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GUSTAV KNAUER
Die Dinge an sich

"Bei Kant ist in den empirischen Anschauungen das Stoffliche der Empfindungen durch sinnliche Wahrnehmung gegeben und dieses Gegebensein verbürgt die Realität der Gegenstände der Wahrnehmung, wogegen den reinen Anschauungen (Raum und Zeit) Idealität zukommt."

Die folgende Betrachtung schließt sich an die im Ganzen vorurteilslose und trotz ihres geringen Umfangs sehr beachtenswerte Untersuchung an, welche der Nestor der herbartischen Schule, M. W. DROBISCH unter dem Titel "Kants Dinge an sich und sein Erfahrungsbegriff", (Hamburg und Leipzig 1885), veröffentlicht hat; sie will aber über den neuerdings so viel umstrittenen Begriff der Dinge an sich und über den gleichfalls verdunkelten Terminus "für uns gegeben" ein selbständiges Urteil in Kürze fällen und endlich KANT wegen seines Erfahrungsbegriffes verteidigen.

Daß man KANT seine Dinge an sich nicht abstreiten kann, indem man sie zu einem  X  macht, das = 0 ist, hat DROBISCH wacker dargetan und begründet. Die Ungereimtheit, als könnte es Erscheinungen geben ohne etwas, das erscheint, hat KANT nun einmal allen Ernstes abgewiesen, Dinge an sich sind ihm "eine unabweislich notwendige Voraussetzung unseres Denken". Es folgt nur daraus weiter, daß man nun nicht (mit DROBISCH Seite 13) die  Existenz  solcher Dinge an sich für zweifelhaft erklären darf, selbst wenn man sich dabei meinte auf irgendwelche Worte KANTs selbst berufen zu können; nein, daß ihre Existenz so gewiß im Denken behauptet werden muß, als der Denkendes seine eigene Existenz behauptet; daß vielmehr nur ihre  Essenz  zweifelhaft bleibt, d. h. die Art und Weise, wie sie existieren. Theoretisch fehlt zwar zunächst alle Erkenntnis von ihnen, aber im Denken steht fest ihr "Dasein ohne ein Wissen, wie sie beschaffen sind." Einen "skeptischen Idealismus" kann es also bei KANT und durch KANT nicht geben, denn ein solcher würde sich nicht auf ihre Essenz, sondern auf ihre Existenz beziehen.

DROBISCH urteilt Seite 28: "Die Dinge an sich gehören in KANTs Erkenntnistheorie weder zu den Grundsteinen derselben, noch bilden sie den Schlußstein, sondern sie sind - nur  Grenzsteine".  Das ist richtig, aber nur wenn die Beschränkung hinzugefügt wird: soweit die Kritik der "reinen theoretischen Vernunft" reicht; denn die Kritik der "praktischen Vernunft" setzt sich auf diese Grenzsteine fest und macht sie so allerdings zu ihren  Grundsteinen.  Denn das bedeutet doch entschieden die Unterscheidung einer "intelligiblen" oder "Verstandes-Welt" von der Sinnenwelt, auf welche sich schon die Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter gründet und wie solche dann in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" deutlich vorgetragen wird. Daselbst heißt es im Schlußabschnitt ("von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie"): "Der Begriff einer Verstandeswelt ist also nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken." Und: "Dadurch, daß die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt  hineindenkt,  überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen, wohl aber, wenn sie sich hineinschauen, hineinempfinden wollte." Und demgemäß sagt KANT in der Kritik der praktischen Vernunft (Ausgabe KEHRBACH Seite 158) von ihren Postulaten: "Sie sind nicht theoretische Dogmata, sondern  Voraussetzungen  in  notwendig  praktischer Rücksicht".

Mit vollem Recht verteidigt DROBISCH KANTs Äußerungen über die Dinge an sich durch Hinweisung auf seine Unterscheidung zwischen Erkennen und Denken. Wir müssen nach KANT die Dinge an sich, wenn auch nicht erkennen, so doch wenigstens  denken,  ja uns in sie "hineindenken" können, wie das auch die von DROBISCH selbst angeführte Seite XXVI der Vorrede zur 2. Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" besagt, wie das weiter in der Kritik der praktischen Vernunft (KEHRBACH Seite 163) deutlich ausgesprochen ist: "Hierbei hat die theoretische Vernunft nichts weiter zu tun, als jene Objekte  durch Kategorien  bloß zu denken". So hat sie sie zunächst durch die modalische Kategorie der Existenz oder Wirklichkeit, wie wir oben schon gezeigt, zu denken. Und hat KANT wieder an anderer Stelle gesagt, daß wir auf die Dinge an sich "keinen von unseren Verstandesbegriffen anwenden können (DROBISCH Seite 12), so fehlt hier nur die Beifügung: so daß Erkenntnis entsteht - um den Meister in seiner Position zu fassen und nicht mißzuverstehen. Wir müssen demnach die Dinge an sich auch durch die Kategorie der Ursache denken  können  (als Ursache der Erscheinungen), so viel Staub auch gerade dagegen aufgewirbelt ist, nur wird dadurch eine  Erkenntnis  ihres Zusammenhangs mit der Welt der Erscheinungen nicht erzielt. Daß, wenn nun KANT die Dinge an sich als Ursache der Erscheinungen bezeichnet, damit wirklich Kausalität im Sinn der Kategorientafel als Begriff des reinen Verstandes auf sie angewendet sei, daß nicht mit BENNO ERDMANN und KUNO FISCHER dabei an die Idee der Freiheit, an "Kausalität durch Freiheit" zu denken ist, das hat DROBISCH schlagend nachgewiesen. Dabei ist und bleibt es indessen meine entschiedene Ansicht: KANT hätte diese Anwendung der Kausalitäts-Kategorie auf die Dinge an sich unterlassen sollen, er hätte dieselben nur als den Erscheinungen zugrunde liegend, als den "unbekannten  Grund  der Erscheinungen", wie er ja auch sagt, überall bezeichnen sollen.

Daß weiter die sich in der 2. Auflage der Kr. d. r. V. findende Widerlegung des Idealismus oder der Beweis von der objektiven Realität der äußeren Anschauung nicht einen Abfall KANTs von seiner Position, sondern eine Festigung und Verteidigung derselben zu bedeuten hat, ist von DROBISCH gleichfalls zu unserer Freude zugestanden, wenn er auch die Haltbarkeit des fraglichen Beweises von seinem Standpunkt aus anzufechten sich bewogen findet.

Es taucht aber bei den Untersuchungen DROBISCHs die Frage auf: was uns nach KANT bei unserem Empfinden, Erfahren, Erkennen  gegeben  ist. Er schreibt Seite 29: Bei KANT ist "in den empirischen Anschauungen das Stoffliche der Empfindungen durch sinnliche Wahrnehmung gegeben und dieses Gegebensein verbürgt die Realität der Gegenstände der Wahrnehmung, wogegen den reinen Anschauungen (Raum und Zeit) Idealität zukommt.

Er übersah jedoch daß in den empirischen Anschauungen die  bestimmten Formen,  in denen uns die Gegenstände erscheinen, ebensowenig wie die Empfindungen, Produkte unserer Spontaneität, sondern in demselben Sinne wie jene gegeben sind." Dasselbe wird Seite 32 und 37 wiederholt und schon im Vorwort Seite IV und Seite 51 heißt es nochmals: "Insofern müssen sich also unsere Vorstellungen und Begriffe  nach dem Gegebenen  richten. Führt man nun den Zwang, den uns alles Gegebene antut, auf die Einwirkung von Dingen zurück, so muß sich, wenigstens mittelbar, doch zugleich unsere Erkenntnis  nach den Dingen  richten. Und eben das hat KANT übersehen."

Zu verwundern ist ja nicht, daß bei den vielen Verdrehungen der kantischen Lehre, die versucht worden sind oder die sich in einmal dogmatisch gerichteten Köpfen eingestellt haben, sich auch die Meinung bilden konnte: weil nach KANTs Entdeckung Raum und Zeit apriori sind, seien nun auch nach ihm die bestimmten räumlichen Formen, in denen ein Gegenstand der Erscheinung vor uns steht, als apriori erzeugt, als aus reiner Anschauung produziert aufzufassen. Aber das ist ein Mißverständnis, an dem KANT wahrhaftig unschuldig ist, er scheint ein solches nur kaum für möglich gehalten zu haben und hat keine Veranlassung gehabt, sich dagegen mit ausdrücklichen Worten zu verwahren. Alle bestimmten Formen, in denen uns Gegenstände erscheinen, werden ja nur  a posteriori  wahrgenommen, erkundet, eben  bestimmt;"  unsere Vorstellungen müssen sich ja wirklich nach ihnen und nicht sie nach unseren Vorstellungen (das hieße dann: Einbildungen) richten; sonst gäbe es ja gar keine sichere Erfahrung, während doch KANT eine solche entschieden behauptet. Jene Formen können natürlich nur gemäß der Eigentümlichkeit der apriorischen Raumanschauung wahrgenommen werden, also z. B. bei allem Körperlichen in drei Dimensionen auslaufend, in nicht mehr und nicht weniger, sie müssen den allgemeinen Gesetzen des Räumlichen entsprechen und insofern richten sich die Dinge in der Erscheinung allerdings nach unserer Anschauung; aber  wie  sie ausgestaltet sind, das lehrt a posteriori die Wahrnehmung, das wird mit Hilfe des Zahl-Schemas und mit Hilfe von Begriffen erfahrungsmäßig, empirisch bestimmt und das ist uns also in der Tat  gegeben.  "Die unermeßliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen kann aus der reinen Form der sinnlichen Anschauung keineswegs hinlänglich begriffen werden" (geschweige apriori entnommen werden - fügen wir bei); so lehrt ja KANT ausdrücklich schon in der 1. Auflage seines Hauptwerkes, wie DROBISCH selbst später Seite 48 dieses Wort anführt.

 Daß  wir das Stoffliche der Empfindungen überhaupt gestaltet wahrnehmen können, dazu befähigt uns das Apriori unserer Sinnlichkeit;  wie  es aber gestaltet ist, das lehren uns a posteriori Wahrnehmung und Erfahrung, das ist uns also a posteriori gegeben. Diese Darlegung ist gerade so richtig, wie die andere:  Daß  wir nach Ursachen überall fragen müssen, ist durch den apriorischen Begriff unseres reinen Verstandes bedingt:  was  aber für einzelne wahrgenommene Veränderungen wirklich die Ursache sei, das lehrt uns die Erfahrung, das ist oder wird uns empirisch gegeben. Produzieren wir selbst etwa nach KANT aus uns die Fünfzahl unserer Finger und Zehen, die Zahl und Gestalt unserer Zähne und Rippen, die Hufspaltung und Zahnstellung der Wiederkäuer, die Vierbeinigkeit der Säugetiere und Zweibeinigkeit der Vögel, den gekerbten oder gesägten Rand eines Pflanzenblattes, die Zahl, Stellung und Verwachsung der Staubfäden in einer Blüte, die Lagerung der Schichten in einer Gesteinsformation? oder gar die Gestaltungs-Eigentümlichkeiten einzelner Individuen der organischen Welt? Nun und nimmermehr hat unser alter Königsberger solche  Albernheiten  selbst denken können und nimmermehr hat er sie seinen Schülern aufdrängen wollen. Die Formen pflegen doch nach Zahlen bestimmt oder, wenn ausgemessen, in Zahlenmassen dargestellt zu werden. Wozu bedürfte es denn erst in allen Fällen der sehr verschieden ausfallenden Erfüllung des Zahl-Schemas, welches doch nach kantischer Lehre zwischen Sinnlichkeit und Verstand vermittelt, wenn die bestimmten Formen eines Gegenstandes apriori und spontan aus der Raumanschauung produziert würden? wozu der Ausmessung, bei der ja oft Anfangs verschiedene Resultate sich zu ergeben scheinen, bis eines für richtig, die anderen für fehlerhaft befunden werden? Oder hat KANT je das Abzählen und Ausmessen für überflüssige Vornahmen erklärt? Nein; alle bestimmte Gestaltung ist uns auch nach KANT in der Natur  gegeben  und wird als gegeben a posteriori bestimmt und empirisch nachgewiesen.

Und wie steht es denn nach KANT mit den apriorischen Anschauungsformen, mit Raum und Zeit selbst? "Der Raum wird als eine unendliche  gegebene  Größe vorgestellt", so lautet Satz 4 in § 2 der transzendentalen Ästhetik in der 2. Auflage und in der 1. Auflage: "Der Raum wird als eine unendliche Größe  gegeben  vorgestellt". Und in § 4 unter 5 heißt es in beiden Ausgaben: "Daher muß die ursprünglich Vorstellung Zeit als uneingeschränkt  gegeben  sein". Also Raum und Zeit sind Vorstellungen a priori, aber nicht a priori produziert, sondern a priori gegeben. Nach dem "echten" KANT ist nicht einmal Raum und Zeit von uns produziert; produzieren können wir nur in den Schranken dieser a priori gegebenen Vorstellungen nach Willkür alle mathematischen Figuren und alle möglichen Zahlengrößen und Zusammenstellungen; wo uns aber  in der Natur  Gestalten und Zahlen entgegentreten und empirisch bestimmt werden, da ist nichts von uns produziert, da ist uns alles gegeben. Möchten das die Kritiker doch endlich einsehen und nicht mehr FICHTEsche Gedanken in den alten KANT einmengen.

DROBISCH erinnert an die Spontaneität der nach KANT "unter der Herrschaft des Verstandes stehenden produktiven Einbildungskraft, deren Typen den Verstandesbegriffen entsprechen müssen" (Seite 29), um zu zeigen, daß für KANT "der Verstand aus dem Empfindungsmaterial die Erscheinungwelt und somit die Erfahrung  schafft."  Aber da urteilt unser wohlwollender Kritiker doch auch über die Lehre von den transzendentalen Schematen nur unter dem Einfluß nachkantischer Verdrehungen. Durch Auffassen der Erscheinungsdata in bestimmte Zahlengrößen und Grade, in die Schemata der Zeitdauer, Zeitfolge, Gleichzeitigkeit, des Damals, Irgendeinmal, Allemal wird doch nicht konstatier, daß der Verstand oder die ihm dienstbare Einbildungskraft die Erscheinungen  geschaffen,  aus sich produziert hat, sondern es wird nur gezeigt, wie jene Erscheinungsdata für unsere psychische (sinnlich-verständige) Auffassung mundgerecht gemacht werden, wenn wir so sagen dürfen. Die Einbildungskraft produziert die Typen, nicht aber  was  bei Wahrnehmungen in die Typen eingeht oder aufgenommen wird. Dadurch daß sich der Gast das dargebotene Kompott aus seinen Teller füllt, dadurch produziert er es doch nicht, ja dadurch pfuscht er nicht einmal der Köchin, die es so zubereitet hat, in das Handwerk; ob der Teller etwa sein eigenes Fabrikat ist, bleibt dabei ganz gleichgültig; er mag sogar noch Zucker auf das Kompott streuen oder Essig und Öl auf den Salat gießen, dadurch wird die Speise wahrhaft nicht sein eigenes Produkt. - Freilich richten sich unsere Vorstellungen und Begriffe bei allen Naturgegenständen nach dem Gegebenen, freilich richtet sich unsere Erkenntnis nach den Dingen; nur nicht nach den uns verborgenen Dingen an sich, wiewohl solche sein müssen, sondern nach den uns entgegentretenden Qualitäten der Erscheinungswelt. Das hat KANT keineswegs übersehen, das liegt schon in seiner Unterscheidung des  Aposteriori  vom Apriori; das hat aber mit seiner Entdeckung, daß wir nur Erscheinungen, nicht Dinge an sich erkennen, auch nicht das mindeste zu tun.  Gegeben  sind uns auch die apriorischen Vorstellungen Raum und Zeit selbst, sowie sie nun sind und wir sind nicht imstande, sie auch nur um ein Haar anders zu machen, als sie sind, sondern müssen uns ganz nach diesen Tyrannen richten und unseren Verstand unter ihr Joch beugen.

Den Beweis KANTs für die objektive Realität der äußeren Anschauung, um den die 2. Auflage der Kritik vermehrt ist, bezeichnet DROBISCH (wie schon gesagt, fern davon ihn für unkantisch zu erklären) doch als  apagogisch  [negativer Beweis aus der Falschheit des Gegensatzes - wp] und will damit seine Haltbarkeit angreifen (Seite 34). Diesen Angriff müssen wir als grundlos abweisen, denn da die Bestimmung unseres eigenen Daseins in der Zeit sicher und unbezweifelt stattfindet, kann die apagogische  Form  des Beweises, warum diese Bestimmung so sicher ist, warum sie einzig und allein so sicher sein kann (weil es wirklich Dinge außer uns gibt), die Kraft des Beweises selbst nicht im geringsten abschwächen. Ein apagogischer Beweis ist dann vollkräftig, wenn er für eines von zwei Urteilen eintritt, die einen, andere Möglichkeiten ausschließenden Gegensatz zueinander bilden. Das stimmt mit § 131 der Logik von DROBISCH 3. Auflage, wenn auch nicht den Worten, doch dem Sinn nach. In unserem Fall lauten die beiden Urteile: Entweder kommt die Sicherheit der Bestimmung unseres Daseins  von innen  (durch unsere Vorstellungen) oder sie kommt  von außen  (durch Gegenstände außer uns im Raum). Von innen und von außen bilden hier unbedingt sich ausschließende Gegensätze. Von innen nun kommt jene Sicherheit nicht, das zeigt die Erfahrung, die jeder befragen kann (bei andauernder Beschäftigung mit seinen Gedanken kann niemand die Zeit, die verfließt, ohne weiteres berechnen); folglich kommt jene Sicherheit von außen, folglich sind wirklich Gegenstände außer uns und nicht bloß Vorstellungen in uns. Dieser indirekte Beweis steht auf so sicheren Füßen, wie nur irgendein direkter stehen kann.


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Stellen wir nun noch eine Erörterung über den kantischen  Erfahrungsbegriff  an.

Wenn KANT in § 18 der Prolegomena die  empirischen  Urteile in Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteile einteilen will, erstere mit subjektiver, letztere mit objektiver Gültigkeit, so liegt ganz offenbar eine jener gar nicht seltenen Nachlässigkeiten vor, die wir beim Meister finden; denn die Bezeichnung "Erfahrungsurteile" ist doch offenbar nur eine Verdeutschung der anderen "empirischen Urteile". KANT hätte so schreiben müssen:  Aposteriorische  Urteile mit nur subjektiver Gültigkeit sind Wahrnehmungsurteile, solche mit objektiver Gültigkeit sind empirische, also Erfahrungsurteile; denn der Terminus aposteriori, oft als mit empirisch gleichbedeutend gebraucht, hat doch einen weiteren Umfang als empirisch; er ist es, der bloße Wahrnehmungen, die der "logischen Verknüpfung" fähig sind und wirkliche Erfahrungen unter Herrschaft des mit seinen Kategorien operierenden Verstandes unter sich begreift. Auch KANTs Beispiele von der Sonne und dem Stein (in § 20 der Prolegomena, Anm. und sonst die dort in § 19 und 20 sind nicht richtig; das Urteil: wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm, ist entschieden schon ein Erfahrungsurteil. Darin stimmen wir DROBISCH (Seite 40) vollkommen bei.

Es lassen sich die voneinander unabhängigen Urteile: Jetzt scheint die Sonne, und: Dieser Stein hier ist gerade warm - zunächst als bloße Wahrnehmungsurteile fassen. Da aber der Verstand sofort das Streben hat, solche in wirkliche Erfahrungsurteile umzusetzen (was ihm hier durch Zusammenziehen der beiden in  ein  zusammengesetztes Urteil möglich ist), ist es schwer, der tatsächlichen Gedankenbewegung gegenüber zwischen beiden Arten der Urteile dauernd zu scheiden. Die Wahrnehmungsurteile beziehen sich auf Augenblickliches, da oder dort eben Befindliches und Ersichtliches; sowie etwas nur für eine längere Zeitdauer bestimmt wird, sowie die Bedingungen, unter denen sein Eintritt überall zu erwarten ist, fixiert werden, dann pflegt der Übergang in das Erfahrungsurteil sich schon vollzogen zu haben. Von vorn herein gilt es beiden Arten zu unterscheiden, auch der Meister fühlt sich zu dieser Unterscheidung gedrungen, leider hat er sie nicht in klarem Licht gesehen, berichtigen wir hier die Mängel seiner Darstellung.

Weiter glauben wir dagegen auf dem kantischen Unterschied zwischen bloß komparativer und zwischen strenger Allgemeinheit und Notwendigkeit fest fußen zu können. Erfahrung lehrt allerdings nur, "was und wie es sei und nicht, daß es notwendigerweise so sein müsse", aber oft wiederholte, auf Ursachen zurückführende Beobachtungen bringen doch eine "komparative" Allgemeinheit und Notwendigkeit des Erfahrungsmäßigen. Der Klee z. B. hat erfahrungsmäßig in der Regel drei Blättchen (aber Ausnahmen mit vier Blättchen kommen vor); meist erwärmt Sonnenschein die Steine (doch es ist möglich, daß ein Stein bei sehr kalter Lufttemperatur im Winter, wiewohl von der Sonne beschienen, kalt bleibt). Das sind Beispiele, die zeigen, wie es um die  komparative  Allgemeinheit und die an diese sich anschließende Notwendigkeit steht, die man der Erfahrung zugestehen muß, die man aber nicht mit der streng logisch apriorischen Allgemeinheit und Notwendigkeit verwechseln darf.  Objektive  Gültigkeit eines Urteils aber kann sich im Sinne KANTs nie auf seine Geltung von Dingen an sich, immer nur auf seine Geltung von Erscheinungen beziehen und kein Kenner kantischer Kritik kann im Ernst die Frage aufwerfen, ob KANT bei einem nach seiner Auffassung objektiv gültigen Urteil an Dinge an sich gedacht haben könne, es müßte denn ein metaphysisches Urteil über solche selbst sein (wie unser oben behauptetes: "Dinge an sich existieren wirklich"). Wenn ein Urteil als für alle mit Sinnlichkeit und Verstand begabten Wesen, welche die betreffene Erfahrung machen können, feststehend gelten muß, dann ist es objektiv gültig. Und diese objektive Gültigkeit wird den komparativ-allgemeinen Urteilen durch Zusammentreffen der aposteriorischen Anschauung mit den verwendeten Kategorien verliehen. Die aposteriorische Anschauung erlaubt aufgrund der Schemata des reinen Verstandes die  Anwendung  der Kategorien auf den bestimmten Fall, gibt aber keineswegs wie DROBISCH behauptet, erst den Kategorien objektive Gültigkeit; diese haben sie so schon begrifflich und behaupten sie überall, wo sie mit Recht angewendet werden können.

Die Behauptung von DROBISCH (Seite 46): "Die Kategorien liegen nicht schon in der Erfahrung, sondern kommen zu ihr erst hinzu" müssen wir so korrigieren: Die Kategorien liegen nicht schon in der  Wahrnehmung,  sondern kommen zu dieser erst hinzu; durch ihr Hinzutreten aber wird die Wahrnehmung in  Erfahrung  umgesetzt; und will man nun sagen: demnach liegen dann die Kategorien in der Erfahrung - so ist das vielleicht nicht gerade treffend ausgedrückt, aber geradezu falsch ist diese Behauptung nicht. Es sind übrigens keineswegs die Wahrnehmungen als noch unwahr von den  wahren  Erfahrungen zu scheinden (Seite 47); nein, die Urteile, die aufgrund bloßer  Wahr nehmungen gefällt werden, sind schon diesem ihrem Namen nach ebenso wahr oder vielmehr richtig, als die Erfahrungsurteile, in die sie der menschliche Verstand überall zu verwandeln sucht; sie sind nur nicht fest begründet, noch nicht für jedermann annehmbar, sie ermangeln noch der komparativen Allgemeinheit. Der Seite 39 von DROBISCH angeführte Ausspruch KANTs: "Nur in der Erfahrung ist Wahrheit" will nicht die Wahrheit der Wahrnehmungen bestreiten, die überall die Erfahrung vorbereiten und begründen, sondern nur die Wahrheit einer Erkenntnis von Dingen bloß aus reinem Verstand.

Spricht KANT nach Seite 48 aus, der Verstand schöpfe seine Gesetze (natürlich nicht die empirischen, sondern die apriorischen) nicht aus der Natur, sondern  schreibe sie ihr vor,  so klingt das freilich etwas verwegen, wie er selbst zugesteht, es läßt sich auch mißverstehen; es ist damit aber in der Tat nur ausgesprochen, daß die metaphysischen Grundsätze der Naturwissenschaft (die Analogien der Erfahrung usw.) nicht a posteriori ermittelt sind, sondern  a priori  behauptet werden; und das werden sie allerdings. Sagt er weiter, daß diese apriorischen Gesetze des reinen Verstandes von  "Erfahrung überhaupt"  Belehrung geben, empirische Gesetze aber, die nur "nach Norm" jener apriorischen möglich sind, erst durch  "hinzukommende Erfahrung"  kennen gelernt werden, so ist das auch richtig und in Ordnung. Jene apriorischen Gesetze gehen auf  Möglichkeit  von Erfahrungen überhaupt, bezeichnen, was überhaupt "Gegenstand der Erfahrung" werden kann; was aber  wirklich  zu bestimmten Gegenständen der Erfahrung geworden ist, das lehren die empirischen Gesetze der besonderen Naturwissenschaften, unter denen die KEPLERschen für die Astronomie einen hervorragenden Rang einnehmen.

Es kann übrigens vieles Gegenstand wirklicher Erfahrung sein, ohne der Bestimmung durch besondere empirische  Gesetze  zu unterliegen; als Beispiele mögen dienen die spezifischen Gewichte der chemischen Elemente, die Zahl und Beschaffenheit der Zähne und Zehen bei den Vierfüsslern, die Zahl der Staubfäden in den Pflanzenblüten, die Zahl der Planeten und die Zahl der den Planeten beigegebenen Monde; in gewissen Fällen fand man da noch statt der Gesetze Regeln, in anderen fehlen selbst diese; aber auch das muß sich alles noch nach jenen apriorischen Gesetzen des Verstandes richten. Die menschliche Erkenntnis trachtet darnach, alles auch unter besondere empirische Gesetze zu bringen, es will ihr aber in vielen, vielen Stücken gar nicht gelingen.

Wie nun DROBISCH Seite 49 behaupten kann, "daß der naturwissenschaftliche Begriff von Erfahrung ein ganz anderer ist als der kantische", ist uns unbegreiflich, denn auch KANT erkennt den  empirischen  Naturgesetzen volle objektive (nicht bloß subjektive) Gültigkeit zu; andererseits freilich ist auch klar, daß diesen Gesetzen trotzdem nur  komparative  Allgemeinheit und Notwendigkeit zunächst bewohnt. Wo aber eine  einheitlich  bestimmte Kraft, wie die Gravitation im astronomischen Bereich, wirksam ist, da ist wohl von selbst klar, warum diese an sich nur komparative Allgemeinheit bei ihrer  ausnahmslosen  Geltung (allüberall ganz dieselbe Kraft) sich der strengen logisch-apriorischen Allgemeinheit und Notwendigkeit ebenbürtig zur Seite stellt. Und wo Gesetze noch nicht gefunden werden konnten, aber  einheitlich  bestimmte Gegenstände vorliegen, wie in der Chemie (Gold ist stets nur  dieses  Gold, Sauerstoff nur  dieser  Sauerstoff), da läßt sich auch keine Ausnahme denken; die Erfahrung steht unbedingt sicher; einem Stück "Gold", welchem das für Gold ermittelte spezifische Gewicht fehlen würde, müßte eben der Begriff des Goldes a priori, aus der begrifflichen Bestimmung heraus abgesprochen werden. In Zoologie und Botanik, auch wohl in Mineralogie, ist das anders, hier kommen viele Ausnahmen von den empirisch festgestellten Regeln vor, denn hier ist jedes Individuum (respektive jede Gesteinsablagerung) ein beim Wechsel der Erscheinungen beharrendes Wesen (nach der recht verstandenen 1. Analogie der Erfahrung) und jedes muß für sich betrachtet und beobachtet werden, wiewohl für das Genus [Art, Gattung - wp] unbestritten eine Summe von Erfahrungen vorliegt.

Der naturwissenschaftliche Begriff von Erfahrung schließt sich an die wirklich gemachten Erfahrungen an; diese  physischen  Erfahrungsbegriff erkennt KANT vollständig als solchen an, es ist das seine "hinzukommende Erfahrung". KANTs Begriff von "Erfahrung überhaupt" oder von möglicher Erfahrung ist dagegen  metaphysisch  und in seiner Aufstellung, d. h. in der Aufstellung einer wirklichen "Theorie der Erfahrung", liegt eine der großen metaphysischen Leistungen des Mannes der Kritik, nimmermehr ist er "fehlerhaft", wie DROBISCH meint.

Wir sehen nicht mit DROBISCH neben dem KOPERNIKUS KANT noch einen Platz für einen KEPLER frei; die Aufstellung der metaphysischen Grundsätze der Naturwissenschaft und die der Antinomien zeigt uns unseren KOPERNIKUS schon als KEPLER; eher brauchen wir noch einen GALILEI, der mit bewaffnetem Auge  nach den Ideen  ausschaut, statt sie für erschlossen zu halten. Im übrigen wünschen wir nur, daß die Versehen unseres KOPERNIKUS-KEPLER gründlich berichtigt und eine Summe von Berichtigungen endlich allgemein anerkannt werden. Trotz der Einwendungen, die wir erheben mußten, gebührt dem herbartischen Nestor für sein Eintreten in den um KANT wogenden Kampf ein freudiger Danke aus dem kantischen Lager.
LITERATUR - Gustav Knauer, Die Dinge an sich, das "Außer-uns", das für unsere Erkenntnis "Gegebene" und unsere Erfahrung - Philosophische Monatshefte 21, 1885