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WILHELM WINDELBAND
Logik
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"Diese ganze erkenntnistheoretisch-metaphysische Logik verlor ihren Glanz und Nimbus mit dem Niedergang der idealistischen Philosophie in der Mitte der vorigen Jahrhunderts. Die Erkenntnistheorie selbst wurde als eine von der eigentlichen Logik völlig und geflissentlich getrennte Wissenschaft erst mit der Erneuerung der Kantischen Philosophie zum zweitenmal geboren. Die  transzendentale Logik  der Neukantianer wollte mit formaler Logik und Methodologie nichts zu schaffen haben."

"Der naive Anspruch unseres Denkens bezieht das objektive Weltbild auf eine absolute Realität, zu der es im Verhältnis der Abbildlichkeit, der Wiederholung oder in irgendeinem ähnlichen stehen soll. So erhebt sich die letzte Frage aller Wissenschaft: welches ist das Verhältnis des Objektiven zum Realen? Sie wurzelt darin, daß die Beziehung des Bewußtseins auf ein Sein oder der Bewußtseinsfunktion auf einen Bewußtseinsinhalt die einfachste und allgemeinste Form ist, auf die uns die Untersuchung der synthetischen Tätigkeit des Denkens führt. Diese Grundfrage aber bedeutet vom Standpunkt des naiven Denkens nichts anderes als das Problem, ob und wieweit das Bewußtsein in der Erkenntnis sich auf eine transzendenten, von ihm selbst real verschiedene Wirklichkeit beziehen kann. Die Beantwortung dieser Frage ist die Erkenntnistheorie."

Die Betonung der methodologischen Seite der Logik entsprach den allgemeinen wissenschaftlichen Zuständen der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, in denen die Philosophie sich allmählich durch möglichst nahen Anschluß an die Erfahrungswissenschaften zu neuer Selbstgestaltung herausarbeitete. Keine frühere Zeit hat so viele Männer der Wissenschaft gesehen, die, anfangs mit den Aufgaben ihrer besonderen Disziplin beschäftigt, sich mehr und mehr zu den allgemeinen Fragen gedrängt fühlten und von sich selbst Rechenschaft über ihre eigene wissenschaftliche Tätigkeit verlangten. Mathematiker und Physiker, Physiologen und Biologen, Historiker und Psychologen haben diesen Prozeß durchgemacht. Ein wachsendes Bedürfnis nach philosophischer Vereinheitlichung führte die Forscher zusammen und je weniger es ein metaphysisches System gab, in dessen Anschauungen man sich sachlich hätte zusammenfinden können, umso mehr begegnete man sich in den Überlegungen über das Wesen menschlicher Erkenntnis. Diese intellektuelle Strömung drängte in letzter Instanz auf die Erkenntnistheorie; sie führte zur Erneuerung der Kantischen Lehre und weiterhin ihrer idealistischen Fortsetzungen: aber in breiteren Kreisen der empirischen Wissenschaft nahm dieser Zug des Denkens die methodologische Richtung. Sie wurde verstärkt durch den Reichtum der Entwicklung, welche die einzelnen Disziplinen, die historischen wie die naturwissenschaftlichen, gewannen: in rapider Ausbreitung stellten sich überall neue und neuartige Probleme ein, die zu ihrer Lösung die feinste Differenzierung und Ausarbeitung der Forschungsmethoden verlangten. So mußte die Logik, wenn sie die Fühlung mit diesem reichen Leben der sachlichen Wissenschaft behalten wollte, diesen mannigfachen Auszweigungen der Methoden nachgeben und sie systematisch zu bemeistern suchen. Die umfassendste Ausführung dieses Bestrebens liegt in WUNDTs Logik vor.

Die Methodologie aber ist der Natur der Sache gemäß der am meisten nach der empirischen Seite offene und prinzipiell niemals und nirgends abzuschließende Teil der logischen Wissenschaft. Sie empfängt ihre Motive aus der wechselnden Entwicklung der besonderen Disziplinen, aus dem Auf- und Abschweben des Interesses, das sich bald mehr der einen, bald der anderen zuwendet. Ihre Geschichte, zumal in der neueren Zeit, wo sie dem reicher differenzierten Zustand der Einzelwissenschaften gegenübersteht, läßt sie abhängig von der vorwiegenden Bedeutsamkeit erscheinen, die im Wechsel der Zeiten die einzelnen Wissensgebiete in den Vordergrund des Interesses gerückt hat. So haben nacheinander mathematische, induktiv-naturwissenschaftliche, psychologiesche, historisch-dialektische, entwicklungsgeschichtliche Methoden die Vorherrschaft für sich in Anspruch genommen und zeitweilig behauptet und es ist deutlich, daß dabei die Blüte der besonderen Wissenschaften, in denen diese Methoden ihre Triumphe feierten, jeweils auch die logischen Lehren bestimmt hat, die das Wesen des wissenschaftlichen Verfahrens überhaupt zu charakterisieren berufen waren.

In dieser Hinsicht hat nun die wissenschaftliche Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts eine allmähliche Zuspitzung erfahren, die zum Schluß mit großer Deutlichkeit im methodologischen Bewußtsein zutage getreten ist. Man kann ebenso of lesen, dieses Jahrhundert sei das naturwissenschaftliche, wie daß es das historische sei. Und beide Behauptungen haben je in ihrer Weise recht. Von den großen Errungenschaften der Naturforschung, von der geschlossenen Sicherheit, zu der sie ihre Prinzipien ausgebildet hat, von der Klarheit ihrer Theorien und dem Reichtum ihres tatsächlichen Wissens, von den mächtigen Erfolgen ihrer Technik, vom breiten Raum, den sie gerade deshalb im öffentlichen Interesse einnimmt, - von all dem zu reden ist unnötig. Auch die Philosophie hat diese Präponderanz [Vorherrschaft - wp] sachlich erfahren: der einseitige Versuch, aus den Begriffen der Naturerklärung allein eine Weltanschauung zu bilden, der Materialismus, hat lange genug die Philosophie beschäftigt und wenn er jetzt aus ernsthaft wissenschaftlichen Kreisen verschwunden ist, so treibt er umso mehr sein Unwesen in den breiten urteilslosen Massen. Umgekehrt könnte man sagen, ist es der Geschichtsforschung ergangen: das Interesse an ihr erwuchst mit der großen historischen Weltanschauung des Idealismus, es ergoß sich mit der romantischen Strömung in die Kreise der neuen Bildung und gewann so einen Ernst und eine Tiefe, wovon man früher keine Ahnung gehabt hatte. Aus der belletristischen Beschäftigung mit historischen Dingen, die sich vom Anekdotenhaften oder Moralisierenden selten einmal zu einer künstlerischen Reproduktion erhoben hatte, wurde jetzt eine Forschung und mit der bewußten Ausbildung und Anwendung kritischer Methoden wurde die Historie zu einer Wissenschaft. In ihrem emsigen Betrieb aber, aus dem nur von Zeit zu Zeit die monumentalen Werke unserer großen Historiker zu riesiger Höhe emporwuchsen, ging dann wohl gelegentlich auch die Fühlung mit den philosophischen Ideen verloren, aus denen die eigenartige Energie dieser ganzen Arbeit entsprungen war.

Für die Methodologie jedoch, die das logische Wesen der wirklichen Wissenschaft zu verstehen und zu formulieren berufen ist, erwuchs aus dieser mächtigen Doppelentfaltung eine neue, spät erst zum Verständnis kommende Aufgabe. Sie sollte beiden gerecht werden und ihre Eigenart gerade durch die Bloßlegung ihrer tiefsten Verschiedenheit begreifen. Für das Verständnis der Methoden der Naturforschung konnte man dabei in den gewohnten Geleisen bleiben. Auf sie war so ziemlich der ganze Apparat der überlieferten Methodologie zugerichtet: die "angewandte Logik" des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts war durchgängig und prinzipiell eine Lehre vom Wesen der Naturforschung; das hing mit den sachlichen Interessen der metaphysischen Systeme jener Zeit zusammen. In diesem Rahmen brauchte man jetzt nur zu bleiben, um die Verfeinerung der wissenschaftlichen Technik und die Vertiefungen ihres logischen Verständnisses darin auszuführen. So geschah es bei den englischen Methodologen, wie JOHN STUART MILL oder STANLEY JEVONS, so vorwiegend noch in der ersten Auflage von SIGWARTs zweitem Band, zum Teil selbst bei LOTZE. Sehr viel ungünstiger stand es und steht es mit der Methodologie der Historik. Hier mußte, da ihr Objekt selbst als Wissenschaft neu war, eigentlich alles neu geschaffen und aus dem Rohen herausgearbeitet werden. Und nur die Anfänge dazu sind da. Gelegentlich, aber verhältnismäßig selten, hat es einen der bedeutenderen Historiker getrieben, sich über die Ziele und die Mittel seines Forschens logische Rechenschaft zu geben; was von Lehrbüchern der historischen Methode versucht worden ist (am besten von BERNHEIM), war begreiflicherweise mehr eine gelehrte Zusammenstellung der technischen Hilfsmittel für Forschung und Darstellung, als eine Reduktion dieser Verfahrensweisen auf ihre logische Form und auf die begriffliche Struktur ihrer Voraussetzungen. Hier harrt noch eine Fülle von einzelnen Aufgaben ihrer Lösung und hier sieht man vor allem erst allmählich einen allgemeineren Zusammenhang heraustreten, in den sich die einzelnen Untersuchungen ebenso eingliedern können, wie es für Spezialanalysen von Methoden der Naturforschung sich schon lange von selbst versteht.

Wenn diese allgemeinen Grundbestimmungen für das logische Wesen der Geschichtsforschung während des letzten Jahrzehnts eine deutlichere und festere Form anzunehmen begonnen haben, so ist diese bedeutsame Bewegung gerade durch die gegenteiligen Versuche hervorgerufen worden, die vom Selbstbewußtsein der Naturforschung her die Eigenart der geschichtlichen Wissenschaft verkannten und ihr die eigenen Gedankenformen aufzwingen wollten. Das ist die Bedeutung des lauten Streits um die "Gesetze der Geschichte". Jene Versuche gingen von philosophischen Anschauungen aus, die, wie zum Beispiel die SCHOPENHAUERsche, ihre Auffassung vom Wesen der "Wissenschaft" einseitig der Beobachtung des Verfahrens der Naturforschung entnehmen (wie es ja schließlich auch KANT getan hat): so waren es namentlich Jünger des COMTEschen Positivismus, die, gegen COMTEs eigene bessere Einsicht, von der Geschichte verlangten, sie solle von der Erzählung der Tatsachen zur Einsicht ihrer Gesetzmäßigkeit fortschreiten. Wie sich damit die Tendenzen verbanden, die letzten Triebkräfte der historischen Bewegung in wirtschaftlichen Verhältnissen zu suchen, braucht hier nicht näher ausgeführt zu werden. Das Wertvollste war, daß ihnen gegenüber das Selbstbewußtsein der historischen Forschung erwachte und ihr Recht, das individuell Bedeutsame im einmaligen Ablauf der menschlichen Geschichte festzuhalten und zu verstehen, energisch zur Geltung brachte.

Es konnte nicht ausbleiben, daß die Logik auf diese Streitfrage, die mit der Zeit auch im Kreis der Historiker selbst Unfrieden stiftete, aufmerksam wurde und für die Methodologie erwuchs daraus die Aufgabe, die traditionellen Lehren von der Klassifikation der Wissenschaften gründlich zu revidieren. Die aus sachlichen Motiven der allgemeinen Vorstellungsweise und historisch aus den Lehren der älteren Metaphysik hervorgegangene Einteilung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften konnte den logischen Ansprüchen nicht mehr genügen; an ihre Stelle trat, jener antagonistischen Entwicklung des Jahrhunderts gemäß, der Unterschied von Naturwissenschaften, die auf die Erkenntnis von Gesetzen des Geschehens gerichtet sind und historischen Wissenschaften, die auf die Einsicht der besonderen, durch allgemeingültige Wertbeziehungen ausgezeichneten Ereignisse gewiesen sind. Diese, von verschiedenen Seiten angebahnte Unterscheidung ist am glücklichsten als die von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft formuliert worden.

Eine derartig scharfe Disjunktion bedeutet selbstverständlich Grenzbegriffe, zwischen denen die lebendige Arbeit der einzelnen Disziplinen mit zahlreichen feinsten Abstufungen sich in der Mitte bewegt: gerade deshalb aber enthält sie ein überaus fruchtbares Prinzip für das logische Verständnis der wirklichen Arbeit der Wissenschaften. Ihre Bedeutsamkeit tritt in diesem Falle besonders am merkwürdigen Geschick hervor, das die methodologische Auffassung der Psychologie erfahren hat. Nach der alten Einteilung wurde und wird sie wohl noch als grundlegende Disziplin für die sogenannten Geisteswissenschaften betrachtet; es klingt ja so plausibel, daß es sich bei aller "Geschichte" um seelische Tätigkeiten des Menschen und um ihre Äußerungen in der Körperwelt handelt und daß ihr Verständnis deshalb die Lehre von den Seelentätigkeiten voraussetzt. Wer aber die moderne Psychologie kennt, der weiß, daß darin nach wesentlich naturwissenschaftlicher Methode von Dingen und Verhältnissen die Rede ist, von denen der Historiker für sein Geschäft gerade so viel und gerade so wenig verwenden kann und zu wissen braucht, wie von der - Mechannik. Andererseits ist gerade aus diesem Verhältnis das lebhafte Bedürfnis hervorgegangen, die "wissenschaftliche Psychologie" durch eine "Psychologie der individuellen Differenzen" zu ergänzen, die ihrer ganzen Anlage nach nur historisch gerichtet sein kann.

Alle diese Fragen sind jetzt in erfreulichem Fluß und RICKERTs Buch über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung steht zweifellos im Mittelpunkt dieser Bewegung. Wohin sie tatsächlich führen wird, ist schwer vorauszusagen: aber klar ist es aus diesen Diskussionen schon jetzt, daß die letzte Erscheinung darüber nicht mehr bei der Methodologie, sondern bei der Erkenntnistheorie zu suchen ist. Denn die Analyse der Verhältnisse, in denen die einzelnen Wissenschaften den Apparat der allgemein logischen Normbestimmung für die Erreichung ihrer besonderen gegenständlichen Erkenntniszwecke verwenden, ist doch im großen Zusammenhang der logischen Gesamtwissenschaft nur die Vorarbeit für die Lösung der Frage, welches der Beitrag ist, den die einzelnen Disziplinen für die letzten Zwecke menschlicher Erkenntnis überhaupt zu liefern berufen sind. Diese Aufgaben bilden ihr Existenzrecht und bestimmen damit auch den logischen Charakter der Forschungsweisen, mit denen sie an ihre Gegenstände erfolgreich heranzukommen imstande sind. So berechtigt deshalb formale Logik und Methodologie in ihrer eigenen Ausgestaltung sind, so liegen doch ihre letzten Prinzipien erst im dritten Teil der Logik, der Erkenntnistheorie, - wie es LOTZE (freilich mit anderer Terminologie) in der aufsteigenden Linie seiner "drei Bücher vom Denken, vom Untersuchen, vom Erkennen" vorgebildet hat.

Die rein erkenntnistheoretische Behandlung der Logik, welche mit Herabsetzung oder Vernachlässigung des formalen und des methodologischen Moments ihren Lehren zugleich die Bedeutung metaphysischer Einsichten gab, ist ursprünglich die charakteristische Tendenz der HEGEL Schule. Sie lag ja schon bei FICHTE, SCHELLING und SCHLEIERMACHER, in gewissem Sinne auch beim unglücklichen KRAUSE vor: aber in keiner dieser Formen ist sie eigentlich als ein durchgeführtes System der Logik aufgetreten. Um so mehr war das bei den Hegelianern der Fall und unter ihren Darstellungen dieser Wissenschaft bleibt die bei weitem interessanteste die von KUNO FISCHER. Sie ist eine freie, geschmackvolle, anschauliche Umbildung. Der Historiker der neueren Philosophie zeigt schon hier an HEGEL seine Kunst, ihn ins Deutsche zu übersetzen. er macht sich vom Schematismus der HEGELschen Terminologie frei, er substituiert dem dialektischen Fortschritt die lebendige Form der Entwicklung, er veranschaulicht aus einem reichen historischen und literarischen Wissen die Kategorien und insbesondere den Übergang von der einen zur anderen durch bekannte Gestalten und Vorgänge der Geschichte und der Dichtung und er führt diese lebendig vor, stattsie wie HEGEL in geheimnisvoller Nebelhaftigkeit anzudeuten. Es ist die anziehende Frische der Kathederwirkung, die auch aus diesem Buch KUNO FISCHERs spricht.

Allein diese ganze erkenntnistheoretisch-metaphysische Logik verlor ihren Glanz und Nimbus mit dem Niedergang der idealistischen Philosophie in der Mitte der vorigen Jahrhunderts. Die Erkenntnistheorie selbst wurde als eine von der eigentlichen Logik völlig und geflissentlich getrennte Wissenschaft erst mit der Erneuerung der Kantischen Philosophie zum zweitenmal geboren. Die "transzendentale Logik" der Neukantianer wollte mit formaler Logik und Methodologie nichts zu schaffen haben; sie ging über das Verhältnis der Kategorientafel zur Urteilstafel am liebsten hinweg und stellte die Untersuchung über Grenzen und Tragweite der menschlichen Erkenntnis, worin vorerst die ganze Philosophie aufgehen sollte, auf eigenen Boden. Je weiter aber dieser Boden von der Metaphysik entfernt sein sollte, um so näher lag die Gefahr, daß solche Erkenntniskritik ihre Gesichtspunkte genetischen, das heißt psychologischen Untersuchungen entnahm: gerade in dieser Hinsicht ist die intime Beziehung, in die bereits SCHOPENHAUER die Erkenntnislehre mit den Theorien der Sinnesphysiologie gebracht hatte, auch in der Folge nicht ohne Bedenken gewesen.

Denn es hat lange gedauert, bis der Kantische Begriff der Apriorität, der anfänglich im Mittelpunkt dieser Bewegung stand, von der psychologistischen Deutung frei gemacht, der Beziehung auf die Annahme angeborener Ideen entrückt und zum Unterschied auf die Annahme angeborener Ideen entrückt und zum Unterschied von psychologischer Priorität in seinem wahren Sinn als das Prinzip allgemeiner und notwendiger Geltung erkannt wurde. Hauptsächlich mußten sich diese Vorstellungen in den Diskussionen über das Raumproblem klären und es mußte deutlich werden, daß die Auffassung, mit der die Naturforscher geneigt waren, den Kritizismus als eine Erweiterung der LOCKEschen "Subjektivität" auf die "primären" Eigenschaften zu deuten, sachlich ebenso unhaltbar wie historisch schief war. Der Vorgang dieser Klärung konnte nur aufgehalten werden, als von den entwicklungsgeschichtlichen Theorien aus der Versuch gemacht wurde, das "Apriori" für das Individuum zuzugestehen und es als ein von der Gattung Erworbenes zu erklären. Auch der evolutionistische Psychologismus ist für die Erkenntnistheorie gerade so unzugänglich und gerade so gefährlich wie für die formale Logik.

Die "empiristischen" Umbildungen der Kantischen Lehre, die in dieser Weise überwunden werden mußten, fanden eine zeitlang Rückhalt auch im Eindringen positivistischer Ansichten, wie sie von CARL GÖRING zu einer kritischen Philosophie ausgebildet werden sollten. Solche Verschmelzung von KANT und COMTE schien dadurch nahegelegt, daß beide Denker von ihren sehr verschiedenen Ausgangspunkten her am Ergebnis zusammengekommen, die mathematisch-mechanische Theorie der Naturforschung für den beherrschenden Grundtypus aller Erfahrungswissenschaft zu erklären. Die Folge davon aber war die, daß mit der Empirisierung des Kritizismus dessen ethische Seite, die nur vom Apriorismus aus möglich ist, in derselben Weise verkümmerte, wie es schon bei SCHOPENHAUER der Fall gewesen war. Die relativistische Richtigung, die eine zeitlang die Ethik nahm, hatte hier ihren Ursprung und die völlige Wendung auch der Erkenntnislehre zum Positivismus vollzog sich, wie bei LUDWIG FEUERBACH, in durchgebildeter Form bei EUGEN DÜHRING.

Jenen einfachen und gröberen Formen der Annäherung von KANTschen und COMTEschen Gedanken ist später eine Anzahl feinerer gefolgt. Sie hängen zum Teil damit zusammen, daß die sachliche Notwendigkeit des Fortschritts von KANT zu FICHTE sich in dieser zweiten Entwicklung des deutschen Idealismus wiederholte und mit der abermaligen Aufhebung des Ding-an-sich-Begriffes zur Auflösung aller Wirklichkeit in Bewußtseinsphänomene führte. Das geschah in der von SCHUPPE eingeführten "immanenten" Philosophie, deren Vertreter Mühe hatten, an der Gefahr des Solipsismus [Selbstbezogenheit - wp] vorüberzukommen. Zum anderen wurden die Auffassungen der Physiker maßgebend, die in den wissenschaftlichen Theorien nur den Zweck einer möglichst einfachen, adäquaten und bequemen Beschreibung der Tatsachen anerkannten und die Leistungen der Wissenschaft als ein Denken der Welt nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes ansahen. Philosophisch hat das AVENARIUS, physikalisch am deutlichsten MACH ausgeführt: eine stärkere Akzentuierung nach der kantischen Seite fand diese Richtung bei HEINRICH HERTZ und in allerneuester Zeit beim französischen Mathematiker POINCARÉ.

Für die Gegenströmung, die an KANTs transzendentalem Idealismus festhielt und seine Prinzipien in die weiteren Problembildungen hinübergerettet hat, war KUNO FISCHERs auf diesen Grundton gestimmte Darstellung des Kritizismus maßgeben. Von ihr aus ist LIEBMANN der Führer des genuinen Kritizismus der Erkenntnislehre geworden und geblieben: er vertritt ihn fester und reiner als einerseits RIEHL, bei dem es an zeitweiligen Konzessionen zugunsten des Positivismus nicht gefehlt hat und andererseits COHEN, der umgekehrt die bei KANT angelegte Beschränkung des transzendentallogischen Begriffs der Wissenschaft auf die "exakten" Disziplinen der Gesetzesforschung schließlich zu dem Versuch gesteigert hat, in den Prinzipien der Infinitesimalrechnung den schöpferischen Springpunkt des apriorischen Denkens zu sehen. Eine andere Abbiegung von KANT liegt bei VOLKELT vor, der bereits der Neigung nachgeht, die Erkenntnislehre wieder zu einer Metaphysik auszugestalten. Darin aber macht sich nicht nur das Wiedererwachen der HEGELschen Philosophie und der Einfluß EDUARD von HARTMANNs geltend, dessen System als ein Spätling am Baum des deutschen Idealismus gereift war, sondern auch die Forderungen des Zeitgeistes, der, nach langer Entfremdung mit wachsendem Interesse zur Philosophie zurückgewendet, von ihr als das ihm Wesentliche eine Weltanschauung auch im theoretischen Sinne verlangt.

Zwei Probleme sind es, die in diesen erkenntnistheoretischen Erörterungen das meiste Interesse auf sich gezogen und die mannigfachsten Lösungsversuche hervorgerufen haben. Das erste ist das Problem der Transzendenz. Welche zentrale Stellung ihm gebührt, kann man sich vielleicht am besten durch eine einfache Überlegung klar machen, die zugleich die Aufgabe der Erkenntnistheorie präzise formuliert. Diese Disziplin kann nicht berufen sein, in die Arbeit der übrigen Wissenschaften hineinzureden, sondern sie setzt diese Arbeit als geleistet voraus. Die anderen Wissenschaften aber entwickeln mit ihrer planmäßigen Anwendung der formal logischen Beziehungen auf die mannigfachsten Erkenntnisgegenstände ihr objektives Weltbild, das den subjektiven Meinungen der Individuen gegenüber eine (von den Ergebnissen der Erkenntnistheorien völlig unberührte) allgemeine und notwendige Geltung besitzt. Dieses objektive Weltbild nun bezieht der naive Anspruch unseres Denkens auf eine absolute Realität, zu der es im Verhältnis der Abbildlichkeit, der Wiederholung oder in irgendeinem ähnlichen stehen soll. So erhebt sich die letzte Frage aller Wissenschaft: welches ist das Verhältnis des Objektiven zum Realen? Sie wurzelt darin, daß die Beziehung des Bewußtseins auf ein Sein oder der Bewußtseinsfunktion auf einen Bewußtseinsinhalt die einfachste und allgemeinste Form ist, auf die uns die Untersuchung der synthetischen Tätigkeit des Denkens führt. Diese Grundfrage aber bedeutet vom Standpunkt des naiven Denkens nichts anderes als das Problem, ob und wieweit das Bewußtsein in der Erkenntnis sich auf eine transzendenten, von ihm selbst real verschiedene Wirklichkeit beziehen kann. Die Beantwortung dieser Frage ist die Erkenntnistheorie: will man sie, weil eine Behauptung über das Verhältnis des Bewußtseins zum Sein immer auch zugleich eine Behauptung über das Sein selbst ist, - will man sie deshalb auch Metaphysik nennen, so ist das gleichgültig. Viel wertvoller ist es, zu betonen, daß wir für die Beantwortung dieser Frage keine anderen Argumente haben als die, welche uns die besonderen Wissenschaften selbst an die Hand geben.

Das andere Hauptproblem ist noch immer das der Kausalität, - seit HUME und KANT wohl dasjenige, welches den breitesten Raum in der Philosophie einnimmt. In den endlosen Diskussionen, die es immer noch erfährt, ist als das Neue und für die Zukunft Bedeutsame seine Beziehung auf den Begriff des Gesetzes zu bezeichnen. KANT hat beide in unlöslbare Verbindung gebracht, indem er die Geltung des ursächlichen Verhältnisses a priori davon abhängig machte, daß die Ursache der Wirkung ihr Dasein in der Zeit nach einer allgemeinen Regel bestimme. So sehr daher in der individuellen Verwickeltheit des einzelnen Geschehens Kausalfolgen möglich sind, die sich in ihrer inhaltlichen Eigenart nicht wiederholen, so lassen sie sich doch immer in elementare Kausalverhältnisse auflösen, die eine Bestimmtheit der Zeitfolge durch eine allgemeine Regel aufweisen, also den Charakter der Gesetzmäßigkeit an sich tragen. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, so erhellt er die mannigfach abgestufte Verschiedenheit des Verhältnisses, worin sich die einzelnen Wissenschaften zu der Aufgabe befinden, Gesetze zu erforschen. Es wird solche Disziplinen geben, die ihren Gegenständen kein anderes oder kaum ein anderes Interesse als dieses abgewinnen können, - und andere dagegen, bei denen, der wertbestimmten Eigenart ihrer Gegenstände wegen, dieses Interesse völlig hinter anderen zurückstehen muß. Die Bedeutsamkeit dieser Verhältnisse für den oben berührten Unterschied von Natur- und Kulturwissenschaften liegt auf der Hand: sie stellt eine Reihe tiefgreifender Aufgaben, deren Bearbeitung erst eben begonnen hat.

Die Kausalität gilt vielfach als die wichtigste der Kategorien: mit welchem Recht, bleibe hier dahingestellt. Aber was hier entwickelt wurde, zeigt an einem jedenfalls hervorragenden Beispiel, daß die letzten Entscheidungen der Erkenntnistheorie ebenso wie der Methodologie an der Lehre von den Kategorien hängen. Diese sind eben die synthetischen Formen, in denen wir Gegenstände allein denken und deshalb auch allein erkennen können. Diese Kategorien sind aber deshalb auch in allen unseren Urteilen die Formen des Subjekts und Prädikat aufeinander beziehenden Denkens; sie stellen die Relationen dar, auf deren allgemeine und notwendige Geltung im Urteil Bejahung oder Verneinung gerichtet ist. Deshalb ist die Schöpfung einer Kategorienlehre ein gleichmäßiges Interesse für reine Logik, für Methodologie und für Erkenntnistheorie; sie allein kann das Bindeglied für alle drei Teile der logischen Gesamtwissenschaft als des Inbegriffs der theoretischen Philosophie werden.

Ansätze zur Lösung dieser Hauptaufgabe der zukünftigen Logik finden sich in der Literatur aller jener drei Teile verstreut; aber es fehlt noch, wie es scheint, am entscheidenden Prinzip zur Gestaltung eines Systems. HARTMANNs "Kategorienlehre", in dieser Hinsicht entschieden die bedeutendste und eigenartigste Erscheinung seit HEGEL, ist in ihrem geistvoll gegliederten Aufbau schließlich doch auf metaphysische Voraussetzungen gegründet. Aber das System der Kategorien, wie es hier als die fundamentale Aufgabe gemeint ist, wird nur auf rein logischen Prinzipien beruhen dürfen.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Logik, Philosophische Abhandlungen, Festschrift für Kuno Fischer, Heidelberg 1905