p-4cr-2DiemKülpeKronerGuttmannvon AsterW. SchuppeWitte    
 
BENNO KERRY
Über Anschauung und
ihre psychische Verarbeitung

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"Im Gegensatz zu dem von den Mathematiker viel zu eng definierten Begriff der  Ähnlichkeit  von Gebilden wird von  Leibniz  ein eingeständlich aus der Metaphysik herübergeholter Begriff der  Ähnlichkeit im Allgemeinen  in sehr bemerkenswerter Weise eingeführt. Hiernach werden  ähnlich  solche Dinge genannt, welche nicht durch Betrachtung jedes einzelnen für sich, sondern nur durch vergleichende Wahrnehmung (comperceptio) unterschieden werden können. Als vergleichende Wahrnehmung gilt aber nicht nur die  gleichzeitige  Wahrnehmung der beiden Dinge, sondern auch die Vergleichung durch irgendein Maß, sei dieses nur ein fremder Körper oder der Körper, bzw. ein Körperteil des Beobachters selbst, oder der Augengrund, in welchem das Bild des einen Gegenstandes einen größeren Raum einnimmt, als dasjenige des anderen oder schließlich ein Erinnerungsbild, das man vom einen Gegenstand besitzt, während man an den anderen herantritt."

"Leider ist dieser Begriff der Ähnlichkeit nicht akzeptabel. Das subjektive Kriterium des Nicht-unterscheiden-könnens ist zu beanstanden. Sollte an das Unterscheidungsvermögen des Erstbesten appelliert werden dürfen, so würden gar viele Dinge als  ähnlich  beurteilt werden, die es nicht sind und vielleicht auch umgekehrt; an wessen Unterscheidungsvermögen soll aber appelliert werden?"

"Zeit wird von  Bolzano  definiert als diejenige Bestimmung an einem Wirklichen, die als Bedingung stattfinden muß, damit wir ihm eine gewisse Beschaffenheit  in Wahrheit  beilegen können, - zugrunde liegt der Gedanke, daß jedem Wirklichen eine Eigenschaft, soll das Urteil ein  wahres  sein, nur mit Beziehung auf eine gewisse Zeit (eventuell mit Beziehung auf  alle  Zeit) zugesprochen werden kann."



Erster Artikel
[Fortsetzung]

Begriffe können nun erstens solche sein, daß die ihnen zugehörige Vielheit eine unbestimmte ist; zweitens solche, daß ihre Vielheit eine bestimmte und endliche ist; drittens solche, daß diese Vielheit eine unendliche ist, hierbei aber noch insoweit bestimmt, als unendliche Vielheiten überhaupt bestimmt sein zu können, widrigenfalls die betreffenden Begriffe nicht dieser, sondern der ersten Kategorie zuzurechnen wären. Beispiele dieser drei Kategorien sind: der Begriff  Gestirn  (man weiß nicht, ob die Vielheit der Gestirne eine endliche oder eine unendliche ist, natürlich auch nicht, eine wie große sie im ersteren Fall ist); der Begriff  Fenster  dieses meines Zimmers' (diesem Begriff kommt die endliche Zahl 2 zu); der Begriff  rationale Zahl zwischen 0 und 1  (diesem Begriffe kommt eine unendliche Vielheit zu). Im Fall der dritten Kategorie genügt es nicht, daß einem Begriff derselben  möglicherweise  eine unendliche Vielheit zukommt, sondern die Unendlichkeit der Vielheit muß durch den Begriff  verbürgt  sein. Dies ist nun der Fall bei allen Begriffen, von deren Gegenständen es feststeht, daß es  keinen letzten geben kann;  so verbürgt z. B. eben das auch von LOCKE intensiv betonte Bewußtsein: von jeder Zahl der Anzahlenreihe aus noch weiter zählen zu können, als gleichbedeutend damit, daß es keine letzte Anzahl geben kann, die Unendlichkeit der Vielheit, die dem Begriff  Zahl der Anzahlenreihe  zukommt. Was schließlich die noch zu fordernde Bestimmtheit auch der unendlichen Vielheiten anlangt, so ist abermals durch die Begriffe einerseits:  rationale Zahl zwischen 0 und 1,  und andererseits:  "jede  (rationale  und irrationale) Zahl zwischen 0 und 1  der Umstand verbürgt, daß die diesen beiden Begriffen zukommenden Vielheiten, wiewohl beide unendlich, dennoch von verschiedener Unendlichkeit sind. Ich erwähne, daß diese Verschiedenheit von CANTOR als Verschiedenheit der  Mächtigkeit  beider Vielheiten bezeichnet worden ist (64).

Der Begriff unendlicher Vielheiten (und damit auch beliebig anderer unendlicher Größen) ist demnach kein sich widersprechender, solange nicht gezeigt ist, daß es mit zum Begriff des Begriffs gehört, einen nur endlichen Umfang zu haben, und er ist unumgänglich, sobald, wie es bei einer Reihe von Begriffen der Fall ist, gezeigt werden kann, daß in deren Umfang eine Anzahl von Gegenständen fällt, die notwendigerweise keine endliche ist. Woher also die Ansicht, daß ein solcher Begriff eine widerspruchsvolle, undenkbare Konzeption ist? Meines Erachtens waren diejenigen, die dies behaupteten, dem auch anderweitig (65) begangenen Fehler verfallen: unzureichend erwogen zu haben, daß das primäre Gedachtwerden eines Begriffs nicht nach dessen Umfang, sondern nach dessen Inhalt erfolgt, wobei letzterer die Größe des Begriffs umfangs  als ein Sekundäres und von unserem Gedachtwerden Unabhängiges, sozusagen als eine uns aufgedrängte Tatsache bestimmt (66). Nun kann aber der Begriffs inhalt  solcher Begriffe, deren Umfang - kurz ausgedrückt - ein unendlicher ist, ebensowohl gedacht werden, wie derjenige, deren Umfang ein endlicher ist (wiewohl zu beachten sein möchte, daß Begriffe der ersteren Art nicht so sehr durch vulgäre Abstraktion aus einer Anschauung, als durch eine freie Aneinanderbindung von Merkmalen zustande kommen) (67) und vermöge der Relation der Zusammengehörigkeit von Begriffsinhalt und Begriffsumfang und des einen bekannten Fundaments dieser Relation, das (auf dem Standpunkt dessen, der nach der Art des Gedachtwerdens unendlicher Vielheiten fragt) der Begriffsinhalt (68) ist, kann dann auch jener eine unendliche Vielheit darstellende Begriffsumfang zwar nur indirekt, aber widerspruchslos gedacht werden (69).

Nun tritt zu dem Gesagten noch hinzu, daß man den Gegenstand eines der obigen Begriffe auch vermöge anderer Relationen (immer als das eine Fundament der Relation, deren anderes bekannt ist) denken kann. Hierauf z. B. läuft es hinaus, wenn eine unendlich-große Größe definiert wird als eine solche, die größer ist, als jede endliche, eine unendlich-kleine als eine solche, die kleiner ist, als jede endliche. Die hier auftauchende Relation ist die des Größer-Kleiner und es tritt zugleich der charakteristische Umstand ein, der von den Bearbeitern der Relationstheorie meines Wissens noch nicht bemerkt worden ist: daß hier eine Relation vorliegt, deren eines Fundament derart mannigfaltig ist, daß es aus einer  unbegrenzten  Reihe von Gliedern besteht, die aus einem  unendlichen  Inbegriffe von Gliedern (in unserem Beispiel: dem Inbegriff aller endlichen Größen) willkürlich wählbar sind (70).

Dieser Umstand erklärt völlig ausreichend die Art, wie eine ganze Reihe hierher gehöriger Begriffe gedacht werden. So der Begriff der  Grenze  einer Wertfolge: also auch der Begriff des  Differentialquotienten,  der kein anderer ist, als derjenige der Grenze einer Wertfolge, ferner der Begriff des  Grenzwertes einer Funktion  in einem Punkt und seine Varianten, je nachdem von welcher Seite das Argument in den Punkt hineinrückt (71). So die mannigfachen Begriffe der  Stetigkeit  (oder Unstetigkeit) einer Funktion  in  einem Punkt,  in unmittelbarer Nähe  eines Punktes usw. (72). So der Begriff der von CANTOR sogenannten  Fundamentalreihen,  die der Definition der irrationalen Zahlen derart zugrunde gelegt werden können, daß die Annäherung der Glieder einer irrationalen Zahl an eine Grenze als  beweisbar  erscheint (73).

Aufgrund der Annahme (74) eindeutiger Korrespondenz einerseits der reellen Zahlen, andererseits der Punkte einer Abszissenachse sind einige der eben genannten Begriffe auch vermöge der  Distanz relation denkbar. So kann nunmehr der Begriff der Grenze einer Wertefolge auch als derjenige des Grenz punktes  einer  Punktmenge  (P) aufgefaßt werden; aus der Definition des letzteren als eines solchen, in dessen beliebig gewählte Umgebung (75) Punkte von  P  fallen, folgt abermals unmittelbar, daß derselbe als Fundament einer Relation (76) gedacht wird, deren anderes Fundament eine im angegebenen Sinn willkürliche Anzahl von Gliedern enthält.

Schließlich kann sich die Sachlage noch dadurch etwas komplizieren, daß vorgeschrieben wird, zwischen den Gliedern einer unendlichen Vielheit eine arithmetische Beziehung, diejenige der Addition, Multiplikation, Division und anderes mehr bestehend zu denken; hierher würden dann die Begriffe der unendlichen Summen ebensolcher Produkte, ebensolcher Kettenbrüche u. a. m. gehören. Man versteht, wenn wir uns auf die Betrachtung des Begriffs einer unendlichen Summe beschränken, unter einer Summe überhaupt das Resultat des Vollzugs einer ganz bestimmten Relation, die wir das Summieren nennen. Hieraus ergibt sich von selbst, wie man eine Summe von unendlich vielen Gliedern,  1 + ½ + ¼ + ...  in infinitum zu denken hat. Der Inbegriff ihrer Glieder wird, wie gezeigt wurde, gedacht vermöge der Relation der Zusammengehörigkeit von Begriffsinhalt (der fragliche Begriff heißt: "Zahl von der Form 1/2n" und Begriffsumfang; zwischen allen Gliedern dieses Inbegriffs hat man sich die bekannte Relation des Summierens als vorgeschrieben zu denken, - gewiß ein ebenso vollziehbarer Gedanke, wie derjenige jenes Inbegriffs selbst; tritt hierzu noch der ganz allgemeine Begriff des Resultats einer Relationssetzung, so sind alle Bestandteile unseres Begriffs adäquat gedacht worden. Ein weiteres, worauf wir nicht näher einzugehen haben, ist es, zu untersuchen, ob der Gegenstand eines solchen Begriffs (die so gedachte Summe) als Größe einen Sinn hat oder nicht, und welches im ersteren Fall ihr Größenverhältnis zu anderen in geschlossener Weise denkbaren Größen ist (Untersuchung der Konvergenz und Divergenz der Reihen).

Schon die Besprechung der zwischen Begriffsinhalt und Begriffsumfang geltend gemachten Relation mußte die Frage nahelegen, ob denn diese Relation eine solche sui generis [aus sich selbst heraus - wp] oder aber, ob sie anderen, ihr verwandten Relationen koordiniert werden kann. Diese Frage scheint mir zweifellos im letzteren Sinn und zwar näher dahin beantwortet werden zu müssen, daß jene Relation eine aus einer großen Klasse ist, die man zutreffend diejenige der  Funktionalrelationen  dürfte nennen können. Es bedarf, um die Beziehung zwischen Begriffsinhalt und -Umfang als eine funktionale zu kennzeichnen, keineswegs der vielfach propagierten, aber bekanntlich in allgemeiner Weise nicht gültigen umgekehrten Proportionalität beider; hierzu genügt vielmehr die bloße und unzweifelhaft bestehende Tatsache, daß jedem präzise definierten Begriffsinhalt ein wiewohl nicht immer zahlenmäßig, so doch derart bestimmter Umfang zu kommt, daß: von jedem Gegenstand entscheiden zu können, ob er unter denselben fällt oder nicht, keinem wesentlichen Hindernis unterliegt. Der Umstand, daß manche Abänderungen des Begriffsinhalts den zugehörigen Umfang nicht affizieren, beeinträchtigt keineswegs den funktionalen Zusammenhang beider; ebensowenig, wie es dem Wesen einer Funktion einer reellen Variablen zu nahe tritt, wenn dieselbe, wie es leicht geschehen kann, so beschaffen ist, daß sie über gewisse Strecken hin bei Abänderung der unabhängigen Variablen konstant bleibt, in geometrischer Verbildlichung: daß sie streckenweise der Abszissenachse überall parallele gerade Linie noch als Bild einer Funktion (genauer: eines Grenzfalls einer Funktion) mit der Gleichung  y = a  (worin  a  eine Konstante bedeutet) aufgefaßt werden kann.

Wie sind aber die Funktionalrelationen beschaffen? Man nennt  f(x) = y  eine Funktion von  x,  wenn innerhalb eines gewissen Intervalls zu jedem Wert von  x  ein einziger, bestimmter Wert von  f(x)  gehört (77). Nimmt man als Beispiele die Funktion  y = 3x,  so sieht man sofort, daß hier eine Relation vorliget, bei welcher  beide Fundamente eine willkürliche Anzahl von Gliedern enthalten;  das eine Fundament enthält eine willkürliche Anzahl von Werten der unabhängigen Variabeln  x,  das andere die entsprechenden Werte der abhängigen Variabeln  y.  Die  Relation  besteht darin, daß jedes der genannten  y  dreimal so groß ist, als das entsprechende  x.  Es mag nun aber an dieser Stelle erwähnt werden - eine Bemerkung, die ich schon oben in Aussicht stellte -, daß man Relationen, deren eines Fundament eine willkürliche Anzahl von Gliedern enthält, auch auffassen kann als einen Inbegriff von Relationen gewöhnlicher Art, d. h. von Relationen mit eingliedrigen Fundamenten; so z. B. kann  y = 3x  aufgefaßt werden als Inbegriff von Gleichheitsrelationen der Form:  y1 = 3x1, y2 = 3x2, y3 = 3x3  etc. wobei  x1, x2, x3  etc. beliebige Glieder des durch den Begriff: "Werte eines gewissen Intervalls" vorgeschriebenen Inbegriffs darstellen. Es erscheint verhältnismäßig irrelevant, welcher von diesen beiden Auffassungsweisen man sich anschließt (78). Hingegen muß noch betont werden, daß eine Funktion nicht anders, denn als Relation oder als Inbegriff von Relationen auch dann gedacht wird, wenn man dieselbe in der bekannten Weise graphisch veranschaulicht; und zwar nicht minder dort, wo eine solche Veranschaulichung in adäquater Weise möglich ist, als dort, wo dieselbe, wie bei den oben beschriebenen Funktionen, z. B. der WEIERSTRASS'schen, versagt. Ich hatte schon früher einmal Gelegenheit, diesen Umstand zu urgieren (79) und verweise auf die dort vorgebrachte Begründung desselben.

Nachdem durch das Voranstehene die Art, wie die Begriffe unendlicher Vielheiten und aller durch unendlich viele Schritt erzeugbaren Größen gedacht werden, hinreichend beleuchtet erscheinen dürfte, kehren wir nunmehr zurück zu unserer Auseinanderbreitung derjenigen gedanklichen Bestände, für die es keinerlei adäquate Anschauung gibt. Hier sind vorerst noch die Begriffe  metaphysischer  Wesenheiten zu erwähnen. Insofern solche Begriffe einerseits als  Grenzbegriffe  aufzufassen sind (80) in der Bedeutung des Wortes, daß sie Abschlüsse unendlicher Reihen darstellen, gilt von ihnen das oben Gesagte. Aber schon darin, daß sie andererseits  Negationen  aller beobachteten Tatbestände darstellen, liegt es wesentlich mitbestimmt, daß ihne keine auch nur im weitesten Sinne des Wortes anschauliche Vorstellung zugehören kann. Die spinozistische Substanz, das kantische Ding-ansich, das FICHTE'sche Ich und dgl. mehr sind naheliegende Beispiele von Begriffen, auf die jene beiden Auffassungsweisen anwendbar sind, und die auf den letzteren gemünzte Bosheit SCHOPENHAUERs: "Ich denke mir Eines, das ist durch sich, an sich, in sich und nichts außer ihm: nur ist es gelogen" trifft nur den im Grunde selbstverständlichen Umstand, daß wir nie wissen können, ob unter solche Begriffe ein Gegenstand fällt. Es gibt aber auch noch - und dies ist eine zweite Serie hierher gehöriger Begriffe - solche, bei denen wir, da die  coincidentia oppositorum  [Zusammenfall der Gegensätze - wp] doch wohl nicht ernst zu nehmen ist, daß  kein  Gegenstand unter sie fällt. Wie wir imstande sind, Begriffsmerkmale zu verknüpfen zu Kombinationen, die sich nicht in der Erfahrung vorfinden, so sind wir auch imstande, solche Verknüpfungen vorzunehmen, die sich in der Erfahrung nicht vorfinden  können.  Hierher gehören all jene Begriffe, die miteinander unverträgliche Merkmale enthalten, wobei es für unsere Betrachtung gleichgültig ist, ob diese Unverträglichkeit eine  contradictio in adjecto  [Widerspruch in sich - wp] oder anderswie beschaffen ist. Daß wir in den Begriffen eines hölzernen Eisens; eines gleichseitigen, aber ungleichwinkligen ebenen Dreiecks; einer zugleich roten und blauen Fläche und dgl. mehr den krassesten Fall solcher Begriffe vor uns haben, denen kein anschaulicher Vorstellungsgegenstand entsprechen kann, ist ohne weiteres klar. Dessen ungeachtet müssen wir derlei Begriffe - wiewohl als Grenzbegriffe (81) von Begriffen - zulassen: denn schon die Aussage: "Ein gleichseitiges, aber ungleichwinkliges, ebenes Dreieck gibt es nicht" bedingt, daß man den Gegenstand, dessen Existenz hier verneint wird, irgendwie (natürlich nicht anschaulich)  denken  kann (82).  Wie  man ihn denkt, ist freilich eine andere Frage, zu deren Beantwortung die von MEINONG (83) herbeigezogene Analogie der im Gegensatz zu den ausgeführten, bloß  angezeigten  (mathematischen) Operationen nicht unwesentlich beitragen dürfte.

Wir gehen nun über zu einer ganz anderen Art der Vertretung der Anschauungen durch Begriffe, die wir vorerst an der Vorstellung des  Stetigen  erörtern wollen. Da diese Vorstellung in viele andere, insbesondere in die wichtigen von  Raum  und  Zeit  eintritt, so sind zahlreiche Bemühungen unternommen worden, das Wesen derselben aufzuhellen. Aber ihre Eigenart bringt es mit sich, daß wir eine ganze Klasse solcher Bemühungen an dieser Stelle abweisen müssen, nämlich alle diejenigen, welche bloß die  psychische Entstehungsweise  jener Vorstellung angehen. Um einen der berühmtesten Versuche dieser Klasse zu erwähnen: HERBARTs Deduktion der Vorstellung des Kontinuums aus hin- und rückläufigen Reihenproduktionen könnte uns, selbst wenn sie, was sie nicht ist, zutreffend wäre, für unsere Zwecke nicht frommen. Das Wissen über die  Beschaffenheit  des Kontinuierlichen wird durchaus nicht ersetzt durch das Wissen um die Art, wie wir den  Eindruck  desselben gewinnen. Es ist z. B. sicherlich der Fall, daß auch schon die (überall-dichte) Menge aller rationalen Punkte einer Strecke, wenn sie unserer Vorstellung geboten wäre, den Eindruck eines Kontinuums hervorbringen würde: dennoch bestehen stringente mathematische Beweise dafür, daß jene Menge die kontinuierliche Strecke nicht ausmacht.

Es ist uns also nur um eine  objektive  Charakteristik der Vorstellung des Kontinuums zu tun. Den Höhepunkt der diesbezüglichen Untersuchungen bilden wohl unstreitig die im zweiten Heft dieses Jahrgangs der "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie" von mir behandelten Feststellungen CANTORs. Ich nehme dieselben an dieser Stelle nur insoweit wieder auf, als ich an die Definition des Zahlenkontinuums (als einer zusammenhängenden und perfekten (84) Wertemenge) erinnere. Mit Hilfe dieser Definition und der Annahme, daß Zahlen- und Linearkontinuum von gleicher Mächtigkeit sind, konnte dann auch das letztere und hiermit der Begriff der Stetigkeit des Raums (85) definiert erscheinen. Nur die Frage blieb noch übrig, ob denn die Definition eines Raumkontinuums als einer so und so beschaffenen Punktmenge die Anschauung desselben ersetzen kann? Diese Frage mußte insofern verneint werden, als sich zeigen ließ, daß die Vorstellung des Kontinuums aus den Vorstellungen irgendwie situierter Punkte nicht aufgebaut werden kann (86); Niemand, der die erstere nicht schon anderweitig besäße, würde sie aus den letzteren zu gewinnen imstande sein (87). Ist aber jene Definition darum bedeutungslos? Auch diese Frage scheint mir unbedenklich verneint werden zu müssen; zur Begründung dieses "Nein" muß ich jedoch etwas weiter ausholen.

Es kann außer dem naheliegenden Vorzug der Definitionen durch dasjenige, was sie für die Begriffe leisten, Anschauungen zu fixieren, auch noch der weitere namhaft gemacht werden, durch eine Auflösung der zu definierenden Vorstellung in solche, die ursprünglicher oder zumindest schon anderweitig bekannt sind, Anschauungen zu  reduzieren.  Diese auf eine möglichst weitgehende Ersparung primitiver Anschauung gerichtete Tendenz findet sowohl bei denjenigen Definitionen statt, die imstande sind, eine adäquate Vorstellung des Definiendum zu erwecken, als auch bei denjenigen, denen diese Fähigkeit nicht nachgerühmt werden kann. Definitionen der letzteren Art gibt es, wie wir sehen werden und sie legitimieren sich, mag auch manchem das Definierte vertrauter sein als die Definition selbst, auf deduktivem Wissensgebiet (insbesonders innerhalb der Geometrie) durch wertvolle Schlüsse, für welche sie und nur sie die notwendigen Prämissen abgeben; sie legitimieren sich aber auch ganz unabhängig von jener ihrer Verwertbarkeit innerhalb einer speziellen Wissenschaft ganz allgemein dadurch, daß sie die Lösung einer der vielen dem menschlichen Geist gestellten Aufgaben kleinsten Kraftaufwandes fördern, ich meine die Aufgabe: mit möglichst geringem Rekurs auf ursprünglich "Gegebenes" möglichst weite und hohe Gedankengebäude aufzuführen.

Daß das Gesagte von der CANTORschen Definition des Kontinuums, von der ausgegangen wurde, gilt, ist ohne weiteres klar. In dieselbe treten als ursprüngliche und keiner weiteren Definition unterworfene Elemente nur die in den Merkmalen der "Abgeschlossenheit" und des "Zusammenhangs" einer Punktmenge involvierten Vorstellungen von: "Punkt", "Entfernung zweier Punkte", "Hineinfallen eines Punktes zwischen zwei andere" (88) und keine sonst ein; - Vorstellungen, die sicherlich von ungleich einfacherer Natur sind, als diejenige des Kontinuums selbst. Ganz Analoges würde von der anmerkungsweise erwähnten LEIBNIZschen Definition des Kontinuums gelten.

In der denkbar ausgeprägtesten Weise treten jedoch Bemühungen um Definitionen des angegebenen Charakters bei jenen Denkern zutage, die man als die bewußtesten Vertreter des Rationalismus innerhalb der Geometrie wird bezeichnen müssen, bei LEIBNIZ und BOLZANO. Die diesbezüglichen, dem Grenzgebiet zwischen Philosophie und Mathematik angehörigen Schriften beider einander überaus geistesverwandten Männer sind meines Wissens sehr Wenigen bekannt, ja auch nur zugänglich (89); ich schöpfe hieraus die Berechtigung, den vorliegenden Teil meines Themas etwas ausführlicher zu gestalten, als dies sonst der Fall gewesen wäre.

Bei LEIBNIZ war es das Problem seiner "characteristica geometrica" (auch "analysis situs", "calculus situs" und "analysis geometrica propria" genannt), welches die in Rede stehenden Bemühungen zeitigte. Als ein Abschnitt der  characteristica universalis,  der LEIBNIZ, wie bekannt, sein Leben lang mit schwärmerischer Liebe zugewandt war, sollte die geometrische Charakteristik nach ihres Urhebers Absicht "richtig und unmittelbar die Lagenbeziehungen darstellen, so daß die Figuren auch ohne Zeichnung durch  Merkmale  (notae) in unserem Geist abgebildet werden (90) und was die empirische Anschauung (imaginatio empirica) an den Figuren erkennt, auch das Kalkül in einem sicheren Beweisgang aus jenen Merkmalen ableitet, sowie auch allem übrigen nachgeht,  worauf hin sich das Anschauungsvermögen nicht erstreckt (91): "der Calcül der Lage, den ich mir vorsetze, bildet demnach die Ergänzung und sozusagen die Vollendung der Anschauung" usw. (92). Die Meinung KANTs, wonach die  analysis situs  "wohl nicht mehr als ein Gedankending gewesen ist" (93), ist insofern nicht richtig, als die erwähnten Abhandlungen LEIBNIZ', welche die Seiten 141 - 211 des zitierten Bandes der PERTZschen Ausgabe füllen, unzweideutige Ansätze zur Ausarbeitung jener Disziplin darstellen. Ich kann mich hier nicht damit beschäftigen, nachzusehen, in welcher Weise Denker, wie GAUSS (94), RIEMANN (95), GRASSMANN (96) und andere (97) - letzterer in unmittelbarer Anknüpfung an LEIBNIZ - das Projekt LEIBNIZ' auffassten und dessen Ausführung anbahnten. Daß, wer eine Zeichensprache von der Art der eben geschilderten erfinden will, ein Minimum an zu Bezeichnendem und infolge dessen Definitionen, wie wir sie suchen, anstreben muß, dürfte unmittelbar einleuchten. In der Tat wird man innerhalb der Bemühungen zur Schöpfung einer allgemeinen Charakteristik zwei (sich freilich vielfach kreuzende) Richtungen unterscheiden müssen - die eine, welche eine Reduktion der mit LOCKE zu reden "positiven oder absoluten Vorstellungen" (98) auf einen geringsten Bestand solcher, die schließlich mit Zeichen versehen in die Charakteristik einzutreten hätten, anstrebt, die andere, welche ein Analoges für die Relation leisten möchte. Es ist zu bemerken, daß LEIBNIZ der ersteren Richtung auch anderweitig einen typischen Ausdruck verliehen hat und zwar dadurch, daß er die von GEORG DALGARN (in dessen "Ars signorum, vulgo character universalis et lingua philosophica", London 1661) entworfene Begriffstabelle durchzudefinieren unternahm (99); eben dieser Richtung dienstbar sind auch die nachfolgenden Definitionen, unter denen sich sowohl geometrisch akzeptierbare, als auch, wie ich sie nennen möchte,  Über definitionen befinden: die letzteren sind so beschaffen, daß sie der Tendenz, über gewisse allgemein logische Vorstellungsweisen nicht hinauszugehen, ein Erhebliches an geometrischer Bestimmtheit opfern.

Es werden definiert:  gemeinsame Grenze zweier Orte  als der Ort, welcher jenen beiden innewohnt, ohne einen Teil derselben zu bilden (100);  Linie  als diejenige Größe, deren Schnitt keine Größe ist (101); wobei weiterhin unter  Schnitt  verstanden werden soll: die vollständige gemeinsame Grenze zweier Teile (einer Größe), die das Ganze ausmachen und keinen gemeinsamen  Teil  haben (102); etwas soll  ein mit Tiefe Ausgestattetes  (ein Körper) heißen, wenn in ihm etwas ist, das von einem Äußeren nicht berührt werden kann (103). Ferner ist  gerade Linie  einmal (ziemlich im Anschluß an EUKLID (104) diejenige Linie, deren beliebiger Teil dem Ganzen ähnlich ist (105); dann aber auch: derjenige Schnitt einer Ebene, der sich auf beiden Seiten gleich verhält:
    "Man nehme ein Kartenblatt und zerschneide es: wenn der Schnitt eine gerade Linie ist, so kann die neue, durch die Zerschneidung geschaffene Grenze des einen Segments nicht von der entsprechenden des anderen unterschieden werden; ist aber der Schnitt keine gerade Linie, sondern eine sogenannte Kurve, so wird die Grenze des einen Segments konvex, die des andern konkav sein." (106)
Analog wird die  Ebene  definiert als der auf beiden Seiten sich gleich verhaltende Schnitt eines Körpers; als Beispiel fungiert statt der eben zitierten Zerschneidung eines Kartenblattes hier diejenige eines Apfels (107). -  Parallele  werden definiert als gerade Linien, die sich gegeneinander überall gleich verhalten (108). -  Teil  wird definiert als ein vom Ganzen verschiedenes, unmittelbares, mit den Miterfordernissen in Übereinstimmung befindlichess (in recto cum correquisitis) Erfordernis (requisitum) (109) des Ganzen. Die Merkmale des so definierten Begriffen werden für solche, "welche in das Intime der Begriffe eindringen wollen", ausführlich motiviert. Wenn  A, B, C  drei in der Reihenfolge ihrer Nennung auf einer Geraden befindliche Punkte sind, so heißt es:
    "AB  ist ein Erfordernis von  AC,  d. h. wenn  AB  nicht wäre, so wäre auch  AC  nicht; auch sind beide verschieden, denn  AB  ist nicht dasselbe, wie  AC;  auf einem anderen Gebiet (alioqui) ist nämlich  vernünftig  ein Erfordernis des Menschen, weil aber der Mensch vernünftig ist, so ist  vernünftig  (Erfordernis des Menschen) und Mensch dasselbe, d. h. sie kommen, wiewohl sie dem Ausdruck nach sich unterscheiden, der Sache nach überein. Teil bedeutet ein  unmittelbares  Erfordernis: es hängt nämlich die Verknüpfung von  AB  und  BC  nicht von irgendeiner Aufeinanderfolge oder Verknüpfung von Ursachen ab, sondern  sie leuchtet von selbst ein,  sobald man nur das Ganze annimmt (ipsa per se patet ex hypothesi assumti totius). Er befindet sich aber in  Übereinstimmung  mit den Miterfordernissen, es wird nämlich eine Auffassungsweise geben, nach welcher sie übereinstimmen (convenire debent): denn, was immer wir als Entitäten (Entia), ja auch nur als Denkbarkeiten (cogitabilia) ansehen, z. B.  Gott, Mensch, Tugend können wir als Teile eines aus ihnen zusammengesetzten Ganzen betrachten. Es werden daher gewisse, wiewohl unmittelbare und (vom Ganzen) verschiedene Erfordernisse ausgeschlossen, so z. B.  Vernünftigkeit  in abstracto, welche ein unmittelbares und (vom Menschen selbst) verschiedenes Erfordernis des Menschen ist; zwar ist der Mensch auch Vernünftigkeit (neque enim nec homo rationalitas), die letztere wird aber hier nicht als mit dem Menschen übereinstimmend (conveniens cum homine), sondern als Attribut betrachtet: andernfalls könnte allerdings nicht geleugnet werden, daß auch aus "Mensch" und "Vernünftigkeit" ein Ganzes gebildet (fingi) werden könnte, dessen Teile sie sind. Aber die Vernünftigkeit wird kein Teil des Menschen sein, sie ist nämlich ein Erfordernis des Menschen in einer schiefen (in obliquo), d. h. mit den übrigen Erfordernissen des Menschen nicht übereinstimmenden Weise (non convenienti quadam ratione)." (110)
Schließlich wird im Gegensatz zu dem (nach der Ansicht unseres Philosophen) von den Mathematiker viel zu eng definierten Begriff der  Ähnlichkeit  von Gebilden ein eingeständlich aus der Metaphysik herübergeholter Begriff der "Ähnlichkeit im Allgemeinen" in sehr bemerkenswerter Weise eingeführt. (111) Hiernach werden ähnlich solche Dinge genannt, welche nicht durch Betrachtung jedes einzelnen für sich (singula per se considerata, oder auch: sigillatim), sondern nur durch vergleichende Wahrnehmung (comperceptio) unterschieden werden können. Als vergleichende Wahrnehmung gilt aber nicht nur die  gleichzeitige  Wahrnehmung der beiden Dinge, sondern auch die Vergleichung durch irgendein Maß, sei dieses nur ein fremder Körper oder der Körper, bzw. ein Körperteil des Beobachters selbst, oder der Augengrund (fundus oculi), in welchem das Bild des einen Gegenstandes einen größeren Raum einnimmt, als dasjenige des anderen oder schließlich ein Erinnerungsbild, das man vom einen Gegenstand besitzt, während man an den anderen herantritt. Schlösse man all diese Vergleichungsmöglichkeiten aus, und fingiert man einen "augenhaften Geist" (mens oculata), der an den Dingen bloß dasjenige betrachtet, was dem reinen Verstand zugänglich ist, also etwa  Zahl, Proportion und Winkel,  so sollen alle Dinge ähnlich heißen, die ein solcher Geist nicht unterscheiden kann. "Denken wir uns zwei Tempel oder Gebäude derart ausgeführt, daß nichts in dem einen entdeckt werden kann, was nicht auch im anderen zu beobachten wäre: beide aus derselben Materie, etwa aus weißem parischem Marmor; in beiden dieselben Verhältnisse aller Winkel zum rechten Winkel; so wird, wer mit geschlossenen, erst nach dem Eintritt zu öffnenden Augen in die beiden Gebäude eintritt und sich jetzt in dem einen, dann in dem anderen bewegt,  aus ihnen selbst heraus  kein Anzeichen schöpfen, wodurch er sie unterscheiden könnte." (112) Oder: "Denken wir uns, daß Gott alles, was an uns und um uns in einem Gemach zur Erscheinung kommen kann, unter Beibehaltung der Proportionen verkleinert, so würde alles in derselben Weise zu erscheinen fortfahren und der frühere Zustand könnte vom späteren nicht unterschieden werden, solange wir den Umkreis der proportional verkleinerten Dinge, d. h. unser Gemach, nicht verlassen; geschähe dies freilich, so würde durch die vergleichende Wahrnehmung, der  nicht  verkleinerten Dinge der Unterschied zutage treten." (113) Aus diesem Begriff der Ähnlichkeit (114) entspringen korollarisch [als Zugabe - wp] die Definitionen der Begriffe  Qualität  und  Quantität: Qualität  ist etwas, was sich dem Geist bei der separaten Betrachtung eines Dings bietet und zum Vergleich zweier Dinge dienen kann, ohne daß eine wirkliche, sei es eine unmittelbare, sei es eine mittelbare Aneinanderhaltung (applicatio) derselben stattfindet (115). Hingegen ist die  Quantität  (quantitas oder magnitudo) dasjenige, was an den Dingen nur durch die Gegenwart anderer und durch die Aneinanderhaltung mit anderen entdeckt werden kann. (116)

Daß BOLZANO, der in der Wissenschaftslehre (117) seiner Überzeugung Raum gibt, "daß es nicht unmöglich ist, die sämtlichen Wahrheiten der Geometrie aus bloßen Begriffen abzuleiten", zu Aufstellungen gelangte, die den von LEIBNIZ angeführten völlig analog sind, kann nicht befremden: in der Tat verficht BOLZANO in Sachen der Geometrie einen noch starreren Rationalismus (118) als LEIBNIZ; was u. a. auch einige der anzugebenden Definitionen werden bezeugen können. Abgesehen von LEIBNIZ' Begriff der Ähnlichkeit, der sich bei BOLZANO vollinhaltlich wiederfindet (119), erwähne ich die folgenden:  Punkt  erscheint definiert als ein bloßes Merkmal eines Raumes [semeion), das selbst kein Teil des Raumes ist" (120);  Winkel  dasjenige Prädikat zweier gerader Linien  ca, cb,  die einen ihrer äußersten Punkte  c  gemein haben, welches ... jedem anderen System der Linien  cα, cβ,  die bei demselben Anfangspunkt  c Teile  jener sind, gemeinschaftlich zukommt" (121); der  Winkel von zwei Rechten  als ein Winkel zwischen den Richtungen  R  und  S,  der von der Art ist, "daß er die Richtung  S  durch die Richtung  R  bestimmt, d. h. daß es bei einerlei Richtung  R  keine von  S  verschiedene Richtung geben kann, die mit  R  ein gleiches System bildet." (122) Ich setze ferner die äußerst charakteristische Herleitung der Definitionen für  Entfernung  und  Richtung  in extensio hierher: "Der einfachste Gegenstand der geometrischen Betrachtung (ist) ein  System zweier Punkte.  Aus einem solchen  Zugleichdenken zweier Punkte  entspringen gewisse Prädikate für dieselben (Begriffe), die bei der Betrachtung eines einzelnen Punktes nicht vorhanden waren. Alles, was sich in der Beziehung dieser zwei Punkte aufeinander, und zwar in der Beziehung des  b  auf  a  bemerken läßt, zerlege ich in zwei Teilbegriffe:
    I. Dasjenige, was dem Punkt  b  in Beziehung auf  a  so zukommt, daß es  unabhängig  ist vom  bestimmten  Punkt a ...; was folglich auch in der Beziehung auf einen  anderen  Punkt, z. B.  α, gleich  vorhanden sein kann:  genannt  die Entfernung des Punktes  b  von  a. 

    II. Dasjenige, was dem Punkt  b  in Beziehung auf  a  so zukommt, daß es  abhängig ist bloß von dem bestimmten Punkt a;  wovon nun getrennt werde, was schon im Begriff der Entfernung liegt, d. h. was dem Punkt  b  auch im Hinblick auf noch einen anderen Punkt zukommen kann: genannt  die  Richtung, in welcher  a  zu  b  liegt." (123)
Hieran schließe ich die Erwähnung der in anderen Werken BOLZANOs enthaltenen Definitionen von  Zeit  und  Raum.  Zeit wird definiert als "diejenige Bestimmung an einem Wirklichen, die als Bedingung stattfinden muß, damit wir ihm eine gewisse Beschaffenheit  in Wahrheit  beilegen können", (124) - zugrunde liegt der Gedanke, daß jedem Wirklichen eine Eigenschaft, soll anders das Urteil ein "wahres" sein, nur mit Beziehung auf eine gewisse Zeit (eventuell mit Beziehung auf  alle  Zeit) zugesprochen werden kann. Raum wird definiert als der Inbegriff aller möglichen Orte, wobei unter den Orten der Dinge "diejenigen Bestimmungen an denselben" verstanden werden, "die wir zu ihren Kräften noch hinzudenken müssen, um die Veränderungen, welche sie, das Eine im Andern, hervorbringen, zu begreifen" (125) zugrundeliegt die Tatsache, daß zum Verständnis und zur Ableitung aller Wirkungen in der Natur nicht nur die Kenntnis der zwischen den Dingen waltenden Kräfte, mit anderen Worten der die Dinge beherrschenden Gesetze vonnöten ist, sondern auch die Kenntnis der ursprünglichen, sogenannten "Collocationen" (126), in denen sich die Dinge befinden, bevor jene Kräfte ins Spiel treten.

Es soll übrigens nicht unerwähnt bleiben, daß Definitionen, wie wir sie soeben kennengelernt haben, auch auf anderen als dem geometrischen Gebiet vorkommen. So hat SPINOZA die  Affekte  definiert unter Voraussetzung der ursprünglichen Affekte der Fröhlichkeit, Traurigkeit und Begierde (127); und ein neuerer Psychologie, der hiervon Kenntnis nimmt (128), hält eine Verschärfung der hier stattgehabten Reduktion nach der Richtung für möglich, daß die charakteristischen Arten aller Gefühls- und Willenserscheinungen "unter Zuhilfenahme des Gegensatzes von Liebe und Haß und ihrer Gradunterschiede sich ... durch Berücksichtigung der besonderen zugrundeliegenden Phänomene definieren (lassen)" (129). Derselbe Autor hat eine analog zu bewertende Definition der  psychischen Phänomene  überhaupt als solcher, "welche intentional einen Gegenstand in sich enthalten", versucht. (130) In keinem dieser Fälle machen die Definitionen den Anspruch, eine adäquate Kenntnis des Definierten verschaffen zu können; was z. B. die Definitionen der Gefühle betrifft, so sagt der oben erwähnte Autor selbst, dieselben seien nicht so gemeint, als ob "jemand, der das spezielle Phänomen nie selbst in sich erfahren hätte, durch die Definition zu vollkommener Klarheit darüber gelangen könnte." (131)

Hält man sich dies vor Augen, so werden damit Einwände von der Art, daß ich z. B. die gerade Linie nicht definieren läßt (132) und dgl. mehr, hinfällig. Es ist nicht nur nicht geleugnet, sondern sogar hervorgehoben worden, daß derlei Definitionen im rationalistischen Sinn outriert [übertrieben - wp] werden können. Es wird auch nicht zu leugnen sein, daß die  Grundlagen  sowohl einer LEIBNIZschen  characteristica geometrica,  als auch einer BOLZANOschen Begriffsgeometrie unseres Raumes immer an gewissen - ich lasse es hier dahingestellt, an welchen primitiven Anschauungen werden geprüft werden müssen, wofür eine Art "handgreiflichen" Beweises (im eigentlichsten Sinne des Wortes) vorliegt in den Figurentafeln, die beide Denker ihren einschlägigen Schriften beigegeben haben. Trotzdem wird nicht darauf zu verzichten sein, daß auch für die einfachsten, in die Geometrie unseres Raumes eintretenden Gebilde Definitionen erstrebt werden, die:  erstens  charakteristische Eigenschaften des zu Definierenden herausgreifen, d. h. solche Eigenschaften, die ihm und nur ihm zukommen, so daß die Definition als umkehrbar anzusehen ist;  zweitens  diejenigen Eigenschaften herauszugreifen, die bei den nachfolgenden Schlußfolgerungen tatsächlich benützt werden (133). Solche Definitionen müssen, indem sie an den anschaulichen Gebilden dasjenige und nur dasjenige fixieren, was für die Weiterführung der Wissenschaft relevant ist, die Geometrie nicht nur in dem von LEIBNIZ hervorgehobenen Sinn fördern: daß man sich im  Fortgang  ihrer Betrachtungen von der Anschauung unabhängig zu machen und hierdurch eine größere Sicherheit der Betrachtungen, sowie eine Ausdehung derselben auf Gebiete, die unser Anschauungsvermögen übersteigen, zu erzielen imstande ist, sondern auch in dem weit wichtigeren: daß erst vermöge ihrer das Gebäude der Wissenschaft ein durchsichtiges werden kann; auf den Beitrag, den dieselben zur Lösung des allgemeinen Problems der Reduktion der Anschauung liefern, soll hier nicht mehr zurückgekommen werden. Hingegen wäre noch zu erwägen, daß durch Fallenlassen der für die Geometrie irrelevanten und darum in jene Definitionen nicht eingehenden Merkmale anschaulicher Gebilde die wissenschaftliche Betrachtung gültig wird für Gebilde, deren Begriff allgemeiner ist, als derjenige jener anschaulichen Gebilde selbst, indem unter denselben sowohl diese, als möglicherweise noch andere, sei es schon bekannte, sei es noch unbekannte Gebilde fallen. Diese von LEIBNIZ kaum geahnte Verallgemeinerung der Geometrie, bzw. ihrer Anwendung wird näher erklärt werden nach Besprechung der Rolle, welche die Anschauung innerhalb des Gebietes der mathematischen  Grundsätze  oder  Axiome  spielt.
LITERATUR - Benno Kerry, Über Anschauung und ihre psychische Verarbeitung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 9, Leipzig 1885
    Anmerkungen
    64) "Journal für die reine und angewandte Mathematik", Bd. 84, Seite 242; vgl. übrigens meine Abhandlung "Über G. Cantors Mannigfaltigkeitsuntersuchungen", in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1885, Seite 206f.
    65) Daß dieser Irrtum HUMEs Auseinandersetzungen über die abstrakten Vorstellungen (Treatise I, § 8) durchzieht, hat MEINONG nachgewiesen (vgl. a. a. O. I, Seite 65)
    66) Vgl. SCHOPENHAUER, Welt als Wille und Vorstellung I, § 9; JEVONS, Principles of science, dritte Ausgabe, Seite 48; FREGE, a. a. O., § 47.
    67) Vgl. H. HANKEL, Vorlesungen über die komplexen Zahlen, 1867, Seite 18f; O. STOLZ, "Die unendlich kleinen Größen" (Vortrag, gehalten im Innsbrucker naturwissenschaftlich-medizinischen Verein am 12. Dezember 1883), Seite 31f; G. CANTOR, "Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre", 1883, Seite 45f; FREGE, a. a. O., Seite 62
    68) Die betrachtete Relation ist hinsichtlich der Bestimmtheit des Begriffsumfangs durch den Begriffsinhalt eine eindeutige, nach der entgegengesetzten Richtung ist sie es nicht: denn ein und demselben Begriffsumfang können sehr verschiedene Begriffsinhalte entsprechen.
    69) So wird auch z. B. die  Kugelfläche  gedacht, wenn man sie - sich mit ihrer "Anschauung" nicht begnügend - gemäß der Definition: "Inbegriff aller Punkte, die von einem gegebenen gleichweit abstehen" denkt. "Punkt, der von einem gegebenen den und den festen Abstand hat" ist hier der bekannte Begriffs inhalt. 
    70) Die Möglichkeit einer anderen Auffassung solcher Relationen wird weiter unten noch erwähnt werden. Hier möge nur noch bemerkt werden, daß, wenn z. B. Dinge einander ähnlich genannt werden, die Fundamente der Ähnlichkeitsrelation gleichfalls mehrgliedrig sein können, da die verglichenen Dinge vermöge ihrer Attribute gedacht werden und in mehr als  einer  Hinsicht einander ähnlich sein können. Immer aber wird es eine  begrenzte  Anzahl von Hinsichten sein, auf die hin Ähnlichkeit tatsächlich ausgesagt wird, und niemand wird imstande sein, aus einem scharf defnierten Inbegriff unbegrenzt viele Ähnlichkeitsmomente herauszuholen. Analoges gilt von der Kausalrelation, deren eines Fundament bekanntlich gleichfalls in eine Vielheit (von Bedingungen) zerfällt.
    71) Vgl. HANKEL, Leipziger mathematische Annalen, Bd. XX, Seite 106
    72) Vgl. HANKEL, "Untersuchungen über die unendlich oft oszillierenden und unstetigen Funktionen" in  Leipziger mathematische Annalen,  Bd. XX, § 2.
    73) CANTOR, Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre", Seite 23f. Vgl. F. MEYER, "Elemente der Arithmetik und Algebra", zweite Auflage, 1885, Seite 54.
    74) Vgl. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1885, Seite 192.
    75) Vgl. ebd. Seite 193
    76) Das Hineinfallen eines Punktes in ein Intervall (das in diesem Fall auch "Umgebung" des fraglichen Punktes genannt wird) ist die fragliche Relation. Nun soll eine gewisser Punkt (eben jener Grenzpunkt) dadurch bestimmt, d. h. mit einer charakteristischen Eigenschaft behaftet erscheinen, daß beliebige seiner Umgebungen (das Willkürlichkeitsfundament der Relation) mit einer bestimmten Eigenschaft (das Hineinfallen von  P-Punkten in dieselben) behaftet erscheinen. Der Begriff des Grenzpunktes ist also Antwort auf die Frage: "was muß das für ein Punkt sein, in dessen beliebig gewählte Umgebungen Punkte von  P  fallen?"
    77) Vgl. HANKEL, "Untersuchungen", § 1.
    78) Es mag hier nebenbei darauf hingewiesen werden, daß diese Zweierleiheit einer möglichen Auffassung auch statthaben kann bei der Vergleichung von  Dingen,  wo das Vergleichungsresultat ebenfalls sowohl als Relation komplexer Fundamente, wie als Zusammenfassung von Relationen einfacher Fundamente angesehen werden kann. Hingegen würde, wenn man ein Gleiches bei der  Kausalrelation  geltend machen wollte, hier der Umstand eintreten, daß bei der letztgenannten Auffassungsweise sich die Relation ändert, indem sie aus derjenigen der  Verursachung  in diejenige des bloßen  Sich-Bedingens  übergeht.
    79) Vgl. die Anzeige der Funktionentheorie des PAUL DUBOIS-REYMOND in der "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 1885, Seite 249.
    80) Den Nachweis der Berechtigung dieser Auffassungsweise behalte ich der bereits erwähnten späteren Publikation vor.
    81) Da es Grenzbegriffe in der von mir angegebenen Bedeutung des Wortes nur dort geben kann, wo es wohldefinierte Reihen gibt, so füge ich, um den Verdacht einer bloß geistreich sein sollenden Anwendung jenes Wortes auszuschließen, hinzu, daß die Reihenprinzipien, nach denen die Begriffe geordnet gedacht werden müssen, um die im Text gemeinten "Grenzbegriffe von Begriffen" zu ergeben, sind:  erstens  die Denkarbeit des Begriffsinhaltes,  zweitens  die Größe des Begriffsumfangs.
    82) Vgl. BOLZANO, Wissenschaftslehre I, Seite 275; ebenso HERBART, Einleitung in die Philosophie, § 39: "Mit unmöglichen Begriffen muß man in der Mathematik zu rechnen, in der Metaphysik richtig zu denken verstehen."
    83) MEINONG, Hume-Studien II, Seite 88 und 98f
    84) Professor CANTOR will, wie er die Freundlichkeit hatte mir mitzuteilen, heute, nachdem er den Begriff einer  "abgeschlossenen"  Punktmenge (als einer solchen, deren erste Abteilung keine Punkte erhält, die nicht schon die Punktmenge selbst enthielte; vgl. "Mathematische Annalen", Bd. XXIII, Seite 470. Die Definition des Begriffes: "Ableitung einer Punktmenge" findet man a. a. O. Bd. V, Seite 129 oder an der zitierten Stelle der "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie", Seite 193) gewonnen hat, das Zahlenkontinuum als eine zusammenhängende und  abgeschlossene  Punktmenge definiert wissen. Die beiden Definitionen unterscheiden sich, sofern jede Punktmenge, die der einen genügt, auch der anderen genügt, und jede, die der einen widerspricht, auch der anderen widersprich, dem durch sie angegebenen  Umfang  nach nicht. Da aber eine Punktmenge, die zusammenhängend und abgeschlossen ist, wie sich leicht einsehen läßt, eo ipso [schlechthin - wp] perfekt ist und der Begriff der Abgeschlossenheit einer Punktmenge inhaltlich minder determiniert (und umfanglich weiter) ist als derjenige der Perfektheit einer Punktmenge (alle perfekten Punktmengen sind abgeschlossene, aber nicht umgekehrt), so ist eine Definition des Zahlenkontinuums, die die Merkmale "zusammenhängend und perfekt" in sich birgt, abundant [überflüssig - wp]; es genügen zur inhaltlichen Bestimmtheit derselben die Merkmale "zusammenhängend und abgeschlossen.
    85) Vgl. Vierteljahrsschrift, a. a. O., Seite 119
    86) Vgl. Vierteljahrsschrift, a. a. O., Seite 227f; hierauf beruth es auch, daß die graphische Veranschaulichung jener oben erwähnten Funktionen, welche in den rationalen Punkten eines Intervalls ein anderes Verhalten zeigen, als in den irrationalen Zahlen, an einer größeren Schwierigkeit scheitert, als diejenige solcher Funktionen, die in einem Intervall unendlich-viele Oszillationen oder unendlich-viele Sprünge besitzen. Denn - beschränken wir uns auf das Beispiel der Oszillationen - die unendlich-vielen (und unendlich-kleinen) Oszillationen sind zwar auch nicht anschaulich, aber man kann ein Bild derselben dadurch zu entwerfen wenigstens  beginnen,  daß man eine vorerst endliche Anzahl endlich-großer Oszillationen vorstellt und hierauf die Anzahl derselben wachsen (ihre Größe abnehmend) denkt; hingegen können solche Funktionen, die in allen rationalen Punkten ihres Arguments ein anderes Verhalten zeigen sollen, als in allen irrationalen, nicht einmal ansatzweise, wie es eben beschrieben wurde, anschaulich vorgestellt werden, weil die beiderlei Punkte derart ineinander geschoben sind, daß sich jedem rationalen und irrationalen Punkt unendlich-viele rationale und irrationale Punkte nähern und dieses Ineinandergeschobensein der Punkte sich nicht nur nicht (was selbstverständlich ist) in geschlossener Weise, sondern auch nicht einmal als Grenze einer nach einem einheitlichen Gesetz fortschreitenden Reihe vorstellen läßt.
    87) Es ist stark zu vermuten, daß dieser Sachlage auch jede andere Definition des Kontinuums nicht würde entrinnen können. Wollte man etwa die analytische Definition der Stetigkeit einer  Funktion  (vgl. HANKEL, Untersuchungen, § 2) herbeiziehen - man kann ja die kontinuierliche Strecke auch als Funktion (mit der Gleichung  y = 0),  wie auch als Grenzfall einer solchen auffassen -, so wäre dies schon aus dem Grund zurückzuweisen, weil diese Definition bereits dann befriedigt wäre, falls die Strecke nur alle rationalen Punkte enthielte; da demnach die Definition von vornherein ungenügend ist, so ist es überflüssig, zuzusehen, ob sie ein Hilfsmittel zur Anbahnung einer anschaulichen Vorstellung des Kontinuums abgeben kann (vgl. übrigens RIEHL, "Der philosophische Kritizismus II", 1879, Seite 160. Auf die Unmöglichkeit hin, das Letztere zu leisten, vgl. man noch die von LEIBNIZ (Ausgabe von PERTZ, 3. Folge, 5. Bd., Seite 184) gegebene Definition: "ad continuum duo requiruntur, unum ut duae quaevis ejus partes totum aequantes habeant aliquid commune, quod adeo pars non est; alterum ut in continuo sint partes extra partes, ut vulgo loquuntur, id est ut duae ejus partes assumi possint (sed non aequantes), quibus nihil insit commune, ne minimum quidem", worin die erste Bedingung die wesentliche ist, und die zweite nur zu dem Zweck beigefügt ist, den  Winkel  auszuschließen, den LEIBNIZ als Kontinuum nicht gelten lassen will.
    88) Auch dieses Elemente kann noch eliminiert werden, wenn man den Begriff der Gleichheit und der Summe zweier (absolut, d. h. ohne Berücksichtigung der Richtung genommener Entfernungen voraussetzt; in diesem Fall ist ein Punkt als zwischen zwei andere fallend zu definieren, wenn die Summe seiner (im obigen Sinn gerechneten) Entfernungen von den beiden anderen Punkten gleich derjenigen dieser Punkte selbst ist.
    89) In Bezug auf LEIBNIZ bemerke ich, daß die hier vorzubringenden Stellen seiner "Charakteristica geometrica", "De analysi situs" und "In Euclidis prota", sowie einer vierten titellosen (mit den Worten: Analysin geometricam propriam beginnenden) Abhandlung in dem bekannten BAUMANNschen Sammelwerkt: "Die Lehren von Raum, Zeit und Mathematik in der neueren Philosophie" nur zum allergeringsten Teil enthalten sind. - BOLZANOs "Betrachtungen über einige Gegenstände der Elementargeometrie" vom Jahr 1804, die hier hauptsächlich in Frage kommen, sind, wie ich aus eigenen Erfahrungen, die durch eine mündliche Äußerung ROBERT ZIMMERMANNs - ein unmittelbarer Schüler BOLZANOs und der Erbe eines großen, von diesem Denker herrührenden Nachlasses hauptsächlicher mathematischer Schriften - bestätigt wurden, weiß, ein  rarissimum;  ÜBERWEG erwähnt das Büchlein im 37. Band der "Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik", Seite 162, Anm., gesteht jedoch, dasselbe nicht zu kennen.
    90) Ein Bestreben LEIBNIZ', das seinen Ausdruck auch noch im Stolz späterer mathematischer Autoren findet: in ihren Büchern ohne Figuren auszukommen.
    91) Hierbei dürfte LEIBNIZ ein den modernen Betrachtungsweisen, die mit "Mannigfaltigkeiten von  n  Dimensionen" operieren, Ähnliches im Auge gehabt haben; zumindest finde ich, daß ihm die Hinzuziehung neuer, unabhängiger Variablen (z. B. des Gewichts) zu den dreien des Raums durchaus geläufig war zu Zwecken der Jllustration seines Satzes: "Imo etsi in Geometria non dentur nisi tres dimensiones, tamen in rerum natura dantur plures" (Ausgabe von PERTZ, 3. Folge, Bd. VII, Seite 62; ebd. Seite 285). Sonach wäre unter den Vorläufern jener Betrachtungsweisen unter manch anderen (vgl. ALOIS RIEHL, "Der philosophische Kritizismus" etc. Bd. II, Seite 168f, Anm.) und wohl als der Frühesten einer auch LEIBNIZ zu nennen. Ich entnehme aus ROBERT ZIMMERMANNs Abhandlung: "Henry More und die vierte Dimension des Raumes" (Sitzungsberichte der Wiener Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Bd. 98, Seite 403 - 448), daß auch dieser englische Philosoph unter seiner "quarta dimensio" nicht ein Merkmal unseres Raumes, sondern nur eine Eigenschaft gewisser raumerfüllender Essenzen, und zwar, soweit ich absehe (vgl. a. a. O. Seite 435f, 439f, 446, 447f), gar nichts anderes, als deren variable Dichte verstanden wissen wollte; - welche Eigenschaft, von MORE "spissitudo essentiae" (Wesensdichtigkeit) genannt, nur dadurch einen mystischen Anstrich gewinnt, daß man (unberechtigterweise) annimmt, ein bestimmter Raum kann nur in  einer  Dichte stetig erfüllt werden. Jedenfalls erscheinen die Konzeptionen HENRY MOREs und LEIBNIZ' als im Wesentlichen übereinstimmend. Es muß jedoch hervorgehoben werden (bezüglich MOREs ist dies durch ZIMMERMANN geschehen), daß beide Denker nur als die oben erwähnte Richtung (auf mathematische Behandlung höherer als dreidimensionaler Mannigfaltigkeiten) inaugurierend, nicht aber auch als Stützen einer Ansicht, welche (aus was für einem Grund auch immer) unseren Raum als eine solche Mannigfaltigkeit hinstellen möchte, angesehen werden dürfen. Da LEIBNIZ die Schriften HENRY MOREs kannte, (vgl. eine a. a. O., Seite 444 angeführte Äußerung LEIBNIZ', Ausgabe von ERDMANN, Seite 769), so ist eine Beeinflussung des Ersteren durch den Letzteren nicht ausgeschlossen.
    92) LEIBNIZ, "De analysi situs", Schlußwort (übersetzt nach der Ausgabe von PERTZ, 3. Folge, Bd. 5, Seite 182f).
    93) "Vom ersten Grund des Unterschiedes der Gegenden im Raum", die zitierte Ausgabe II, Seite 385
    94) Gesammelte Werke V, Seite 605
    95) Gesammelte Werke, Seite 268, Anm., Seite 448f
    96) "Geometrische Analyse, geknüpft an die von LEIBNIZ erfundene geometrische Charakteristik" erschienen in den Preisschriften der Jablonowski'schen Gesellschaft, 1847
    97) Vgl. eine Bemerkung MAXWELLs in dessen "Treatise on electricity and magnetism", 1873, § 421.
    98) Vgl. LOCKE, Essay II, 25. 6; ebd. 28. 16
    99) Vgl. TRENDELENBURG, "Über Leibnizens Entwurf einer allgemeinen Charakteristik" in dessen "Historischen Beiträgen zur Philosophie", Bd. III, 1867, Seite 20
    100) a. a. O. Seite 173
    101) a. a. O. Seite 183
    102) a. a. O. Seite 173 und 184
    103) a. a. O. Seite 187
    104) "Eine gerade Linie ist, welche zwischen den in ihr befindlichen Punkten auf einerlei Art liegt" (Übersetzung von LORENZ).
    105) a. a. O. Seite 185
    106) a. a. O. Seite 186
    107) a. a. O. Seite 189
    108) a. a. O. Seite 201; was für eine Rolle der hier mehrfach benützte unbestimmte Begriff des Sich-gleich-verhaltens innerhalb der geometrischen Beweisführungen zu spielen berufen ist, wird an einer späteren Stelle dieser Abhandlung dargetan werden.
    109) Ich würde dieses Wort mit "Bedingung" übersetzt haben, wenn es nicht später so ziemlich im Sinne von "Merkmal" gebraucht würde; zwischen diesen beiden Bedeutungen scheint mir "Erfordernis" einigermaßen die Mitte halten zu können.
    110) a. a. O. Seite 151f. Man bemerkt leicht, daß diese Definition außer der erwähnten Unbestimmtheit des Begriffs "Erfordernis" noch die Mängel hat: 1) die  Unmittelbarkeit  jenes Erfordernisses nur negativ zu erklären und sie im Übrigen als "von selbst einleuchtend" befinden zu müssen, 2) die Art des  Übereinstimmens  des Erfordernisses mit den mit den Miterfordernissen ganz dunkel zu lassen; in letzterer Beziehung läuft die Sache unleugbar darauf hinaus, daß alle Erfordernisse insgesamt nur dann in der richtigen Weise "übereinstimmen", wenn sie in  teil bildender Weise übereinstimmen.
    111) a. a. O. Seite 153f und 179f.
    112) a. a. O. Seite 180
    113) a. a. O. Seite 154
    114) Leider ist auch dieser Begriff nicht akzeptabel. Vorerst ist das subjektive Kriterium des Nicht-unterscheiden-könnens zu beanstanden. Sollte an das Unterscheidungsvermögen des Erstbesten appelliert werden dürfen, so würden gar viele Dinge als "ähnlich" - wohlgemerkt: es ist nicht so sehr von populärer, als von mathematischer Ähnlichkeit die Rede! - beurteilt werden, die es nicht sind und vielleicht auch umgekehrt; an wessen Unterscheidungsvermögen soll aber appelliert werden? Ferner ist zu beanstanden, daß die Fiktion des "augenhaften Geistes", auf die man tatsächlich gedrängt wird, so lange unzulänglich ist, als nicht angegeben wird, was denn einerseits "dem reinen Verstande", andererseits den Sinnen und der Einbildungskraft zugänglich ist. Indem LEIBNIZ als das Erstere "etwa die Zahlen, Proportionen und Winkel (!)" nennt, ohne diese seine Entscheidung, wie er doch müßte, a priori zu motivieren, bezeichnet er glücklicherweise gerade diejenigen Bestimmungsstücke, die der speziellere und bescheidenere Begriff, wie ihn die Geometrie besitzt, als für die Ähnlichkeit ihrer Gebilde maßgebend festsetzt. Hiermit wird der LEIBNIZ'sche Ähnlichkeitsbegriff allerdings ein bestimmter, wiewohl nicht von Gnaden seiner metaphysischen Herkunft, sondern nur vermöge fachmäßig-mathematischer Dreinhilfe; hiermit wird er aber zugleich überflüssig: denn weiß ich einmal die Momente, auf die es bei der Ähnlichkeit der Gebilde ankommt, so werde ich auf diese selbst mein Augenmerk richten und nicht mehr auf ein allgemeines Prinzip, das mich bestenfalls zur Auffindung jener Momente hätte anleiten können. Der altbewährte Mangel eines übertriebenen Rationalismus: seine zu allgemein gehaltenen Prinzipien nur durch ein Hinüberschieben auf Gebiete der Facharbeit determinieren zu können, und somit vor die Alternative zu kommen, entweder unbestimmt oder überflüssig zu sein, bekundet sich also auch hier. Die trügerische Art und Weise, in welcher Begriffe, wie der besprochene, mit wahlverwandten Grund sätzen  unter einer Decke spielend, bei der Erzeugung von Scheinbeweisen tätig sind, wird erst dort, wo von jenen Grundsätzen die Rede sein wird (d. h. im zweiten Teil dieser Abhandlung) zur Sprache kommen.
    115) Vgl. auch a. a. O., Seite 180
    116) ebd. und Seite 154
    117) § 79; I, Seite 370
    118) Beide Denker sind darin einig, daß die Beweise mathematischer Sätze so weit, als nur irgend möglich, zu treiben sind; vgl. LEIBNIZ a. a. O., Seite 196 und BOLZANOs Äußerung: "Zuerst stellte ich mir die Regel auf, daß ich mich durch keine  Evidenz eines Satzes  von der Verbindlichkeit loszähle, noch einen Beweis für denselben aufzusuchen, -so lange, bis ich deutlich einsehe, daß und warum sich durchaus kein Beweis fernerhin fordern läßt" (Vorrede zu den "Betrachtungen"). Ich finde aber nicht, daß LEIBNIZ irgendwo so weit gegangen wäre, wie BOLZANO, der nach Beweisen von Sätzen fahndet, wie die folgenden: die Entfernung  b  von  a  ist gleich der Entfernung  a  von  b  (a. a. O., Seite 51); der Winkel  sar  ist gleich dem Winkel  ras  (ebd. Seite 53) und dgl. mehr. Man dürfte ferner als Gradmesser des geometrischen Rationalismus noch zwei Momente benützen können:  erstens,  in welchem Maß man sich der Verpflichtung bewußt ist, die  "Möglichkeit"  oder  "Realität"  der geometrischen Gebilde nachzuweisen,  zweitens,  in welchem Maß man bemüht ist, den Begriff der  Bewegung  aus dem Gebiet der Geometrie auszuschließen. - - - Im Hinblick auf das erstere Moment sind als typisch die Versuche W. BOLYAIs, LOBATSCHEWSKIs, DEAHNAs u. a. zu erwähnen, unter Zugrundlegung von Kugel und Kreis als derjenigen Gebilde, deren Existenz am plausibelsten ist, die Existenz der geraden Linie und der Ebene nachzuweisen (vgl. FRISCHAUF, "Absolute Geometrie nach Johann Bolyai", 1872, Seite 81f, desselben Autors "Elemente der absoluten Geometrie", Seite 7, Anm.; ebd. Seite 34, Anm., den Titel eines Auszugs des Hauptwerkes von W. BOLYAI, der u. a. "in der Geometrie die Begriffe der geraden Linie, der Ebene, des Winkels allgemein, der winkellosen Formen und der Krummen, der verschiedenen Arten der Gleichheit und dgl. nicht nur scharf zu bestimmen,  sondern auch ihr Sein im Raum zu beweisen"  verspricht; bezüglich der Ansicht von GAUSS über DEAHNAs "Demonstratio theorematis,  esse superficiem planem"  vgl. BALTZER, "Elemente der Mathematik", dritte Auflage, Bd. II, Seite 5, Anm.) Sind nun auch bei LEIBNIZ Anläufe nach dieser Richtung zweifellos vorhanden (vgl. die oben zitierte Stelle aus FRISCHAUFs "Elementen"; ferner bei LEIBNIZ selbst: a. a. O., Seite 174, Anm., Seite 188, VII, § 2; Seite 201, § 3; Seite 205, § 3 zu Postul I), so ist doch nicht zu verkennen, daß BOLZANO die Aufgabe: die als existent anzunehmenden Gebilde auf ein Minimum zu reduzieren, weit ernster genommen hat: Beweise für die Realität der Begriffe: Entfernung (Seite 49); Richtung (ebd.); entgegengesetzte Richtung (Seite 56); gerade Linie (Seite 57; dieselbe erscheint nicht, wie bei den oben genannten Autoren, aus dem Kreis, sondern aus dem Dreieck deduziert); legt er teils wirklich vor, teils spricht er sein Bedauern darüber aus, solche Beweise nur vorläufig noch nicht vorlegen zu können. Freilich muß man unserem Philosophen das "in magnis voluisse sat est" zugute kommen lassen, denn zwischen seinem Wollen und seinem Vollbringen gähnt eine weite Kluft. So beschränkt sich z. B. die Herleitung der Realität des Begriffs der Entfernung zweier Punkte, darauf zu zeigen, daß dieser Begriff mehr enthält, als derjenige der bloßen Verschiedenheit dieser Punkte. Nirgends aber ist, um nur Eines zu erwähnen, nachgewiesen, daß dieses Plus dasjenige ist, was wir anderwärts als  stetige Größe  kennen. - - - Was das zweite der oben erwähnten Momente anlangt, so erscheint mir der Ausschluß der Bewegung als eine natürliche Forderung des geometrischen Rationalismus darum, weil die Annahme der Bewegung eine Fülle größtenteils unanalysiert bleibender Voraussetzungen mit sich führt. Als da sind: die Konstanz des Beweglichen; die Umkehrbarkeit jeder Bewegung; die Stetigkeit der Bewegungsbahn; wozu noch die Postulate der verschiedenen Bewegungsarten kämen, und zwar: die Möglichkeit der Bewegung aller Punkte des Körpers; die Möglichkeit der Bewegung aller Punkte eines Körpers mit Ausschluß  eines  Punktes, der in Ruhe bleibt; das Analoge mit Ausschluß  zweier  Punkte; hinsichtlich der letztgenannten Bewegung die Rückkehr eines sich bewegenden Punktes in seinen Ausgangsort (von HELMHOLTZ der "Monodromie" der Funktionen einer komplexen Variablen analog gesetzt; vgl. "Göttingische Gelehrte Nachrichten", 1868, Seite 201; Heidelberger Jahrbücher 1868, Seite 737); schließlich die Unmöglichkeit der Bewegung bei Festhaltung dreier Punkte, die nicht auf einer Geraden liegen. So ist es dann eine charakteristische Tatsache, daß schon EUKLID bei seinen Beweisen die Bewegung in sparsamer Weise benützte (in der Planimetrie nur beim Nachweis des 4. Lehrsatzes), und BOLZANO wollte dieselbe aus dem Gebiet der Geometrie gänzlich vebannt wissen (vgl. Vorrede zu den "Betrachtungen"; hingegen verschmäht LEIBNIZ ihre Heranziehung weder bei seinen Definitionen (vgl. a. a. O., Seite 145), noch auch gedenkt er sie aus seiner geometrischen Analyse auszuschließen (ebd. Seite 172).
    119) Auch die Anwendung dieses Begriffs ist bei beiden Denkern von frappierender Übereinstimmung; daß beide den  Winkel  nicht als Größe, sondern als Qualität ansehen, ist eine unausweichliche Konsequenz des dargestellten Begriffs der Ähnlichkeit; weiterhin aber ist es eine der ersten Bemerkungen, welche beide an die Einführung jenes Begriffs knüpfen, daß man vermöge desselben den Satz ich wähle die Fassung BOLZANOs -: "Ähnlicher Körper Inhalte verhalten sich wie die Würfeln ähnlicher Seiten, oder allgemeiner, wie was immer auch für andere aus ihnen auf ähnliche Art bestimme  Körper.  Flächen wie Flächen; Linien (krumme) wie Linien" ("Betrachtungen", Seite 15f; vgl. LEIBNIZ, a. a. O., Seite 182) ganz allgemein, d. h. nicht durch Induktion aus den speciebus dartun kann. Trotzdem haben wir nach BOLZANOs Äußerung (a. a. O. Seite 12) diesen als von LEIBNIZ und auch von WOLFF, der LEIBNIZ' Theorie der Ähnlichkeit sowohl in der Ontologie (P. I. Sect. 3, Kap. 1, § 195f), als in den Elementen der Arithmetik (§ 27) wiedergibt, unabhängig anzunehmen. Unabhängig von beiden Denkern scheint übrigens auch LEGENDRE in der zehnten Auflage seiner "Élément de géometrie" (1813, Note II, Seite 280f) zu ganz übereinstimmenden Schlüssen gekommen zu sein (vgl. hierüber BOLZANO, "Die drei Probleme der Rektifikation, der Komplanation und der Kubierung", 1817, Seite 44, und eine Mitteilung R. ZIMMERMANs in den Sitzungsberichten der Wiener Akademie der Wissenschaften vom Jahr 1849, phil.-hist. Klasse, Oktoberheft, Seite 170f).
    120) "Betrachtungen", Seite 47
    121) ebd. Seite 1
    122) a. a. O., Seite 53
    123) a. a. O., Seite 48f
    124) BOLZANO, "Wissenschaftslehre I, Seite 365; vgl. den "Versuch einer objektiven Begründung der Lehre von den drei Dimensionen des Raums", Abhandlungen der böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften, 5. Folge, 3. Band, 1845, § 2, Seite 208.
    125) BOLZANO, Wissenschaftslehre, Seite 366; "Versuch einer objektiven Begründung etc.", § 4, Seite 211.
    126) In Ausdrücken der analytischen Mechanik: die bei der Integration der Differentialgleichungen der Bewegung auftretenden  Konstanten. 
    127) Vgl. Ethik III, Prop. XI, Schol.; die bei SPINOZA noch auftretenden Definitionen auch der Grundaffekte ("per laetitiam ... intelligam passionem, qua mens ad majorem perfectionem transit" etc. a. a. O.) wird man aus naheliegenden Motiven ablehnen müssen.
    128) BRENTANO, a. a. O., Seite 324
    129) ebd. Seite 334
    130) ebd. Seite 116
    131) ebd. Seite 326
    132) Vgl. u. a. F. A. LANGE, Geschichte des Materialismus, zweite Auflage, Bd. II, Seite 23f; C. R. KOSACK, "Beiträge zu einer systematischen Entwicklung der Geometrie aus der Anschauung", Osterprogramm des Gymnasiums zu Nordhausen, 1852, Seite 6; J. C. BECKER, in der "Zeitschrift für Mathematik und Physik, Bd. 17, Seite 331.
    133) Aus diesem Gesichtspunkt dürfte, was schon hier erwähnt sein mag, der sonst (vgl. BALTZER, a. a. O., Seite 3) als  "Axiom  von der Geraden" eingeführte Satz: eine Gerade ist durch zwei Punkte bestimmt, vielmehr als  Definition  derselben anzusehen sein. Hingegen wäre eine interessante, von HÖFLER (im letzten Heft dieser Zeitschrift, Seite 359f) vorgebrachte und von MEINONG gebilligte (vgl. ebd.) "streng wissenschaftliche" Definition der Geraden als "einer Nicht-Krummen" unbedingt abzulehnen: denn daß der Mathematiker aus einer solchen Definition seine Schlüsse nicht wird ziehen können, ist ohne weiteres klar. Aber auch in psychologischer Beziehung dürfte "die Annahme, daß die Vorstellung von der Gerade, welche der Geometrie (wenn auch nicht aufgrund einer ausdrücklichen Definition, so doch faktisch) zugrunde gelegt wird (?), geradezu und ausschließlich (!) sich aus der  anschaulichen  Vorstellung der Verneinung konstituiert", als eine verfehlte zu bezeichnen sein. Der Begriff des Nicht-Krummen verbürgt nicht im Mindesten:  erstens,  daß es etwas unter ihn Fallende überhaupt geben kann,  zweitens,  daß es nicht unendlich-Vieles, unendlich-Verschiedenes gibt, das unter ihn fällt. Was würde man dazu sagen, wenn man, auf dem Besitz der anschaulichen Vorstellung von Bäumen fußend, daran gehen wollte, etwas als Nicht-Baum "streng wissenschaftlich" zu definieren? Jener Begriff ist ferner nicht imstande, uns auch nur das geringste, geschweige ein annäherungsweise richtiges Bild seines Gegenstandes zu liefern: und ein solches  Bild  ist doch gerade dasjenige, was wir vor dem Eintritt in die wissenschaftliche Geometrie tatsächlich besitzen. Schließlich:  was  soll an den krummen Linien negiert werden, damit man zum Begriff der geraden kommt? Negiert man an ihnen zu viel, so behält man gar keine Linie, also auch keine gerade Linie übrig; läuft aber die Sache darauf hinaus, daß man an ihnen nur die Krümmung, d. h. das  Nicht-Gerade  negieren soll, so ist wohl ersichtlich, daß man sich im Zirkel bewegt hat.