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PETER VILLAUME
(1746–1806)
Vom Vergnügen
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"Der Mensch ist zu einer höheren Vollkommenheit bestimmt, als die Vollkommenheit des Schafes, oder die des Kamtschadalen und des Samojeden ist - weil der Schöpfer ihn dieser höheren Vollkommenheit fähig gemacht hat. Nicht bloß zum Essen und Trinken, nicht bloß Sinneslust zu genießen, schuf ihn der Vater der Wesen: nein, er gab ihm höhere Kräfte."


Einleitung

Ich glaube einige neue Verhältnisse gesehen zu haben; vielleicht irre ich mich; dies hält mich aber nicht ab, meine Gedanken der gelehrten Welt vorzulegen; wenn dadurch auch nur der Eine oder der Andere veranlaßt wird, die Sache von Neuem zu durchdenken, so wird meine Arbeit nicht vergeblich sein. Die Materie, so abstrakt sie auch zu sein scheint, ist für die schönen Künste und Wissenschaften, für Moral und Pädagogik von der größten Wichtigkeit. Durch eine richtige Theorie der Gesetze des Vergnügens lernt der Erzieher, wie er seine Methoden zur Bildung der Jugend einrichten soll, und den Erfolg beurteilen, den er von seinen Bemühungen erwartet: der Moralist sieht, welche Beweggründe er bei Diesem oder Jenem mit Frucht anwenden kann, und wie er seine Ermahungen zur Tugend einrichten muß, wenn sie auf die Gemüter wirken sollen. Der Künstler wird einsehen, was er zu tun hat, um den Beifall seiner Zeitgenossen zu erhalten und ihren Geschmack zu bilden. Alle werden sehen, daß man die Menschen erst der Wahrheit, der Moralität und des guten Geschmacks empfänglich machen muß, ehe man sich von seinen Bemühungen zu ihrer Bildung Früchte versprechen darf; und zugleich werden sie erfahren, was man tun muß, um den Menschen der Wahrheit, der Moralität und des guten Geschmacks empfänglich zu machen. Das Vergnügen ist die mächtigste, und wenn wir jenes Wort in der weitläufigsten Bedeutung nehmen, die allgemeine, die einzige Triebfeder des menschlichen Tun und Lassens. Wer diese Triebfeder recht kennen, recht zu gebrauchen wissen wird, der wird auch die Menschen regieren, sie dahin lenken, wohin er sie haben will. Um diese Triebfeder aber gebrauchen zu können, muß man sie kennen.


Alles, was unseren Geist durch Nachdenken, durch eine Erweiterung unserer Kenntnisse veredeln kann, verdient, daß wir uns damit beschäftigen. Wir müssen nicht immer fragen: was werden wir denn davon haben, wenn wir dieses ode jenes ergründen und wissen? Freilich, es kann die bürgerliche Gesellschaft bestehen, die Felder können bebaut, die Künste und Handwerke können betrieben werden, der Handel kann blühen, obgleich diese und jene metaphysische Frage unentschieden, unerörter, unbekannt bleibt. Weder die Attraktion, noch die Mehrheit der Welten, weder die Sonnenflecken, noch die Mondsberge, weder die Kategorien, noch die Psychologie geben Brot oder Gold; und man kann, auch ohne die Theorie des Vergnügens, recht zufrieden und fröhlich leben. Die Schafe auf der Weide - wenn die Weide nur ausreicht, werden satt und fett; und wissen doch von NEWTON und LEIBNIZ, vom Satz des zureichenden Grundes und von der Seelenwanderung kein Wort. Der Hurone, Samojede und Kamtschadale leben, ohne Bücher und Schulen, sehr vergnügt; und wenn man sie fragen sollte, ob die Seele immer denkt und ob sie von Anbeginn der Schöpfung der Welt an existiert hat, würden sie den Fragenden ansehen, ihn bald stehen und nach Belieben sich satt fragen lassen.

Der Mensch ist aber zu einer höheren Vollkommenheit bestimmt, als die Vollkommenheit des Schafes, oder die des Kamtschadalen und des Samojeden ist - weil der Schöpfer ihn dieser höheren Vollkommenheit fähig gemacht hat. Nicht bloß zum Essen und Trinken, nicht bloß Sinneslust zu genießen, schuf ihn der Vater der Wesen: nein, er gab ihm höhere Kräfte.

Was soll man denken, wenn man Männer - die nicht ohne Verdienste sind - sprechen hört: Derjenige, der ein Mittel fand, die Tapeten vor den Motten zu bewahren, oder der, welcher Heringe einsalzen lehrte, tat wichtigere Dienste, als NEWTON durch die Erfindung der Attraktion oder des  calculus infinitesimalis.  Auch jener, und der, der den Weberstuhl erfand, und noch mehr der, welcher den Pflug verbesserte, leisteten der Menschheit wichtige Dienste. Haben aber NEWTON und LEIBNIZ nichts erreicht, bloß weil ihre Erfindungen nicht Küche und Keller füllen? Was will man mit jenem Urteil sagen? Soll man nicht metaphysische Fragen untersuchen? und da man nun Pflug, und alles, was man zum Lebensunterhalt braucht, erfunden hat, soll man nichts mehr suchen? Die Bedürfnisse des Lebens müssen allerdings vorgehen. Wenn man aber diese hat, so muß man seine Muße zur Veredlung des menschlichen Geschlechts anwenden.

Ist es denn nichts, näher in die Geheimnisse der Natur zu dringen, ihren ewigen Gesetzen nachzuforschen, immer näher zu kommen, manche Spuren derselben zu entdecken, und einige Züge der unergründlichen Weisheit des Schöpfers auszuspähen? Ist es nichts, seinen Geist zu bilden, den Schöpfer immer besser zu kennen, immer inniger verehren zu lernen? Und dazu dienen gewiß metaphysische Untersuchungen, wenn sie nicht bloße Hirngespinste, sondern wahrscheinliche Resultate wohlbeobachteter Phänomene sind.

Auch die hier zu untersuchende Frage vom Vergnügen hat ihren Nutzen, in der Moral, und in der Lehre von der Weisheit und Güte Gottes. Wie hat es der weise Schöpfer so gut eingerichtet, daß er uns des Vergnügens empfänglich machte, daß er uns durch die angenehmen Reize des Genusses zur Erfüllung seiner Absichten führte? Wie hat er das mannigfaltige Vergnügen auf ein einziges Gesetz zu gründen gewuß, welches Gesetz nicht allein das Wohl des Menschen und der empfindenden Geschöpfe, sondern aller Geschöpfe und des ganzen Weltalls bewirkt?

Wir werden vom sinnlichen Vergnügen, von den Freuden, welche uns mit den Tieren gemein sind, reden müssen. Wir dürfen uns aber dessen nicht schämen, wir dürfen nicht fürchten gegen eine verständige Sittenlehre zu verstoßen.
    "Wir wollen uns nicht scheuen", sagt  Sulzer (1), nach einem anderen Philosophen (2), "die Vergnügungen der Sinne mit den Vergnügungen des Geistes zu vergleichen - wir wollen nicht den Wahn hegen, als wenn es Vergnügungen gäbe, die minder edel wären als andere. Es ist hier nicht der Ort zu Deklamationen, zur Herabsetzung der sinnlichen Vergnügungen, ebensowenig wie zum Gelächter über das Vergnügen des Geistes. Es kommt hier alles auf richtige Entscheidungen an, die sich auf die Natur der Dinge gründen."

    "Man muß, deucht mich, blind sein, wenn man nicht gleich auf den ersten Blick sieht, daß beide Arten des Vergnügens, die sinnlichen und die geistigen, dem Menschen wohlweislich zugeteilt worden sind, um solche mit Vorsicht und mit einer weisen Ökonomie, durch die sie allein Genüsse des Menschen werden, zu genießen. Wenn uns die eine oder die andereArt versagt worden wäre, würden wir gleichfalls zu beklagen sein, und wir würden der Welt unnütz werden."

    "Die Vergnügungen der Sinne haben ihre Vorzüge vor den geistigen; und diese wiederum vor jenen."
Alles hat seinen bestimmten Zweck.

Gefühle waren nötig, um unsere Verstandeskräfte, unsere Aufmerksamkeit, unser Nachdenken zu wecken. Schmerz machte den ersten Eindruck; Vergnügen erzeugte in uns Wohlgefallen. Mit bloßem Schmerz würden wir auch nachdenken lernen; wir wären aber unzufrieden, unglücklich, mithin verbittert, mürrisch, menschenfeindlich gesonnen. Vergnügen mußte uns zu sanften leutseligen Empfindungen stimmen. Dazu waren aber sinnliche Gefühle der Wollust nötig; die höheren Vergnügungen des reinen Verstandes, die edlen, reinen Gefühle des Herzens konnten jenen Zweck nicht erreichen. Warum? - Weil die Sinne erst die anderen Gefühle wecken müssen. Haben diese nicht die Aufmerksamkeit geweckt, das Nachdenken erregt: wie kann der Mensch die Feude des Nachdenkens, der Untersuchung der Wahrheit fühlen? Er wäre des Nachdenkens und des Forschens nach Wahrheit unfähig. Haben die Sinne nicht die Gefühle entwickelt; wie soll das Herz höherer Empfindungen fähig sein? Der erste Grund aller unserer Vollkommenheit liegt also in den Sinnen. ARISTOTELES sagte schon, es wäre nichts im Verstand, das nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre. Er konnte sagen: es ist in der ganzen Seele nichts, das nicht vorher in den Sinnen gewesen wäre. Es wundert mich, daß es noch niemand sagt.

Meine Absicht ist es nicht, eine Beschreibung, ein Verzeichnis aller Vergnügungen zu geben; noch weniger eine Methode, wie man sich solche verschaffen könne, und wie man sie genießen solle, um sie recht zu schmecken. Ich will das Gesetz, auf welchem sie beruhen; ausfindig zu machen suchen. Es haben schon einige Männer, CARTESIUS, WOLFF, SULZER, MENDELSSOHN, daran gearbeitet - zwar wenige: denn die andern waren nur Nachbeter; allein Männer, deren Verdiense um die Wissenschaften und deren Geistesgröße entschieden sind. Dennoch - sei es mit aller Bescheidenheit für solche berühmte Männer gesagt - ihre Theorien scheinen mir nicht die Frage in allen ihren Teilen aufzulösen, und alle Phänomene gehörig und leicht zu erklären. Was sie geleistet haben, werde ich nach der Ordnung der Zeit anführen, mit der Freimütigkeit, ohne welche die Wissenschaften nicht kultiviert werden können - mit einer Bemerkung dessen, was mir an ihren Theorien zu fehlen scheint. Nachher werde ich meine eigenen Gedanken über diese Frage vortragen.
LITERATUR - Peter Villaume, Vom Vergnügen, Tübingen 1788
    Anmerkungen
    1) GEORG SULZER, Theorie des plaisirs, Seite 196
    2) MAUPERTUIS