p-4 TetensTh. KehrB. ErdmannW. Schuppe     
 
SALOMON STRICKER
Studien über die
Bewegungsvorstellungen


"Es scheint mir, daß ich der Lösung einiger Probleme, welche von jeher alle spekulativen Köpfe in Anspruch genommen haben, um einen Schritt näher gerückt bin. Ich glaube nämlich auf die Quellen gestoßen zu sein, aus welchen wir unsere Vorstellungen über die Kausalität schöpfen, und auch auf die Motive, welche uns geneigt machen, das Urteil von der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung in seiner Allgemeinheit und Notwendigkeit zu denken. Diese beiden Fragen, nämlich die nach den Quellen unserer Bewegungsvorstellungen und unserer Ursachenvorstellung, scheinen mir nunmehr auf das innigste zusammenzuhängen."

"Bei der Erinnerung an das Vorbeibrausen eines Eisenbahnzuges namentlich, wenn ich mich dabei in ein Coupé des Gegenzuges hineinversetze, wirken auch Gefühle in den Halsmuskeln mit. Ich habe das Gefühl, als wollte ich den Kopf drehen. Versuche ich den Kopf und die Augen als fixiert zu denken, so halte ich in der Vorstellung den Zug auf, wobei ich mir aber Gewalt antun muß. Es ist mir förmlich unangenehm, mir den vorbeibrausenden Zug vorzustellen und plötzlich die dabei funktionierenden Muskelgefühle gewaltsam zu unterdrücken."


V o r w o r t

Meine Studien über die Bewegungsvorstellungen sind nach ähnlichen Methoden ausgeführt worden, wie die Studien über Sprachvorstellungen, welche ich vor zwei Jahren veröffentlicht habe. Da wie dort bin ich von Wahrnehmungen ausgegangen, welche ich an mir selbst gemacht habe, und da wie dort habe ich mich durch den sprachlichen Verkehr dessen versichert, daß auch andere Menschen analoge Wahrnehmungen an sich selbst zu machen vermögen; es hat sich aber zwischen den Erfahrungen, welche ich hierbei in den beiden Studien gemacht habe, ein erheblicher Unterschied herausgestellt. Bei den Sprachstudien habe ich wohl erfahren, daß es Menschen gibt, welche nicht imstande sind, während des stillen Vorstellens von Lauten und Worten in ihren Artikulationsmuskeln jene Wahrnehmungen zu machen, welche von mir beschrieben worden sind, ich bin aber auf keinen Menschen geraten, der mir gesagt hätte, er könne sich gewisse Worte gar nicht vorstellen. Bei den Bewegungsstudien hingegen habe ich erfahren, daß es Personen gibt, welche sich gewisse Bewegungen überhaupt nicht vorstellen können. Ich selbst war z. B. anfangs nicht imstande, mir (in der Erinnerung) ein Schneegestöber vorzustellen. Ich hatte, wenn ich das Schneegestöber in meiner Erinnerung auftauchen ließ, immer nur eine Phase des Bildes, wie es der Maler wiedergeben kann, nämlich ein Luftbild, dicht von ruhenden Schneeflocken erfüllt, vor mir gehabt.

Erst im Laufe dieser Studien habe ich mich daran gewöhnt, während der Erinnerung an ein solches Bild den Bewegungen einzelner Flocken zu folgen. Jetzt, da ich dies schreibe, bin ich bereits imstande mir die Bewegung mehrerer Flocken auf einmal vorzustellen, insofern sie parallel oder konvergent oder wenig divergent fallen; zwei Flocken hingegen, welche in stark divergenten Richtungen sinken, kann ich mir auch jetzt nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander, vorstellen.

Dieses eine Beispiel wird ausreichen, um den Leser, der meine Angaben an sich selbst zu prüfen geneigt sein sollte, darauf aufmerksam zu machen, ob er solche Vorstellungen, wie ich sie in dieser Schrift als Unterlage meiner Spekulationen beschreibe, überhaupt wachzurufen imstande ist. Wer dies nicht vermag, wird selbstverständlich auch nicht in der Lage sein, diese Vorstellungen auf ihre Zusammensetzung zu prüfen.


Einleitung

I.

Der herrschenden Lehre zufolge gelangen wir zu einer Vorstellungen von Bewegungen in der Außenwelt durch unsere Sinnesorgane. Wenn wir die Bewegungen eines Körpers sehen - so etwa lautet diese Lehre -, verschmelzen die Wahrnehmungen der verschiedenen Bewegungsphasen zu einer Vorstellung von der Bewegung dieses Körpers. Zwar ist es mir nicht bekannt, ob diese Sätze in so elementarer Form vorgetraen werden, wie ich sie hier formuliert habe, wohl aber ist es leicht zu konstatieren, daß sich die Theorie von der Verschmelzung der Gesichtswahrnehmungen zu Bewegungsvorstellungen unter den Physiologen einer allgemeinen Anerkennung erfreut. Es werden nämlich Apparate beschrieben, welche dartun, daß selbst geeignete bildliche Darstellungen in uns die Bewegungsvorstellungen zu wecken vermögen, insofern jene Apparate die nötige Verschmelzung der Bilder veranlassen.

So einfach und verständlich uns aber auch diese Lehre auf den ersten Anblick hin erscheinen mag, so reicht doch schon die Zergliederung eines einzigen Beispiels aus, um ihr Ansehen zu erschüttern.

Wenn ich im freien Feld auf dem Rücken liege, erkenne ich die Fortbewegung eines über mir schwebenen Vogels noch aus einer Entfernung, aus welcher ich ihn nur eben noch wahrzunehmen vermag; ich erkenne die Fortbewegung auch dann, wenn der Hintergrund (das Himmelsgewölbe) gleichmäßig klar ist, und ich sonst nichts in Sicht habe, als eben nur den Vogel und den Hintergrund, so also, daß ich im Verhältnis des bewegten Körpers zu seiner Umgebung keine Änderung wahrzunehmen vermag. Welche Anhaltspunkte sind mir in diesem Fall noch geboten, um die verschiedenen Phasen der Bewegung voneinander zu unterscheiden?

Nun könnte man zwar behaupten, daß die herrschende Lehre durch meine elementare Formulierung nicht erschöpft ist, ich hätte noch hinzufügen müssen, könnte man sagen, daß die verschiedenen Bewegungsphasen auf verschiedene Netzhautstellen zu liegen kommen, daß sich das Bild des bewegten Körpers auch auf unserer Netzhaut bewegt, und daß wir erst dadurch zu einer Vorstellung von Bewegung gelangen. Wenn sich also der Vogel, wie ihn mein Beispiel supponiert, bewegt, so würde ich dieser Argumentation zufolge die Veränderung seines Bildes auf meiner Netzhaut wahrnehmen und dadurch erst die Bewegungsvorstellung erlangen.

Doch auch dieser Korollarsatz [triviale Schlußfolgerung - wp] über dessen Zulässigkeit übrigens gestritten werden kann - auch dieser Korollarsatz, sage ich, macht den Kasus noch immer nicht verständlich. Wenn der Vogel ruht, und ich meine Augen drehe, muß sich sein Bild auf meiner Netzhaut wohl gleichfalls verschieben, dennoch aber weiß ich ganz genau, daß der Vogel jetzt seine Lage in der Außenwelt nicht geändert hat.

Wenn der Vogel ruht und ich meine Augen drehe, bin ich mir allerdings bewußt, daß die Verschiebung des Netzhautbildes jetzt stattgefunden hat, weil ich die Augen gewendet habe. Aber wenn sich der Vogel bewegt, folge ich ihm gleichfalls mit den Augen, und ich werde mir auch  dieser  Augendrehung ebenso genau bewußt, wie wenn ich die Augen drehe, um über den ruhenden Vogel hinweg zu blicken.

Wenn ich also in beiden Fällen die Augen drehe und mir der Drehung bewußt werde, wie gelange ich dann zu der Entscheidung, ob der Vogel ruht oder ob er sich bewegt?

Nun könnte man vielleicht jetzt geneigt sein, den früher erwähnten Korollarsatz zu widerrufen und zu behaupten, daß sich das Bild des bewegten Vogels auf meiner Netzhaut gar nicht bewegt. Wenn ich also, könnte man jetzt sagen, die Augen drehe,  ohne  daß sich das Bild des Vogels auf meiner Netzhaut verschiebt, dann weiß ich, daß sich der Vogel bewegt; wenn ich aber die Augen drehe und das Bild des Vogels sich auch verschiebt, dann weiß ich, daß der Vogel ruht. Mit einer solchen Argumentation stehen wir aber schon im Widerspruch zur herrschenden Lehre. Denn nach der herrschenden Lehre sollen wir ja zu einer Kenntnis der Bewegung dadurch gelangen, daß die gesehenen Bewegungsphasen miteinander verschmelzen. Wenn ich die verschiedenen Phasen sehen soll, so müssen sie sich auf der Netzhaut abbilden. In einer solchen Kamera wie sie der Photographenkasten und auch unser Auge repräsentiert, können aber verschiedene Bewegungsphasen nur dadurch zum Ausdruck kommen, daß sich das Bild bewegt. Wenn also die herrschende Lehre dahin geht, daß wir zur Kenntnis der Bewegung durch die Verschmelzung der Bewegungsphasen gelangen, so heißt das soviel wie: wir gelangen dazu durch die Bewegung des Netzhautbildes, was mit dem in diesem Absatz oben angeführten Argument im Widerspruch steht.

Ich zweifle übrigens auch gar nicht daran, daß sich das Bild eines Körpers auf meiner Netzhaut bewegen muß, wenn ich ihn als bewegt vorstellen soll. Wodurch sollte ich denn dazu angeregt werden, dem bewegten Vogel mit den Augen zu folgen, wenn sich sein Bild nicht auf meiner Netzhaut verschieben würde. Was ich aber für fraglich halte, ist die Behauptung, daß die Phasen in uns verschmelzen müssen, um die Vorstellung der Bewegung auszulösen.

Es scheint mir überflüssig, das angeführte Beispiel hier noch weiter zu beleuchten. Die wenigen Fragen, welche ich anhand desselben aufgeworfen habe, zeigen uns zur Genüge, daß die Eingangs erwähnte Lehre noch nicht auf festen Füßen ruht. Den Physiologen und Physikern stehen zwar, wie ich schon bemerkt habe, einige Apparate zur Verfügung, durch welche die Verschmelzung von Gesichtseindrücken zu Bewegungsvorstellungen angeblich auf experimentellem Weg zu demonstrieren ist. Ich werde aber einen solche Apparat im Verlauf dieser Schrift zur Sprache bringen und darlegen, daß die Experimente, welche ich damit angestellt habe, der herrschenden Lehre nicht nur ungünstig sind, sondern geradezu Mittel bieten, um ihre Unhaltbarkeit zu erweisen.

Solche Experimente und eine Reihe anderer Untersuchungen haben mich zu der Erkenntnis gebracht, daß wir zu den Bewegungsvorstellungen nicht durch Lichtempfindungen, auch nicht durch Tastempfindungen, sondern durch Muskelgefühle gelangen.

Nachdem ich diese Erkenntnisse gewonnen hatte, drängte sich mir die Neigung auf, das Neugewonnene auch spekulativ zu verarbeiten, und es scheint mir, daß sich meine Arbeit in dieser Richtung einigermaßen als fruchtbar erwiesen hat; es scheint mir, daß ich dabei der Lösung einiger Probleme, welche von jeher alle spekulativen Köpfe in Anspruch genommen haben, um einen Schritt näher gerückt bin. Ich glaube nämlich auf die Quellen gestoßen zu sein, aus welchen wir unsere Vorstellungen über die Kausalität schöpfen, und auch auf die Motive, welche uns geneigt machen, das Urteil von der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung in seiner Allgemeinheit und Notwendigkeit zu denken.

Diese beiden Fragen, die ich hier erwähne, nämlich die nach den Quellen unserer Bewegungsvorstellungen und unserer Ursachenvorstellung, scheinen mir nunmehr auf das innigste zusammenzuhängen, und ich will sie daher auch hier im Zusammenhang besprechen.


II.

Da ich mich in der vorliegenden Schrift wiederholt des Ausdruckes "Beobachtung" bediene, und zwar unter Umständen bediene, die es zweifelhaft erscheinen lassen könnten, ob der Ausdruck auch wirklich das andeutet, was damit gemeinhin angedeutet werden sollte; da ich es ferner im Interesse der Darstellung für zweckmäßig halte, von inneren und äußeren Beobachtungen, ferner von Beobachtungen der Erinnerungsbilder und der Muskelgefühle zu sprechen, will ich mich jetzt mit dem Leser über einige Ausdrucksweisen verständigen.

Zunächst will ich hier die Bemerkung eintragen, daß ich häufig die Worte "Wahrnehmung" und "Beobachtung" miteinander verwechsle, trotzdem eine solche Verwechslung anfechtbar ist. Jede Beobachtung impliziert eine Wahrnehmung, wohl aber hat nicht jede Wahrnehmung den Wert einer wissenschaftlichen Beobachtung. Indessen glaube ich mich hier, wo ich diese Worte sehr oft gebrauchen muß, im Interesse der Schönheit der Sprache, über die eben erwähnte Inkongruenz hinwegsetzen zu dürfen, zumal es sich schließlich von selbst versteht, daß ich nur solche Wahrnehmungen als Beobachtungen einführe, die ihrer Sicherheit nach diesen Namen verdienen.

Alle Beobachtungen können nach dem Voranschreiten JOHN LOCKEs in zwei Gruppen eingeteilt werden, nämlich in die Selbstwahrnehmung und in die sinnliche Wahrnehmung. Der Ausdruck sinnliche Wahrnehmung als Gegensatz zur Selbstwahrnehmung scheint mir indessen nicht vorwurfsfrei zu sein, und ich will zur Begründung dessen einen Passus aus meiner Schrift über das Bewußtsein einfügen (1).
    "Unter  Sinne  versteht man nicht die Endorgane der Nerven und sicher nicht diese allein. Das Endorgn ist nur ein vorgeschobener Posten des  zentralen  Sinnesorgans im Gehirn. Das Wichtigste an den Sinnen ist die Fähigkeit, das Sinnliche wahrzunehmen und liegt also im Bewußtsein selbst. Die Nerven bringen nur die Nachrichten von außen. Indem wir diese Nachrichten wahrnehmen, nehmen wir uns selbst wahr. Trotzdem also das Bewußtsein über sich selbst keine Nachrichten von außen bekommt, so kann man deswegen nicht behaupten, daß es übersinnlich oder unseren Sinnen entrückt ist. Das Bewußtsein ist ein wesentlicher Teil der Sinnlichkeit. Ohne Bewußtsein hat alle Sinnlichkeit ein Ende."
Dieser Erörterung gemäß sind alle Wahrnehmungen Selbstwahrnehmungen und sinnliche Wahrnehmungen zugleich. Was JOHN LOCKE als sinnliche Wahrnehmung bezeichnet, bezieht sich nur auf eine Gruppe derselben, und zwar auf jene, welche, von Objekten der Außenwelt angeregt, mit Hilfe der  äußeren Sinnesorgane  gemacht und  auf die Außenwelt bezogen werden. 

Ich kann für diese Gruppe von Wahrnehmungen unter den eingebürgerten Bezeichnungen keinen passenden Ausdruck finden. KANT hat diese Wahrnehmungen als Erfahrung bezeichnet (2). Doch ist dies beim heutigen Stand der biologischen Wissenschaften nicht mehr zulässig. Man zählt jetzt - und mir Recht - auch die Wahrnehmungen, welche zur Grundlage der Psychophysik dienen, zu den Erfahrungen, trotzdem sie sich nicht auf die Außenwelt beziehen. Es bleibt mir daher nichts übrig, als mich hier vorläufig der unbequemen Bezeichnung "Beobachtung der Außenwelt" zu bedienen.

Den Beobachtungen der Außenwelt sollten wir jene an die Seite stellen, welche wir nich auf die Außenwelt beziehen. Die letztere Gruppe muß aber wohl noch in Unterabteilungen gebracht werden; denn es ist nicht zweckmäßig die Beobachtungen des Psychophysikers mit den übrigen Selbstwahrnehmungen im Sinne LOCKEs, implizit also mit den Erinnerungen und den Spekulationen, in eine Gruppe zu stellen.

Könnte ich ohne Rücksicht auf die Traditionen in der Wissenschaft, unter den vorhandenen deutschen Ausdrücken wählen, so wäre diesem Übelstand teilweise wenigstens leicht abgeholfen. Wir unterscheiden in der deutschen Sprache "Empfinden" und "Fühlen", "Empfinden" wird, wie ich an einem anderen Ort gezeigt habe (3), (richtig) dann gebraucht, wenn wir die Wahrnehmung auf die Außenwelt beziehen; "Fühlen" hingegen, wenn wir die Wahrnehmung in Teile unseres Leibes hinein lokalisieren. Die Ausdrücke "Empfinden" und "Fühlen" werden aber auch in der Sprache der Wissenschaft so häufig miteinander verwechselt, daß ich sie  beide  hier nicht in Anwendung bringen kann. Wohl aber hindert mich nichts einen derselben zu gebrauchen und die Beobachtungen am eigenen Leib (4) mit dem Wort "Fühlen" anzudeuten. Demgemäß kann ich den Beobachtungen der Außenwelt die Gefühle an die Seite stellen, und ich glaube, daß ich im Sinne unseres Sprachgebrauchs handle, wenn ich diese beiden Wahrnehmungsformen, da wo eine Scheidung derselben nicht notwendig ist, als Beobachtung schlechthin bezeichne.

Ich muß aber unter dem Namen  Beobachtung  noch etwas anderes subsumieren, ich meine hier die Beobachtung der Erinnerungsbilder.

Ich kann die Erinnerung an Objekte der Außenwelt, oder an Vorgänge in meinem Leib in mannigfacher Weise verwerten.

Ich kann die Erinnerung zunächst zur sprachlichen Darstellung benützen. Wenn ich nach der experimentellen Arbeit an die Beschreibung gehe, so reproduziere ich zunächst in der Regel nur Worte, welche ich schon während der äußeren Beobachtung an die Wahrnehmung der Details geknüpft habe; denn die Sprache spielt bei all meinen (5) Beobachtungen eine so wichtige Rolle, daß ich mir das Beobachtete in der Regel in Worte gekleidet merke. Zuweilen hingegen, wenn meine Erinnerung an den verbalen Bau ins Stocke gerät, bin ich gezwungen mit dem Schreiben einzuhalten und das gesehene Bild noch einmal in mir aufleben zu lassen. Hier beobachte ich es also gleichsam noch einmal.

Ich kann die Erinnerung an Objekte der Außenwelt ferner zu Zwecken der Psychologie auswerten. Wenn ich darüber nachdenken will, ob ich die Erinnerung an zeitlich getrennte Wahrnehmungen gleichzeitig in mir aufleben lassen kann, sagen wir z. B., ob ich mir irgendeine Ansicht des Straßburger Münsters gleichzeitig mit irgendeiner Ansicht der Peterskirche zu Rom vorstellen kann, so muß ich die Erinnerung an jene Gebäude in mir auftauchen lassen und auf ihr zeitliches Zusammentreffen beobachten.

Diese beiden Formen der Erinnerung sind es also, welche ich noch unter dem Namen "Beobachtung" subsumiere, und die ich gelegentlich auch als innere Beobachtung bezeichnen werde.

Unter diesen Vorbehalten will ich nun die Wahrnehmung der Außenwelt, ferner jene des eigenen Leibes, und schließlich auch jene der Erinnerungsbilder überall da, wo keine Zweideutigkeit zu fürchten ist, als Beobachtung schlechthin bezeichnen. Da wo aber Unterscheidungen notwendig werden, will ich ausdrücklich von "Beobachtungen der Außenwelt" oder statt dessen von "äußeren Beobachtungen" sprechen, und diesen gegenüber einerseits von Beobachtungen des eigenen Leibes oder von "Gefühlen" schlechthin, und andererseits von Erinnerungen oder inneren Beobachtungen sprechen.

Dabei wird es nicht überflüssig sein, jetzt schon darauf hinzuweisen, daß jene Gefühle, von welchen in dieser Schrift hauptsächlich die Rede sein wird, die Muskelgefühle nämlich, mit den Wahrnehmungen der Außenwelt so innig verknüft sein können, daß wir sie gleich den sinnlichen Wahrnehmungen auf die Außenwelt beziehen (6). Es wäre daher unzweckmäßig diese Gefühle schlechthin zu den inneren Beobachtungen zu zählen, wenn die Bezeichnungen "innere" und "äußere" andeuten sollen, ob wir die Wahrnehmung direkt auf die Außenwelt beziehen, oder ob wir uns dabei bewußt werden, daß wir  nur  ein inneres Auftauchen beobachten.


III.

Zumal die Hauptfragen, welche in dieser Schrift in Betracht gezogen werden, auf das innigste mit der Lehre von den Muskelgefühlen zusammenhängen, halte ich es für zweckmäßig, hier noch über diese Angelegenheit einige allgemeine Bemerkungen einzutragen.

Unter Muskelgefühl versteht man gemeinhin das Gefühl (oder die Wahrnehmung), welch wir von unseren eigenen Muskeln erlangen. Wir wissen aber bis jetzt noch immer nicht, durch welche Nerven diese Gefühle vermittelt werden.

Im Allgemeinen herrscht die Meinung vor, daß es sensible Nerven sind, welche uns diese Nachricht bringen. Wenn sich ein Muskel meines Leibes zusammenzieht, so erfahre ich es, dieser Meinung gemäß, durch sensible Nerven, d. h. durch Nerven, welche fähig sind Impulse vom Muskel zum Gehirn zu leiten.

Ob der Muskel in Wirklichkeit  solche  Nerven besitzt, weiß man bis jetzt noch nicht. Sicher ist nur, daß der Muskel Nerven besitzt, und sicher ist, daß in den Muskelnervenstämmchen, die man kennt, die Willensimpulse  vom Gehirn zum Muskel  getragen werden, mit anderen Worten, daß in diesen Stämmchen die motorischen Nerven des Muskels enthalten sind. Die Meinung, daß wir zu den Muskelgefühlen durch sensible Nerven der Muskeln gelangen, findet also bis jetzt in der Anatomie noch keine Unterstützung. Wohl aber hat diese Meinung positive Stützen durch einige Befunde am gesunden und kranken Menschen erhalten.

Ein Teil dieser Befunde lautet nämlich dahin, daß die Muskel sensibilität  vollkommen untergegangen sein kann, daß man Nadeln in den Muskel stechen und starke elektrische Ströme durchleiten kann, ohne daß es die Patienten spüren, trotzdem sie nicht gelähmt sind. Das heißt also mit anderen Worten: Die motorischen Nerven fungieren, sie leiten zentrifugal, und dennoch ist die Muskelsensibilität untergegangen; ergo muß diese Sensibilität von anderen Nerven abhängen als von den motorischen.

Es ist ferner sichergestellt, daß wir in den Muskeln auch abgesehen von den Schmerzen etwas fühlen können, zu Zeiten, da sie von keinem Willen beeinflußt werden, so z. B., wenn der Muskel dadurch zur Zuckung gebracht wird, daß man seinen Nerven in der Peripherie elektrisch reizt. Diesen Versuch kann jeder an sich selbst anstellen und sich überzeugen, daß er von seiner Muskelzuckung etwas erfährt, trotzdem sein Sensorium dabei (primär) nicht beteiligt ist.

Die Annahme, daß wir zu den Muskelgefühlen nur durch sensible Nerven gelangen, wird überdies durch eine Spekulation gestützt. Die Spekulation geht von der scheinbar allgemeingültigen Lehre aus, daß das Gehirn von Vorgängen in der Peripherie  nur  durch Nerven unterrichtet werden kann, welche von der Peripherie zum Zentrum leiten. Indem also das Gehirn von den Vorgängen in den Muskeln Kenntnis erhält, kann dies nicht anders als durch solche Nerven stattfinden.

So wertvoll aber auch alle diese Argumente sein, so dürfen wir dabei nicht vergessen, daß wir von den Willensimpulsen, welche die Kontraktion der Muskeln anregen, Kenntnis haben, bevor noch die Zuckung ausgeführt wird, und die Willensimpulse gehen von den zentralen Enden der motorischen Nerven aus. Die zentralen Enden dieser Nerven müssen also notwendig die Fähigkeit besitzen, die Vorgänge in ihnen ins Bewußtsein zu bringen. Indem sich nun dieselben Nerven bis in die Muskeln hinein erstrecken, so wäre es wohl möglich, daß sie uns auch von den Vorgängen in ihrem Verlauf Kenntnis geben, und uns daher über die eingeleitete Muskelzuckung orientieren.

Wenn ich von der Kontraktion meiner Lippen zwecks Formation des  B  Kenntnis bekomme, so wäre es wohl möglich, sage ich, daß dies auf direktem Weg geschieht, indem ich mir des Willensimpulses bewußt werde, den ich zu den Muskeln sende (7). Der Umstand, daß ich beim stillen Denken des Lautes "B" schon das Lippengefühl spüre, trotzdem sich die Lippen gar nicht bewegen, spricht wohl zugunsten einer solchen Vermutung.

Ich will indessen die Angelegenheit hier nicht weiter verfolgen, denn sie ist von zu großer Tragweite, um sie durch bloße Spekulation erledigen zu können. Für die Zwecke der vorliegenden Schrift ist es auch ausreichend, wenn der Leser den Stand der Frage kennt. Ich baue meine Beweise über die Bewegungsvorstellungen weder auf die eine noch auf die andere Meinung. Ich setze nicht mehr voraus, als daß es Muskelgefühle gibt, und daß sie einerseits durch unsere Willkür und andererseits auch ohne Zuhilfenahme des Willens wachgerufen werden können.

Ob diese Muskelgefühle aus motorischen Nerven, oder aus sensiblen Nerven oder aus beiden  zugleich,  oder aus beiden im Wettstreit stammen, mag bis jetzt dahingestellt bleiben.

Doch will ich hier zur Vermeidung von Mißverständnissen noch so viel festsetzen, daß ich in dieser Schrift mit dem Terminus "Muskelgefühle" nur jene Gefühle verstehen will, welche sich an die vom Sensorium aus eingeleitete Innervation [Nervenimpulse - wp] der Muskeln knüpfen, von den Gefühlen aber, die im Gefolge von künstlichen Reizungen oder krankhaften Prozessen auftreten, hier keine Notiz nehme.


IV.

Ich weiß aus Erfahrung, daß die Beobachtungsfähigkeit, namentlich was die Muskelgefühle anbelangt, bei verschiedenen Menschen sehr verschieden ist. Menschen, die mit Vorliebe turnen, fechten, schwimmen, ferner Menschen, die ein Handwerk treiben und daher gewohnt sind, gewisse Muskelapparate mit einer gewissen Sorgfalt zu innervieren, sind zu solchen Beobachtungen im Allgemeinen geeigneter, als Menschen, welche in ihren Bewegungen träge und ungeübt sind, wie es z. B. bei Gelehrten, die nur am Schreibtisch sitzen und mit Hilfe von Büchern arbeiten, leicht der Fall sein könnte. Ich kenne aber andererseits die Neigung der Menschen eine Angabe, deren Bestätigung sie in sich nicht zu finden vermögen, sofort für unrichtig zu halten. Solchen Neigungen gegenüber wird es zweckmäßig sein, hervorzuheben, daß ich allerdings eine feine Beobachtungsgabe für Muskelgefühle besitze, daß ich aber hierin nicht vereinzelt dastehe; ich habe unter meinen Kollegen, die gleich mir zu ihrer Wissenschaft auch ein Handwerk treiben, einige gefunden, welche in dieser Richtung ebensogut, wenn nicht noch besser veranlagt sind, wie ich. Ich muß ferner bemerken, daß solche Anlagen bei Frauen durchschnittlich besser entwickelt zu sein scheinen, wie bei Männern. Und ich möchte schließlich nicht unerwähnt lassen, daß ich bei meinen Beobachtungen wohl einerseits auf Menschen gestoßen bin, die sehr intelligent sind, dennoch aber ein einigermaßen stumpfes Muskelgefühl besitzen; dann wieder auf sogenannte Kreuzköpfe, die trotz einer scheinbar sehr entwickelten Intelligenz zu keiner ruhigen inneren Beobachtung gelangen können, daß ich aber im Großen und Ganzen - ich meine abgesehen von einzelnen besonders entwickelten speziellen Fertigkeiten - die Fähigkeit auf die eigenen Muskelgefühle zu achten umso besser entwickelt gefunden habe, je intelligenter die Menschen sind.

Es scheint mir ferner nicht belanglos, darauf aufmerksam zu machen, daß die Beobachtungen der eigenen Muskelgefühle nur bei sonstiger körperlicher Ruhe gemacht werden sollen.

Wenn ich z. B. die Bewegung einer exerzierenden Truppe wahrnehme und dabei auf jene Muskelgefühle achten will, welche sich an diese Wahrnehmung knüpfen, muß ich meine Gehbewegungen einstellen und mich irgendwohin so postieren, um ungestört beobachten zu können.



U n t e r s u c h u n g

A.
Die Bewegungsvorstellungen

A 1. Erinnerungsbilder von den Bewegungen
des eigenen Leibes

Wenn ich mich niederlege, die Augen schließe, und nun den Versuch mache mir vorzustellen, daß ich  gehe,  so kostet mich das eine gewisse Anstrengung.

Ich betone hier das Wort "gehen", weil ich nur die Vorstellung des wirklichen Gehens oder Schreitens im Sinn habe. Ich kann mir nämlich vorstellen, daß ich mich in einer Straße fortbewege, ohne an mein Ausschreiten zu denken, und eine solche Vorstellung kostet mich - aus Gründen die später ersichtlich werden sollen - weniger Anstrengung als die des wirklichen Schreitens. Um mir aber das Ausschreiten, um mir meinen Körper gehend vorzustellen, muß ich mich recht zusammennehmen, und ich bringe es in der Regel nicht über die Vorstellung von einigen Schritten hinaus. Nach der Vorstellung von einigen Schritten, wird es mir so, als wenn ich wieder liegen würde; ich raste mich gleichsam in der Vorstellung wieder aus, stelle mir wieder einige Schritte vor und höre wieder auf.

Dieses Verhältnis ist ein umso merkwürdigeres, als ich während des Gehens ein sehr lebhaftes Gefühl der Bewegung habe, und als ich mich andererseits an lebhafte Wahrnehmungen, in der Regel sehr leicht erinnern kann. Ich kann Werke der Dicht- und Tonkunst sehr viele Minuten hindurch ohne zu ermüden durch mein Bewußtsein ziehen lassen, ich kann mich in der Erinnerung leicht mit Werken der bildenden Kunst oder mit gesehenen Landschaften beschäftigen; warum kann ich mir nun keinen längeren Spaziergang kontinuierlich vorstellen?

Ein genaues Beachten meiner Erinnerungen an das Gehen bringt hierüber einigen Aufschluß.

Wenn ich mir vorstellen will, daß ich gehe, so muß ich hiermit Gefühle in den Gehwerkzeugen verknüpfen. Dieses Gefühl ist bei mir am lebhaftesten im Oberschenkel. Ich muß förmlich für jeden Schritt, den ich vorstellen will, ein solches Gefühl im Oberschenkel aufleben lassen, so als wenn ich ihn wirklich vorwärts bewegen, als wenn ich ausschreiten wollte.

Mit dem Hinweis auf meine Erörterung über die Sprachvorstellungen und auf die Bemerkungen, welche ich schon in dieser Schrift (sub III der Einleitung) vorgebracht habe, will ich diese Gefühle als Muskelgefühle bezeichnen.

Wenn ich also ruhig daliege und mir vorstellen will, daß ich gehe, muß ich Muskelgefühle in mir aufleben lassen, und zwar Gefühle in jenen Muskeln, mit welchen ich die Gehbewegung wirklich ausführen würde, und nur mit Zuhilfenahme dieser Gefühle werden meine Vorstellungen vom eigenen Gehen unterhalten.

Das Wachrufen dieser Muskelgefühle ist mir im Zustand der Ruhe nicht angenehm. Ich  kann  die Gefühle wohl wachrufen, ich  kann  mir meine Gehbewegungen vorstellen, aber es kostet mich eine Anstrengung es zu tun, und ich führe sie daher nicht gleichmäßig durch. In dem Augenblick aber, in welchem ich aufhöre, meine Muskelgefühle wachzurufen, hat auch meine Gehvorstellung ein Ende, sie weicht der weitaus behaglicheren Vorstellung, welche dem tatsächlichen Zustand der ruhenden Muskeln entspricht.

Das, was ich von den Vorstellungen über meine Gehbewegungen gesagt habe, gilt für alle meine willkürlichen Bewegungen, nur daß der Grad der Anstrengung, welcher zur Vorstellung gehört, verschieden ist. Die Vorstellung der Bewegung beim Reiten (im sogenannten englischen Trab) ist mir viel angenehmer, als die des Gehens. Ich habe dabei das Muskelgefühl in der Region des Beckens und es strengt mich dies, wenn ich nicht gerade sehr müde bin, so wenig an, daß ich mir einen solchen Ritt Minuten hindurch fast mit Behagen vorstellen kann.

Die Vorstellung des Fechtens (8) und aller anderen Übungen mit den Oberarmen macht mir größeres Unbehagen, wie die des Gehens.

Die Vorstellung des Schreibens verläuft bei mir auch nicht sehr leicht. Von den Augenbewegungen, welche bei den Bewegungsvorstellungen eine große Rolle spielen, werde ich sehr bald an einer anderen Stelle sprechen.

Die übrigen Muskelgruppen erwähne ich nicht weiter. Ich setze voraus, daß es jedem, der sich für die Sache interessiert, leicht werden wird, sich durch eine eigene Beobachtung und durch Aussagen anderer davon zu überzeugen, daß die  Vorstellung jeder wie immer gearteten Bewegung des eigenen Leibes mit solchen Muskelgefühlen verknüpft ist. 

Indem ich aber die wenigen Beobachtungen, über welche hier berichtet wurde, als das Fundament meines ganzen Beweisverfahrens ansehe, erlaube ich mir an diejenigen Leser, welche die Beweise auch prüfen wollen, die Bitte zu richten, über diese  sub A 1  gemachten Mitteilungen nicht eher hinwegzugehen, als bis sie sich von den in Rede stehenden Muskelgefühlen eine ganz sichere Überzeugung verschafft haben. Wer diese Gefühle nicht sofort zu beobachten vermag, soll den Versuch am Morgen nach einer gut verbrachten Nacht, und zwar noch im Bett wiederholen. Wem ferner die Muskelgefühle bei der Vorstellung des Gehens nicht lebhaft genug auftauchen, der versuche es mit Vorstellungen von solchen Bewegungen der Oberextremität, die ihm am geläufigsten sind; ein geübter Schwimmer versuche es mit der Vorstellung des Schwimmens, ein geübter Klavierspieler mit der Vorstellung des Klavierspielens. Ist man einmal über eine Bewegung im Klaren, so gelingt es dann leichter, sich auch über die übrigen Bewegungen zu orientieren.


A 2. Erinnerungen an die Bewegungen
von Objekten der Außenwelt

Bei den Beobachtungen, welche ich im folgenden Abschnitt schildere, muß ich diejenigen, welche das Geschilderte nachfühlen wollen, daran erinnern, daß hier leichter eine Inkongruenz mit meinen Angaben unterlaufen kann, als bei den Wahrnehmungen die sub A 1 zur Sprache gekommen sind. Ich werde im Verlauf der Schrift auch diese Inkongruenzen aufklären, vorläufig gehe ich aber darauf nicht ein, da ich annehme, daß die Mehrzahl der Menschen - bei ruhiger Beobachtung mit geschlossenen Augen - meine positiven Angaben bestätigen wird.

Wenn ich es versuche, die Gehbewegungen einer zweiten Person, sagen wir eines auf Kommando marschierenden Soldaten in meiner Erinnerung auftauchen zu lassen, und zwar derart, daß ich ihn erst in  einer  Körperlage (sagen wir etwa beide Beine auf dem Boden ruhend) vorstelle, und nur mir weiter vorstellen will, wie er auf das Kommando "Marsch" ein Bein erhebt und so vorwärts wirft, als es zur Ausführung eines Schrittes nötig ist, dann merke ich, daß ich an  einen meiner  Oberschenkel erinnert werde.

Wenn ich im Erinnerungsbild die Hebung des linken Beines vorstellen will, verspüre ich etwas in  meinem  linken Oberschenke; wenn ich die Hebung seines rechten Beines vorstellen will, so springt das Mitgefühl wieder in meinen rechten Oberschenkel; will ich mir vorstellen, daß mein Erinnerungsbild die Arme pendelt, so spüre ich wieder etwas in meinen Armen; und zwar korrespondiert mein Gefühl wieder mit der vorgestellten Bewegung derart, daß ich das Gefühl im linken Arm spüre, wenn ich mir die Bewegung des linken Armes in meinem Bild vorstelle. Und so kann ich alle Muskelgruppen durchgehen, welche ich mit dem Willen beherrsche. So oft ich in mein Erinnerungsbild von einer zweiten Person die Vorstellung einer Bewegung eintragen will, so verspüre ich etwas in meinen eigenen jener Bewegung korrespondierenden Muskelgruppen.  Ich habe dabei den Eindruck, als wenn ich meinem Bild helfen würde die Bewegungen auszuführen. 

Ich habe ferner den Eindruck, als ob ich in diesem Erinnerungsbild die Hebung eines Beines nur insoweit vorstelle, als mein eigenes Bein dahinter herschreitet,  also etwa so, wie die korrespondierenden Beine zweier ganz kongruent marschierender Soldaten.

Versuche ich mir zwei Soldaten vorzustellen, die gleichzeitig, sagen wir, mit je einem linken Bein ausschreiten, sofort ist mein Bein als Drittes in der Vorstellung vorhanden, wobei ich mir aber sehr wohl bewußt bin, daß jene zwei linken Beine in meinem Kopf als Erinnerungsbilder leben, während ich das dritte, d. h. mein Bein an seinem wirklichen Platz verspüre.

Versuche ich das Mitgefühl in meinem Bein zu unterdrücken und meine ganze Aufmerksamkeit auf das Erinnerungsbild zu lenken, so kommt mir das letztere wie gelähmt vor (9). Versuche ich hingegen, meinem eigenen Bein größere Aufmerksamkeit zu schenken, um mir vorzustellen, daß ich es eben nach rückwärts pendle, so habe ich die Vorstellung, als ob ich das korrespondierende Bein meines Erinnerungsbildes mitziehen würde, und es gelingt mir bei  großer  Aufmerksamkeit nicht, mein Bild vorwärts ausschreitend vorzustellen, genau in demselben Moment, in welchem  ich  mich nach rückwärts ausschreitend vorstelle. Wenn ich es versuche mir die Dinge so vorstelle. Wenn ich es versuche mir die Dinge so vorzustellen, merke ich eine zeitliche Differenz zwischen der einen und der anderen Vorstellung. Ich werfe gleichsam (dem Gefühl nach) mein Bein rasch nach rückwärts und helfe dann dem Erinnerungsbild sofort im Vorwärtsschreiten.

Die hier geschilderten Wahrnehmungen am Erinnerungsbild einer zweiten Person, sonder noch viel merkwürdiger als jene über Bewegungsvorstellungen meines eigenen Leibes.

Nach der herrschenden Lehre gelangen wir, wie ich schon mitgeteilt habe, zur Vorstellung von einer Bewegung durch den Eindruck, welchen die Bewegung auf unsere Sinne macht. Indem ich also einen gehenden Menschen sehe, sagt man, so erfasse ich seine Bewegung durch das Sehen; indem ich ihn gehen sehe, indem sich das von ihm in meinem Auge entworfene Bild bewegt, nehme ich die Bewegung wahr. Wenn aber diese Behauptung richtig wäre, so müßte es in hohem Grad befremdend erscheinen, daß ich mir das gesehene Bild nicht auch als bewegtes in Erinnerung bringen könnte, ohne mein Muskelgefühl in Mitleidenschaft zu ziehen.

Bevor ich indessen diese Angelegenheit weiter verfolge, will ich dartun, daß die Verknüpfung von Muskelgefühlen mit Gesichtsbildern nicht nur bei den Erinnerungen an das Ausschreiten der Menschen, sondern bei der Erinnerung an alle Bewegungen der Menschen und an alle Bewegungen überhaupt erkennbar ist.

Insoweit es den Menschen betrifft, assoziiere ich mit den Erinnerungen an seine Bewegungen in der Regel Gefühle in jenen Muskeln, mit welchen ich die analoge Bewegung ausführen möchte. Die Gefühle in den Augenmuskeln können indessen in vielen Fällen vikarierend [stellvertretend - wp] eintreten. Ich kann mir zunächst die Fortbewegung jedes einzelnen Menschen und auch die Fortbewegung meines Körpers sehr wohl vorstellen, ohne irgendein Gefühl in den Schenkeln. Ich brauche nur die Erinnerung an die Fortbewegung wachzurufen, meine Aufmerksamkeit dabei gewaltsam von den Unterextremitäten  des Erinnerungsbildes  abzulenken und mir gleichsam das Fortschweben des Menschen vorzustellen. Sobald aber diese Vorstellung in mir auftaucht, spüre ich etwas in meinen Augen. Will ich dabei auch meine Gefühle in den Augen unterdrücken, so kann ich mir auch das Fortschweben des Erinnerungsbildes nicht mehr vorstellen; das Erinnerungsbild erscheint mir wie gefesselt.

Bei einer gewissen Aufmerksamkeit auf meine Augen gelingt es mir auch das Ausschreiten eines Menschen vorzustellen, ohne dabei Muskelgefühle in den Extremitäten wahrzunehmen. Diesen Fall habe ich im Sinn gehabt, als ich oben davon sprach, daß sich Inkongruenzen mit meinen Behauptungen ergeben könnten. Ich kann also die Gefühle in den Augenmuskeln vikarierend für die in er Schenkelmuskulatur eintreten lassen. Aber es kostet mich einige Anstrengung dieses Vikarieren einzuleiten. Auch habe ich aus Mitteilungen anderer Menschen entnommen, daß bei den Erinnerungen an das Ausschreiten die Muskelgefühle an den entsprechenen Extremitäten zur Norm gehören. Es wäre aber immerhin möglich, daß namentlich Menschen, die wenig gehen, hierin eine Ausnahme machen und ihre Erinnerungsbilder an gehende Menschen nur mit Gefühlen in den Augenmuskeln verbinden.

Beiläufig will ich hier bemerken, daß mir die Bewegungsvorstellung mit Hilfe der Augenmuskeln viel bequemer erscheint, al die mit Hilfe der Geühle in den Oberschenkelmuskeln. Der Unterschied scheint mir so groß, als sollte ich das eine Mal einem Menschen mit den Augen folgen und das andere Mal ihm nachlaufen. Wenn ich dennoch angebe, daß meine Erinnerungsbilder vom Ausschreiten in der Regel von den minder bequemen Gefühlen begleitet sind, und daß ich mir erst Zwang antun muß, um die Schreitbewegungen mit Hilfe der Augenmuskeln vorzustellen, so ist das eben ein Ausdruck der Tatsachen.

Ich war, bevor ich diese Arbeit aufgenommen habe, daran gewöhnt, die Vorstellung vom Ausschreiten anderer Menschen mit  Muskelgefühlen in meinen Extremitäten  zu begleiten, und es hat mich einen großen Zwang gekostet, jene Gefühle durch ein Mitwirken der Augenmuskeln zu ersetzen. War der Tausch einmal vollzogen, so fiel es mir viel leichter, das Bild des Gehens anderer Menschen mit den Augenmuskeln als mit den Schenkelmuskeln zu verfolgen.

Im Laufe meiner Arbeiten über diese Frage hat sich inzwischen die Sachlage geändert. Es fällt mir jetzt sehr leicht, eine jede Gehbewegung anderer Menschen ausschließlich mit Hilfe der Augenmuskeln vorzustellen. (10)

Mit den Erinnerungsbildern an die Bewegungen großer Tiere geht es mir ähnlich wie mit den Erinnerungen an die Bewegungen der Menschen. Wenn ich mir das Bild eines Pferdes vorstelle, das eben an einem schweren Wagen zieht, knüpft sich daran ein Gefühl in der Brust- und Schultergegend. Wenn ich mir andererseits ein ruhig ausschreitendes Pferd vorstelle, verknüpfe ich damit ein ähnliches Innervationsgefühl in meiner Schenkelmuskulatur oder in den Augenmuskeln wie mit den Vorstellungen vom ausschreitenen Menschen.

Bei der Erinnerung an die Bewegungen kleiner Tiere sind es zumeist nur Gefühle in den Augenmuskeln, welche sich daran knüpfen, wenngleich ich gelegentlich ins Schwanken komme, bald das Gefühl in den Oberschenkeln und bald in den Augenmuskeln habe.

Meine Erinnerung an die Bewegungen aller leblosen Objekte sind zumeist mit Gefühlen in den Augenmuskeln verknüpft. Wenn ich mir den Zug der Wolken vergegenwärtigen will, muß ich damit das Gefühl verknüpfen, als ob die Augen den Wolken folgen würden. Suche ich dieses Gefühl zu unterdrücken, sofort wird auch die Vorstellung von der Bewegung sistiert [aufgehoben - wp], die Wolken scheinen wie festgebannt. Ebenso wie mit den Bildern von Wolken geht es mir mit der Erinnerung an den Zug der Vögel, an den aufsteigenden Rauch, an den vorbeieilenden Wagen.

Bei der Erinnerung an das Vorbeibrausen eines Eisenbahnzuges namentlich, wenn ich mich dabei in ein Coupé des Gegenzuges hineinversetze, wirken auch Gefühle in den Halsmuskeln mit. Ich habe das Gefühl, als wollte ich den Kopf drehen. Versuche ich es den Kopf und die Augen fixiert zu denken, so halte ich in der Vorstellung den Zug auf, wobei ich mir aber, wie ich bemerken will, Gewalt antun muß. Es ist mir förmlich unangenehm, nir den vorbeibrausenden Zug vorzustellen und plötzlich die dabei funktionierenden Muskelgefühle gewaltsam zu unterdrücken.

Die Bewegung von kleinen Rädern, sowie jede rotierende Bewegung kleiner Körper stelle ich mir nur mit Hilfe von Gefühlen in den Augenmuskeln vor. Bei der Vorstellung der Rotation sehr großer Räder wirken wieder Hals- und Nackenmuskeln mit. Ich habe das Gefühl, als wollte ich dem Rad mit dem Kopf folgen. Suche ich alle Muskelgefühle zu unterdrücken und die Augen-, Hals- und Nackenmuskeln nicht zu innervieren, so scheint das Rad still zu stehen.

Was ich hier für einzelne Fälle ausgesagt habe, ist für mein Subjekt allgemein gültig, ich kann mir keine Bewegung vorstellen, ohne dabei irgendeine Muskelgruppe ins Mitgefühl zu bringen. Ohne dieses Mitgefühl erscheinen mir die Objekte der Außenwelt wie gelähmt. Ich kann mir dann nur noch Phasen der Bewegung, aber nicht die Bewegung selbst vorstellen.

Dieser Satz führt aber zu der weiteren Konsequenz, daß ich mir ohne Zutun meines Muskelgefühls keine Veränderung in der Außenwelt vorstellen kann.

Wenn ich mir vorstellen will, daß ein gelber Körper blau wird, so kann ich das Gelb und Blau sehr wohl nacheinander vorstellen, ohne dabei an einen Muskel zu denken. Wie ich mir aber das Werden des Blau denken will, muß ich das Muskelgefühl zu Hilfe nehmen, und zwar geschieht es bei mir wieder mit Hilfe der Augen oder der Halsnackenmuskeln.

Wenn ich mir schließlich die hypothetische Lagenänderung der hypothetischen Moleküle oder Atome der Physiker vorstellen will, muß ich mir sie zunächst als gesehene oder getastete Gestalten (selbstverständlich von wahrnehmbarer Größe) vorstellen und um ihnen in der Vorstellung eine Lagenänderung zu erteilen, muß ich irgendeine Muskelgruppe innervieren. Ich muß ihren Bewegungen mit den Augen, mit dem Kopf, mit den Schultern oder mit sonst einem Körperteil folgen oder zu folgen streben, widrigenfalls ich mir nur Vorstellungen von unbewegten Teilchen bilden kann.


A 3. Die Muskelgefühle, welche sich an die direkte
Beobachtung bewegter Körper der Außenwelt knüpfen.

Ich habe sub A 1. und A 2. den Beweis zu erbringen versucht, daß wir uns (in der Erinnerung) keine Bewegung ohne Muskelgefühle vorstellen können. Nun entsteht aber die Frage, wie sich das Verhältnis bei den äußeren Beobachtungen von der Bewegung gestaltet. Können wir die sichtbaren Bewegungen eines Körpers allein aus der Gesichtswahrnehmung erfassen?

Diese Frage ist eigentlich schon beantwortet. Die Antwort geht aus der Zergliederung der Erinnerungsbilder hervor. Ich stelle mir, sagte ich, das Ausschreiten eines stehenden Mannes nur so vor, daß ich das gesehene Bild der Lagenänderung des Beines mit einer Innervation meiner eigenen Muskeln begleite, wenn ich die letztere unterdrücke, erscheint mir das Erinnerungsbild wie gelähmt. Diese Beobachtung nun kann in doppelter Richtung für den Beweis ausgewertet werden. Erstens lehrt micht das tatsächliche Verknüpftsein in der Erinnerung, daß die Verknüpfung auch bei der Beobachtung des Ausschreitens dagewesen sein muß. Denn in der Erinnerung ist  Nichts  enthalten und kann  Nichts  enthalten sein, was nicht vorher wahrgenommen wurde. Was in der Erinnerung verknüpft und immer verknüpft auftaucht, muß auch immer verknüpft wahrgenommen worden sein. Zweitens lehrt mich der Umstand, daß mir das Gesichtsbild allein wie gelähmt erscheint, wenn ich es nicht durch das Bewegungsgefühl begleite, daß die Gesichtswahrnehmung uns auch während der äußeren Beobachtung allein keine Bewegungsvorstellung vermittelt. Denn wenn dies der Fall wäre, müßte auch die Erinnerung an die Gesichtswahrnehmung eine Bewegungsvorstellung enthalten.

So zwingend jedoch dieser Beweis auch sein mag, er ist immerhin nur indirekt gefüht, und wir werden eben durch indirekte Beweise niemals in dem Grad befriedigt, wie durch direkte Wahrnehmungen. Ich habe daher auch den Eindrücken, welche ich bei der Ansicht bewegter Körper erlange, größere Aufmerksamkeit geschenkt und bin dabei zu einigen interessanten und lehrreichen Erfahrungen gelangt. Bevor ich aber diese Erfahrungen mitteile, will ich die Gunst des Lesers für meine Behauptung durch den Hinweis auf die Nachahmungen zu gewinnen suchen.

Eine Bewegung nachahmen, heißt doch nichts anderes, als genau oder fast genau dieselbe Muskelgruppe in Bewegung setzen, durch welche die eben nachzuahmende Bewegung ausgeführt wurde. Die Anregung zur Nachahmung von Bewegungen geht in der Regel von den Augen aus. Wir sehen die Phasen der Bewegung; die Erregung wird von unserer Netzhaut zur Hirnrinde geleitet und von dort aus auf die motorischen Zentren jener Muskeln übertragen, welche den bestimmten Bewegungen entsprechen.

Nun bedenken wir, daß die überwiegende Mehrzahl aller menschlichen Verrichtungen auf Nachahmung beruth. Es gibt nur wenige, der Willkür unterworfene Bewegungen, zu welchen das neugeborene Kind auf dem Weg des Reflexes angeregt wird. Ferner gibt es nur wenige Bewegungen, zu welchen das Kind durch passives Bewegen der Ober- und Unterextremitäten gebracht wird; im Großen und Ganzen werden Bewegungen, wie Gehen, Schwimmen durch Nachahmung eingeleitet. Auch Nachahmung beruhen alle gewerblichen Hantierungen, sowie die manuellen Ausführungen, durch welche die Lehrlinge in die Technik von Kunst und Wissenschaft eingeführt werden. Auf Nachahmung beruth schließlich auch die Kunst der Mimen. Ich führe die Mimen zuletzt an, weil hier die Fähigkeit zur Nachahmung am höchsten entwickelt zu sein scheint. Die Mimen ahmen nicht nur solche Bewegungen nach, welche in den allgemeinen Typus ihres Handwerkes hineinfallen, sondern auch die typischen Bewegungen einzelner Individuen und selbst den Muskeltonus, durch welchen der Gesichtsausdruck und die Körperhaltung einzelner Individuen bedingt werden.

Auf die erste Betrachtung hin hat es nun wohl den Anschein, als ob man zu den Nachahmungen durch den Unterricht gelangen könnte. In der Tat ist es ja bekannt, daß man gewissen Individuen einzelne Bewegungen wiederholt vorführen muß, ehe sie zur Nachahmung gelangen. Überlegen wir aber, was denn der Unterricht hier eigentlich zu leisten imstande ist. Indem ich dem Lehrling zeige, wie ich meine Hand (für gewisse Zwecke) bewege, zeige ich ihm nur Phasen der äußeren Bewegung. Die Beziehung meiner Sehbildert auf die Muskelnervenzentren meines Hirns, kann ich ihm nicht zeigen und in der Regel haben Lehrer und Lehrling von der Existenz solcher Beziehungen auch nicht die geringste Kenntnis.

Wenn also im Menschen nicht die Einrichtung und die Neigung vorhanden wäre, gewisse Sehwahrnehmungen sofort auf ganz bestimmte Muskeln zu übertragen, so wäre nicht einzusehen, was der Unterricht hier fruchten könnte.

Indem der Lehrer die Bewegung wiederholt ausführt und so die Netzhaut des Lehrlings wiederholt von den daselbst entworfenen Bildern der Bewegungsphasen ergreifen läßt, wird schließlich die Erregung intensiv genug, um die entsprechenden Muskelbewegungen des Lehrlings auszulösen. Nur in seltenen Fällen und bei ganz jugendlichen oder ganz ungeschickten Individuen müssen diese Anregungen durch ein passives Bewegen der Extremitäten unterstützt werden. Durch das passive Bewegung der Extremität wird der Lehrling auf gewisse Bewegungsgefühle aufmerksam gemacht, und er erwirbt somit die Fähigkeit, die gleichen Bewegungen auch aktiv nachzuahmen.

Diese Betrachtungen zeigen uns also, daß jeder normale Mensch die Einrichtung und die Neigung besitzen muß, gesehene Bewegungen anderer Menschen mit einer Innervation jener Muskeln zu begleiten, mit welchen er die analoge Bewegung ausführen könnte.

Um sich direkt davon zu überzeugen, daß die Ansicht von sich bewegenden Menschen in uns in der Tat jene Muskelgefühle wachruft, welche nachträglich in den Erinnerungsbildern gefunden werden, ist es zweckmäßig die Reize zur Auslösung solcher Muskelgefühle möglichst groß zu machen. Meine Erfahrungen haben mich nun gelehrt, daß diese Muskelgefühle in mir lebhafter sind, wenn ich die Exerzierübungen einer Truppe beobachte, als wenn ich einen einzelnen Passanten auf mich wirken lasse. Beim Exerzieren einer Truppe werden die Bewegungen einerseits energisch und scharf begrenzt ausgeführt, andererseits überblicke ich aus einiger Entfernung sehr leicht eine Linie von zwanzig Mann Länge, und drei Mann Tiefe, die alle die analogen Bewegungen auf ein Kommando, wie mit einem Schlag effektuieren.

Wenn ich mich also in der geeigneten körperlichen Verfassung in einiger Entfernung von einem Exerzierplatz aufstelle, daß ich die exerzierende Truppe bequem beobachten kann, ohne aber die Kommandoworte zu verstehen, so werde ich mir gewisser Muskelgefühle so lebhaft bewußt, als würde ich selbst unter diesem Kommando stehen, und bestrebt sein, demselben Folge zu leisten. Wenn die Truppe marschiert, begleite ich sie taktmäßig mit Gefühlen in meinen Unterextremitäten; wenn sie Armschwenkungenn vornimmt, habe ich ziemlich intensive Muskelgefühle in den Oberarmmuskeln; wenn die Truppe kehrt macht, so habe ich die Gefühle im Rücken. All diese Gefühle treten trotzdem ich das Kommando und auch die Bewegungsgeräusche nicht höre - doch so präzise und so ausgesprochen in Begleitung der Gesichtswahrnehmungen auf, daß hier von zufälligen, aus unbekannten Veranlassungen hervorgegangenen Gefühlen nicht mehr die Rede sein kann.

Ich habe hier zunächst die Wirkung besprochen, welche von der Ansicht einer energischen und konformen Bewegung einer größeren Zahl von Menschen ausgeht. Es ist aber für mich nicht schwer, ähnliche Mitgefühle auch durch die Bewegungen einzelner Personen auslösen zu lassen, und ich will zum Beleg für diese Meinung auch über derlei Beobachtungen einige Mitteilungen machen.

Ich wohn im ersten Stockwerk einer kleinen Straße, durch welche nur wenig Menschen gehen. Ich stelle mich ans Fenster um zu beobachten und höre die Schritte eines kräftig auftretenden Menschen. Das taktmäßige Ausschreiten ruft in mir (11), solange ich es nur höre, keinerlei Muskelgefühl hervor.

Inzwischen kommt der Passant in Sicht; ich achte nur auf seinen Oberkörper und spüre noch immer nichts in meinen Oberschenkeln; in dem Moment aber, als ich meinen Blick auf seine Unterextremitäten richte, fühle ich sofort das taktmäßige Mittun in meinen Unterextremitäten, wenngleich nur in ebenmerklicher Weise. Nun kommt ein Soldat vorbei, der stark mit den Armen pendelt, sofort habe ich das Gefühl in den Armen, als wollte ich taktmäßig mitpendeln. Mit einem Mal kommen mehrere Menschen gleichzeitig vorbei; ich kann nicht auf die Beine aller gleichzeitig achten; ich springe mit den Augen von einem zum andern; wie ich auf die Beine des einen sehe, habe ich den Takt seines Gangs in meinen Beinen; nun springe ich rasch zu einem anderen, der ihm entgegenkommt und viel schneller geht, sofort spüre ich wieder den Takt dieses Passanten in mir; kurz, ich begleite die Schritt eines jeden Passanten, insofern ich seine Unterextremitäten beobachte, mit einem taktmäßigen wechselnden Gefühl in  meinen  Unterextremitäten.

Diese Angaben beziehen sich aber zunächst nur auf Passanten in männlicher Tracht, deren Unterextremitäten ich mit Rücksicht auf ihre Kleidung sehr gut überblicken kann.

Bei Frauen aus den ärmeren Klassen, die, wie es in der Region der Fall ist, in welcher ich wohne, weite, schlottrige und so lange Kleider tragen, daß ich bei der Beobachtung von oben herab, von den Unterextremitäten wenig wahrnehme, folge ich den Bewegungen zumeist nur mit Gefühlen in den Augenmuskeln. Nur hie und da begleite ich deren Bewegungen einige Takte hindurch auch mit Gefühlen in der Muskulatur meiner Unterextremitäten.

Meine Beobachtungen über das Ausschreiten der Männer sind ferner auch nicht alle Tage gleich ausgefallen, und zwar wechselten die Resultate je nach meiner Geistesfrische und im Besonderen je nach der Erregtheit meiner Augen.

An einem meiner Beobachtungstage (ich war körperlich unwohl, und hatte überdies sehr viel am Schreibtisch gearbeitet) fand ich in mir gar keine Neigung die Schritte der Passanten anders als mit Augenmuskelgefühlen zu begleiten. Ich verließ nun meine Wohnung, ging über die Straße und kam zu einem Platz, wo eine Truppe von etwa 100 Mann exierzierte. Ich folgte auch hier den Gehbewegungen der Mannschaft nur mit den Augen und fühlte dabei auch meine Augenbewegungen sehr deutlich. Plötzlich führte die Truppe ausgiebige Armbewegungen aus, und sofort verspürte ich so intensive Muskelgefühle in meinen Arm- und Schultermuskeln, wie in früheren Tagen.

Vom Exerzierplatz ging ich hierauf in eine Theaterbude, um Gymnastiker zu beobachten. Ich stellte mich dabei so auf, daß ich den Turner eben erst in Sicht bekommen konnte, wenn er das Sprungbrett berührt. In dem Augenblick nun, als er sich vom Sprungbrett abhob, hatte ich ein sehr deutliches Gefühl in meiner Brustwand und dazu gesellte sich das Gefühl der Bewegung in den Augenmuskeln. Bei der Beobachtung des nächsten Sprungs war das Gefühl in der Brustwand schon sehr gering und es verlor sich bei der fünften und sechsten Beobachtung fast vollständig. Das Gefühl in den Augenmuskeln kehrte aber bei jedem Sprung wieder.

Ich brauche kaum zu erwähnen, daß ich nach den verschiedenen äußeren Beobachtungen auch die entsprechenden inneren Beobachtungen wiederholt habe und in der Regel die entsprechenden Muskelgefühle an die Erinnerungsbilder geknüpft gefunden habe.

In der Regel sage ich und bemerke gleich, daß ich auch Ausnahmen von der Regel kennen gelernt habe.

Wenn ich ein Schneegestöber beobachte, fällt es mir sehr schwer, eine Spur der Augenbewegungen zu entdecken, mit welchen ich den Flocken folge; doch habe ich jetzt nach langer Übung allerdings nicht mehr den geringsten Zweifel darüber, daß ich den einzelnen Flocken mit kleinen und raschen Augenbewegungen oder Bewegungsintentionen folge. Versuche ich es hingegen, mir in der Erinnerung ein Schneegestöber vorzustellen, so merke ich, daß ich mir eigentlich nur Phasen des Gestöbers, nämlich den von unbewegten Flöckchen durchsetzten Sehraum vorstelle. Zwinge ich mich, mir das ganze Gewimmel der Flocken vorzustellen, so verursacht mir das Unbehagen; ich möchte die Augen nach allen möglichen Richtungen rollen, und das eben ist mir unbehaglich. Ich begnüge mich daher damit, mir den Fall einzelner Flocken vorzustellen, dabei merke ich aber, daß nur diejenigen als bewegte Bilder in meiner Erinnerung sind, welchen ich mit den Augen folge.

Ich brauche nun nicht erst darzulegen, daß diese und ähnliche Ausnahmen von der oben angegebenen Regel den Hauptsatz, "daß ich mir keine Bewegung ohne Muskelgefühle vorzustellen vermag", nicht erschüttern.


A 4. Bewegungsvorstellungen von inneren Organen,
die dem Willen nicht gehorchen.

Unter den Muskelmassen des menschlichen Körpers ist ein nich geringer Teil dem direkten Einfluß des Willens vollständig entzogen. Für diejenigen Leser, welche mit den Einrichtungen und Funktionen des menschlichen Körpers nicht näher vertraut sind, wird es nicht überflüssig sein zu bemerken, daß die Atemmuskeln zwar in der Regel  ohne  Willenseinfluß arbeiten, dennoch aber der Willkür unterworfen sind. Ich kann meine Atmung (im wachen Zustand), für einige Sekunden ganz unterdrücken, ich kann nach meinem Belieben schneller oder langsamer, tiefer oder seichter atmen, allerdings nur solange, als ich nicht durch Atemnot zu einem gewissen Atemrhythmus gezwungen werde. Das innere Bedürfnis nach Atmung kann eben, wenn es sehr groß wird, den Willen überwinden, und das gilt nicht nur in Bezug auf das Atmen, sondern in Bezug auf alle Bewegungen.

Wenn man daher die Atmung für einige Sekunden aussetzen will, um während der Pause die Atembewegungen in aller Ruhe vorzustellen, ist es zweckmäßig, erst durch eine Anzahl kräftiger Atemzüge sein Atembedürfnis für einige Sekunden herabzusetzen, oder, wie es die Ärzte ausdrücken, sich für einige Sekunden apnoisch zu machen. Nachdem ich also rasch hintereinander fünf oder sechs kräftige Atemzüge gemacht habe, kann ich zehn Sekunden ohne jedes Atembedürfnis verharren und mir dabei in aller Ruhe die Atembewegung vorstellen. Dabei merke ih nun, daß diese Vorstellung mit einem gewissen dunklen Gefühl in der Gegend der unteren Rippen verknüpft ist. Es kommt mir vor, als wollte ich dabei die Rippen heben (12).

Anders gestaltet sich die Sache bei dem Versuch, mir die Bewegung solcher Organe vorzustellen, die dem Einfluß des Willens gänzlich entzogen sind, wie es z. B. bei Herzen der Fall ist.

Bevor ich aber von den inneren Beobachtungen über die Herzpulsation spreche, muß ich auch hier wieder für diejenigen, welche mit den Erscheinungen am menschlichen Herzen nicht vertraut sind, einige Bemerkungen eintragen.

Ganz gesunde jugendliche und kräftige Individuen pflegen im Zustand der Ruhe von ihren Herzbewegungen gar nichts zu verspüren. Das Muskelgefühl am Herzen tritt bei solchen Individuen in der Regel erst ein, wenn sie den Körper bewegen; bei manchen Individuen erst dann, wenn sie heftige Bewegungen ausführen oder aber, wenn sie von sogenannten Gemütsaffekten ergriffen werden, wie z. B. unmittelbar nach dem Empfang erfreuender oder deprimierender Nachrichten. Mit der Zunahme der Jahre pflegt sich eine größere Erregtheit des Herzens einzustellen und die Zahl der älteren Leute, welche im Zustand körperlicher Ruhe von den Herzbewegungen (wenn sie darauf achten) gar nichts verspüren, dürfte prozentual ziemlich gering ausfallen. So könnte es sich also ereignen, daß viele von den Lesern gar nicht in der Lage sind, sich davon zu überzeugen, wie sie sich ihre eigenen Herzbewegungen vorstellen möchten, zu einer Zeit, in der sie von der Arbeit ihres Herzens gar keine  direkte  Nachricht haben. Solchen Lesern nun empfehle ich, die Beobachtung wenigstens am Morgen, unmittelbar nach dem Erwachen aus einem ruhigen Schlaf, noch während der Ruhelage im Bett vorzunehmen. Denn um diese Zeit pflegen die vom Herzen ausgehenden Muskelgefühle den niedersten Stand zu erreichen, namentlich, wenn die Arme so  neben  dem Stamm liegen, daß der Blutlauf  in ihnen  oder im Allgemeinen durch ihre Lage auf dem Leib keine Hemmungen erfährt.

Wenn ich nun im Zustand körperlicher Ruhe und zu einer Zeit, da ich meine Herzbewegungen gar nicht fühle, den Versuch mache, die Pulsationen meines Herzens vorzustellen, so kostet es mich zunächst große Anstrengungen, von den Erinnerungen an jene Tierherzen (namentlich Herzen der Hunde) abszusehen, deren Tätigkeit ich oft beobachtet habe. Wenn es mir schließlich gelingt, die Erinnerungen an gesehene Herzbewegungen zu unterdrücken, so kann ich mir, (wohl nur bei geschlossenen Augen) die Pulsationen meines Herzens vorstellen, aber ich muß dabei Innervationen der Augenmuskeln oder der Brustmuskeln zu Hilfe nehmen. Ich begleite die Vorstellung einer jeden neuen Zusammenziehung des Herzens mit einem Gefühl der Augenwendung oder mit dem Gefühl, welches sich an die Hebung meines Brustkastens knüpft. Versuche ich es, meine Erinnerung so auf das Herz zu konzentrieren, daß ich von jedem anderen Muskel absehen kann, dann entfällt mir auch die Vorstellung der Herzbewegung.

Wenn ich dagegen erst einige Minuten hindurch ein kräftiges Zimmerturnen durchführe oder einige Male die Treppe auf und ab laufe und mich dann, solange die Herztöne noch lebhaft sind, hinsetze, um auf diese Schläge zu achten, dann habe ich, während das Herz in für mich wahrnehmbarer Weise schlägt, von seinen Bewegungen eine dunkle Vorstellung. Bei dieser Vorstellung kommen mir meine Erfahrungen über Tierherzen wohl gleichfalls zustatten. Ich verfolge die Phasen meiner Herzbewegung so genau, nur weil ich die Bewegungen vom Tierherzen gesehen habe. Aber die Vorstellung, welche ich von meinem direkt wahrnehmbar pulsierenden Herzen erlange, scheint mir eine Bewegungsvorstellung zu sein (13), in welcher kein anderes Muskelgefühl eingetragen ist, als eben das Gefühl im oder vom Herzen.

Ich kann mir also von meiner Herzbewegung vielleicht eine, wenn auch dunkle Vorstellung machen, solange ich seine Schläge direkt wahrnehme, solange das vom Herzen ausgehende Gefühl lebhaft genug ist, um in mein Bewußtsein zu dringen. wenn aber dieser Zustand vorüber ist, so kann ich mir die Herzbewegung nicht mehr direkt, nicht in dem Sinne vorstellen, wie ich mir etwa die Bewegung meines Armes oder meiner Schultern vorstelle. Ich kann mir dann nur eine Herzbewegung mit Hilfe der Innervation willkürlicher Muskeln vorstellen, und das ist eigentlich nicht mehr die Vorstellung  meiner  Herzbewegung.

Diese Beobachtungen über die Herzbewegungen lassen also wohl die Möglichkeit zu, daß das Muskelgefühl nicht gerade von der Willkür angeregt sein muß, um in mir die Bewegungsvorstellung wachzurufen, sondern daß sich auch an das Muskelgefühl als solches eine Bewegungsvorstellung knüpfen könnte. Die Beobachtungen lehren aber andererseits, daß ich mir kein Erinnerungsbild von den Bewegungen meines ganz normal pulsierenden Herzens verschaffen kann, insofern ich eben nicht imstande bin, das Muskelgefühl im Herzen durch Nerven der Willkür wachzurufen.

Darin liegt aber ein neuer Beweis für die Behauptung, daß ich mir in der Erinnerung keine Bewegung vorstellen kann, ohne dabei das Muskelgefühl aktuell durch zentrifugale Impulse wachzurufen.


A 5. Das Stroboskop, ein Apparat um die Assoziation von
Muskelgefühlen mit Sinneswahrnehmungen zu erweisen

Ich habe schon in der Einleitung zu dieser Schrift einen Apparat erwähnt, der angeblich geeignet sein soll, um die Verschmelzung von Sehbildern zu Bewegungsvorstellungen zu demonstrieren. Einen solchen Apparat besitzen wir im sogenannten  Stroboskop.  Im Lauf der letzten Jahre haben die Wiener Spielwarenhändler Stroboskope (14) als Kinderspielzeuge auf den Markt gebracht, und ich darf daher annehmen, daß viele von den Lesern mit dem Apparat vertraut sind, daß aber andererseits diejenigen Leser, welche meine Versuche nachahmen wollen, leicht in der Lage sein werden sich Stroboskope zu verschaffen. Wenngleich in der Form eines primitiven Spielzeugs, ist der Apparat dennoch geeignet uns über eines der wichtigsten Probleme der Psychologie interessante Aufschlüsse zu bringen.

Das Stroboskop setzt uns in die Lage Abbildungen von in Bewegung begriffenen Körpern als in wirklicher Bewegung begriffen aufzufassen; es ist also ein Mittel uns zu täuschen, oder wie ich lieber sagen will, uns die Vorstellung von der Bewegung gemalter Gestalten aufzuzwingen.

In meinem kleinen Exemplar sind die Figuren in Schwarz- oder Farbendruck auf Papierstreifen von etwa 6 cm Breite und 50 cm Länge (und zwar auf jedem Streifen zwölf an der Zahl) so angebracht, daß je eine Figur eine bestimmte Phase, sagen wir hier z. B. eines springenden Männchens repräsentiert. Alle zwölf Figuren geben also zwölf aufeinanderfolgende Phasen des Sprungs, so daß das Männchen in der ersten Figur die Phase unmittelbar vor oder unmittelbar nach dem Sprung darstellt, während die übrigen elf Figuren einzelne Phasen der gesamten Sprungbewegung wiedergeben. Wird nun dieser Streifen so zu einem Kreis - bzw. kurzen Zylinder - eingebogen, daß das erste Männchen zwischen dem zweiten und dem zwölften zu liegen kommt, dann kann man sich durch die Drehung dieses kurzen Zylinders die Phasen des Sprungs in dem Sinne vor Augen führen, als ob das Männchen den Sprung immer wieder von Neuem beginnen würde.

Die Drehung wird nun durch den Apparat vollzogen, der wie folgt gebaut werden kann. Man nehme einen Zylinderhut ohne Krämpe und richte ihn mit der Mündung nach oben und dem Deckel nach unten; dann nehme man eine Bleifeder, stelle sie mit nach oben gekehrter Spitze senkrecht auf den Tisch und setze nun den Hut so auf die Bleifederspitze, daß die letztere das Zentrum des Hutdeckels berührt und auch hier einbohrt. Wenn nun die Bleifeder feststeht, so kann aman den Hut sehr leicht in Drehung versetzen. Nun nehme man den Streifen Papier, biege ihn so zu einem kurzen Zylinder ein, daß die Figuren an die innere Fläche zu liegen kommen und schiebe ihn in den Grund des Hutes. Dieser Streifen Papier sitzt jetzt so in der Nähe des Deckels, wie das Schweißleder in der Nähe der Mündung.

Schneidet man nun noch in den Mantel des Hutes, und zwar in der Nähe der Mündung zehn oder mehr senkrecht stehende, schmale Spalten, etwa nach Art der Kasemattenfenster ein, so ist das Modell des Apparates fertig (15).

Blickt man, während der Hut gedreht wird, durch die Fenster hindurch, so wird man, wenn die Drehung eine gewisse Geschwindigkeit erlangt hat, in eine Täuschung versetzt, man glaubt die Figuren bewegen sich, und überdies scheint ihre Zahl zu wachsen.

Ich kann z. B. solange der Hut ruht, und ich aus einer gewissen Distanz von demselben mit beiden Augen durch die Fenster blicke, nur Bruchstücke von etwa vier der gezeichneten Gestalten erkennen; sobald der Hut die genügende Drehgeschwindigkeit erlangt hat, sehe ich acht bis zehn komplette Gestalten, die sich in einer den Intentionen des Zeichners entsprechenden Weise zu bewegen scheinen.

Die herrschende Lehre lautet nun dahin, daß wir von derlei gemalten Bildern den Eindruck der Bewegung dann erlangen, wenn sie rasch genug an uns vorbeieilen, damit die verschiedenen Phasen zu einem Bild verschmelzen. Implizit ist also damit gesagt, daß wir die gesehenen Formen als solche zu einem bewegten Bild kombinieren.

Nun bitte ich aber den Leser sich an diesem kleinen Spielzeug aus eigener Erfahrung ein Urteil darüber zu bilden, ob es auch wahr ist, daß wir hier den Eindruck der Bewegung nur durch die Verschmelzung der Bilder erlangen, die an uns vorüberziehen. Nichts ist leichter als die Unrichtigkeit dieser Behauptung zu demonstrieren.

Zunächst lehrt die Beobachtung, daß die verschiedenen Phasen, welche auf dem Papierstreifen gemalt sind, bei der Drehung des Hutes gar nicht verschmelzen, sondern daß man  jede  Figur gesondert und jede in Bewegung zu sehen glaubt. Ich habe es ja eben bemerkt, daß die Zahl der Figuren mit der Drehung des Hutes zu wachsen scheint, was darauf hinweist, daß man den Eindruck der eben vorbei geführten Figuren noch nicht verloren hat, während schon neue Eindrücke erscheinen. Ich sehe also, während ich durch die Fenster blicke, in diesem bewegten Stroboskop  neun  bis  zehn  springende Männchen und jedes deutlich isoliert. Hier kann also von einer  solchen  Verschmelzung nicht die Rede sein.

Wickelt man nun den Streifen um die äußere Fläche des Hutes (Figuren nach außen, selbstverständlich), indem man ihn dort durch ein Klebemittel befestigt, und dreht jetzt die Scheibe, so bekommt man den Eindruck der Bewegung des Männchens nicht, man mag die Scheibe schnell oder langsam bewegen. Legt man den Streifen regelrecht nach innen an die konkave Fläche des Hutes und sieht von oben in den Hut hinein (denn der Hut ist ja, wie ich bemerkt habe, oben offen), so bekommt man den Eindruck der Bewegung des Männchens gleichfalls nicht, mag man wieder langsam oder schnell drehen. Wohl aber verschmelzen die Figuren in beiden Fällen zu einem zusammenhängenden Band, so wie es bei rasch rotierenden Scheiben in der Regel eintritt.

Nun könnte man vermuten, daß, wenn der Streifen außen umgewickelt wird, die Täuschung dadurch gestört wird, weil man gleichzeitig einen großen Teil des Streifens überblickt, während, wenn ich durch die Fenster blicke, immer nur eine Phase nach der andern an meinem Auge vorbeizieht. Ich variiere daher den Versuch. Ich beobachte einäugig durch eine Papierrolle, die den Figuren so nahe gerückt ist, daß nur ein Bild nach dem andern mein Auge trifft. Beobachte ich nun den außen umgewickelten Streifen durch einen solchen Tubus, so kann ich die Täuschung wieder nicht hervorrufen. Andererseits unterliege ich der Täuschung, wenn ich mit beiden Augen so beobachte, daß jedes Auge durch ein Fenster blickt, wobei ich bei ruhendem Hut mindestens zwei, wenn nicht mehr Bilder gleichzeitig sehe. Ich unterliege der Täuschung ferner, wenn ich durch das Fenster blicke, schon bei einer relativ geringen Umdrehungsgeschwindigkeit. Drehe ich den Hut sehr rasch, so scheinen sich allerdings auch die Männchen rasch zu bewegen; nimmt die Geschwindigkeit der Drehung ab, so erlahmt auch die Lebhaftigkeit der Männchen, bis schließlich, wenn die Geschwindigkeit zu gering wird, auch die Täuschung schwindet.

Wenngleich es also feststeht, daß eine gewisse Geschwindigkeit der Drehung mit zu den Bedingungen der Täuschung gehört, so darf es doch als eben so feststehend bestrachtet werden, daß die herrschende Lehre nicht die richtige ist. Die Verschmelzungstheorie muß falsch sein, weil die Bewegung verlorengeht, wenn die Figuren merklich verschmelzen, und wenn die Figuren bewegt erscheinen, sie nicht verschmolzen sind.

Versuchen wir es nun, uns über die geschilderte Erscheinung durch eine weitere Beobachtung zu orientieren.

Wenn ich nach der direkten Beobachtung der durch das Stroboskop scheinbar bewegten Gestalten die Augen schließe, und es versuche ein Erinnerungsbild von der Bewegung der Gestalten (sagen wir des springennden Männchens) zu erhaschen, so merke ich, daß meine Augen dabei nicht ganz unbeteiligt sind. Es kommt mir vor, als wenn ich das springende Männchen mit den Augen verfolgen würde; daß ich hinaufblicken möchte, wenn ich das Männchen (bei der Erinnerung an den Luftsprung) oben, und daß ich nach unten blicken möchte, wenn ich es mir unten (auf dem Boden nach dem Sprung) vorstelle.

Diese Wahrnehmung ist aber viel deutlicher, wenn die Rotation nicht sehr rasch war. Hatte ich den Hut nicht schneller gedreht als zur Täuschung eben hinreichend war, so wird es mir leichter im Erinnerungsbild auf diese Gefühle zu achten.

Lege ich unmittelbar nach der Beobachtung die Hände auf die geschlossenen Augen während ich das Erinnerungsbild in mir aufleben lasse, so merke ich, daß meine Augäpfel in der Tat mit der Vorstellung "oben" "unten" ihre Lagen wechseln. Doch bin ich wohl imstande diese Lagenwechsel zu unterdrücken, ohne deswegen die Bewegungsvorstellung zu vernichten. Die Unterdrückung bewerkstellige ich dadurch, daß ich die Lider fest auf die Augen presse. Nun aber treten anstelle der wirklichen Bewegungen lebhafte Innervationsgefühle auf. Ich innerviere die Muskeln als sollten sie dem springenden Männchen folgen, und nur so kann ich das Erinnerungsbild der Bewegung in mir erhalten.

Nachdem ich mich auf diese Weise durch die Beobachtung der Erinnerungsbilder von der Existenz jener Gefühle überzeugt hatte, fing ich an, mir auch während der direkten Beobachtung bewußt zu werden, daß die Augen schwanken, und zwar folgen sie den verschiedenen Phasen des in die Höhe springenden Männchens durch stetes  Auf- und  Ab schwanken.

Da ich selbst anfangs auf dieses Gefühl gar nicht geachtet habe, darf ich voraussetzen, daß es auch anderen Beobachtern nicht gelingen wird, diese Bewegungen sofort wahrzunehmen. Ich erlaube mir daher für den Anfang des Besonderen die Beobachtung solcher Bilder zu empfehlen, auf welchen große vertikale Exkursionen dargestellt sind. Hier fällt es bei nicht zu rasch ausgeführten Drehungen am meisten auf, daß die Augen den verschiedenen Höhelagen folgen. Ich nütze für diese Zwecke das Bild eines Hundes (16), dem von oben herunter eine Kugel in den Mund fliegt und sofort wieder aufsteigt. Von den zwölf Bildern meines Papierstreifens sind aber nur fünf mit Kugeln in verschiedenen Höhen gezeichnet, die anderen sieben Figuren stellen nur Phasen des nach der Kugel schnappenden Hundes dar. Die Kugeln sollen also (in der Täuschung) wie über dies Sehsphäre hinaus geworfen erscheinen. Es ist daher dem Beobachter während jeder Drehung ein Intervall von etwa zwei Drittel Umlaufszeit geboten, während welcher er die Kugel nicht sieht, und wenn er auf das Hauptbild (den Hund) nicht achtet, ausruhen kann. Unter solchen Umständen merke ich, namentlich wenn die Umdrehung nur eben hinreichend schnell ist, das Auf- und Absteigen der Augen sehr deutlich.

Im Übrigen erlange ich jetzt ganz bestimmte Eindrücke meiner Augenbewegung auch von anderen Zeichnungen.

Lege ich die Bilder eines Männchens ein, welches Ball spielt, indem es den vom Boden aufspringenden Ball mit der Hand wieder niederwirft, so fühle ich bei mäßíg rascher Bewegung jedesmal, wenn der Ball von der Hand (in die neue Richtung) nach abwärts abspringt, einen leichten Stoß in meinen Augen (17).

Dieses Gefühl der Augenbewegungen fehlt vollständig, wenn ich von oben in den Kasten blicke, oder wenn ich den Streifen Papier außen anbringe; es wird eben nur durch das Vorbeibewegen der Fenster an den Augen angeregt. Warum die Augenbewegung gerade durch die Fenster angeregt wird, will ich hier nicht erörtern; das ist eine Angelegenheit, die gar nicht hierher gehört. Hier kommt es nur darauf an, daß es so ist.

Wenn ich also die verschiedenen Phasen der Bewegungen an meinem Auge vorbeistreichen lasse, und es dabei so einrichten kann, daß sich die Augen entsprechend bewegen, daß sie gewissen wechselnden Höhenlagen des Bildes entsprechend sich auf und ab bewegen, dann werde ich getäuscht; dann kombiniere ich die verschiedenen  gesehenen  Bilder zu einer Vorstellungskomplex, in dem auch Bewegung enthalten ist. Und wenn ich das nicht einrichte, wenn sich die Augen nicht den gezeichneten Phasen entsprechend bewegen, dann werde ich nicht getäuscht; die Bilder verschmelzen wohl, aber ich trage in den Komplex nicht die Vorstellung der Bewegung ein.

Dementsprechend gestalten sich auch die Erinnerungsbilder. Wenn ich den außen angelegten Streifen beobachte, so daß durch die Drehung keine Bewegung der Figuren vorgetäuscht wird, dann verspüre ich auch bei der Erinnerung an das Gesehene nichts von  jener  (18) eigentümlichen Innervation der Augenmuskeln, welche ich bei der Erinnerung an die Täuschungen wahrnehme.

Das Experiment, welches ich hier vorgeführt habe, könnte nun folgende Deutung erfahren. Es ist wahr, könnte man sagen, daß es nur gewisse Umstände sind, unter welchen sich die Täuschung vollzieht, und es ist auch wahr, daß sich unter denselben Umständen auch die Augen bewegen. Die Augenbewegung ist aber nicht die Ursache der Täuschung. Die Augenbewegung und die Täuschung koinzidieren nur, sie beide sind Effekte ein und derselben Ursache.

Wir kennen aber im Organismus keine anderen Einrichtungen, welche bei dieser Täuschung in Betracht kommen, als die sensiblen Nerven, die motorischen Nerven und das Zentrum, welches die Eindrücke verarbeitet. Solange also die motorischen Nerven nicht mitwirken, solange nämlich wie die Augen sich nicht in einem bestimmten Sinn bewegen, kann das Zentrum die Eindrücke, welche ihm die sensiblen Nerven (hier die Sehnervenfasern) bringen, nicht zu einer Täuschung verarbeiten.

Die Verarbeitung erfolgt aber regelmäßig sobald sich die Augen bewegen, sobald also die motorischen Nerven mittun. Wir haben demgemäß keine andere Wahl als hierin, nämlich in der Mitwirkung der Augenbewegungen eine Bedingung der Täuschung zu sehen.

Eine Bedingung  liegt also in der Gesichtswahrnehmung und  eine andere  in der Augenbewegung. Wenn nur eine ohne die andere da ist, kann die Täuschung nicht zustande kommen. Damit ist implizit gesagt, daß das Zentrum beide verarbeitet, beide verarbeiten  muß,  um die Täuschung hervorzurufen.

Diese Verarbeitung ist aber eben, welche als eine Verknüpfung, eine Assoziation von sensorischen und motorischen Eindrücken bezeichnet wird.

Das Stroboskop dient also nicht, wie man geglaubt hat, dazu um zu zeigen, daß wir Gesichtseindrücke, wenn sie rasch genug aufeinanderfolgen, zu Bewegungsvorstellungen assoziieren. Das Stroboskop ist vielmehr ein Apparat, der uns lehrt, daß die Bewegungsvorstellungen erst dann auftreten, wenn Vorstellungen von der eigenen Muskelbewegung in die Assoziation einbezogen werden.



LITERATUR - Salomon Stricker, Studien über die Bewegungsvorstellungen, Wien 1882
    Anmerkungen
    1) Studien über das Bewußtsein, Wien 1879, Seite 5
    2) Es ist das nicht ganz genau. KANT hat nicht die Wahrnehmungen der Außenwelt, sondern unsere Erkenntnis der Außenwelt, die darauf basiert, Erfahrung genannt. Doch mag hier diese Abkürzung gestattet sein, zumal ich den Ausdruck nicht im Sinne KANTs akzeptieren kann.
    3) Studien über das Bewußtsein, a. a. O., Seite 17
    4) Das Sensorium als das Beobachtende natürlich ausgenommen.
    5) Ich bitte den Leser das  "Mein"  hier in streng subjektivem Sinn zu nehmen. Ich beschreibe hiermit nur das, was in mir vorgeht.
    6) Mit Rücksicht auf diesen Umstand habe ich scon in meinen "Studien über das Bewußtsein" dafür plädiert, von einem Muskelsinn zu sprechen.
    7) Vgl. hier meine "Studien über Sprachvorstellungen", Wien 1880, Seite 8
    8) Bei geübten Fechtern mag dies anders ausfallen. Ich bitte aber darauf zu achten, daß wirklich Bewegungsvorstellungen verlaufen; denn es könnte sich leicht jemand darüber täuschen und sich in einer Stellung verharrend vorstellen.
    9) Hier kann eine Inkongruenz vorkommen, siehe Seite 16, Absatz 1f
    10) Ob hierbei die fortschreitende Übung oder das fortschreitende Wintersemester, in welchem ich viel weniger als während der großen Ferien gehe, oder beide zusammen in Betracht kommen, lasse ich dahingestellt sein.
    11) Ich halte es nicht für unmöglich, daß bei anderen Menschen schon das Hören der Schritte zur Auslösung solcher Gefühle genügt.
    12) Ich habe auch eine ganz dunkle Vorstellung vom Herabgehen des Zwerchfells und ich glaube mir dies auch im Zustand der Apnoë vorstellen zu können.
    13) Ich bin mir indessen nicht ganz sicher, weil ich unmittelbar nach heftigen Bewegungen doch nicht richtig beobachten kann.
    14) Ich weiß nicht unter welchem Namen sie verkauft werden. Mein Exemplar wurde mir auf die Beschreibung hin, als Spielzeug ohne Namen verabreicht.
    15) Der Hut wird wohl am besten aus Pappendeckel verfertigt. Versieht man das Zentrum des Hutdeckels an der Außenseite des letzteren mit einem metallenen Knopf, so kann man diesen Knopf von außen her anbohren, damit er auf irgendeine Metallspitze gestellt die Drehungen des Hutes leicht ausführbar macht.
    16) Diese Figurenreihe lag in dem gekauften Spielzeug unter den beigegebenen Bilderstreifen vor.
    17) Ich darf es hier wohl nicht unterlassen, noch darauf aufmerksam zu machen, daß es nicht zweckmäßig ist, das Spielzeug während der Beobachtung selbst zu drehen; während man mit dem Finger dreht, achtet man zu sehr auf das Muskelgefühl in seinem Finger und zu wenig auf die Bewegung der Augen. Man lasse daher den Hut von einem andern drehen.
    18) Etwas verspüre ich wohl in den Augen, sie scheinen der Drehung des Hutes zu folgen.