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FRIEDRICH KUNTZE
Die kritische Lehre
von der Objektivität

[ 5/6 ]

Vorwort / Einleitung
Erstes Kapitel -
Die Objektivitätsbedingungen und die Platonismen des Ichbegriffs.
Zweites Kapitel -
Die Objektivitätselemente und die Platonismen der Seelenvermögen.
Drittes Kapitel -
Die Objektivitätsformen und die Platonismen des Normgedankens

"Der ontologische Gottesbeweis ist von Kant mit wünschenswertester Gründlichkeit ausgerottet worden. Wenn heute der gleiche Beweistyp wiederkehren kann, mit der einzigen Veränderung, daß für Gott die objektiv reale Welt steht, so ist dies ein Beweis dafür, wie wenig die berühmte kantische Kritik im philosophischen Bewußtsein der Gegenwart lebendig ist, wie sie heute nur als eine tote historische Tatsache in der Gedächtnisabteilung aufbewahrt wird."

"Deshalb kann der Grund der Objektivität nur darin gesucht werden, daß im tiefsten Grund des individuellen Bewußtseins eine allgemeine Organisation tätig ist, welche nicht sowohl in ihrer Funktion selbst, als vielmehr in ihren Produkten vor das individuelle Bewußtsein tritt ... Das Gegenständliche in unserem Denken beruth also auf einer  überindividuellen Funktion,  welche gleichmäßig den Untergrund aller individuellen Vorstellungstätigkeit bildet, auf dem  Bewußtsein überhaupt." 

Drittes Kapitel
Die Objektivitätsformen und die
Platonismen des Normgedankens

Die Lehre von den Objektivitätsformen ist durch ihre ganze Problemstellung dem Eindringen von Platonismen noch günstiger gewesen, als die Lehre von den Bedingungen und den Elementen. Diese Disposition hat sie auf folgende Weise erworben. Die Objektivitätsform ist für das Individuum zwar zunächst der materiale Inbegriff aller objektiven Wahrheiten, in welcher Eigenschaft sie aller Beziehungen auf die Wirklichkeit des Erkennens entbehrt. Aus dieser Selbstgenügsamkeit aber muß sie heraustreten, wenn außerdem die Normierung des noch jenseits von Wahr und Falsch stehenden psychologischen Denkverlaufs eine ihrer Pflichten wird. Es muß dann gerade die Beziehung auf die Wirklichkeit des Erkennens ein Bestandteil ihres definitorischen Wesens werden. Dieser neue Bestandteil hat zu den vornehmsten Platonismen der Objektivitätsformen dadurch den Anlaß gegeben, daß die fragliche Beziehung die Gestalt einer motivierenden Kraft annahm. Soviel ich sehen kann, hat diese Versinnlichung in zwei typischen Bildern Gestalt gewonnen, in einem metaphysischen und einem ethischen. Ich beginne mit dem metaphysischen Bild.


I. Das metaphysische Bild
der Normenwelt

Das metaphysische Bild zeigt zwei Zustände. Im ersten ist die fragliche Beziehung zu einer unter einem Bewußtsein stehenden realen Kraft verfestigt. Die innere Beschaffenheit dieser Analogie findet eine vollkommen angemessene äußere Form durch die Darstellungsmittel der Mechanik. Im zweiten Zustand sind es die Ausdrucksmöglichkeiten der Psychologie, die die motivierende Kraft versinnlichen. Sie erscheint hier als eine jenseits der Individuen stehende und doch in den Individuen wirkende Organisation der menschlichen Vernunft überhaupt.


1. Erster Zustand.
Die Normenwelt als Welt transzendenter Kräfte.

In der Gegenwart vertritt EDUARD von HARTMANN eindrucksvoll die Metaphysik einer realen Kraft, die unter einem Bewußtsein wirkt. HARTMANN führt diese Lehre als Hypothese einer objektiv realen Welt ein. Er erklärt die (in unserem Sinne) wirkliche Welt mitsamt ihren Gegenständen als eine Scheinwelt und als Fulguration [blitzartige Erleuchung - wp] einer eigentlichen, eben der objektiv realen Welt. Diese ist der Inbegrif aller Objektivität, von der wir uns in unseren Differential- und Integralformeln nur eine subjektiv verständliche Deutung machen. Man kann diese Welt kurz definieren als eine Sammlung aller möglichen Formeln der Physik, Chemie usw., die sämlich mit dem Vorzeichen der wirklichen Existenz versehen sind. Um jedes Mißverständnis auszuschließen, lassen wir HARTMANN selbst reden und wählen eine Vergleichung von ihm, die das hier Gemeinte glücklich veranschaulicht. "Unter synthetischer Geometrie des Raumes versteht man neuerding eine mathematische Disziplin, welche mit Hilfe von Strahlenbüscheln, die einander schneiden, alle Probleme der Geometrie und Stereometrie zu lösen sucht. ... Während die gewöhnliche Geometrie fertige Raumgebilde vor sich hat, die sie erst nachträglich wieder in ihre Teile auflöst und mit willkürlichen Hilfslinien bereichert, verhält die synthetische Geometrie sich genetisch, indem sie die Raumgebilde durch konstruktive Tätigkeit erst erzeugt. Die gewöhnliche Geometrie ist also eine solche der Ruhe, die synthetische Geometrie aber ist eine solche der Bewegung, wenn auch nicht hinsichtlich ihrer Produkte, so doch hinsichtlich der sie produzierenden Strahlungen. Dadurch gleicht sie formel der Dynamik, von der sie nur durch den Mangel einer Intensität verschieden ist. .. Wir werden also sagen können: was die absolute Idee tut, indem sie sich zu jeweilig aktuellen Weltinhalt entfaltet, das ist: sie treibt synthetische Geometrie." (25) Die objektiv reale Welt ist also, wenn wir eine gröbere Analogie benutzen. der Drahtmaschinerie in einem Puppentheater vergleichbar, die das in allen Figuren Wirkende ist. Wir wollen die Tragweite des Gedankens prüfen, der in diesen Bildern zum Ausdruck kommt. Dabei interessiert uns noch nicht die hier vollzogene  logische  Verselbständigung bestimmter Inhalte des Erkennens, sondern ausschließlich die  reale. 

Der erste Verdacht gegen diese Lehre einer objektiv realen Welt ist der, daß die platonischen Bestandteile, die sie bewahrt, nicht zu ihren modernen Bestandteilen passen. Man wird es bezweifeln dürfen, ob die so verschiedenen Zeichen und Charakteren angehörenden Denkmotive, die die Konstruktion einer metaphysisch realen Objektivität vereinigt, auch wirklich zusammengehören oder nur zusammengeraten sind, ob dieser modifizierte Platonismus nicht aus einem sich mißverstehenden Sehnen nach der Einfachheit und Klarheit des platonischen Ideenreiches die Bausteine der modernen Philosophie nach einem Muster zusammenfügt, das der Geist der Geschichte längst in andere Linien verbessert hat. Da scheint mir die Auskunft, sich jene Objektivitätsfrom als ein Gruppe von Funktionen vorzustellen oder gar als etwas abgesondert Wirkliches, zunächst den spezifischen Sinn der Objektivitätsfrage zu verhelen und das Prblem in einer Form zu behandeln, in der es nach unseren gegenwärtigen erkenntniskritischen Einsichten nicht mehr behandelt werden darf. Für unser heutiges Denken ist die Objektivität eine deskriptiv eigentümliche Form des Logischen. Wir sind daher zunächst nicht darum verlegen, sie zu begründen, sondern sie zu charakterisieren. Für diese nächste Aufgabe, die Form der Objektivität allererst einmal zu beschreiben, kann die erwähnte Hypothese deshalb keinerlei Lösungsmittel an die Hand geben, weil es gerade das Wesen der objektiv realen Welt ist, transzendent zu sein, d. h. jenseits allen subjektiven Denkens und aller zureichenden Definition zu stehen. Damit erhalten wir als Gegenstand der Charakteristik ein transzendentes Ansichsein, mit dem wir durchaus nichts anzufangen wissen. Der erste Ausfall an dieser Hypothese einer objektiv realen Welt ist darum der, daß sie als  Hypothese  ihren Zweck verfehlt. Man kann aber noch weiter gehen und durch immanente Kritik die objektiv reale Welt auch auf eigenem Boden als ein widerspruchsvolles Etwas erweisen.

Zunächst ist es unklar, unter welchen Attributen man sie sich überhaupt denken soll. Denkt man sie sich als Kraft, so ist es schwer möglich, zu begreifen, wieso eine Kraft, die etwas vollkommen Alogisches ist, nicht nur einen Bewußtseinsinhalt hervorbringen, sondern ihn auch mit dem Gefühl der Allgemeingültigkeit versehen soll. Man muß daher mindestens an die Kraft eine Intelligenz gebunden denken. Dann aber würde, da die Kraft ohne Intelligenze das Denken nicht objektivieren konnte, das an der Funktion haftende Denken das entscheidende sein. Die Kraft in der "übergreifenden Funktion" gliche dann dem Körper des Riesen in GOETHEs "Märchen", der durch diesen nichts vermag und nur durch seinen Schatten - in dieser Unterstellung also durch die Intelligenz - alles ausrichtet. Wenn aber der Körper der übergreifenden Funktion - ich gebrauche diesen Anthropomorphismus mit Absicht - die einzelnen Intelligenzen nicht verbinden kann, sondern nur sein Denken, so ist nicht einzusehen, weshalb man überhaupt diesem Denken noch einen Körper gibt, der doch nichts erklärt und ihn nicht vielmehr als eine überflüssige Komplikation der Hypothese fallen läßt. Dann erhält man ein überindividuelles Denken, eine von Gott vorgedachte Welt als an sich seiende Objektivität und ist entweder wieder bei MALEBRANCHE und BERKELEY angekommen oder auf die Hypothese einer "Gattungsvernunft" verwiesen.

Diese beiden Möglichkeiten wird der nächste Abschnitt des vorliegenden Kapitels behandeln. Den gegenwärtigen Abschnitt wollen wir mit einer Bemerkung über die Geschichte der objektiv realen Welt als der definitiven Objektivitätsform schließen. Nimmt man an der Geschichte der objektiv realen Welt ein  pragmatisches  Interesse, das heißt man blickt auf die geschichtlichen Ursachen, die die genannte Hypothese in HARTMANNs Kopf erschaffen haben, so ist an LOCKE anzuknüpfen. Ich wenigstens kann im LOCKEschen Gegensatz der sekundären und primären Qualitäten und im HARTMANNschen Gegensatz einer subjektiven Scheinwelt und einer objektiv realen Welt, nur zwei Formulierungen des gleichen Gedankens finden: eine unbeholfene und eine beholfene. Blickt man auf die Geschichte der objektiv realen Welt dagegen mit  problemgeschichtlichen  Interessen, so erscheinen recht befremdende Verwandtschaften. Logisch nämlich wiederholt die Form des Schlusses, durch den HARTMANN zu seiner objektiv realen Welt kommt, einen typischen Denkfehler, der in der Gestalt des alten ontologischen Gottesbeweises weltberühmt geworden ist. In beiden Fällen handelt es sich darum, daß eine ganz bestimmte Beschaffenheit unserer Begriffe oder auch eine ganz bestimmte syllogistische Verbindung von ihnen über sie hinausreichen und Anweisung auf ein bestimmtes  existenziales  Ansichsein geben soll. Für den ontologischen Gottesbeweis ANSELMs ist der Begriff objektiv real, der das logische Merkmal des  größten Umfanges  hat; für HARTMANN sind die Begriffe objektiv real, die das  mathematische  Merkmal der  zahlenmäßigen Bestimmbarkeit  haben.  Bei ANSELM wie bei HARTMANN führt mithin eine logische Mitbezeichnen der Begriffe über das Logische hinaus ins Existenziale. 

Der ontologische Gottesbeweis ist von KANT mit wünschenswertester Gründlichkeit ausgerottet worden. Wenn heute der gleiche Beweistyp wiederkehren kann, mit der einzigen Veränderung, daß für Gott die objektiv reale Welt steht, so ist dies ein Beweis dafür, wie wenig die berühmte kantische Kritik im philosophischen Bewußtsein der Gegenwart lebendig ist, wie sie heute nur als eine tote historische Tatsache in der Gedächtnisabteilung aufbewahrt wird, während der Zusammenhang zwischen der äußeren Gelegenheit, die diese Kritik hervorrief und der Grundansicht, die sie trägt, dem ewigen Prinzip, das sie belebt, erst wieder zu schaffen ist. Wenn ins so hohem Grad das Verständnis für die kantische Kritik des ontologischen Gottesbeweise abhanden kommen konnte, die doch nur eine historisch bedingte Nutzanwendung eines der allgemeinsten Prinzipien seiner Erkenntnistheorie ist, so kann an der Pflicht, KANT als einen Lebenden zu behandeln, nicht mehr gezweifelt werden.


2. Zweiter Zustand.
Die Normenwelt als Welt transzendenter Gedanken.

Der zweite Zustand des metaphysischen Bildes, das das Verhältnis der objektiv geltenden Wahrheiten zur Erscheinungswelt verdeutlichen Soll, ist durch die Darstellungsmittel der Psychologie zuwege gekommen. Die Skizze zu diesem Bild stammt von PLATO. PLATO stellt die Welt der objektiven Wahrheiten als Ideenwelt schroff der Erscheinungswelt gegenüber. Subjektiv hält die Dialektik diese beiden Welten zusammen, die Dialektik, die im schwankenden und verzerrenden Spiegel der Erscheinung die ewigen Ideen wiedererkennt. Objektiv fallen beide Welten in der Frühzeit Platos vollkommen auseinander, denn die poetischen Vergleichungen, die ihr Verhältnis gelegentlich verdeutlichen sollen, geben keinen Ersatz für die fehlende begrifflichen Vermittlungen. Diese Kluft such der  Timäus  durch den Begriff der Weltseele zu überbrücken. Die Weltseele ist eine Mischung aus Erscheinungswelt und Ideenwelt, die an den Wesenheiten beider teil hat und dadurch die eine mit der anderen versöhnen kann. Dieser platonischen Begriffsbestimmung, die Seele sei eine Mischung, ein Mittelding und eine Vermittlerin zwischen Immateriellem und Materiellem, wohnt eine ganz unglaubliche historische Ausdehnungskraft und Verwandlungsfähigkeit inne. Wir verzichten darauf, diese Behauptung durch die antiken und mittelalterlichen Beispiele des ARISTOTELES, PLOTIN, DUNS SCOTUS, WILHELM von OCKHAM zu belegen, da uns nur daran liegt, das Stromnetz aufzuzeigen, durch das dieser Platonismus in das Denken der Gegenwart eingeflossen ist. Mir scheinen das die Spekulationen der Renaissance über Mikrokosmos und Makrokosmos zu sein. Der alge platonische Gedanke wandelt sich hier in die Form, das All sei dem Menschen deshalb durchsichtig, weil er als Mikrokosmos dem Makrokosmos nur wie ein Abbild oder Auszug gegenüberstehe und all seine Essenzen in schließe. Dieser Auffassung gab CAMPANELLA eine erkenntnistheoretisch bedeutsame Wendung dadurch, daß er lehrte, im Menschen seien aufgrund seiner mikrokosmischen Natur die Proprinzipien, wie die Prinzipien enthalten, die Objekte seiner Erkenntnis werden könnten. Hier haben wir die ursprüngliche Fassung des LEIBNIZschen "Virtuellen Angeborenseins" der Kategorien und den Keim gewisser verhängnisvoller kantischer Bestimmungen über ein angeborenes Vorhandensein der Formen des Geistes. Zunächst nimmt dieser Panpsychismus die logische Gestalt der Alleinheitslehre SPINOZAs an. Hier kleidet sich die platonische "Mischung" von Immateriellem und Physischem in die Unterscheidung adäquater von inadäquaten Erkenntnissen. Weder bei SPINOZA noch beim Panpsychismus aber besteht ernsthaft das Problem, zwischen der zufälligen Einzelerkenntnis und der objektiven Wahrheit zu vermitteln, denn die "Weltseele" oder der Deus, die bei PLATO nur übergreifende Funktionen waren, haben in der Alleinheitslehre Materielles und Immaterielles ganz in sich aufgenommen. Auf dieser Stufe ist also nicht eigentlich die  Wahrheit  problematisch, sondern der Irrtum und zwar hauptsächlich deshalb, weil in dieser neuen Form der platonischen "Mischung" nur  ein  positiv reales Moment vorhanden ist, während für das andere negativ reale Moment PLATOs, die Materie, nur logische Einschränkungen und Verneinungen stehen. Das Vermittlungsproblem vereinfacht sich hier deshalb außerordentlich.

Aus der Alleinheitslehre steigt als nächste Stufe der Solipsimus auf und zwar durch eine Umkehrung des Vorzeichens: durch Regierung des Alls und alleinige Bejahung des Individuums. Doch diese Änderung des Vorzeichens bringt noch keine Änderung der Problemstellung: Auch für diese Stufe besteht die Frage nicht, denn jetzt tritt einfach das empirische Individuum an die Stelle des Absoluten, da es jetzt nichts außer individuellen Bewußtseinsinhalten geben kann. Der Unterschied von der Alleinheitslehre ist nur, daß in dieser Bewußtsein und Bewußtseinsinhalt in einem gemeinsamen Oberbegriff, dem Absoluten, enthalten sind, wohingegen im Solipsismus das Bewußtsein dem Bewußtseinsinhalt deshalb übergeordnet ist, weil es diesen Inhalt aus sich hervorbringt.

Das Problem, zwischen den an sich geltenden Wahrheiten und dem psychologischen Denkverlauf zu ermitteln, tritt als rechschaffenes Problem erst da wieder auf, wo ein  ursprüngliche Vielheit  solcher Denkverläufe und eine unabhängig davon geltende Wahrheit angenommen wird, das heißt also auf dem gegenwärtig endlich wieder errungenen Standpunkt des naiven Bewußtseins. Leider aber verbindet sich mit der unbefangenen Auffassung des Problems immer wieder die Erinnerung an PLATOs Lösung des Problems. Man konstatiert die Selbständigkeit der einzelnen Denkverläufe nur als eine Vorläufigkeit, die den Ausblick auf eine letzte Gemeinsamkeit allen Denkes nicht verdecken darf. Die "letzte Gemeinsamkeit" ist die neue Gestalt der platonischen Mischung; sie hat ebenso teil am erkennenden Individuum, wie an der geltenden Wahrheit. Diese Auffassung und Lösung des Problems ist zunächst nichts als eine genaue Umkehrung des platonischen Verfahrens. PLATO geht deduktiv von den Ideen zum Individuum; die heutigen Denker gehen umgekehrt induktiv vom Individuum zu den Ideen. Immerhin entstehen dadurch nicht bloß zwei Ansichten der gleichen Sache. Das umgekehrte Verfahren ist in gewissem Sinne auch ein neues Verfahren. Das sieht man an gewissen Veränderungen des Begriffes, der zwischen den geltenden Wahrheiten und dem invididuellen Denken vermittelt. Während die platonische Weltseele eigentlich nichts ist, als ein verklärter Begriff des Lernens überhaupt und während sie ihrem wichtigeren Teil nach den  Ideen  zugehört, zeigt der moderne Vermittlungsbegriff eine fraglose Analogie mit Verhältnissen, in denen Individuen sich zu einem gemeinsamen Handeln vereinen. So wird aus dem, seiner Herkunft nach individuell psychologischen Begriff der Weltseele ein Vermittlungsbegriff, der gesellschaftliche,  soziale  Züge trägt.

Wie im Gesellschaftlichen die Willkür der einzelnen handelnden Individuen ihr Maß findet am Ethisch-Sozialen, so steht über der Willkür des einzelnen Denkens ein Intellektuell-Soziales. Es sind jetzt zwei Fälle möglich.
    Erstens kann dieses metaphysisch-psychologische Massenwesen ein letztes  X  sein, das durch die bloße Tatsache seiner Existenz für die Möglichkeit objektiver Wahrheiten im subjektiven Erkennen gut ist. Diese Meinung zeitigt alle die Theorien, die sich mit einem bloßen  "metaphysischen Zusammenhang"  zwischen den erkennenden Individuen zufrieden gaben.

    Zweitens kann die formale Beschaffenheit des fraglichen Massenwesens das Entscheidende sein. Hat ein Massenwesen überhaupt eine Verfassungsweise, so nennt man diese eine Organisation. Soll mithin bei der Verfassungsweise des transzendenten Etwas die Entscheidung stehen, so ist die Objektivität letztlich auf eine bestimmte  Organisation  jenes  X  begründet.
Beide Möglichkeiten haben eine geschichtliche Vertretung gefunden. Für die erste Auffassung steht der Systematik SCHUPPE ein. Er sagt in seiner "Erkenntnistheoretischen Logik", Seite 658:
    "Es ist mir ein ganz vertrauter Gedanke, daß und wie der Begriff "Mensch" gar nicht denkbar wäre, wenn nicht eine Mehrheit gleichartiger Individuen gedacht wird, ein tatsächlicher, wenn auch noch so geheimnisvoller Zusammenhang tiefster Art unter den Menschen-Individuen existiert. Was hat denn der bloße Begriff der Wahrheit, was die Zahl aus sich allein mit der Wahrheit und Unwahrheit zu tun? Nur unter der Grundvoraussetzung, die zu meinem Wesen gehört, daß mir jener bestimmte Teil des Bewußtseinsinhaltes mit den wahrgenommenen Mitmenschen gemeinsam ist und ferner unter der Voraussetzung, daß es bestimmte, nur individuelle Ursachen vermeintlicher Wahrnehmungen gibt, kann die Mehrheit der Übereinstimmenden zu dem Schluß führen, daß eine Wahrnehmung nicht ihren Ursprung in meinen individuellen Zuständen haben kann, sondern zu dem gehört, was der Grundvoraussetzung nach aus der Natur des Menschenwesens mit mit ihnen gemeinsam sein muß als die sogenannte Wirklichkeit."
Im Sinne der zweiten Auffassung deutet der  Historiker  WINDELBAND KANTs transzendentale Apperzeption (26): "Deshalb kann der Grund der Objektivität nur darin gesucht werden, daß im tiefsten Grund des individuellen Bewußtseins eine allgemeine Organisation tätig ist, welche nicht sowohl in ihrer Funktion selbst, als vielmehr in ihren Produkten vor das individuelle Bewußtsein tritt ... Das Gegenständliche also in unserem Denken beruth auf einer  überindividuellen Funktion,  welche gleichmäßig den Untergrund aller individuellen Vorstellungstätigkeit bildet, auf dem  Bewußtsein überhaupt."  (27)

Wir bemerken zunächst dasselbe, was wir bei den Platonismen der Elementarbegriffe festgestellt hatten, daß die verschiedenen Formen, die jenes metaphysische Objektivitätsideal ausdrücken, nur durch die Verschiedenheit der verwendeten Analogien differieren und ohne sachlichen Schaden aufeinander zurückzuführen sind. Man darf dann auch wohl annehmen, daß ihr Grundgedanke überhaupt zum festen Bestand der Auskünfte für philosophische Verlegenheiten gehört und sieht sich damit vor die Pflicht gestellt, diesen Grundgedanken herauszuarbeiten und seinen Erklärungswert zu prüfen.

Man wird es dem Grundgedanken dieser Theorie zunächst nicht abstreiten können, daß sich der Platonismus in ihm erheblich verfeinert hat. Er ist in dieser Begründung der Objektivität nicht mehr als existenziales Moment vertreten, wie in der objektiv-realen Welt HARTMANNs, sondern als anthropologisches. Es ist nun festzustellen, welches die eigentlich erkenntnistheoretisch wirksamen Bestandteile in diesem Anthropologismus sind. Die angeführt Stelle aus WINDELBAND sagt uns, ein objektiv geltendes Urteil entstehe dann, wenn die Gattungsvernunft in uns denkt, ein subjektiv geltendes dann, wenn das Individuum nur aus eigenen Mitteln denkt. Die Gattungsvernunft aber erhält ihren Vorrang vor der individuellen Vernunft nicht deshalb, weil sie bestimmte neuartige Verbindungsweisen der Inhalte unseres Erkennens einführt. Danach ist das Wirksame in der Gattungsvernunft nicht  logischer Natur,  denn das Einbezogensein in sie läßt ja die  logischen Inhalte  unseres Erkennens unverändert. Als einziges auszeichnendes Merkmal bleibt somit den Gedanken, die die Gattungsvernunft denkt, die  Größe des Bewußtseinskreises,  der sie einschließt. Der eigentliche Stammwert dieses Ideales ist also ein psychologischer, denn ihm bedeutet die Objektivität nicht eine bestimmte Beschaffenheit der logischen Inhalte unseres Erkennens; er macht sich vielmehr davon abhängig, ob diese Inhalte in einen großen oder kleinen Bewußtseinskreis einbezogen sind. Ist aber der Umfang dieses Kreises das letztlicht Entscheidende, so ist der größte Bewußtseinskreis auch das allumspannende Objektivitätsprinzip. Wir wollen sehen, wie man sich ein solches, "weitestes Bewußtsein" denken kann, das schließlich die Objektivität aus sich entläßt und das, der Voraussetzung gemäß, allem Logischen vorangehen soll.

Die nächste Auskunft ist die, sich dieses weiteste Bewußtsein als eine Kollektivintelligenz, als eine Verallgemeinerung der Bewußtseinszustände der einzelnen Individuen zu denken, wenngleich genau besehen auch dieses Urteil schon die Anerkennung eines logischen Wertes, nämlich den der Allgemeinheit einschließt. Ein solches Massenbewußtsein aber, das ebenso vielfarbig wie seine Bestandteile ist, gibt nun und nimmermehr eine brauchbare Form der Objektivität, sondern, da es alles gleichmäßig verallgemeinert, nur ein gemeinsames Chaos von Gedanken, Gefühlen und Gestalten. Dieser Folge kann man dadurch nicht vorbeugen, daß man sagt, in jenem transzendenten Etwas seien eben nur die objektiven Bestandteile der Bewußtseinsinhalte verallgemeinert, denn man weiß ja noch gar nicht, was objektiv und was subjektiv ist, begeht mithin eine ignoratio elenchi [Ignorieren des Gegenbeweises - wp], wenn man es voraussetzt. Diese Hypothese führt daher im besten Fall zu einer Multiplikation der individuellen Erscheinungswelten. Für unser Unternehmen aber: Methoden festzustellen, durch die rein inhaltlich charakterisierte logische Gruppen aus dem Chaos des unmittelbaren Erfahrens herausgehoben werden können, hat sie sich bislang als unnütz erwiesen.

Das gilt auch von einem letzten hier zu besprechenden Versuch, die fragliche Hypothese in bestimmter Richtung weiter zu bilden und logisch zu verwerten. Dieser Versuch arbeitet mit einem erheblich besser durchdachten Plan, das weiteste Bewußtsein vorstellig zu machen. Die Gläubigen der in Rede stehenden Metaphysik können sagen: Gewiß, dieses Verfahren ergibt zunächst nur eine Multiplikation subjektiver Erscheinungswelten, aber eben bei dieser Multiplikation summieren sich verschiedene Bestandteile zu einer die übrigen so überwältigenden Mehrheit, daß wir wohl berechtigt sind, sie als die objektiven Bestandteile der Welt anzusehen. Diese Anschauungsweise ist der vorhergehenden dadurch überlegen, daß sie bereits eine gewisse Sichtung und Anordnung des gegebenen Materials vornimmt. Dadurch werden ja allerdings die Wahlgrundsätze, die diese Sichtung leiten, zu den eigentliche Objektivitätsprinzipien. Wir wollen indessen den Einwand, der sich aus dieser Tatsache machen ließe, unterdrücken und vielmehr sehen, zu was für einem Wahrheitsideal man auf die beschriebene Weise kommt. Mir scheint, diese Methodik ergibt einen Erfahrungsbegriff, den ich, in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, einen metaphysischen Relativismus nennen will.

Der Sinn und Wert dieses Begriffes wird am besten klar werden, wenn man seinem zu weit genannten Bestandteil, dem Relativismus und seiner klassischen Vertretung durch DAVID HUME nachgeht. HUME kannte auf seiten der Objekte nur einzelne Dinge in unverbundenem Beisammensein, auf seiten der Subjekte als  Gegebenheit  nur die Wahrnehmung des Beisammenseins, als psychologischen  Reflex  nur den aus öfterer Wiederholung der Wahrnehmung resultierenden Glauben an die Wiederkehr des Verbundenseins. Er kannte also nur Urteile mit einer progressiv fortschreitenden Gewißheit des Glaubens von Null bis Unendlich eine prinzipielle, ihn aus der Psychologie erlösende Unterscheidung der Urteile nach ihrer inneren Struktur in Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteile vermochte er nicht zu geben. Auf dieses von KANT überstiegene Niveau sinkt man mit der Annahme einer derartigen, nach quantitativen Prinzipien auswählenden übergreifenden Funktion zurück, denn diese Funktion setzt im besten Fall anstelle der Wahrnehmungsinhalte des einzelnen Individuums die Wahrnehmungsinhalte eines metaphysischen Kollektivindividuums; damit aber verändert sie an der prinzipiellen Struktur der Inhalte nichts, wie das doch gerade der Sinn des kantischen Erfahrungsurteils ist. Sie verallgemeinert nur die psychologische Folge der Vorstellungen ins Unermeßliche, das aber ist sozusagen eine Verallgemeinerung nach einer unrichtigen Dimension hin, denn auf diese Weise kommt man nie zur Folge der  Sachen,  die in diesen Vorstellungen gemeint sind. Diese Theorie schafft nichts Neues, wenn sie die Vorstellungsfolge aus der individuellen Vernunft in die Gattungsvernunft projiziert; sie bleibt dann nur der Gattung der Individuen, statt dem einzelnen Individuum verhaftet, damit aber rechtfertigt sie die scheinbar widerspruchsvolle Bezeichnung dieses Objektivitätsideals als eines metaphysischen Relativismus.

Die letzten Untersuchungen haben uns eine eigentümliche Machtlosigkeit des Bewußtseins gegenüber den objektiven Inhalten gezeigt, die doch gleichwohl in ihm eingebettet sind. Dieses Ergebnis stellt uns vor die schwere Frage, ob denn überhaupt das Bewußtsein zum definitorischen Wesen der Objektivität gehöre und ob nicht vielmehr alles in der Gesetzlichkeit der Inhaltsbeziehungen liege. Bewußtsein ist etwas Existenziales, Empirisches, Zufälliges; Objektivität etwas Logisches, Reines, Notwendiges - können diese beiden außer psychologischen Realbeziehungen auch logische Idealbeziehungen haben? Daß das Bewußtsein in irgendeiner Form zur Begründung der Objektivität notwendig sei, was bis vor kurzem ein anerkanntes Dogma. Ein Logiker der Gegenwart aber hat dieses Dogma mit siegreichen Gründen bekämpft; man wird daher wohl oder übel in diesem Punkt umlernen müssen. Nach HUSSERLs Untersuchungen (28) gründen die Gesetze der Objektivität rein im Spezifischen gewisser Akte, da diese Akte keineswegs bloß insofern objektiv sind, als sie sich gerade in der Organisation der menschlichen Intelligenz zusammenfinden. "Die differenzierenden Eigentümlichkeiten des jeweiligen Typus einer psychischen Organisatioin, das, was zum Beispiel das  menschliche  Bewußtsein als solches, in der Weise einer naturhistorischen Art, abgrenzt, wird durch  reine  Gesetze, wie es die Denkgesetze sind, gar nicht berührt." Das Bewußtsein bringt nichts Spezifisches zur Objektivität hinzu und ist für sie daraum kein echtes logisches a priori. Das logische a priori betrifft vielmehr nur das, "was zum idealen Wesen des Verstandes überhaupt gehört, zu den Essenzen seiner Aktarten und Aktformen, zu dem also, was nicht aufgehoben werden kann, solange der Verstand, bzw. die ihn definierenden Akte sind, was sie sinde: so und so geartet, ihr begriffliches Wesen identisch erhaltend." Indessen - die alten Denkgewohnheiten wirken nach. Wenn die objektiv gültigen Sätze sich nicht mehr durch das der Metaphysik verdächtige Medium des Bewußtseins auf das spezifisch menschliche Denken beziehen dürfen, so scheint es unbedingt nötig, ihnen eine solche Beziehung ausdrücklich auf einem Weg zu verschaffen, der keine Schleife über ein transzendentes Gebiet macht. Dieser Wunsch ist der Vater des Gedankens, zwischen die Wahrheiten an sich und die Wahrheiten als psychologische Erlebnisse, vermittelnde Glieder ethischer Natur einzuschieben. Die Betrachtung dieser Zwischenglieder führt uns zum zweiten, früher angekündigten Bild, das durch ethische Darstellungsmittel das Verhältnis zwischen der psychologischen Tatsache der Evidenz und der logischen Tatsache der Wahrheit faßlich machen will.

LITERATUR - Friedrich Kuntze, Die kritische Lehre von der Objektivität - Versuch einer weiterführenden Darstellung des Zentralproblems der kantischen Erkenntniskritik, Heidelberg 1906
    Anmerkungen
    25) EDUARD von HARTMANN, Kategorienlehre, 1896, Seite 168f
    26) WILHELM WINDELBAND, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. II, Seite 76, 77f.
    27) Historisch geht diese Auffassung der transzendentalen Apperzeption als überindividuelle Organisation wohl auf FRIEDRICH ALBERT LANGE zurück. LANGE, Geschichte des Materialismus II, Leipzig 1896). Dagegen RIEHL, Kritizismus I, Seite 380. LANGE versah sie später, nachdem er COHEN kennen gelernt hatte, mit wesentlichen Kautelen [Vorbehalten - wp], Seite 126. An dieser Stelle nennt er REINHOLD als den, der zuerst der Organisation in der Transzendentalphilosophie, übrigens in einer durchaus ablehnenden Kritik Erwähnung getan habe. WINDELBANDs eigene systematische Überzeugungen verschmähen nebenei diese "überindividuelle Funktion" durchaus. Siehe Präludien, 2. Auflage, 1903.
    28) EDMUND HUSSERL, Logische Untersuchungen, Bd. II. Seite 669f