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SUSANNA RUBINSTEIN
Das Leben der Sinne

"Wir können von der Außenwelt nur das wissen, was uns in Gemäßheit der perzipierenden Organe die Vorstellungen aussagen; die  objektive  Natur des Dings-ansich bleibt uns ewig unergründlich."

"Hätten wir z. B. ein einziges Auge und das befände sich in der Mitte der Stirn, so würden die räumlichen Verhältnisse der Dinge uns völlig anders erscheinen. Und wenn es Augen gäbe, die auf ein anderes Wellenverhältnis, als die unseren, reagierten, so würden sie auch andere Farben wahrnehmen."

"Der Gesichtssinn beherrscht die Gedankenwelt, der Gehörsinn die Gefühlswelt. Das Auge ist Träger der räumlichen, das Ohr Träger der zeitlichen Kunst."

"Wie beim Sehen, so wird auch beim Hören die Entfernung und Richtung nicht  wahrgenommen,  sondern  beurteilt.  Wir urteilen nach der Stärke des Tons auf seine Entfernung und nach der Deutlichkeit desselben bei gewissen Kopfwendungen auf seine Richtung."

"Aus der Macht der Gehörs über das Gemüt wird die Härte erklärlich, wo es ausfällt. Taubstumme sind hart und störrisch; man hat an taubstummen Kindern bemerkt, daß sie Tiere erbarmungslos quälen können, weil eben kein Jammerton zu ihnen dringt. Blinde dagegen zeichnen sich durch Milde und visionäre Schwärmerei aus; das liegt in der Verinnerlichung des Lebens."

Der Ausgangspunkt und die Grundlage der ganzen inneren Beschaffenheit sind die Sinne. Das gilt nicht bloß vom Menschen, sondern von der ganzen Stufenleiter der Lebewesen, da der Vorstellungsvorrat, das heißt der Entwicklungsgrad jeder Tierklasse im Verhältnis zur Ausbildung der Sinne steht. Bei Tieren, die so niedrig stehen, daß sie gar keine eigentlichen Sinneswerkzeuge besitzen, und bei denen nur irgendeine Zelle der Hautschicht die Sinnestätigkeiten vermittelt, kann auch nicht von Vorstellungen, sondern  nur  von dumpfen Sensationen und Reaktionen die Rede sein. Die hohe Entwicklung des menschlichen Intellekts ist bedingt durch die feinere Entwicklung des menschlichen Intellekts ist bedingt durch die feinere Organisation seiner Sinnesapparate. Manche der höheren Tiergattungen können zwar in einzelnen Richtungen  schärfer  wahrnehmen, als es z. B. beim Hund in Bezug auf den Geruch der Fall ist, aber sie  unterscheiden  viel weniger an den wahrgenommenen Qualitäten; so haben mehrfache Prüfungen ergeben, daß der Hund das Angenehme oder Unangenehme eines Geruchs durchaus nicht zu unterscheiden veramg. Die steigende Ausbildung der Sinnesorgane steht in Wechselwirkung mit der steigenden Ausbildung der intellektuellen Fähigkeiten, und dies nicht allein bezogen auf die Reihenfolge der Lebewesen überhaupt, sondern auch innerhalb des Menschengeschlechts selbst, wie dies auch kürzlich HÄCKEL in einem in Wien gehalten Vortrag aussprach. Er knüpft daran die Hoffnung, daß da
    "die höhere Entwicklung der Tonkunst Hand in Hand geht mit der historischen Entwicklung des Gehörs, die Entwicklung der bildenden Kunst Hand in Hand mit der Vervollkommnung der Sehnerven, so dürfe man erwarten, daß die schon erreichte Stufe noch nicht das letzte Ziel ist und daß durch die wichtigen Bildungsmittel der feineren Ton- und Farbenperzeptionen die Künste noch wichtige Fortschritt machen werden."
Aufgrund der Sinneswahrnehmung bildet sich unsere Welterkenntnis aus, doch können wir dabei nicht von der naiven Ansicht ausgehen, als ob uns die Sinne wirklich mit der objektiven Natur der Dinge bekannt machen würden.

Mitnichten! Was uns die Sinne vermitteln sind keine Abbilder der Außendinge, sondern es sind durch die Wirkung dieser auf die peripherischen Nervenenden hervorgerufene Reize, die zur Seele fortgeleitet, von ihr in das ihr spezifische Idiom, d. h. in Vorstellungen, übersetzt werden. Doch wenn auch von keiner realen Ähnlichkeit zwischen Außenwelt und Empfindung, zwischen Reiz und Vorstellung die Rede sein kann, so muß unbedingt eine  logische  Übereinstimmung im Prinzip beider walten, denn wenn derselbe Reiz in demselben Organ bald diese, bald jene Vorstellung auslösen könnte, wäre ja jede Möglichkeit einer intellektuellen Ordnung und Verarbeitung der Eindrücke von vornherein vernichtet.

Wir können von der Außenwelt nur das wissen, was uns in Gemäßheit der perzipierenden Organe die Vorstellungen aussagen; die  objektive  Natur des Dings-ansich bleibt uns ewig unergründlich. Demnach ist die Welt, so wie sie uns erscheint, durch unser Bewußtsein gesetzt. Würden die Sinneszellen anders geartet sein, befänden sie sich an anderen Stellen des Leibes (1), reagierten sie mit anderen Energien auf die Erreger, so hätten wir ein ganz verschiedenes Bild vom Objekt. "Wenn unser Auge nicht sonnenhaft wäre", würde die Sonne nicht sein; der Strauch blüht nur, wenn bestimmte Erregungen unseres Sehnerven in der Seele zur Empfindung von Blühen umgesetzt werden; der Bach murmelt, der Vogel singt nur, weil unser Ohr dabei ist und die Seele die Eigenschaft besitzt, gewisse Erregungen, die es treffen, zu den betreffenden Empfindungen umzubilden.

Die traditionelle Fünfzahl der Sinne ist längst überschritten worden und es ist nicht unmöglich, daß neben dem Fortschritt der  Verfeinerung  der Sinnesorgane, wie ihn HÄCKEL prognostiziert, noch auch der zu gewärtigen ist, daß die  Zahl  derselben, durch eine immer klarere Unterscheidung und Auslösung der Empfindungsqualitäten auch vergrößert würde, zumal schon jetzt mehrere der subjektiven Sinne als Sinneskonglomerate angesehen werden. Liegt doch auch in der von VISCHER getroffenen Einteilung eines einzelnen Sinnesgebietes in eine Mehrheit von Empfindungsarten ein ungemein wichtiges Moment für die Auffassung und Charakterisierung des Seelenlebens. Wir kennen gegenwärtig acht Sinne, die in zwei verschiedene gleichzahlige Gruppen zerfallen; die eine wird von den vier sensoriellen, von denjenigen, die in eigenen Sensorien lokalisiert sind, gebildet, diese sind: das Gesicht, das Gehör, der Geruch und der Geschmack; die andere besteht aus den vier sensitiven, die keine eigenen Veranstaltungen besitzen und deren Empfindungsnerven im Körper zerstreut sind; zu dieser gehören: der Tastsinn, Muskelsinn, Körpersinn und das Gemeingefühl (2). Die sensoriellen Zellen stehen in direkter Verbindung mit dem Gehirn, die sensitiven hingegen müssen den Umweg durch das Rückenmark machen, um zu denselben zu gelangen. Die Deutlichkeit der Perzeption ist bei allen Sinnen veränderlich, der Grad derselben hängt von verschiedenen Faktoren ab, von der jeweiligen Stimmung der Nerven, von der Stärke der Erregung und schließlich von der Integrität des Gehirns selbst. Der wichtigste Unterschied in den Eigenschaften beider Klassen von Sinnesfasern besteht darin, daß die sensoriellen auf jede Art von Reiz, selbst auf Reizungen ganz unadäquater Medien, in einer bestimmten, ihnen eigentümlichen Weise antworten, während die Hautnerven der sensitiven auf verschiedene Inzitamente [Reize - wp] in verschiedener Weise reagieren. Diese hartnäckige Reaktionsform benannte JOHANNES MÜLLER (3) die "spezifische Energie" der Faser. Gegen diese Lehre erhob man später den Einwand, daß nicht dem Konduktor sondern dem Zentralorgan, in das er einmündet, die Disposition zukommt, die verschiedenen Reize in eine Empfindungsklasse umzusetzen. Dieser Meinungszwiespalt liegt jedoch ganz auf physiologischem Gebiet, die Psychologie hat sich um denselben wenig zu kümmern; das  Wo  geht sie nichts an, sie hat es lediglich mit dem  Was  zu tun, die Genesis des Reizes ist für sie irrelevant. Infolge dieser beharrlichen Eigenschaft der sensoriellen Zelle stellt sich die seltsame Erscheinung heraus, daß einerseits derselbe Erreger bei den verschiedenen Sinnen verschiedene Empfindungen auslöst, wogegen andererseits dieselbe Empfindung durch verschiedene Erreger zustande kommt. Der elektrische Strom ruft im Auge eine Lichtempfindung, im Ohr einen Schall, im Geruchsorgan einen phosphorartigen Geruch und auf der Zunge einen sauren oder alkalischen Geschmack hervor.

Umgekehrt wieder wird die Empfindung des Rot durch schwingende Ätherteilchen, durch einen Andrang des Blutes, durch einen Druck des  Opticus  [Sehnerv - wp] hervorgebracht. Die Ermüdung des Schalls entsteht sowohl durch Oszillationen, wie auch durch Blutandrang; Geschmacksempfindungen werden nicht bloß durch Chemismus, sondern auch durch eine krankhafte Verstimmung der Nerven erzeugt, und ähnlich verhält es sich auch beim Geruch. Dieses "Paradoxon", wie VOLKMANN die Doppelnatur dieser Erscheinung nennt, besteht jedoch nur bei normal gearteten Sinnen; der Sinn, der für die adäquaten Reize unempfänglich ist, ist es auch für die subjektiven; der Blutandrang bringt dem Blinden nicht die Vorstellung des Rot, dem Taubstummen nicht die des Schalls bei. Aus der Erscheinung der "spezifischen Energien" ergibt sich, daß kein Sinn für einen anderen  vikarieren  [stellvertreten - wp] kann; es kann höchstens bei der Ausbildung eines Sinnes und dem Ausfall eines andern von einem  Surrogieren  [Nachfolge - wp] die Rede sein. Wie bereits bemerkt, verhält sich die elastische Natur der sensitiven Zelle im vollen Gegensatz zur konstanten der sensoriellen; sie vermittelt die Druck- und die Wärmeempfindung. Die  Empfindung  ist der allgemeine Zustand, in welchen die Seele durch eine Tangierung und Umbildung des Nervenreizes gerät; die  Vorstellung  ist eine durch psychische Vorgänge, also durch eine Arbeit der Seele geschehende Umbildung und sekundäre Folge dieses primären Zustandes. Bei Phantasievorstellungen, bei denen sich das Bild nicht unmittelbar aus dem physikalischen Reiz entwickelt, tritt die Empfindung zurück. Der physikalische Reiz muß vorerst bis zu einer gewissen Stufe angewachsen sein, ehe sich die Empfindung einzustellen vermag; ähnlich, wie bei einem technischen Werk die treibende Kraft einen bestimmten Grad erreicht haben muß, ehe es in Tätigkeit gelangen kann. Der Nullpunkt oder Anfangspunkt der Empfindung liegt also höher als der Nullpunkt des Reizes. Jedes Sinnesorgan besitzt seinen eigenen Nullpunkt. Am bequemsten läßt sich dies bei der Sinnesgruppe beobachten, deren Empfindung auf einer aufsteigenden Skala von Schwingungen beruth; os ist gleich der Schmied, der das kalte Eisen bearbeitet, in der Lage, an den Erscheinungen, die es hervorruft, ein Schema vom Grenzwert dieser Sinne zu haben; er empfindet mit der anwachsenden Schwingungszahl zunächst Ton, dann Wärme und zuletzt rotglühende Farbe. Es ist außer Zweifel, daß zahllose Reize unempfunden an uns vorübergehen, weil ihr Stärkegrad nicht die Schwelle der Empfindung erreicht. Ebenso wie jeder Grad des Reizes nicht gleich ein Zustandekommen der Empfindung veranlassen kann, so vermag bei erreichtem Grenzwert nicht gleich jeder Zuwachs an Reiz eine Steigerung der Empfindung zu bewirken. Je höher der Stärkegrad ist, zu dem sich die Empfindung bereits erhob, eines umso größeren Reizzuwachses bedarf es, um sie noch zu steigern. E. H. WEBER, in Verbindung mit FECHNER, stellte nach exakten Untersuchungen das Gesetz auf, daß einer geometrischen Progression des Reizes eine arithmetische Progression der Empfindung entspricht. In einem Raum, der von fünf Kerzen erhellt ist, erhöht der Zuwachs von nur einer Kerze merklich die Lichtempfindung. Wenn man aber bei einer doppelten Kerzenanzahl eine proportionelle Steigerung erzielen wollte, so würde dazu nicht ein Plus von zwei Kerzen ausreichen, sondern erst bei einer Vermehrung von vier Kerzen würde sich ein gleiches Verhältnis von Lichtstärke herausstellen (4).

Bei jeder Empfindung haben wir drei Momente zu unterscheiden: den Inhalt, da  Was,  worüber sie aussagt; sodann die Stärke, das ist die Quantität des Vorgestellten; wenn der Inhalt der Empfindung eine Farbe ist, so kann ja die Farbe intensiver und schwächer sein; schließlich den  Ton,  die Hemmung oder Förderung, die in der Empfindung liegt und mit ihr gegeben ist, nicht aber als etwas Akzessorisches [Zubehör - wp] zu ihr hinzutritt. Daß im Inhalt der Empfindung nichts von der Natur des Außendings enthalten ist, ergibt sich für die eine Gruppe als unvermeidliche Konsequenz der Doktrin von den spezifischen Energien; gilt aber nichtsdestoweniger auch für die zweite. In der Qualität des Blau liegt nichts von der Beschaffenheit der Ätherwellen und auch nichts von der Beschaffenheit des leiblichen Organs, durch welches sie perzipiert wird; sie ist lediglich ein Zustand der Seele. Dies vom Inhalt; was aber die  Stärke  der Empfindung betrifft, so hängt diese zumeist von der Intensität des Erregers ab; aber auch mit der Ausbreitung des Reizes über einen größeren Nervenbezirk und mit der Dauer seiner Einwirkung nimmt die Empfindungsstärke zu. Durch den letzteren Umstand erfolgt die Zunahme jedoch nicht in einfachen Proportionen, sondern nach dem bereits erwähnten FECHNER-WEBERschen Gesetz der Progression. Mit der Verstärkung der Empfindung ist eine leichte Abänderung des Inhalts verbunden, die man "die Erhellung der Empfindung" nennt. So z. B. nähert sich durch eine verstärkte Empfindung das rotglühende Eisen dem Weiß an. Die Erhellung entsteht dadurch, daß, da jeder neue Zuwachs an Reiz bereits Residuen vorangegangener Erregungen vorfindet, so verbraucht es immer weniger von seinem Gehalt, um sich mit der ursprünglichen Nervenstimmung auseinanderzusetzen. Und zuletzt hinsichtlich des  Tons  der Empfindung, so inhäriert [innewohnen - wp] dieser der Empfindung selbst, er bezeichnet die Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, die ihr innewohnt. Der eintretende Reiz findet in der Nervenbahn eine Spannung vor, die durch das Zusammenfließen einer Vielheit widerstreitender Erregungen und durch die permanente Bewegung des Stoffwechsels unterhalten wird, und je nachdem er sie erhöht oder herabstimmt, gibt sich die Empfindung als unangenehm oder angenehm kund. Wie bei jeder wissenschaftlichen Systematisierung überhaupt, so kommt auch in der Ordnung der psychologischen Phänomene die Dreiteilung sehr oft vor; wir haben sie nun wieder in der psychologischen Genesis des Wahrnehmungsprozesses selbst zu registrieren. Dieser zerfällt in drei Stadien: im ersten geht die räumlich-zeitliche Molekularbewegung vor sicht; im zweiten wird diese von der Seele zu einem Vorstellungsgebilde umgeschaffen; im dritten findet die Lokalisierung des Bildes statt; es wird von der Seele nach einen Punkt der Außenwelt, von dem der Sinnesnerv solliziert [angeregt - wp] wurde, verlegt, und das Subjekt stellt sich, ähnlich wie der Künstler seinem Werk, dem Objekt, das die Schöpfung seiner eigenen Brust ist, gegenüber.

Von jeder einmal entstandenen Vorstellung bleibt, sowohl in der Seele, als auch in der beteiligten Nervenbahn, eine fortdauernde Nachwirkung zurück. Die Perzeption ist eine Tat, die aus der Geschichte des Individuums nicht mehr ausgelöscht werden kann. Die Nachwirkung, die man als Vorstellungsresiduen bezeichnet, ist eine verborgene Kraft, die langsam aber stetig, wie der Wassertropfen, der den Stein aushöhlt, einen Einfluß auf das Subjekt ausübt. Darauf beruth die Macht der Erziehung, wie überhaupt die Entwicklung des psychischen Lebens. Ohne das Vorhandensein der Residuen wäre eine Ausbildung nicht denkbar, denn das Wesen der Bildung besteht ja darin, daß die spätere Vorstellung einen Anhaltspunkt in der Seele vorfindet und mit diesem verschmilzt. Die Menge und Größe der miteinander verschmolzenen Vorstellungskreise macht die Bildung aus; Assoziation ist Bildung, Isoliertheit ist Rohheit.

Aus dem Fortwirken der Vorstellungen folgt aber noch nicht, daß sie uns jederzeit im Bewußtsein gegenwärtig sind. Leider ist fast das Gegenteil der Fall, denn es behauptet sich immer nur eine sehr geringe Zahl der Vorstellungen im Tageslicht des Bewußtseins. Wie Weniges von dem, was man mit dem Blut seines Lebens erwirbt, steht für den Moment zu Gebote? Die kleinen nichtigen Vorstellungen, die aus den Tagesereignissen hervorgehen, verdrängen manchen mühsam errungenen Besitz, wie manche weihevolle Erinnerung. Doch getrost! Das Verdrängte ist nicht für immer verloren, Dank der Macht der Wiedererweckung, welche die Reproduktion an den verdunkelten Vorstellungen übt.

Der Wert der Sinne für das Vorstellungsleben und für die Erkenntnis der Welt ist ein höchst ungleichartiger. Die Erkenntnisfähigkeit der beiden edlen Sinne überwiegt ganz unverhältnismäßig die der übrigen, namentlich wenn man von diesen den Tastsinn, der ebenfalls in eminentem Grad zur Auffassung der Dinge beiträgt, ausnimmt. Jeder von den zwei edlen Sinnen steht einer anderen Sphäre der Innerlichkeit vor; der Gesichtssinn beherrscht die Gedankenwelt, der Gehörsinn die Gefühlswelt.


I. Die sensoriellen Sinne

1. Der Gesichtssinn

Das reichste Kontingent für das Vorstellungsleben liefert unter allen Sinnen der  Gesichtssinn.  Er wird bei den verschiedensten Geschäften und Anlässen des Lebens in Anspruch genommen, und seine Aussagen dominieren über die der übrigen Sinne. Daher ist es auch seine fortwährende Verwendung, die die Physiologie dazu geführt hat, diesem Sinn eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, und über denselben eine reiche Fülle von Beobachtungen zu sammeln. Der optische Apparat besteht aus einem System durchsichtiger und brechender Medien, deren Bestandteile die Hornhaut, die wässrige Feuchtigkeit, die Kristalllinse und der Glaskörper sind. Durch diese Medien hindurch wirft der vom Außending ausgehende Lichtstrahl auf die die innere Wand der Raumhöhle auskleidende Netzhaut ein umgekehrtes und verkleinertes Bild. In der mosaikartig gebildeten, mit Stäbchen und kleinen Zapfen versehenen Netzhaut (5) oder Retina breitet sich der eigentliche Sehnerv aus; die Austrittsstelle desselben aus dem Gehirn bildet den sogenannten blinden Fleck; an dieser Stelle wird nicht gesehen. Das Bild auf der Netzhaut ist umgekehrt, weil die Visierlinien des Lichtstrahls sich im Auge kreuzen; und es ist verkleinert, weil da die Bahn, welche die Visierlinien vom Kreuzungspunkt zur Netzhaut zurückzulegen haben, kürzer ist, als die, welche sie von derselben Station aus nach außen zum Objekt durchmessen; so ist auch ihre Basis auf jener Seite schmäler, als auf dieser. Die drei großen Rätselfragen im Prozeß der Gesichtswahrnehmung, wie das  Aufrechtsehen  trotz des umgekehrten Netzhautbildes, wie das  Ganzsehen  trotz des blinden Flecks und wie das  Einfachsehen  trotz der Doppelbilder auf beiden Netzhäuten zustandekommt, haben eine Fülle von Erklärungsweisen hervorgerufen, gegen welche sich die Psychologie im Grunde mehr negierend als kritisierend zu verhalten hat. Denn die Frage nach dem  Wie  und  Woher  des Reizes geht die Psyche wenig an, sie hat sich nur um das  Was  zu kümmern. Im Inhalt der Empfindung liegt nichts von ihrer Abstammung. Die Vorstellung des Rot führt keinen Heimatschein bei sich. Man kann das Paradoxon aussprechen: das Netzhautbild hat viele Eigenschaften, die wir nicht sehen, es ist z. B. konkav und mosaikartig, wovon wir ebensowenig empfinden wie von seiner umgekehrten Lage, und wir glauben wieder an ihm manche Eigenschaften zu sehen, die es nicht besitzt, z. B. die Größe, die Entfernung, die Richtung. Diese Bestimmungen sind Resultate eines empirisch gewonnenen und durch die Gewohnheit so rasch vollzogenen Schlusses, daß er meistens mit dem Akt des Sehens zusammenfällt. Die Bedingungen zu diesem Schließen geben die Muskelempfindungen der Akkomodation [Anpassung der Brechkraft des Auges - wp] und die des Tastsinns; daß sie aber erst ein Ergebnis der Übund sind, bezeugt sowohl der Umstand, daß kleine Kinder unsicher nach ihrem Spielzeug umhertasten, wie auch die Aussage derjenigen, bei denen außergewöhnliche Ursachen die Ausbildung dieses Urteils hinderten; so glaubte der blindgeborene Knabe, den CHESELDEN operierte, daß alle Gegenstände, die er sieht, seine Augen berühren und KASPAR HAUSER soll, als er von einem Fenster des Turms zu Nürnberg die Landschaft sah, sie für ein vor dasselbe aufgerichtetes Brett mit bunten Flecken angenommen haben. Das Auge besitzt eine gewisse Autonomie in seiner Empfindungssphäre; es kann durch seine Beweglichkeit den Empfindungsinhalt abändern und von einem Objekt zum andern schweifen; es kann sich auch nach Belieben jedem Eindruck entziehen, indem es seine Lider schließt. Jede Faser des Opticus ist für jede Erregungsform gleichmäßig offen (6) und der kollektive Inhalt dessen, was er percipiert, ist Farbe. Die Wahrnehmung jeder einzelnen Farbe hängt ab von der Frequenz und der Länge der Ätherwellen, welche die Faser innervieren [Nervenimpulse - wp], so wie von demjenigen Bestandteil des peripherischen Endes derselben, mit dem sie sich auseinandersetzen. Es wird angenommen, daß je nach dem Längenverhältnis der Welle ein anderer Bestandteil des peripherischen Apparates angesprochen wird. Rot und Violett bilden insofern die größten Gegensätz der Farbenskala, als die Wahrnehmung des Rot durch die längste Welle und kleinste Schwingungszahl (481 Billion), die Empfindung des Violett durch die kürzeste Welle und größte Schwingungsgeschwindigkeit (764 Billion) erregt wird. Die schwarze Farbe entsteht durch Abwesenheit jeden Reizes, doch ist auch Schwarz ein Sehen; beim Nichtsehen, wie während des Schlafes und der Bewußtlosigkeit, hat man auch nicht die Empfindung des Schwarz.

Die verschiedenen Arten von Nachbildern sind nur scheinbar ein Dementi des alten Wortes: "cessante causa cessat effectus" [Mit der Aufhebung der Ursache entfällt die Wirkung. - wp]; sie entstehen dadurch, daß eine Nachwirkung noch existiert, wenn die  erste  Ursache schon verschwunden ist, während die zweite, aber für die Empfindung maßgebliche Ursache - die Alterierung der Nerventeile - noch fortdauert, wie eine Hautstelle noch schmerzt, auch wenn der Schlag aufgehört hat. Wenn die auf den Sehnerv wirkende Ursache ein lichthelles Fenster ist und man entzieht sich ihr, indem man das Auge schließt, so bemerkt man noch im Gesichtsfeld die schwachen allmählich ausklingenden Umrisse eines Fensters.

Auf der Beweglichkeit des Auges beruth eine seiner wichtigsten Eigenschaften, nämlich der Raumentwicklung. Diese Leistungsfähigkeit dankt es vorzüglich dem Umstand, daß die Empfänglichkeit der Netzhaut an den Rändern abnimmt: dadurch ist man bestrebt, das Bild an die Stelle des deutlichsten Sehens, das ist in die Netzhautgrube zu bringen; beim Übertragen des Reizes führt die Bewegung des Blicks ein räumliches Auseinanderhalten im Gesichtsfeld ein. Aber recht besehen, gebührt nicht der sensoriellen Gesichtsfaser, sondern der motorischen, welche die Bewegung ausführt, das Verdienst, das Raumschema zu konstruieren. Nun kommt aber die skeptische Frage: da für die Seele nur die Intensität und nicht die geometrische Ordnung eines Reizes existiert, was veranlaßt sie hier, die Empfindung auseinanderzuhalten? Dafür sollen die Lokalzeichen, auf welche LOTZE gekommen ist, die Erklärung bieten. Diese sind jeder Muskelempfindung, als spezifische Färbung des Punktes, von dem sie ausgeht, beigegeben; demnach dringt zur Seele neben dem Muskelreiz auch der ihn begleitende Akzent, welchen es vielleicht erlaubt ist, sich ähnlich der Klangfarbe eines Tons vorzustellen; gemäß einer, wie es scheint, in der Seele liegenden Tendenz setzt sie die Lokalzeichen in die Raumkonstruktion um. Im Vorgang der Übertragung des Reizes in die Region des deutlichen Sehens liegt auch die Erklärung für den mechanischen Umstand, daß man trotz des umgekehrten Netzhautbildes doch aufrecht sieht; bei dieser Übertragung führt nämlich das Auge auch eine Drehung aus, wodurch die hintere Achse gehoben, die vordere gesenkt wird; damit wird das  Oben  und  Unten  des Gesichtsbildes und der Muskelempfindung in Übereinstimmung gebracht. Was noch den weiteren mechanischen Punkt betrifft, daß man trotz der Doppelbilder auf den Netzhäuten einfach sieht, so ist die Bedingung dazu, daß die Muskelempfindungen, die sich aus der Stellung der Augen ergeben, in einem Punkt zusammenfallen; in abnormen Fällen, wo sie divergieren, tritt eine Duplizität des Bildes ein. Eine absolute Kongruenz findet aber selbst bei korrespondierenden Netzhautpunkten nicht stat, und dies dadurch, weil das eine Auge einen anderen Standpunkt im Kopf hat, als das andere. Der Naturforscher WHEATSTONE erkannte - was übrigens schon vier Jahrhunderte vor ihm LEONARDO da VINCI geahnt hatte - daß auf dieser Ungleichheit das körperhafte Sehen beruth, und gründete darauf die Erfindung des Stereoskops. Über die dritte Rätselfrage: warum der blinde Fleck keine Unterbrechung im Bild hervorbringt? existieren eine Fülle der abenteuerlichsten Erklärungsweisen, die man damit ablehnen kann: wo man nichts sieht, sieht man auch keine Unterbrechung.

Das Gesicht ist der Sinn, welcher am häufigsten sollizitiert wird, er ist deshalb auch der belehrendste Sinn. Er verleiht dem Geist Kraft und Klarheit, weil er ihm die weitesten Sphären des Weltreichs erschließt. Was wir sehen, nehmen wir in seiner Totalität auf, die anderen Sinne geben nur einzelne Eigenschaften des Objekts. In ästhetischer Beziehung besitzt der Gesichtssinn, trotz seiner eminenten Bedeutung, einen ebenbürtigen Rivalen im Gehörssinn; das Auge ist Träger der räumlichen, das Ohr Träger der zeitlichen Kunst.


2. Der Gehörssinn

Die Reaktionsform des Auges gegen den physischen Reiz ist Farbe, die des  Ohres  gegen denselben Erreger ist der Schall. Der kollektive Inhalt dessen, was der Gehörnerv perzipiert, ist Schall. Der Reiz jedoch, der den Opticus innerviert, ist von höherer Abkunft, als der, den der Acusticus perzipiert; das Licht kommt aus überirdischen Höhen und taucht in der Unendlichkeit des Weltraums unter, der Schall aber kommt aus irdischem Material und verhallt in der irdischen Niederung. Trotzdem wird das Innere durch Eindrücke des Gehörs mächtiger ergriffen und höher emporgetragen, als durch Eindrücke des Gesichts. Die Physiologie des Gehörs ist weniger kultiviert, als die des Gesichts, was sowohl in der schweren Zugänglichkeit des im Felsenbein verborgenen Gehörapparates, wie auch in der geringeren Neigung zu Erkrankungen seinen Grund hat. Nach HÄCKELs Darstellung sind die unumgänglichsten Bedingungen des Gehörorgans, die selbst schon die primitivsten Ansätze bei den niedrigsten Tieren aufweisen: Die Höhlung, die Gehörsteinchen und die Härchen an den Zellen. Von diesem einfachen Ursprung bis zu dem sehr komplizierten Gehörbau des Menschen ist ein sehr weiter Weg, der aber dem Umfang dessen, was wahrgenommen wird, entspricht.

Die wichtigsten Bestandteile des menschlichen Ohres sind die Membran des Trommelfells, die Gehörknöchelchen (bestehend aus Steigbügel, Hammer und Amboß), die Paukenhöhle, das Labyrinth mit dem Labyrinthwasser und vor allem die Schnecke und der Vorhof, in welchen die beiden Hälften des geteilten Acusticus residieren. Die Schallwellen werden von der Ohrmuschel (deren Wichtigkeit neuestens sehr in Zweifel gezogen wird) gesammelt; sie durchziehen den äußeren vor dem Trommelfell befindlichen Gehörgang, setzen darauf das Trommelfell wie eine schwingendes Saite in Bewegung, dieses teilt den empfangenen Stoß den Gehörknöchelchen mit, welche wieder das Wasser des Labyrinths erschüttern, von dieser Instanz wird die Erschütterung auf den Gehörnerv übertragen und erregt in demselben die Schallempfindung. Entsprechend der Teilung des Acusticus wird das Schallelement in zweifacher Weise verwertet: der Ast, der sich im Vorhof ausbreitet, perzipiert Geräusche, der Schneckenast, an dem sich die kortischen Fasern ansetzen, vermittelt die Empfindung der Töne. Im Vorhof befinden sich die Gehörsteinchen (Otolithen), welche die Bestimmung zu haben scheinen, durch ihre Erschütterung die Nervenenden zu erregen. Nach HÄCKEL sind sie so wichtig, daß der Flußkrebs, der sie nicht wie andere Tiere selbst ausscheidet, sich sonderbarerweise Steinchen aus dem Schlamm holt und sie ins Gehörtäschchen steckt. Die Wand des Vorhofs ist mit Epithelzelle bedeckt, welche an der Oberfläche die von HÄCKEL ebenfalls als so wichtig bezeichneten Härchen besitzen. Man nimmt an, daß, sobald die Otolithen in Bewegung geraten, sie ihrerseits die Härchen in Vibration versetzen. Die kortischen Fasern des Schneckenastes, die in ihrer Konstruktion einer künstlichen Tastatur gleichen, sind partienweise mit einem Analogon der spezifischen Energien ausgestattet, denn je eine bestimmte Gruppe derselben sit für einen bestimmten Ton abgestimmt. Nach KÖLLIKERs Schätzung sind 3000 solcher Fasern vorhanden, von diesen verteilt HELMHOLTZ 2800 auf die sieben in der Musik gebräuchlichen Oktaven, die übrigen 200 vermitteln unmusikalische Töne. Das konstitutive Unterscheidungsmerkmal in der Genesis von Geräusch und Ton besteht darin, daß jenes durch unregelmäßige, diese durch periodische Wellenzüge erzeugt werden. Die Grenze der wahrnehmbaren Töne liegt zwischen 20 und 38000 Schwingungen in der Sekunde. Im Wesen des Tones sind ebenfalls drei Momente zu unterscheiden, die in der Stärke, der Höhe und der Klangfarbe bestehen.

Die  Stärke  des Tones wird von der Amplitude oder Elongation der Schallwellen bedingt. Das Schallelement besteht aus Verdichtungen und Verdünnungen der Luft; bei einem größeren Aufwand an mechanischer Kraft erweitern sich die Elongationen, wodurch sich die Luft verdünnt, während des Schließens zweier Wellenlinien verdichtet sie sich darauf mit umso stärkerem Anstoß; und aus dieser Stärke der Verdünnung und Verdichtung resultiert nun die Stärke des Tons.

Die  Tonhöhe  wächst mit der Anzahl der Schwingungen in einer Zeiteinheit; wenn man sich zwei Saiten von verschiedener Länge denkt, eine von der Länge  a,  die zweite um die Hälfte kürzer von der Länge  b,  so wird in derselben Zeit  b  doppelt so viele Schwingungen machen als  a;  das gibt zwei Töne von verschiedener Höhe, wobei das doppelt so schnell schwingende  B  die Oktave von  a  ist.

Die  Klangfarbe,  der Timber des Tones, wodurch sich derselbe Ton auf verschiedenen Instrumenten, ja auf verschiedenen Exemplaren desselben Instruments individualisiert, obgleich er überall dieselbe Schwingungszahl ausführt, besteht in Kürze darin, daß jede schwingende Saite den Hang besitzt sich zu teilen, und neben den Schwingungen, die sie ihrer ganzen Länge nach ausführt, gehen noch Wellenzüge verschiedener Ordnung her. Die Schwingungen, welche die Saite der ganzen Länge nach vollzieht, geben den Grundton, die übrigen nebenher gehenden Schwingungsformen bilden die von HELMHOLTZ entdeckten Obertöne. Die Obertöne, deren Zahl und Stärke bei den verschiedenen Instrumenten ungleich ist, verleihen dem Ton die Klangfarbe. Die Ursache von Konsonanz und Dissonanz entdeckt zu haben, ist ebenfalls ein Verdienst von HELMHOLTZ. Die Dissonanz entsteht durch Schwebungen, die da vorkommen, wo ein Wellenberg mit einem Wellental zusammenfällt und deshlab eine Stockung der Bewegung eintritt; dadurch wird der Reiz intermittierend und verursacht dem Gehör eine ähnlich unangenehme Empfindung, wie das Flackern des Lichts dem Auge. Ist aber der Reiz ein kontinuierlicher, und sind somit Schwebungen vermieden, so hat man den angenehmen Eindruck der Konsonanz.

Auch beim Gehör kommen Nachwirkungen vor, wie es vom Gesicht erwähnt war. Sehr intensive Töne oder solche, die einen besonderen Eindruck machen, können lange, nachdem der äußere Reiz schon geschwunden ist, noch nachempfunden werden. Doch gibt es im Gehör keine Komplementärempfindung. Ebensowenig besitzt das Gehör ein Analogon zu Schwarz; der Acusticus im Ruhezustand hat keine Empfindung, das Schweigen ist eine Negation. Daraus folgt, daß die Pause nicht gehört wird.

Wie beim Sehen, so wird auch beim Hören die Entfernung und Richtung nicht  wahrgenommen,  sondern  beurteilt.  Wir urteilen nach der Stärke des Tons auf seine Entfernung und nach der Deutlichkeit desselben bei gewissen Kopfwendungen auf seine Richtung. Das Straßengeräusch scheint uns bei offenem Fenster näher zu sein, als bei geschlossenem, weil es mit größerer Lebhaftigkeit zu uns dringt. Schwache Töne sind wir geneigt in die Ferne zu verlegen, was manchen von ihnen etwas Überweltliches und Ahnungsreiches verleiht. Im kräftigen Ton liegt ein reales, im leisen ein ideales Gepräge; das mit lauter Stimme geführte Gespräch hat den Charakter einer geschäftlichen Abmachung, das mit milder Dämpfung gepflogene den einer stimmungsvollen Mitteilung. Das Gehör wird viel weniger von der Außenwelt sollizitiert als das Gesicht; aber wohl auch deshalb, weil die äußere Beschaffenheit den Augen sich viel häufiger darbietet als die innerliche. Der innere Gehalt aller Erscheinungen wird uns durch das Ohr geoffenbart. "Durch Farbe wird die existentielle, durch Ton aber die virtuelle Wesensbeschaffenheit des Wirklichen von uns erkannt", sagt HERMANN (7). Das Gehör ist unser innerlichster Sinn, durch dieses Organ werden die mächtigsten Eindrücke zugeführt; wenn beide edlen Sinne im Wettstreit an das Gefühl appellieren, trägt immer die Innerlichkeit des Gehörs den Sieg über die Darlegung des Gesichts davon; der Anblick von Schmerz ergreift weniger als das Schmerzgestöhn; ein Schlachtengemäld wird einen Krieger bei weitem nicht so kräft anfeuern, als eine kriegerische Musik. Aus der Macht der Gehörs über das Gemüt wird die Härte erklärlich, wo es ausfällt. Taubstumme sind hart und störrisch; man hat an taubstummen Kindern bemerkt, daß sie Tiere erbarmungslos quälen können, weil eben kein Jammerton zu ihnen dringt. Blinde dagegen zeichnen sich durch Milde und visionäre Schwärmerei aus; das liegt in der Verinnerlichung des Lebens. Beinahe jedes Volk besitzt Sagen von blinden Dichtern (HOMER, OSSIAN) und der blinde Musiker ist ein Vorwurf der erschütterndsten lyrischen Dichtungen (GOETHE "Der blinde Harfner", UHLAND, "Des Sängers Fluch").

Alles  gleichzeitig Gesehene  stellt sich in die beharrende Form des Nebeneinander, des Räumlichen ein; alles  sukzessiv Gehörte  schmilzt zum Nacheinander einer Linie zusammen, die der Ausdruck der vorüberfließenden Zeitlinie wird; "in starrer Ruhe versunken hört das Ohr die Bewegung des Zeitlichen, wie das lebendig bewegte Auge schaut die Ruhe des Räumlichen", sagt TOURTUAL (8). Das Gehör besitzt die hohe Bedeutung, der zeitentwickelnde Sinn zu sein. Die beiden edlen Sinne konstruieren uns die zwei sinnlichen Fundamentalformen, auf denen sich die ganze innere Welt bewegt, die von Raum und Zeit. Wie überhaupt der charakteristische Unterschied zwischen den Vorstellungen des Gesichts und des Gehörs darin besteht, daß jene mehr von äußerlicher, diese mehr von innerlicher Beschaffenheit sind, so ist dies auch bei den Vorstellungen von Raum und Zeit der Fall. Der Raum dehnt sich in sinnlicher Wahrnehmbarkeit um uns aus, die Zeit fällt als dunkle Vorstellung in unser Bewußtsein. Es ist im Grunde unrichtig, die Zeit als sinnliche Form zu bezeichnen, wie dies üblich ist; denn die Zeit ist an und für sich gar nicht sinnlich wahrnehmbar, während es hingegen der Raum allerdings ist. Die Zeit selbst nehmen wir nicht sinnlich wahr, nur die Bewegungen, die sich in ihr abspinnen. Dem entsprechend sind die Kunstschöpfungen der Zeitform auf das Ohr gestellt, die Kunstschöpfungen der Raumform hingegen auf das Auge. Die erste ist die gemütsbewegte und dem Innern zugewendete, die zweite die ruhige und nach Außen gerichtete Kunst.

Das  Gesicht  ist ein spontaner, das Gehör ein rezeptiver Sinn; das Auge sucht die Eindrücke der Außenwelt auf und ändert sich nach Willkür das Feld seiner Wahrnehmungen ab, das Ohr erleidet die Eindrücke und ist ihnen widerstandslos preisgegebn. Das ist übrigens in Übereinstimmung mit der Mission der Sinne im inneren Lebenskreis; das vom Auge bedingte Erkennen ist spontan, das vom Ohr abhängige Gefühl ist rezeptiv.


3. Der Geschmack

Vollkommen verschieden von der Natur und der Mission des geistigen Sinnespaares ist die des  chemischen:  des  Geschmacks  und  Geruchs.  Schon die Medien, auf welche sie reagieren, kennzeichnen ihren weniger hohen Standpunkt; während jene von stofflichen Oszillationen erregt werden und sich in vornehmer Entfernung von ihren Erregern halten, werden diese von realer, chemischer Materie erregt, und versetzen sich mit derselben in unmittelbare Berührung. Ungeachtet aber der Verschiedenheit in der Rangordnung und in der Charakteristik, bestehen gleichwohl zwischen je einem chemischen und einem edlen Sinn mehrfache Analogien; ungefähr wie sie auch zwischen manchem Künstler und Handwerker, z. B. zwischen Tischler und Bildhauer bestehen. Der Geschmack besitzt ebensoviele verwandte Seiten mit dem Gesicht, als der Geruch mit dem Gehör. Zunächst hat der Geschmack mit dem Gesicht die Verschließbarkeit des Apparaters gemein; beiden können sich nach Belieben dem Eindruck hingeben oder entziehen. Weiter ist die Zunge durch ihre Beweglichkeit ebensogut wie das Auge imstande, die Qualitäten der Empfindung abzuändern. Außer diesen in der mechanischen Konstruktion beruhenden Verwandtschaften, bleiben noch einige auf psychophysischem Gebiet zu beachten. Über die Physiologie des Geschmackssinnes ist man in erstaunlichem Grad noch im Unklaren. Einen eigentlichen Geschmacksnerven kennt man nicht; es ist auch nicht bekannt, wi die drei Nerven, die in die Zunge eingehen, sich in die dreifache Funktion derselben: in Bewegen, Tasten und Schmecken teilen. Nicht besser unterrichtet ist man über die flächenhafte Ausdehnung der Geschmacksvermittlung. Man hat gar keine Klarheit darüber, wie weit sich der Gaumen an der Empfindung des Schmeckens beteiligt. Als sicher wird jedoch angenommen und namentlich von JULIUS BERNSTEIN (9) als unbestreitbar hingestellt, daß die Zunge an der Wurzel die intensivste Geschmacksempfindung besitzt. Von weiteren Partien des Organs vermitteln noch die Spitze und die Ränder der Zunge das Schmecken; dem Zungenrücken jedoch wird diese Fähigkeit entschieden abgesprochen, er ist stumpf. Übrigens ist es durch das Zerfließen der Substanzen sehr schwer, die Empfindungsstellen genau abzugrenzen. Aus demselben Grund ist es auch schwierig, endgültig festzustellen, ob die Papillen auf der Oberfläche der Zunge, welche als die eigentlich perzipierenden Organe angesehen werden, mit einer Reduktion der "spezifischen Energie", analog den kortischen Fasern, ausgestattet sind. Man neigt sich nämlich vielfach zur Annahme, daß bestimmte Partien der Papillen zur Vermittlung bestimmter Geschmäcke dienen. Bei einer Anzahl von Substanzen scheint dies allerdings erwiesen zu sein, so z. B. schmeckt Alaun an der Spitze der Zunge sauer, an der Wurzel jedoch süß. Doch beziehen sich die gemachten Erfahrungen nur auf diese beiden Extreme der Zunge, wie dies auch bei PREYER (10) angestellten Untersuchungen der Fall ist: die Ränder bleiben aus dem Spiel, wahrscheinlich weil der Stoff an ihnen schwer haftet. Jede Geschmacksqualität soll eine eigene Erregungsdauer beanspruchen. Die vier Grundqualitäten: Sauer, Süß, Bitter und Salzig, werden mit den Grundfarben parallelisiert - kommen wir jedoch wieder zur Verwandtschaft mit dem Gesicht. Diese Parallelisierung von Farben und Geschmäcken ist in besonders geistreicher, jedoch bloß spielerischer und wissenschaftlich ganz wertloser Weise von LEOPOLD GEORGE (11) durchgeführt. Nach seiner Darstellung entspricht das Saure dem Gelben, das Bittere dem Blauen, das Salzige dem Rot und das Süße, das er als die Indifferenzform aller Geschmäcke ansieht, wäre dem Weißen gleichzustellen. Die Fleischfarben stellt er dem Gewürzigen entgegen, das Geschmacklose findet er durch das Schwarz, das Fade durch das Graue ausgedrückt. Wie bei den Farben, so kommt es auch bei den Geschmäcken darauf an, die Mannigfaltigkeit der Reize zu einem harmonischen Ganzen zu gestalten. Dieser Parallelismus von Geschmacksqualität und Farbenqualität kann jedoch keinen absoluten Anspruch auf Neuheit machen, denn in einer anderen Zusammenstellung findet er sich bereits bei ARISTOTELES. Die vorangegangene intensive Einwirkung eines Geschmacks verändert die Empfindungsfähigkeit für einen anderen; dieser Punkt stößt abermals auf ein homogenes Verhältnis beim Auge, bei dem die durch einen heftigen Farbeneindruck gesättigte Faser nicht ohne Störung des Blendungsbildes eine neue Farbe perzipieren kann. Damit ist aber das Register der analogen Züge noch nicht geschlossen, denn für das Nachbild bietet sich auch noch ein Analogon im Nachgeschmack dar, auch der gereizte Geschmacksnerv läuft bei der Rückkehr zum Ruhestand eine Reihe von Veränderungen durch, die man als Bilder des Geschmacks gelten lassen kann, um - was nicht selten vorkommt - schließlich im Nachgeschmack eine Kontrastempfindung des primären Geschmacks zu haben. So können zusammenziehende Stoffe einen süßlichen, aromatische einen sauren Eindruck zurücklassen. Um noch eine letzte Homogenität nahmhaft zu machen: die Zunge besitzt durch ihre Tastfähigkeit in gewissen, allerdings sehr inferiorem [untergeordnetem - wp] Grad das Vermögen der räumlichen Auffassung.

Der Geschmack ist ein auf das stoffliche Genießen losgehender und in die Gegenwart versunkener prosaischer Egoist. Seine behagliche Seite ist die Neigung den Genuß zu zerlegen, die Empfindung in ihre Komponenten aufzulösen, daher das große Unterscheidungsvermögen dieses Sinnes, welches bei den Gustateurs der Weine zur höchsten Perfektion kommt. Für das Seelenleben ist der Geschmackssinn von inferiorer Bedeutung, er trägt nur sehr unwesentlich, bloß durch die geringe Verwendung in der Chemie, zur Kenntnis der Außenwelt bei. Er ist durchaus kein theoretischer Sinn und strebt nach nichts anderem, als praktischen Tendenzen zu dienen. Auge und Ohr verschönern das Leben, Geschmack und Geruch dienen ihm. Es ist seltsam, daß gerade die Beziehungen des realistischen Geschmackssinnes eine trophische Anwendung auf Gemütszustände finden: eine süße Erinnerung, ein bitterer Kampf und dgl.


4. Der Geruch

Der Geschmack reagiert nur auf Substanzen, die in flüssigen Zustand gebracht werden können; unauflösliche Stoffe oder Gase, die in die Mundhöhle geleitet werden, erregen keine Geschmacksempfindung; der  Geruch  hingegen reagiert ebenso exklusiv auf gasförmige Erreger. Obgleich die Berührung eine ebenso direkte ist, so wäre doch der Geruch, durch die minder reale Natur seines Erregers berechtigt, auf eine distinguierte Rasse Anspruch zu erheben, aber dafür ist seine Rolle weniger ausgesprochen und weniger wichtig für das Leben, als die des Geschmackssinnes. Seine Analogien mit dem Gehör betreffend, so teilt er mit diesem vor allem die Unverschließbarkeit und Unbeweglichkeit des Apparates. Das Gehör und der Geruch sind den Sensationen widerstandslos hingegeben; aber als Ersatz für diese Hingabe haben es beide in ihrer Macht, den Stärkegrad der Empfindung zu regulieren, ihn zu erhöhen oder herabzusetzen. Das Ohr kann durch den Spannungsgrad des Trommelfells, welcher von den inneren Ohrmuskeln abhängt, die Empfänglichkeit verändern, und das Gleiche vermag der Geruchssinn durch eine Regulierung des Luftstroms. Dem Durchzug der ein- und ausgeatmeten Luft dient der untere und mittlere Teil der aus drei muschelförmigen Gängen bestehenden Nasenhöhle. Das ist die  regio respiratoria.  Die obere Muschel (zum Teil auch die mittlere) schließt den  Olfaktorius  ein, der das eigentliche Geruchsorgan ist, er wird deshalb  regio olfactoria  genannt. Doch wie der Opticus und Acusticus zwar die Sinnesrepräsentanten sind, während der perzipierende Dienst tatsächlich beim ersten von den Stäbchen und Zäpfchen, beim zweiten von den kortischen Fasern verrichtet wird, so versetzen ihn in ähnlicher Weise beim Olfaktorius die mit ihm zusammenhängenden Zellen der Riechschleimaut, denen MAX SCHULZE den Namen  Riechzellen  gab. Alle diese drei Sinnesnerven sind für den Schmerz operativer Eingriffe unempfindlich, sie sind ausschließlich nur für die Töne ihrer "spezifischen Energien" gestimmt.

Wie der Geschmack, so ist auch der Geruch von Organempfindungen begleitet und beeinflußt. Die assoziierte Organempfindung kann einen ansich eben nicht angenehmen Geruch angenehm machen und auch wieder umgekehrt. Durch diese Verbindung ist das Urteil beim Geruch ebenso subjektiv, wie das sprichwörtliche beim Geschmack (De gustibus non est disputandum. [Über Geschmack läßt sich nicht streiten. - wp]) Ja, nicht nur subjektiv, sondern selbst temporär ist das Urteil dieser Sinne, denn was man heute angenehm oder wohlschmeckend findet, kann morgen entgegengesetzt erscheinen. Stimmt aber die Organempfindung mit der Geruchsempfindung überein, so wird diese dadurch gehoben. Etwas Ähnliches ist auch beim Gehör der Fall, durch welches die Körperstimmung ebenfalls angesprochen wird; auch die Macht des Tongebildes steigt, wenn es mit der somatischen Stimmung koinzidiert. Musik und Wohlgerüche teilen auch noch den Effekt auf den Leib, ihn in weiche Erschlaffung zu versetzen und auf die Seele, sie in das süße Spiel der Träumerei zu lullen. Es ist deshalb bei Völkern, wie bei Individuen ein Zeichen sittlicher Gesunkenheit, sich in übertriebener Weise mit Wohlgerüchen zu umgeben. Beide aber, Töne und Gerüche, haben es in ihrer Gewalt, durch andere Qualitäten entgegengesetzte Wirkungen hervorzurufen; rauschende Schlachtmusik entzündet den Krieger zu dahinstürmendem Kampfesmut und riechende Essenzen erwecken Bewußtlose zum Leben. Bei beiden Sinnen ist die atmosphärische Luft das Medium, durch welches der Erreger dringt, Gerüche und Töne werden durch die Luft getragen, (das Medium des Gesichts ist der Äther), und ein Windhauch bringt Töne wie Gerüche näher. Geruch und Gehör werden überdies in gleicher Weise, nicht vom Stoff selbst, sondern von dem, ws ihnen emaniert [aufsteigt - w], Gasen und Schall, sollizitiert. Der "Geruch erfaßt den Geist der Materie", sagt DUTTENHOFER (12). GEORGE (13) findet noch für den Geruch und das Gehör die Analogie, daß beide für den schnellen Wechsel der Eindrücke organisiert sind. Außerdem nimmt er noch an, daß dem chaotischen Durcheinander gleichzeitiger Gerüche eine Unregelmäßigkeit der Schwingungsverhältnisse zugrunde liegt, ähnlich wie bei den Geräuschen. Es gehört eine ganz besondere Vertrautheit mit den einzelnen Potenzen dazu, um den dunklen Eindruck eines Aggregats von Gerüchen in seine Bestandteile zerlegen zu können, und diese Fähigkeit kann man höchstens nur bei Apothekern und Parfumeurs antreffen.
Der außerordentliche Reichtum an Geruchsqualitäten, der das Inventar jedes anderen Sinnesgebietes in ganz unverhältnismäßiger Weise überschreitet, macht es unmöglich eine Klassifikation der Gerüche vorzunehmen. Jedes einzelne Objekt in der weiten Sphäre des vegetabilischen und animalischen Reiches besitzt einen spezifischen Geruch, und nicht bloß das; jeder Prozeß, der sich an ihnen vollzieht, strahlt einen Geruch  sui generis  [aus sich selbst heraus - wp] aus. Es gibt Ärzte, welche das Stadium mancher Krankheit am Geruch erkennen. Statt jeder Einteilung, müssen die Gerüche daher mit dem Massenprädikat von  angenehm  und  unangenehm  gesondert werden. Im Umfang der Geruchsqualitäten, wie unter den Substanzen, auf welche der Geschmack reagiert, findet sich die Eigentümlichkeit: daß chemisch fremde Stoffe einen gleichen Effekt hervorbringen; so erregen, außer dem Zucker, essigsaueres Bleisalz und Glyzerin einen süßen Geschmack; wie auch Nitrobenzin und Bittermandelöl gleichartig riechen. Aber der umgekehrte Fall, daß chemisch verwandte Stoffe ganz anders schmecken und riechen, besteht ebenfalls. Die Empfindlichkeit des Geruchs übertrifft bei weitem die der übrigen Sinne. Es werden so verschwindend winzige Teile perzipiert, daß sie am Geschmack vollkommen spurlos vorübergehen. VALENTIN (14) hat berechnet, daß noch ein Zweimillionstel eines Milligramms von Moschus wahrgenommen werden kann. Trotzdem ist der Geruchssinn beim kultivierten Menschen nur ein Rudiment von dem, was er im Naturzustand ist. Während er bei jenem atroph werden kann, ohne daß er es selbst nur gewahr wird, beherrscht er das Leben des Wilden und der Tiere, und besitzt bei ihnen einen Entwicklungsgrad, den wir kaum zu ermessen imstande sind. Neger in den Urwäldern erkennen am Geruch der Pfade, ob sie von Weißen oder Schwarzen betreten worden sind; und das Wild vermag bei günstiger Windrichtung den meilenweit entfernten Jäger zu wittern.

Für das Seelenleben ist der Geruch nur von sehr untergeordneter Bedeutung. Er bereichert nicht mit neuen Vorstellungen, doch besitzt er im besonderen Grad die Macht, erregende auf alte zu wirken; DROBISCH (15) nennt ihn deshalb den Sinn des Gedächtnisses und der Einbildungskraft. Kein Sinn vermag so schnell und lebhaft eine mit ihm verbundene Vorstellungsmasse zu erwecken, wie der Geruch. Das Anwehen eines vertrauten Geruchs entführt uns plötzlich auf Ätherschwingen der Gegenwart, versetzt uns auf ferne Schauplätze und ruft die entschlafenen Geister einstiger Erlebnisse nach. Durch seine Exzitierung [Anregung - wp] der Stimmungsempfindug erweiter er in phantastischer Weise den inneren Horizont; der Weihrauchduft, der sich zum Gottesdienst gesellt, ist ein mächtiges Vehikel, um mit einem mystischen überweltlichen Ahnungsschauer erfüllt zu werden.

In der Charakterbeschaffenheit dieses Sinnes mischt sich ein begierdeartiger, schwankender und spürender Zug bei.


II. Die sensitiven Sinne

5. Der Tastsinn

Mit dem  Tastsinn  betreten wir das Gebiet der  sensitiven  Sinne, die an keine Veranstaltung gebunden sind, sondern deren Organe, wie eine zerstreute Herde, in der ganzen Raumausdehnung des Körpers hausen. Was die antastenden Organe speziell betrifft, so verlaufen sie in mannigfaltigen Verästelungen im Unterhautzellgewebe und senden ihre Endzweige in die obere Schicht, zu den gruppenweise stehenden Tastwärzchen. LOTZE vergleicht (16) die Tastorgane den kriechenden Wurzeln einer Pflanze, welche senkrecht nach oben Sprößlinge treiben, die in Distanzen das Erdreich durchbrechen. Die Hautfläche ist demnach ein Aggregat von Organen ein und derselben Klasse; derselbe Reiz an verschiedenen Stellen appliziert, löst verschieden gefärbte Empfindungen aus, was von der Verschiedenheit der Textur und des Nervenreichtums an der Hautparzelle herrührt. Der Tastsinn spaltet sich in zwei Kategorien: in den passiven und zentripetalen Hautdrucksinn, und in den aktiven und zentrifugalen Tastsinn. Diese Abteilung wird vom Muskelsinn unterstützt, und das wichtigste Resultat der Verbindung ist die Konstruktion des Raums; der Tastsinn teilt daher mit dem Gesicht die hohe Würde, Träger des Raumschemas zu sein; dabei hat er das Verdienst noch etwas Eigenes darin zu leisten, denn er führt die dritte Dimension ein. Die originellste Leistung des Tastsinns ist aber die: daß er erstens in sich, zweitens außer sich funktionieren kann; die eine Hand kann in der anderen Empfindungen auslösen, und der Gebrauch einer Menge Werkzeuge des täglichen Lebens, wie der Feder, der Bestecke, des Stockes, beruth auf einer Fortsetzung der Tastempfindung außerhalb des Organs. Doch wie sich zum neckischen Spiel der hohe Ernst gesellen kann, verbindet der Tastsinn diese paradoxen Eigenschaften mit der mächtigen Mission, das Reich des Beseelten im Schöpfungsall zu tragen; der Tastsinn zieht die Grenzscheide zwischen dem animalischen Dasein und der unbeweglichen Natur. Daß kein beseeltes Leben, auch nicht das des niedrigsten Tieres ohne Tastsinn denkbar ist, sprach schon ARISTOTELES aus. Hingegen kann auf die schmale Kante dieses einen Sinnes die ganze Existenz, nicht bloß eines Lebewesens überhaupt, sondern sogar eines menschlichen Wesens gestellt werden. Ein Beispiel dafür ist die viel genannte LAURA BRIDGMAN.

Der Tastsinn ist nicht bloß für das körperliche Dasein allein von höchster Wichtigkeit, er trägt auch viel zur Erkenntnis bei, durch ihn haben wir die nachdrücklichsten Berührungen mit der Außenwelt. Er ist der biedere Realsinn, der immer nur auf die körnige Wirklichkeit losgeht. Daher kommt auch seine hohe Überzeugungskraft; keinem Sinn vertrauen wir so fest und sicher wie dem Tastsinn; schon der Apostel THOMAS verließ sich mehr auf die tastenden Finger als auf das sehende Auge. Diese Vertrauensstärke schuf das landläufige Wort: "handgreifliche Wahrheit".


6. Der Körpersinn

Ein und dasselbe Organ dient dem mechanischen Tastsinn und dem vegetativen Körpersinn; die Hautnerven haben somit in ihrem Inventar ganz konträre Empfindungsqualitäten, wie es z. B. die Druck- und thermischen Empfindungen sind. Ebenso wie beim Tastsinn hängt auch beim Körpersinn von der Lokalität die Qualität der Empfindung ab. Ein Stich am Finger schmerzt in anderer Weise als ein Stich am Rücken. Dasselbe gilt auch von der Wärmeempfindung. HEINRICH WEBER behauptet, daß die Temperaturempfindung in noch engeren Grenzen variiert, als die Druckempfindung. Bei den Extremen der Temperatur, bei Wärme und Kälte, ist die Zunahme der Empfindung keine Steigerung derselben Grade, sondern mit dem wachsenden Stärkegrad modifiziert sich stets der Eindruck. Es verhälts sich damit wie mit der Erhellung der Farben, bei der das rotglühende Eisen weiß wird. Der Körpersinn konstituiert sich aus einem Konglomerat disparater Phänomene, von denen sich einzelnen Typen distinkter als die anderen auslösen, der eingreifendste von diesen ist der Schmerz. Das Wesen des Schmerzes wird als eine übermäßige Tätigkeit der sensitiven Nerven erklärt. Diese Ansicht war zuerst von HENLE und ROMBERG ausgesprochen und später von A. W. VOLKMANN und HAGEN bestätigt. Durch die gesteigerte Zumutung an die Nerven wird eine Summe von Kräften in Anspruch genommen, welche die organische Statik verletzt, und dieses Mißverhältnis bringt Schmerzen hervor. Noch eine Anzahl anderer abnormer und mehr oder minder bedeutender Typen sind im Inventar des Körpersinns enthalten; wie Hunger und Durst, Kitzeln und Jucken und dgl. mehr. Das sind alles subjektive Zustände; ein ungleich höheres Interesse gewinnt der Körpersinn da, wo er wie ein blinder Seher im Dämmerschein seiner Abgeschlossenheit zu objektiven Wahrnehmungen gelangt. Ungeachtet seiner eigenen Nacht, dankt es ihm der Stockblinde, daß er mit den Fingerspitzen die Farbe und mit der Stirn die helle Fensterstelle im Zimmer unterscheiden kann, und wenn ein lebhafter Lärm auch Taubstumme in ihren Geschäften stört, so ist es abermals der Körpersinn, der sie davon avisiert [ankündigt - wp]. Spielt er hier die Rolle eines Führers und Leiters, so geht er bei anderen pathologischen Erscheinungen sogar zu der eines Sehers und Mystikers über. Das findet statt, wenn er ein bewußtloses Leben dirigiert, wie beim Schlafwandeln und Hellsehen. In diesen Zuständen scheint er sich zu einer Empfindungsfähigkeit zu erweitern, von der normale Menschen keine Ahnung besitzen. Beim Hellsehen nimmt er mit autokratischer Selbstgenügsamkeit die Form des Allsinns an und vikariert für alle sensorielle Fasern. Ein Reflex dieses Verhältnisses, im günstigen Sinn, kommt auch bei manchen normalen Naturen vor; das, was man im Leben eine "feine Natur" nennt, besteht doch ebenfalls in einm gewissen intuitiven Blick, der das, was sich hinter der geistigen Mauer verbirgt, durchdringt. Nächst der Erziehung gebührt dem Körpersinn die Anerkennung, der zweite Faktor bei der Bildung einer "feinen Natur" zu sein. Der Körpersinn ist ein blinder Seher und gleich auch einem solchen an Innigkeit.


7. Der Muskelsinn

Der  Muskelsinn,  den JAMES MILL (in der "Analysis of phenomenon of human mind) aus dem dunklen und so bewegten organischen Reich ausgelöst und zur Würde eines selbständigen Sinns erhoben hat - umspannt ebenfalls den ganzen Körperbau. Der Muskelsinn ist von innen innerviert und gibt über den eigenen Leib Kunde; durch den Muskelsinn erfährt man von der Haltung seines Körpers, von der Bewegung des Armes, vom Rhythmus der Schritte. Ja, der Muskelsinn sagt mir nicht allein von der Bewegung, die ich ausführe, sondern auch von derjenigen, die ich bloß intendiere, die aber durch Widerstand oder Reflexion zurückgehalten wird. Von innen heraus wird auf dem Mechanismus gespielt und je nach der Absicht setzt sich der Muskelakkord zusammen. Dabei bestimmt der seelische Rhythmus den Rhythmus der Bewegung; das verleiht den Bewegungen etwas ungemein Gefühlsinniges; alle Abstufungen eines Affekts malen in sich in den Schritten, mit denen man - von ihm getrieben - das Zimmer durchmißt.

Jeder Impuls führt eine andere Muskelgruppe in Aktion; insofern kann man auch hier von einem Anklang der "spezifischen Energie" sprechen. Wenn man von den Reflexbewegungen absieht, da sie von rechtswegen in die Physiologie gehörn, so gibt es zwei Kategorien von Erregern: solche, die vom sehenden Willen und andere, die vom blinden Instinkt ausgehen. Die Willensbewegung geht aber ebensogut durch eine Prädisposition vor sich, wie die Instinktbewegung; der Wille hat nur unbekannten Vasallen den Befehl erteilt und diese vollstrecken ihn ohne sich zu enthüllen. Obgleich der Wille über diese Kombination der Akkorde, die er auslöst, nichts vermag und diese durch Naturnotwendigkeit prädisponiert sind, so ist er dennoch in anderer Weise imstande, den motorischen Mechanismus zu beeinflussen; er kann seine Innervation hemmen, wenn die Reflexion den genommenen Anlauf mißbilligt, wie er dann überhaupt aus pädagogischen Motiven seine Volubilität [Geläufigkeit - wp] zügeln kann.

In der Zügelung des motorischen Apparates liegt nicht nur Anstand und gute Sitte, sondern auch die Macht der Selbstbeherrschung.

Mit Bezug auf das letztere Moment wurde es dem Schauspieler TALMA als eine große Feinheit nachgerühmt, daß er bei der Darstellung des Stoikers CATO sich der Bewegung bis zur Regungslosigkeit enthielt. Die Instinktbewegung geht von der Seele aus. Wie jene durch die Willensenergie, so wird diese durch die Gefühlswärme innerviert. Diese Klasse von Bewegungen kommt am meisten in Verwendung. Selbst viele Bewegungen der vorigen Art gehen, wenn sie häufig ausgeführt worden sind, in diese Kategorie über; das ist der Weg, den jede mechanisch gewordene Fertigkeit nimmt; erst übt man aufmerksam das Klavierstück ein, dann spielt man es gedankenlos. Die Instinktbewegung, die oft so breit und unförmlich ist, gewinnt eine besondere Dignität aus einer ähnlichen Ursache, aus der ein Volk geadelt wird, aus dem ein die Menschheit fördernder Geist entstand; aus der Kategorie der Instinktbewegungen ght nämlich nichts Geringeres als die Sprache hervor. Das Wort in seiner glossaren Beschaffenheit ist nichts anderes, als eine tönende Gebärde.

Das Klare, Reflektierte und Energische der Willensbewegung fordert zu einem Vergleich mit dem männlichen Typus auf; das Unbedachte, Dunkle und Gemütswarme der Instinktbewegung bietet sich zu einer gleichen Zusammenstellung mit dem weiblichen Wesen dar; die durch blinde Naturmacht, wenn auch mit wunderbarer Zweckmäßigkeit vor sich gehende Reflexbewegung, die zwar nichts von sich weiß, denn sie findet ja auch bei Rumpfen Enthaupteter und bei Pflanzen statt, deckt sich in einer Parallele der Geschlechter mit dem Begriff des Neutrums.


8. Das Gemeingefühl

Beim Gemeingefühl (coenästhesis) handelt es sich nicht um einen bestimmten Innervationsfaktor. Dieser Sinn ist vielmehr der allgemeine somatische Hintergrund der ganzen Individualität. Er ist die dunkle Flut, die aus den mannigfaltigsten Lebenswellen gemischt ist. Alle diese zahllosen Aktionen, durch welche sich das Leben betätigt - und solange es kreist, steht kein Härchen still - liefern ihre Beiträge zum Gemeingefühl. Der Hauptzufluß jedoch stammt aus dem Stoffwechsel, der Atmung, der Verdauung, der Wärme der Muskelempfindung, und den Stimmungsempfindungen der Sinnesorgane.

Indem nun das Gemeingefühl alle diese Momente, die beim Einen nie ganz so geartet sind, wie beim Anderen, in sich aufnimmt, bildet es das subjektive somatische Klima. Der Gemeinempfindung wohnt eine so strenge persönliche Exklusivität inne, daß eine wirkliche Identifizierung mit den Zuständen Anderer nie stattfinden kann - ja ihr momentaner Grundton kann selbst eine Zurückversetzung in die eigene Vergangenheit unmöglich machen. Im Gegenteil wieder kann auch ihr Ton ebensogut einen entsprechenden Vorstellungskreis reproduzieren. Sie greift deshalb mit seltsamer macht in unser Leben ein. Auf ihren Modifikationen beruth manches, was befremdend und unklar erscheint, wie das Hervor- und Zurücktreten von Fähigkeiten. Aus ihrem dunklen Grund geht die Bestimmung unserer jeweiligen Beschaffenheit hervor. Man hat sie deshalb mit einem glücklichen Wort das "somatische Ich" genannt.

Diese Sinneszahl liefert die Elemente zu all dem, was der Geist schafft. Ähnlich wie die 65 Grundstoffe der kosmischen Welt, in unabsehbarer Zusammensetzung, den unerschöpflichen Reichtum des Erschaffenen konstituieren, verhält es sich mit dem Sinnesmaterial im geistigen Schöpfungsreich. In jeder einzelnen Individualität sind die Sinnesqualitäten anders gemischt, was in verschiedenartigen Ursachen liegen kann. Die Organisation jedes Menschen hat ihr eigenes Schicksal, ein Zusammentreffen von Umständen kann hemmend auf die Entwicklung des einen Teils, fördernd auf die des anderen wirken, ohne daß sich in letzter Instanz genau feststellen ließe, was auf Rechnung der natürlichen Disposition und was auf die der hinzugekommenen Lebenseinflüsse zu nehmen ist. Sind die äußeren Einflüsse örtlicher, ethnographischer Natur, oder durch Familientraditionen fortwirkend, so begründen sie von sich aus eine Prädisposition. Physiologischerseits sind die Bedingungen eines begünstigten Sinnes im Bau des Zentralorgans und in der Struktur der leitenden Nerven zu suchen. Zu diesen Momenten wird noch das mechanische hinzukommen, daß eine bestimmte Form und Größe der Erregung der natürlichen Stimmung des funktionierenden Nerven besonders zusagt; dieser Umstand ist namentlich bei der  Präponderanz  [Übegewicht - wp]  einer Sinnessektion  zu beachten. Eine gleichmäßige Entwicklungshöhe sämtlicher Sinne ist fast bei niemandem anzunehmen. Noch irgendeiner Seite überwiegt es und der in der Entwicklung begünstigte Sinn wird zum Hauptstrom der Innerlichkeit; seine Vorstellungsmenge überströmt den Zufluß, der aus den anderen Sinnen einmündet, und sie erteilt der seelischen Flut ihre Färbung. Doch es bedarf nicht einmal der Präponderanz eines vollen, ganzen Sinnenstroms, um das Seelenleben zu bestimmen; schon eine vorwiegende Empfänglichkeit für eine einzelne Abteilung innerhalb einer Empfindungsklasse ist eine hinreichende Potenz, um den Inneren das Gepräge aufzudrücken. Dabei ist auch die Annahme nicht unzulässig, daß sich die Abteilung des einen Sinnes mit der wieder günstig gestellten eines anderen verbinden kann. In den hier vertretenen Gedanken der Sinnesdiremtion [Sinnestrennung - wp] wird VISCHERs darauf bezügliche Theorie einbezogen. Die Talente, die auf dem Gesichtssinn beruhen, - und davon sind drei Klassen vorhanden: die Klasse des tastenden Sehens, hervorgerufen durch eine pronozierte [ausgeprägte - wp] Verschmelzung der Muskelempfindung des Auges mit der Muskelempfindung der tastenden Hand, gibt die  plastischen Künstler;  die des messenden Sehens, das in der Fertigkeit, sich in Einteilungssystemen zu bewegen besteht, und die  Baukünstler  gibt; die der Empfänglichkeit für Farbenspiel, welche die Maler gibt - diese auf dem Gesichtssinn organisierten Talente haben vorzugsweise die Wiedergabe der objektiven Dinge zum Motiv. Für die Talente des Gehörs, die sich in der sprachlichen und musikalischen Kunst bewegen, sind die inneren Stimmungsbilder das Motiv der Schöpfungen. Der Horizont der auf das Auge angelegten Schöpfungskraft ist umfassender, als der auf das Ohr organisierten. Wo die Substrate des Tastsinnes und Muskelsinns in vorherrschender Weise entwickelt sind, und sich dazu das Formprinzip, das diesen Sinnen innewohnt, in höherer Vollendung gesellt, sind die Vorbedingungen zu technischen Leistungen gegeben. Bei einer vorherrschenden Ausbildung der chemischen Sinne ist das Naturell realistisch und der stofflichen Seite des Lebens zugewandt.

Das Prinzip der Sinnespräponderanz läßt sich, ohne Schmälerung der psychologischen Berechtigung, von den Individuen auf die Konvolute [Ansammlungen - wp] derselben, nämlich auf den Gesamtorganismus eines Volkes übertragen. Kann doch mit demselben guten Recht auch bei Völkern ein Gewebe, teils von Natur gegebener, teils durch die Gesellschaft entwickelter Umstände walten, welches eine Richtung der Organisation mehr in Anspruch nimmt, als die andern, und dadurch eine Präponderanz begründet. So ist es eine bekannte Sache, daß in der griechischen Kultur der Gesichtssinn eine hervorragende Rolle spielt, und daß keine Naturkraft in der griechischen Mythologie und in der griechischen Sprache soviel Bedeutung gewann, als das Licht. Und obgleich das deutsche Volk, bis jetzt, in der tönenden Kunst vielleicht noch nicht diese vollendete Höhe erreicht hat, wie sie das griechische in der Plastik erlangte, so ist es deswegen doch nicht unberechtigt, die Innerlichkeit und Tiefe seines Genius dem Gehörsinn zu vindizieren. Man wird dabei noch durch den bemerkenswerten Umstand unterstützt, daß die deutsche Sprache für keine Art von Sinneswahrnehmungen eine so reiche Fülle von Ausdrücken besitzt, wie für die des Gehörsinns.

Das Prinzip der Sinnespräponderanz, das ich bereits in der kleinen Schrift "Die sensoriellen und sensitiven Sinne" zu vertreten versuchte, ist der  Nerv und der Ausgangspunkt des vorliegenden Essays.  Dieser Gedanke, daß jeder psychische Habitus, wie er sich schon allein im passiven Stimmungszustand des Inneren ausspricht, aber vollkräftiger und nachdrücklicher in seinen Schöpfungen manifestiert - auf die Alimentierung desselben durch einzelne bevorzugte Sinne zurückzuführen ist, hat sich mir im Laufe der Jahre, sowohl von der Betrachtung der Individuen, als auch vom völkerpsychologischen Standpunkt ausgehend, nur noch überzeugender festgestellt. In allem, worin ein einzelnes Individuum sein Dasein betätigt und womit ein Volk seine spezifische Stellung in der Kultur kennzeichnet, windet sich immer ein bestimmter, blutsverwandter Grundzug durch, das weist auf einen einheitlichen Ausgangspunkt hin, und dieser kann nirgend sonst zu suchen sein, als da, wo die Elementarstoffe eindringen - nämlich in den Sinnen. Die Abhandlungen über die jüdische und christlich-germanische Phantasie sind ein Versuch, den Kulturcharakter dieser Völker aus bestimmten Sinnespräponderanzen zu erklären. In einem späteren Band wird diese Charakterisierung bei einer anderen Völkergruppe fortgesetzt werden. Die gleiche Tendenz beherrscht auch die Aufsätze über das Gedächtnis und über Einbildungskraft und Phantasie. Ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich den Grund für die bei jedem Menschen anders geartete Gestaltung dieser Phänomene in der Natur und in der Macht der Assoziationskreise aufsuche, die sich nach der Richtung des vorherrschenden Sinnes bilden; daß sich die Sinnespräponderanz auch im Sprachorganismus eines Volkes geltend macht, und sowohl in lexikalischer als auch morphologischer Beziehung desselben ein wichtiger Faktor ist, dafür kamen mir noch mehr Belege zu, als der vorliegende sprachwissenschaftliche Essay bereits fertig war.

LITERATUR - Susanna Rubinstein, Das Leben der Sinne, Psychologisch-ästhetische Essays, Heidelberg 1878 - 1884
    Anmerkungen
    1) Hätten wir z. B. ein einziges Auge und das befände sich in der Mitte der Stirn, so würden die räumlichen Verhältnisse der Dinge uns völlig anders erscheinen. Und wenn es Augen gäbe, die auf ein anderes Wellenverhältnis, als die unseren, reagierten, so würden sie auch andere Farben wahrnehmen.
    2) FRIEDRICH MARTIN DUTTENHOFER erkennt ebenfalls acht Sinne an (siehe dessen "Acht Sinne des Menschen"), teilt sie jedoch in zwei Kopf- und vier Rumpfsinne ein. Die Abteilung der letzteren ist anders zusammengesetzt, als es oben der Fall ist.
    3) JOHANNES MÜLLER, Physiologie des Menschen, Bd. II, Buch V, Seite 250f
    4) WILLIAM THIERRY PREYER, Die fünf Sinne des Menschen, bemerkt sehr richtig, daß dieses Gesetz nicht nur auf physiologischem Gebiet gilt, sondern auch auf andere Verhältnisse Anwendung hat; er führt dabei als Beispiel an, daß der Bettler den Zuwachs eines Talers freudig empfindet, der Millionär aber nicht. Man kann gewiß mit vollem Recht behaupten, daß es sich ebenso im moralischen Leben verhält; so wird der Mensch, der tief und wahr gelitten hat, sich sicherlich nicht bei Dingen aufhalten, welche verwöhnte und verweichlichte Naturen alterieren [aufregen - wp].
    5) Die Stäbchen und Zapfen sind die eigentlichen Organe des Sehens, der Sehnerv selbst ist unempfindlich gegen das Licht und scheint den Eindruck nur durch den Zusammenhang mit den Stäbchen und kleinen Zapfen zu empfangen. An der Stelle des deutlichsten Sehens, im gelben Fleck sind diese Organe außerordentlich dicht gedrängt. HÄCKEL bezeichnet das Organ des Farbensinns die kleinen Zapfen und als Organ des Formsinns die Stäbchen.
    6) Diese Farbentheorie stammt von FECHNER (Psychophysiologie, Bd. II, Seite 238f); neben ihr behauptet sich auch noch die YOUNG-HELMHOLTZsche, welche die "spezifische Energie" in ähnlich reduzierter Form bei einzelnen Gruppen von Opticusfasern annimmt, wie sie in den cortischen Organen hervortritt; sie lehrt nämlich, daß es dreierlei Arten von Fasern: Rotempfindende, Grünempfindende und Violettempfindende im Auge gibt; die übrigen Farben entstehen aus einer kombinierten Aktion dieser Nervenelemente. Diese rein physikalische Hypothese ist im Widerspruch mit manchen psychischen Momenten, vorzüglich mit der subjektiven Farbempfindung.
    7) HERMANN, Ästhetik, Seite 61
    8) KASPAR THEODOR TOURTUAL, Die Sinne des Menschen, Seite 82
    9) JULIUS BERNSTEIN, Die fünf Sinne des Menschen, Seite 276
    10) WILLIAM THIERRY PREYER, Die fünf Sinne des Menschen, Seite 17
    11) LEOPOLD GEORGE, Die fünf Sinne, Seite 124
    12) DUTTENHOFER, a. a. O.
    13) GEORGE, a. a. O., Seite 134 und 132
    14) GABRILE GUSTAV VALENTIN, Grundriß der Physiologie des Menschen, Bd. II, Abt. 2
    15) MORITZ DROBISCH, Empirische Psychologie, Seite 126. Auch ROUSSEAU nennt den Geruch den Sinn der Phantasie.
    16) HERMANN LOTZE, Medizinische Physiologie, Seite 399