absolute Gesetzmäßigkeit in einen Zusammenhang bringen? Das ist die Kardinalfrage für das große Problem der Persönlichkeit.

Es bedarf nach diesen allgemeinen Andeutungen kaum mehr der ausdrücklichen Bemerkung, daß das Problem der Persönlichkeit keineswegs ein ganz spezifisch ethisches ist. Seine Formulierung und seine Lösung betrifft alle Sondergebiete der Philosophie. Es braucht nur mit einem Wort auf die Geschichte der Philosophie und auf die Geschichte der kirchlichen Dogmen hingewiesen zu werden, um die Verästelung des  metaphysischen  Problems, der Frage nach dem Substantiellen im Subjektiven zu beleuchten. Von der platonischen Seelenlehre bis zur Formulierung des BOETHIUS "persona est naturae rationalis individua substantia" [Die Person ist eine natürliche vernünftige und unteilbare Substanz. - wp] ist eine lange Geschichte, in welcher der Schluß von der Identität des Bewußtseins in der zeitlichen Existenz des Individuums auf einen substantiellen Träger dieses Bewußtseins die Basis der mannigfachsten Problemstellungen wurde. Und es gehört zur Geschichte des eigentlich  metaphysischen  Problems, daß über dasselbe ein ganzes Konzil zur Zeit JULIANs des Abtrünnigen getagt hat, wo über das Wesen der göttlichen Persönlichkeit, das Verhältnis von  ousia [Geistwesen - wp] und  hypostasis [nach Kant ein Gedanke, dem die Qualität eines wirklichen Gegenstandes zugeschrieben wird. - wp] entschieden werden sollte. Es ist eben eine Besonderheit der kantischen Philosophie, daß sie diesen Schluß, die ganze Basis zu den metaphysischen Erörterungen, aufhebt und ihn als Paralogismus [Fehlschluß - wp] aufweist. Die Erörterungen über den Paralogismus der Personalität drängen das Problem vor die Tür der theoretischen Philosophie und reduzieren das Problem der Persönlichkeit auf eine ethische Bedeutung. Es sei, um die Ausführungen über die vielfache Gestaltung des Persönlichkeitsproblems abzukürzen auf einen sehr interessanten allerdings mehr skizzenhaften Aufsatz von ADOLF TRENDELENBURG in einem der letzten Bände der Kant-Studien verwiesen (1); TRENDELENBURG geht in dieser Skizee von der Bedeutung des Wortes  persona  in der römischen Kunst aus und zeigt, wie sich der Begriff der "vorgehängten Maske" allmählich nach allen möglichen Richtungen hin variierte und ethischen, metaphysischen, juristischen, psychologischen Deutungen Platz gab. Die kantische Scheidung der Probleme, die sich an den Begriff "Persönlichkeit" heften, ist in der nachkantischen zum Teil wieder fallen gelassen worden, die metaphysischen und ethischen Bestimmungen gehen ineinander über. (2) Aber auch ohne zu übersehen, daß das Problem der Persönlichkeit nach vielen Seiten hin zeigt, wird man zugestehen müssen, daß das  Pathos,  das diesen Begriff begleitet, ein  ethisches Pathos  ist. Im Begriff selbst liegt die Wucht einer Wertung, durch die wir ein gesteigertes Maß sittlicher und menschlicher Qualitäten gleichsam  fordern.  "Persönlichkeit" ist ein Wort herber Tragik in Zeiten, in den denen es deren keine gibt, und ein Wort des Stolzes und des Triumpfes in Zeiten, in denen man auf sie hinweisen kann. Die in sich geschlossene Persönlichkeit in ihrem Gegensatz zu den allgemeinen und objektiven Formen ist das Thema der vornehmsten Dichtungsgattungen, des Epos und der Tragödie und das stille In-sich-selbst-sein des Individuums lebt in den erhabensten Formen der Lyrik. In immer neuen Formen tritt der Widerstreit jener individuellen Welt mit der objektiven und der absoluten oder mit einer ebenso in sich geschlossenen anderen individuellen Welt zutage und in immer neuen Formen löst sich dieser Konflikt der Gegensätzlichkeiten. Obgleich nun aber die Ethik das Wesentliche dieser Gegensätzlichkeit zu begreifen hat, ohne eine Erinnerung an die theoretische Philosophie bleibt das Wort  Persönlichkeit  nur der Ausdruck für eine Potenz von Stimmungen und nicht faßbarer Wertungen. -

Die Welt des Erkennens gestaltet sich in den Formen des Beziehens, die selbst ihre Einheit und damit ihre gleichartige Bedeutung nur in der Totalität eines Bewußtseins überhaupt erhalten. Die Geltung der konstitutiven Formen des Erkennens ist überindividuell. Der Begriff der Persönlichkeit involviert die Gestaltung der Erlebnismannigfaltigkeit zu einer Totalität, die in Bezug auf die individuelle Lebensfülle auf einen letzten Grund der Einheit, sowie die Gestaltung eines Ganzen aus der Gegensätzlichkeit des Individuellen. Es ist durchaus richtig, was KARL KÖNIG sagt (3),
    "daß wir im Ernst von Persönlichkeit nur da reden, wo wir so ein Lebenszentrum in einem Menschen tätig fühlen, wo wir verspüren, hier ist einer, der sich nicht von jedem Erlebnis aus der Wagenspur seiner Entwicklung werfen läßt, wo wir vielmehr innewerden, daß eine zusammenfassende Kraft wirksam ist, daß sie den Menschen zu einem Selbstregenten von innen heraus macht."
Der Begriff der Persönlichkeit enthält also in sich den Begriff einer konstitutiven Synthese. Sehen wir das Wesen der Persönlichkeit - ganz abgesehen von ihrem Wert - in der Möglichkeit der Zusammenstimmung aller Erlebnisse mit einem letzten Prinzip der Einheit, auf den sich diese Erlebnisse beziehen, so stellen wir der Fülle konstitutiver Prinzipien  zur Hervorbringung einer Welt allgemeiner Erkenntnisse  oder einer Welt  objektiv geltender Gesetze  ein System  individueller Kategorien zur Gestaltung einer individuellen Welt gegenüber.  Damit ist die Frage nach dem Wesen der Persönlichkeit an einem prinzipiellen Punkt erfaßt, es ist die Frage nach der Deutungsmöglichkeit der Subjektivität nach dem allgemeinen Postulat der Einheit.

Neben dem Postulat der Einheit in der Formung eines Erlebniskomplexes erhebt sich als zweite wichtige Frage die nach dem Wesen des Einheitsgrundes oder sagen wir deutlicher nach der Sphäre, in welcher dieser Einheitspol gelegen ist. Wir müssen und dabei aber bewußt bleiben, daß sich der Begriff der Persönlichkeit nur mit dem Begriff des Individuums im eigentlichsten Sinn des Wortes verträgt, als der numerischen Einzelheit der vernünftigen Wesen, nicht mit dem Sinn, den wir heute in diesem Terminus "historisches Individuum" finden; das historische Individuum ist nur in einzelnen Fällen das eigentliche Individuum als Persönlichkeit, meistens eine Vereinigung von Individuen zu einem objektiven Ganzen, die Mehrheit von Individuen, soweit sie durch  objektive  Formen verbunden sind. Bei der Frage nach dem Wesen des Einheitsgrundes kommt es auf zweierlei an: erstens darauf, ob dieser Einheitspunkt ein subjektiver, objektiver oder absoluter ist und zweitens darauf, ob er bewußt oder unbewußt vom Individuum als gestaltendes Prinzip gesetzt wird. In der Tat, sieht man zunächst von der Entscheidung über den  Wert  der Persönlichkeit ab, wird man in diesen Momenten allen eine unübersehbare Fülle von Möglichkeiten sehen. Denn alle die sich daran knüpfenden Formen können bejaht werden. Die Kristallisation des ganzen Lebensinhaltes, um ein einziges subjektives Erlebnis, die Konzentrierung des ganzen Lebensgehaltes, der Handlungs- und Denkweisen um die immer neue Belebung eines einzigen großen Stimmungsmomentes, kann der Fülle des zu Erlebenden in hohem Maße einen Einheitspunkt und damit dem Gegensätzlichen einen festen Zusammenschluß geben, es zu einem Organischen konzentrieren. Ebenso kann ein objektives Moment das ganze Gebiet des zu Erlebenden eindeutig bestimmen: die Erfüllung der festgewordenen Sitte, die Ausführung eines Amtes, die Aufrechterhaltung einer Tradition, die Schaffung einer bestimmten Leistung kann der letzte Grund aller individuellen Handlungen sein. Und drittens - wie zahlreich sind die großen Persönlichkeiten der geschichtlichen Vergangenheit, die im Angesicht einer Idee, einer letzten absoluten Gültigkeit ihr Leben verbrauchten und vielleicht seinen Reichtum hingaben, um diesem letzten treu zu bleiben; ihr Leben war ein Martyrium um seiner Einheit willen. Und dann, was die Frage nach der Bewußtheit oder Unbewußtheit dieses Einheitsgrundes anbetrifft, so lassen sich für beide Formungen der Persönlichkeit auch nach dieser Seite hin Gründe der Möglichkeit und Beispiele aus der Wirklichkeit anführen. Jene die unbewußt ihr Leben innerhalb seiner zeitlichen Grenzen zu einem Ganzen lebten, sind wie ästhetische Formen anzuschauen, wie die schönen Formen der Natur, die nach einem ungewußten Ziel eine Harmonie von Farben und Formen darstellen; und jene die bewußt die Fülle ihres Daseins um dieses Prinzip der Gestaltung gruppieren, die können wir nur erkennen, wenn wir von etwas festem, von einer  Leistung  auf die subjektiven Grundsätze ihres Handelns schließen können. Die  Erkennbarkeit  des Wesens einer Persönlichkeit liegt aber nicht im Begriff der Persönlichkeit selbst, sondern ist eine Forderung, mit der wir von außen an sie herantreten; es mögen viele große Persönlichkeiten untergegangen sein, ohne daß sie dieses Mittel der Erkennbarkeit ihres Wesens gaben, ohne das sie mit sich eine objektive Leitung zu verbinden vermochten. Schaut man beispielsweise ein wenig über KANT hinaus zu SCHILLER, so findet man dort einen interessanten Versuch, vom Begriff der Leistung aus die Formen der Persönlichkeit zu scheiden. Für SCHILLER war der Mann der leistende, die Frau dagegen die sich selbst leistende und damit ungemein höhere Form der Persönlichkeit. Doch das nur im Vorübergehen. Neben dem Wesen und der Erkennbarkeit ist noch die  Wirkung  der Persönlichkeit zu nennen: sie ist etwas nicht zu beschreibendes, sie hängt ab von der subjektiven Empfindbarkeit für das Persönliche, wie die Wirkung der Musik abhängt von ihrer Empfänglichkeit. Auch ist die Wirkung der Persönlichkeit ohne die Leistung, die Wirkung steht in einem engen Zusammenhang mit einem Wert.

Über den Wert oder die mögliche Wertung der Persönlichkeit soll hier auch nur das Prinzipiellste gesagt werden. Der Wert haftet am Prinzip der Einheit einerseits und andererseits am Stadium der Ganzheit, das in der Gestaltung des Lebensinhaltes erreicht ist. Die letztere Form der Wertung wird man die ästhetische Wertung nennen dürfen. Die Wertung des Einheitsgrundes hängt ab vom Standpunkt der Wertung, der selbst im Subjektiven, Objektiven oder Absoluten gelegen sein kann. Es ließen sich die mannigfachsten Formen berechtigter Wertungen aufweisen, es ließen sich Einzelgebiete der Wissenschaft abgrenzen, wo dieser oder jener Wertgrundsatz wesentlich wird, es könnte namentlich auf die Geschichtswissenschaft eingegangen und untersucht werden, wie sie aus der Fülle der Individuen Persönlichkeiten auswählt, jedoch zwingt der Rahmen dieser Skizze, es bei diesen Hinweisen zu belassen. Wir wollen nach diesen prinzipiellen, den reinen Begriff der Persönlichkeit betreffenden Ausblicken das Allgemeine am Besonderen der kantischen Fassung wiederzufinden versuchen und zwar nur an dem, was KANT über die Persönlichkeit in seiner Ethik  lehrte;  das was er selbst als Persönlichkeit lebte, steht dabei nur im Hintergrund. -

Um zum Begriff der Persönlichkeit innerhalb der kantischen Ethik zu gelangen, muß man die ganzen Untersuchungen der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" und der "Kritik der praktischen Vernunft" bis zu dem Punkt durchdacht haben, wo die rein rationalen Erörterungen in die Umdeutung durch Wirklichkeitsmomente übergehen. Die Begründung des Apriorischen im sittlichen Urteil, die Deduktion der reinen praktischen Vernunft, die Feststellung der praktischen und der moralischen Freiheit als Form der Beziehung aller Handlungen auf die intelligible Welt sind erledigt und nun handelt es sich darum, die Resultate dieser Untersuchungen für das wirkliche Handeln fruchtbar zu machen. Der Begriff des vernünftigen und zugleich unvernünftigen Wesens erweitert sich zum Begriff des Menschen als Gattungswesen. Die Gattung der Menschen wird die Gattung vernunftbegabter Wesen, der einerseits das Absolutvernünftige oder das Heilige, andererseits das Untervernünftige gegenübersteht. Der Mensch hat Sinne, die ihm die Mannigfaltigkeit der Eindrücke und der Begehrungen verschaffen, er heißt deshalb ein sinnliches Wesen. Der Mensch hat aber auch zugleich Vernunft, er ist ein vernünftiges Wesen. Die Vernunft aber ist nicht nur ein Vorzug gegenüber den unvernünftigen Wesen, der den Menschen in den Stand setzt,  das  besser zu erreichen, was das unvernünftige Wesen durch Instinkt erlangt. Die Vernunft ist nicht nur ein Mittel für die Sinnlichkeit des Menschen, sondern die Vernunft ist für sich etwas Eigentliches, sie ist für sich Zweck, sie ist der Grund für alles Geltende, sie ist  Zweck ansich.  Das Unvernünftige im Menschen ist das Tierische im Menschen, oder wie KANT sagt die Tierheit, das Vernünftige aber als Zweck ist das eigentlich Menschliche im Menschen oder wie KANT sagt die  Menschheit  im Menschen. Von der Begründung aus, daß das Vernünftige Zweck ist, nennt KANT dieses Vernünftige auch das  Persönliche  im Menschen. KANT schloß sich in dieser Benennung einer Bedeutung an, die dem Wort der  Person  zugelegt wurde:  Person = Zweck ansich.  Der Mensch ist also Sinnlichkeit und Vernünftigkeit, Tierheit und Menschheit, Sinnlichkeit und Person, oder - wie KANT oft sagt - Sinnlichkeit und Persönlichkeit.  Man muß diese Wortbedeutungen kennen und sie in KANTs Terminologie zu unterscheiden wissen, wenn man seine Lehre von der Persönlichkeit verstehen will. Das Wort  Persönlichkeit  hat also hier noch gar kein Pathos und hat mit dem Begriff der Persönlichkeit als aufgebener Lebensform gar nichts zu tun. Im Gegenteil nach dieser Begriffsbestimmung ist selbst der abgefeimteste Bösewicht eine Persönlichkeit. Es ist verwunderlich, daß die einfache Wortbedeutung in fast allen Spezialarbeiten über KANTs Begriff der Persönlichkeit übersehen ist, selbst TRENDELENBURG ist hier vollkommen in die Irre gegangen (4). Auch der Begriff  Menschheit  hat bei KANT eine zweifache Bedeutung: einmal heißt er nichts anderes als das Spezifisch-Menschliche und das kommt jedem einzelnen Wesen der Gattung  Mensch  zu und dann heißt es das, was wir unter Menschheit heute verstehen. - Also der Mensch ist sinnlich und persönlich, das Persönliche ist ihm der Zweck in ihm und der Zweck überhaupt. Durch das Persönliche, Vernünftige, Menschliche nimmt der Mensch Teil an den höchsten und letzten Zwecken, am Reich der Zwecke. Achte in jedem einzelnen Menschen das Persönliche, Vernünftige, Menschliche, die Persönlichkeit, Vernünftigkeit, Menschheit! Handle so, daß Deine subjektiven Grundsätze (Maximen) zugleich Grundsätze aller vernünftigen, menschlichen, persönlichen Wesen sein müßten - das ist KANTs Sittengesetz. Durch diese Formulierung des Sittengesetzes, die den Grund sittlicher Handlungen in die Sphäre der Allgemeingültigkeit rückt, wird einerseits das gestaltende Einheitsmoment für die Verbindung möglichen Handelns in der Welt des einzelnen Menschen geschaffen, andererseits diese einzelne Welt mit der allgemeinen Welt vernünftiger Wesen verbunden. Dadurch wird das einzelne Vernunftwesen der Gesamtheit vernünftiger Wesen zwar untergeordnet, aber nicht so, daß es nur Untertan, nur Diener eines ihm aufgedrängten Gesetzes wird, sondern so, daß seine Unvernunft, die eine Seite seines Wesens, der anderen Seite eben seines Wesens untergeordnet wird, die nur Zweck, nicht Mittel zum Zweck sein kann. Handle so, daß das Wesentliche in Dir Deine Handlungen bestimmt, nicht das Unwesentliche. Das Sittengesetz ist gewissermaßen das Orientierungsmittel in der Welt der Tierheit, in der Mannigfaltigkeit des von mir Unabhängigen. Die ganze Gegensätzlichkeit dieses Zufälligen, die Triebe, die Neigungen, die Stimmungen sind das, was den Menschen abzieht vom eigentlichen Zweck, der zugleich Gesamtzweck ist.

Die Menschheit als Zweck im Gegensatz zur Tierheit ist aber nur die eine Grenze, durch die das Individuelle bestimmt wird. Eine andere Grenze liegt im Unvernünftigen selbst oder sagen wir gleich in den Schranken, welche dem einzelnen Menschen durch die Allgemeinheit des Unvernünftigen gezogen wird. Das scheint ein Widerspruch zu sein, da eben das Wesen des Vernünftigen die Allgemeinheit ist, das Unvernünftige aber das Subjektive, das Nicht-allgemeine heißen müßte. Es ist dieser Einwand ganz richtig, doch er wird gehoben, wenn man den Unterschied der Allgemeinheit selbst ins Auge faßt. Die Vernunft ist allgemein im deduktiven, die Unvernunft in einem induktiven oder empirischen Sinn. Von der Allgemeinheit des Menschen und der Menschheit im ersteren Sinne weiß und redet der Philosoph, von der Allgemeinheit im letzteren Sinn weiß und redet die Wirklichkeit und der empirische Gesetzgeber. Die geltenden Gesetze und alles, was mit ihnen zusammenhängt, sind die induktive, aus der Einzelheit der unvernünftigen Handlung hergenommene Verbindung der Menschen untereinander. Sie machen aus der Fülle wirklicher Handlungen und Handlungsweise eine Form, die für die Menge empirischer Individuen paßt, um sie in einem empirischen, zeitlich und räumlich umgrenzten Leben zusammenzuhalten und ihr Leben auf ein gewisses Maß an Allgemeinheit zu bringen. Der empirische Gesetzgeber verlangt die Angemessenheit der  Handlungen  zu den geltenden Gesetzen, der Philosoph die Angemessenheit der  Handlungsmotive  zu den Gesetzen der Vernunft. Jene Angemessenheit heißt Legalität, diese dagegen Moralität. Diese doppelte Forderung an die individuelle Handlung ist ein Problem in der kantischen Philosophie geblieben. KANT war keineswegs der Meinung, daß die Legalität zugleich auch eine Form der Moralität ist. Er schloß Moralität und Legalität der Handlung innerhalb seiner Ethik voneinander aus; erst in der geschichtsphilosophischen Ferne nähern sich diese beiden Formen der Gesetzmäßigkeit.

So ist die Totalität und die Einzelheit der vom Individuum kommenden Handlungen nach drei Seiten hin bestimmt: Sie  sollen  legal sein, sie  sollen  moralisch und sie  sind  durch Triebe und Neigungen und durch das Objekt dieser Neigungen beeinflußt. Die Neigungen und Triebe ziehen den Menschen ab von ihm selbst, von seiner Person, von seinem Prinzip, sie gehören alle in den sehr tiefstehenden Begriff der Glückseligkeit, zum bloßen Naturinstinkt, zur bloßen Tierheit im Menschen. Der Begriff  Glückseligkeit  ist nur ein Sammelbegriff für all die subjektiven völlig unbestimmbaren Regungen, ein Ausdruck für etwas Unausdrückbares. Glückseligkeit ist kein Prinzip der Deutung und Beurteilung von Handlungen, keine Richtlinie in der eigenen individuellen Welt. Der Begriff der Glückseligkeit oder vielmehr das Verlangen anch Glückseligkeit ist ein unbewußtes, kein bewußtes, grundsätzliches Lebensprinzip. Von der Suche nach einem bewußten Prinzip der Lebensgestaltung aus kann nur die  Würdigkeit  glücklich zu sein gesetzt werden und diese Würdigkeit liegt in der Vernünftigkeit, in der Persönlichkeit der Handlungen und Handlungsmotive.

Aus all dem ergibt sich für den Begriff des vernünftigen und damit persönlichen Individuums bei KANT folgendes prinzipiell Bedeutsames: Die drei Momente der Subjektivität, Objektivität und Absolutheit fließen in den logischen Begriff des persönlichen Individuums ein. Das Individuell-Subjektive hat in ihnen seine Grenzen und Bestimmungen einerseits und die Möglichkeit seiner Grundsätzlichkeit und der Ganzheit einer individuellen Welt andererseits. Das Objektive, die Legalität der Handlungen ist zur Formung einer in sich geschlossenen individuellen Welt ebenso untauglich wie das subjektive Durcheinander der Glückseligkeitsbestrebungen. Der Grund einer möglichen Einheit liegt im Absoluten, im Vernünftigen, im Überindividuellen, in der Wesenheit des einzelnen Menschen, in seiner Menschheit, in seiner Persönlichkeit. Damit ist nicht etwa die Individualität aufgehoben, das Individuelle der Handlungen und Erlebnisse geleugnet, wie man wohl behauptet hat, sondern nur der individuellen Beziehungsmöglichkeit der Erlebnisse ein einheitlicher über dem Individuum gelegener Grund gesetzt. Die Beziehung der Handlungen und Erlebnisse auf diesen letzten Grund der Einheit ist aber nur ein ethisches Postulat, keine Tatsächlichkeit, ein  Ansinnen  an jedes vernünftige und zugleich unvernünftige Wesen. KANT aber wollte mit diesem Postulat nicht etwa ein neues Sittengesetz erfunden, eine neue Moral begründet haben, er glaubte und wünschte das immerwährend, zu allen Zeiten geltende Prinzip festgestellt zu haben, das Prinzip, das gelten soll, wo der Anspruch auf eine Allgemeingültigkeit der Handlungen und Beurteilungen erhoben wird. Andererseits war sich KANT der Schwächlichkeit der menschlichen Natur vermöge ihrer Tierheit wohl bewußt und eben durch die Unterscheidung von Legalität und Moralität zog er die fast unübersteigbaren Schranken zu dieser Sittlichkeit der Handlungen zu gelangen. Seinem Begriff, seiner Anlage nach ist jedes vernünftige Wesen zur Sittlichkeit, d. h. zur Vernünftigkeit, zur Persönlichkeit seiner Handlungen bestimmt und befähigt, aber der Wirklichkeit nach gibt es nur Wenige, die alle die Schranken überspringen können, um zur Sittlichkeit der Handlungen zu gelangen.

Bis zu diesem Punkt verfolgt hat der kantische Begriff der Persönlichkeit noch keinerlei Pathos, er ist eine einfache Konsequenz aus dem Begriff des vernünftigen Wesens einerseits und aus dem Anspruch dieses vernünftigen Wesens andererseits, nach allgemeingültigen Prinzipien handeln zu können. Das eigentliche Pathos kommt in den Begriff der Persönlichkeit erst durch die Ausspinnung des Gedankens, daß eben nur wenige es vermögen, nach dem Sittengesetz zu leben, nicht nur einzelne Handlungen, sondern die Gesamtheit ihrer Handlungen auf das Persönliche in ihnen zu beziehen. Das Postulat der Persönlichkeit, das sich an jede einzelne Handlung richtet, wird zur Idee der Persönlichkeit, zu der Idee, daß alle Handlungen zusammenstimmen zu einem einzigen Ganzen, das ganz Persönlichkeit ist. Die Idee der Persönlichkeit bekommt die konkretere Bedeutung eines in sich geschlossenen Individuums, das als einzig geltendes Gesetz das Sittengesetz, die Pflicht über sich hat. Die Persönlichkeit ist nicht nur das Individuum, das dieses Pflichtgebot in all seinen Handlungen fühlt und weiß, sondern auch die Kraft hat, dem Sittengesetz zu folgen. KANT glaubte an die Erfüllbarkeit der Idee der Persönlichkeit im einzelnen Vernunftwesen, im zeitlich und räumlich begrenzten Dasein des einzelnen Menschen. In der Erfüllung dieser Idee, in der Überwindung der Schwäche, der Tierheit, sah er den erhabensten Typus der Menschheit. Man ist von diesen Formulierungen aus auf den höchst merkwürdigen Gedanken gekommen, KANT habe die  Heiligkeit des Willens als höchste Form des Willens gesetzt (5). Das ist natürlich ganz verfehlt: auch der Wille, in dem die Grundsätze nicht mehr streiten, in dem nur der eine Grundsatz gilt "aus Pflicht", "aus Vernunft" zu handeln, ist kein heiliger Wille, sondern nur ein  sittlicher  Wille. Der Grundsatz, aus Pflicht zu handeln, bleibt gleichwohl ein subjektiver Grundsatz, der Grundsatz eines vernünftigen aber auch zugleich unvernünftigen Wesens. Heilig ist nur  der  Wille, der durch subjektive Grundsätze ansich vernünftig ist. Heiligkeit der Handlungen ist kein Begriff, der auf Menschen paßt, ebensowenig wie intuitiver, anschauender Verstand einen Sinn für die Erkenntnis des Menschen hat. Wie der erkennende Mensch an die sinnliche Anschauung gebunden bleibt, so hängt auch der wollende, der handelnde Mensch an dieser Bedingung. Der Begriff der Persönlichkeit als höchste Form der Menschlichkeit leugnet nicht die sinnliche Bedingtheit, sondern veredelt sie nur.

Man muß sich bei all dem bewußt bleiben, daß KANTs Morallehre und alles, was mit ihr zusammenhängt, eine Lehre von den  subjektiven  Grundsätzen des Wollens und des Handelns ist, daß die Handlung als Leistung ganz anders aussieht als der mögliche Grundsatz, aus dem sie herstammt, deshalb weil sie nicht allein durch den Grundsatz, sondern zugleich durch vieles andere bedingt und bestimmt ist. Erst ganz allmählich - und in ganzer Kraft eigentlich erst in der Geschichtsphilosophie - drängt sich neben die Postulate sittlicher Grundsätze im Handeln auch das Postulat einer möglichen Darstellung des sittlichen Grundsatzes in der wirklichen Handlung, die Idee der möglichen Überwindung der anderen vielfachen Bedingungen der Handlungen durch den sittlichen Grundsatz. Die höchste Form des vernünftigen Wesens, das alle seine Handlungen aus dem einen Grundsatz der Pflicht hervorzubringen vermag, ist bei KANT eine Seltenheit, eine Ausnahme. Man kann fast sagen dieser höchste Typus ist überhaupt nicht, sondern es bleibt dabei, daß er nur eine Idee ist. Diese Idee aber wird gewissermaßen ergänzt durch eine andere Idee, die zum Postulat wird, die Idee der möglichen Loslösung des Menschen von den zeitlichen und räumlichen, von den sinnlichen Bedingungen. Neben die Idee der Persönlichkeit tritt die praktische Idee der Fortdauer des Individuums und zwar als Vernunftwesen über die Zeitlichkeit seiner irdischen Existenz hinaus. Unter dieser Idee heißt das Sittengesetz: Handle so, daß die Grundsätze Deines Handelns während Deiner zeitlichen Existenz zugleich in einer zeitlosen Fortdauer, in einer Existenz, welche diese Grundsätze nicht einengt, Geltung behalten müßten. Oder handle in der Zeitlichkeit deiner Existenz so, als ob die Grundsätze Deines Handelns Gültigkeit in einem zeitlich nicht bedingten Reich der Vernunft behalten sollten. Unter der Idee der Persönlichkeit leben, heißt also von hier aus, so leben, daß die Mannigfaltigkeit der Erlebnisse und Handlungen in der zeitlichen Existenz zusammenstimmen mit der Mannigfaltigkeit eines über die zeitlichen Schranken fortgesetzten Lebens. Das Postulat der Unsterblichkeit hilft über die Zeitlichkeit hinweg. Die Idee der Unsterblichkeit, die eine Idee bleibt, ist eine Stärkung in der  Durchführung  der Sittlichkeit im Handeln. Geltung behält das Sittengesetz auch ohne diese Idee (6). Es scheint als habe KANT durch die Deutung der Unsterblichkeit als einer praktischen Idee noch einmal betonen wollen, daß dem Begriff nach  alle  vernünftigen Wesen, alle Menschen zur Persönlichkeit ihrer Lebensgestaltung fähig seien; die einen kommen nicht zu dieser Berufung, sie leben dem Naturinstinkt nach oder verbrauchen ihr Leben in anderen Formen, die anderen kommen zu einzelnen sittlichen Handlungen, wenige zur sittlichen Totalität ihrer Handlungen; von diesen Letzterem brauchen die einen die praktische Idee der Unsterblichkeit zur Stärkung in der Durchführung der Idee der Persönlichkeit, die anderen brauchen sie nicht, sie leben ohne sie ihr zeitliches Leben zu einem Ganzen von sittlichen Handlungen. Das sind die Wenigen, die erhabenste Form der empirischen Persönlichkeit, deren Dasein das Gefühl der Achtung und Erhabenheit einflößt. Die  Persönlichkeit in dieser letzten und höchsten Form ist die Darstellung des Sittengesetzes in der Zeit. 

Das Problem der Persönlichkeit hat auch über die rein wissenschaftlich-ethische Formung hinaus mancherlei Erläuterungen bei KANT gefunden. Es würde sich verlohnen, sein persönliches Sichverhalten dieser Idee gegenüber zu untersuchen, sein Leben unter dem Gedanken der von ihm deduzierten Idee der Persönlichkeit zu betrachten und dort nach der Antwort auf die Frage nach der Darstellungsmöglichkeit dieser Idee zu forschen; doch wir wollen diese Nachprüfung unterlassen. Aber auch in seiner wissenschaftlichen Leistung, in seiner Philosophie, findet sich mancher mehr stimmungsmäßige Ausdruck für seine Auffassung vom Wesen der Persönlichkeit. In der "Kritik der Urteilskraft", wo alle Hauptprobleme seiner Kritiken noch einmal zusammenfließen, ist die Lehre vom Erhabenen eine der vollsten und reinsten Wiederholungen seiner Auffassung vom Wesen der Persönlichkeit: Das Bewußtsein von der Zugehörigkeit zu einer intelligiblen Welt, das Bewußtsein der Darstellung einer eigenen Welt gegenüber der dynamisch ungeheuren Außenwelt, löst ist uns das Gefühl des Erhabenseins aus und läßt uns die Furcht vor der Massenhaftigkeit der Natur vergessen. Und groß und stimmungsvoll steht das Glaubensbekenntnis in der Methodenlehre der "Kritik der praktischen Vernunft":
    "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer Bewunderung und Ehrfurcht - der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir - das zweite fängt von meinem Selbst, meiner Persönlichkeit an und erhebt meinen Wert als Intelligenz unendlich durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralische Gesetz mir ein von der Tierheit und selbst von der ganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart".
Suchen wir in Erinnerung an das zu Anfang gesagte Allgemeine über den Persönlichkeitsbegriff das Besondere der kantischen Formulierung zusammenzufassen, so ist es dies: Der Gedanke der  Gestaltung  einer individuellen Welt liegt auch im kantischen Begriff. Der  Grund der Einheit  dieser individuellen Welt liegt nach KANT  nur  im Absoluten der sittlichen Prinzipien und damit zugleich im Individuum und über ihm hinaus. Ferner liegt die  Bewußtheit  der Prinzipien im Wesen der kantischen Ethik; seine Ethik handelt überhaupt nur von einem Wollen, das sich seiner Grundsätze bewußt ist.  Wert  und  Wesen  der Persönlichkeit gehen bei KANT ineinander über. Es gibt bei ihm nur Stufen, d. h. Formen der Annäherung an den eigentlichen Wert. Eigentümlich ist seinem Persönlichkeitsbegriff, daß er ihn auf eindeutige, festumschriebene Prinzipien baut. Mag er auch vermöge dieser Prinzipien zu einer einseitigen Formulierung gekommen sein, so ist es zumindest eine konsequente Formulierung von der sich alle idealistische Schwärmerei über Persönlichkeit und Individualität verbergen muß. Man bedenke, daß KANT in einer Zeit schrankenloser Betonung der Individualität lebte, daß von allen Seiten Freiheit und Gleichheit ertönte. Und wie KANT in seiner Erkenntniskritik der sich ins uferlose verlierenden Metapyhsik ein Ziel setzte und feste Begriffe schuf, so suchte er in seiner "Kritik der praktischen Vernunft" die Ansprüche auf Freiheit auf das rechte Maß und den rechten Begriff zu reduzieren. Auch in der Lehre vom Wesen der Persönlichkeit behält seine Philosophie den Charakter einer Lehre von den Grenzen der menschlichen Vermögen.

Es ist unbestreitbar, daß die begriffliche Formulierung des Wesens und Wertes der Persönlichkeit von KANT aus in vielen Punkten klarer und reicher geworden ist, daß selbst und vornehmlich die Dichtung in Erinnerung an die große kantische Lehre das Problem von immer neuen Seiten gefaßt hat, aber es ist ebenso unbestreitbar, daß die sachliche Formulierung KANTs teilweise ganz vergessen und in Weite und Breite von Persönlichkeit die Rede ist. Über KANTs Persönlichkeitsbegriff liegt etwas Herbes und Kahles, er liegt aber weit ab von aller Seßhaftigkeit und allem Greifen nach zeitlichen Werten, er hat sein gestaltendes Moment im Zeitlosen.

LITERATUR - Arnold Ruge, Begriff und Problem der Persönlichkeit, Kant-Studien, Bd. 16, Berlin 1911
    Anmerkungen
    1) ADOLF TRENDELENBURG, Zur Geschichte des Wortes Person, nachgelassene Abhandlung, eingeführt von RUDOLF EUCKEN, Kant-Studien, Bd. 13, 1908.
    2) Vgl. ERNST VOHWINKEL, Zum Problem der Persönlichkeit, Archiv für systematische Philosophie, Bd. 15, 1909.
    3) KARL KÖNIG, Rhythmus, Religion, Persönlichkeit, Jena 1910 (vgl. Seite 43).
    4) Vgl. auch DANIEL GREINER, Der Begriff der Persönlichkeit bei Kant, Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. X, Neue Folge Bd. III, 1897.
    5) Zu dieser sonderbaren und völlig verkehrten Auffassung ist auch DANIEL GREINER in seiner oben zitierten Handlung gelangt.
    6) DANIEL GREINER übersieht in seiner Abhandlung, daß die Fortdauer der Persönlichkeit nur ein praktisches Postulat, eine regulative Idee des Wollens bleibt. Sie ist keineswegs ein Beweis der Fortdauer der Seele von der praktischen Philosophie her.