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OTTO LIEBMANN
Kant und die Epigonen
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"Der Materialismus hält seine Lehre für sehr plausibel, weil er von der  Materie,  als der solidesten Basis ausgeht, die jeder mit Händen greifen kann. Nun braucht aber nur jemand zu fragen: "Ja, was ist denn aber Materie?" so ist es schon mit seiner Weisheit zu Ende; denn es zeigt sich, daß er immer nur die  Prädikate  derselben, nämlich die sinnlichen Qualitäten kennt, während das  Subjekt: Materie,  welches allen den bekannten Sinnesempfindungen als  ekmageion  [als Wachstafel - wp] zugrunde liegen soll, in der Tat nichts als ein ganz unbekannter Urgrund, ein leerer, durchaus leerer Begriff ist, kurz eine taube Nuß."

"Was uns hier interessiert, ist, daß die Kategorien, als allgemeine synthetische Erkenntnisformen, nicht unmotiviert aus dem Subjekt ins Objekt hinübergreifen, sondern daß sie vielmehr erst durch das Bedürfnis nach Erkennen und Wissen, zuerst unbewußt, in Wirksamkeit gesetzt, allmählich dann durch Übung und Gewohnheit konkret zu Bewußtsein gebracht werden, bis sie endlich als abstrakte Begriffe aus dem lebendigen Vorstellen ausgesondert und erfaßt werden können; daß sie, auf irgendwelches Motiv in der Frage erstrebt werden, in der Antwort zu anschaulicher Geltung kommen; überhaupt aber, daß das abstrakte Erkennen nicht die erste Tatsache des Geistes ist, sondern aus dem Gebiet des unmittelbaren Vorstellens, der unsagbaren Empfindung erweckt und hervorgetrieben wird."

Erstes Kapitel
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants
    "Manches Urteil wird aus Gewohnheit angenommen oder durch Neigung geknüpft; weil aber keine Überlegung vorhergeht oder wenigstens kritisch darauf folgt, so gilt es vor ein solches, das im Verstand seinen Ursprung erhalten hat." - Kritik der reinen Vernunft, 1. Ausg., Seite 260
Es ist unsere Aufgabe, den echten Gehalt der Kantischen Lehre von der unreinen Schlacke zu scheiden. Hierzu ist vor allem nötig, daß wir uns die Hauptpunkte seines Raisonnements in ihrem Zusammenhang vor das Gedächtnis führen; und wir müssen daher um die Erlaubnis bitten, in kurzen, gedrängten Worten dem Leser das noch einmal darzulegen, was ihm schon längst bekannt ist. Versetzen wir uns also nach epischer Weise sofort in medias res! Folgendes ist die Hauptlehre, die Quintessenz der Kritik der reinen Vernunft:

"Unser ganzes Vorstellen besteht in Anschauen und Denken, jede Vorstellung ist inutitiv oder abstrakt. Alles Anschauen aber findet im Raum und in der Zeit statt und kann außer ihnen nicht stattfinden. Alles Denken ferner kann erstens an sich (als Funktion des intelligenten Subjekts) nur in der Zeit vor sich gehen und bezieht sich außerdem immer auf das in der Anschauung (also in Raum und Zeit) Gegebene.  Also sind Raum und Zeit Formen und Bedingungen allen Vorstellens. 

Raum und Zeit sind nicht aus den Anschauungen abstrahiert, da sie vielmehr vorhanden sein müßten, wenn überhaupt irgendwelche Anschauung subjektiv und objektiv möglich sein soll. Daher können wir uns zwar alles in Raum und Zeit Daseiende hinwegdenken, Raum und Zeit selbst aber schlechterdings nicht; denn mit ihnen zugleich würde nicht nur die empirische Welt, sondern zugleich unser Intellekt, ja unser Ich hinwegfallen, von ihm selbst hinweggedacht werden, was unmöglich ist. In den Sätzen der Mathematik sprechen wir ferner lauter Bestimmungen des Raumes und der Zeit aus, die wir nicht aus der Erfahrung geschöpft (a posteriori erkannt) haben, sondern vielmehr unabhängig von ihr, rein vermöge der Gesetze unseres Intellekts (a priori) für unumstößlich gewiß, d. h. für schlechthin  allgemein  und  notwendig  erklären. Endlich sind Raum und Zeit keine diskursiven, sondern intuitive Vorstellungen, denn sie verhalten sich den, ihnen logisch untergeordneten Vorstellungen (verschiedenen Räumen und Zeiten) nicht wie die Gattung zur Art, sondern wie das Ganze zu den Teilen.

Also sind Raum und Zeit notwendige, reine Anschauungen a priori. (Funktionen des Intellekts).(1)

Raum und Zeit sind aber auch nur insofern notwendig, als sie "Bedingungen der Möglichkeit aller inneren und äußeren Erfahrung sind." Abstrahieren wir von der Erfahrung und dem Vorstellen überhaupt, so sind Raum und Zeit Nichts, d. h.  Raum und Zeit sind von empirischer Realität und transzendenter Idealität. 

Dies ist der Inhalt der  transzendentalen  Ästhetik", welche die eigentliche Basis und das wahrhaft Neue und Epochemachende der Kantischen Philosophie enthält. - Was den Gehalt der nun folgenden "transzendentalen Analytik, als ersten Teil der transzendentalen Logik" anlangt, so wollen wir bemerken, daß die Kategorientafel, sowie verschiedenes Andere einer bedeutenden Vereinfachung bedürftig und fähig ist. Ohne uns daher auf das unwesentliche Einzelne dieses Abschnittes einzulassen, geben wir nur das wesentliche Allgemeine:

Die in Raum und Zeit gegebene Mannigfaltigkeit von Elementen der Erfahrung (der Stoff des Vorstellens) kann erst dadurch wirklich zur Erfahrung werden oder als zusammenhängende Welt von anschaulichen Gegenständen in das Bewußtsein treten, daß sie durch gewisse Synthesen unseres Intellekts (Kategorien) verknüpft wird. Diese Synthesen können wir, wie HUME richtig bemerkt hat, nicht aus der Erfahrung geschöpft haben, da diese uns eben nur eine Vielheit von  nach  und  nebeneinander  gegebenen Eindrücken des (inneren und äußeren Sinnes, niemals aber den  notwendigen Zusammenhang  derselben liefert.  Also  sind die Kategorien, ebenso wie Raum und Zeit, Funktionen des erkennenden Subjektes, (2) d. h. notwendige Vorstellungen  a priori.  Und da sie nur innerhalb von Raum und Zeit gedacht werden können, so beziehen sie sich auch nur auf räumliche und zeitliche Gegenstände, d. h. haben nur in unseem Intellekt Gültigkeit. (3)

Demnach findet ganz bestimmt folgende Wechselbeziehung statt:
    1)  Unser Intellekt erkennt nur die in Raum und Zeit gegebenen Elemente der Erfahrung, verknüpft von den Kategorien, als Objekt.  (4)

    2)  Alles, was in Raum und Zeit gegeben ist, also alles, worauf die Kategorien anwendbar sind, hat nur in Beziehung auf den Intellekt Gültigkeit und ist daher, unabhängig von demselben, Nichts.  (5)
Hiernach steht also die Sache so:

Die äußere Sinnenwelt der körperlichen Dinge, sowie die innere Welt unserer geistigen Eigenschaften und Tätigkeiten (also das Objekt der inneren und äußeren Erfahrung, d. i. alles in Raum und Zeit Gegebene) ist keineswegs ihrer Existenz und Wirklichkeit (empirischen Realität) beraubt; vielmehr existiert sie ebenso gewiß, als Ich, das vorstellende Subjekt, existiere. (6) Aber ebenso gewiß, wie diese Tatsache ist auch, daß, wenn ich dieses Subjekt mit seinen intellektuellen Funktionen (Raum, Zeit und Kategorien) aufhebe, zugleich die materielle und geistige Welt verschwindet, da sie eben nur in und durch die Formen des Intellekts existieren kann. (7) Das heißt also: Subjekt und Objekt der Erkenntnis hängen durch jene, ihnen gemeinsamen, transzendentalen Formen ihrer Existenz so innig, so notwendig miteinander zusammen, daß sie nur  mit einander bestehen können, notwendige Korrelate sind, zugleich stehen und fallen. - Da Ich nun aber, das erkennende Subjekt, nicht souverän über diesen beiden unzertrennlichen Faktoren der tatsächlich vorgestellten, d. i. empirischen-realen Welt, stehe, sondern, auf ewig in die Schranken meines subjektiven Intellekts gebannt, mit dem einen Faktor identisch zusammenfalle, so spreche ich die Abhängigkeit der beiden Erkenntnisfaktoren so aus, daß ich der empirischen Welt (dem Objekt der Erfahrung), trotz ihres faktischen Daseins (ihrer empirischen Realität) unbedingte Abhängigkeit vom Dasein meines Intellekts (transzendentale Idealität) beilege. (8)

Indem wir mit gespanntester Aufmerksamkeit diese merkwürdige Gedankenreihe verfolgen, finden wir alles mit so scharfer, rücksichtsloser Konsequenz, so tiefer Gedankenklarheit auseinander entwickelt, daß es uns geradezu überzeugen  muß,  daß uns gleichsam die Schuppen von den Augen fallen, daß es uns zumute ist, wie der Welt nach den Entdeckungen des KOLUMBUS und KOPERNIKUS. Aus der transzendentalen Idealität von Raum und Zeit und der Einschränkung der Kategorien auf die, in jenem gegebenen Data der inneren und äußeren Erfahrung folgt die durchgängige Abhängigkeit der wirklichen, empirisch-realen Welt vom erkennenden Subjekt und umgekehrt. Der Standpunkt eines transzendentalen Idealismus, welcher de facto den empirischen Realismus involviert, ist durchaus folgerichtig entwickelt; und bis hierher ist denn auch die Kantische Philosophie unwiderleglich. Freilich haben wir, um das reine Gold der Wahrheit zu gewinnen, schon auf dem bisher verfolgten Weg manche unechte Schlacke abgestreift und weggeworfen. Wir haben daher insofern ein eigenmächtiges Verfahren beobachtet, als wir bei jener Scheidung Gedanken auseinandergelöst haben, die bei KANT vereinigt sind. Wir haben nur auf die Wahrheit gesehen und der Unwahrheit den Rücken zugewendet. - Jetzt müssen wir nun jene Inkonsequenz aufweisen, die, während sie in unserer Darstellung weggelassen wurde, bei KANT fast schon im Anfang mit der Wahrheit verquickt ist. Diese unglückliche Inkonsequenz, welche bereits in den ersten Akkorden des Kritizismus störend mißlingt, schwillt im weiteren Verlauf bis zur schreienden, unerträglichen Dissonanz, so daß sie den an sich großen, erhabenen Eindruck des Ganzen geradezu vernichtet. Es wird unsere Aufgabe sein, diesen beklagenswerten Fehler bloßzulegen und auszumerzen, aber auch die Bedingungen zu entwickeln, aus denen er erwachsen konnte.

Daß KANT seiner ursprünglichen Lehre nicht durchgängig treu geblieben ist, wußte man schon länger. Allgemeiner beachtet worden ist die Tatsache, seit ARTHUR SCHOPENHAUER genau die Differenzen zwischen der  ersten  Ausgabe der "Kritik der reinen Vernunft" und allen folgenden nachgewiesen, ROSENKRANZ in seiner synoptischen Ausgabe dieselbe dem Publikum vorgelegt und KUNO FISCHER in lichtvoller und schöner Weise auseinandergesetzt hat. (9) Wenn aber in der veränderten Deduktion der Kategorien und der, von der zweiten Ausgabe an hineingeflickten Kritik des Idealismus (10) allerdings eine Untreue KANTs gegen sich selbst liegt, so ist etwas viel Schlimmeres bisher fast übersehen worden, das schon in der  ersten Gestalt  der Kantischen Lehre verborgen liegt, wie der Wurm in der Frucht. Es ist hineingekommen, indem er der dogmatischen Philosophie Konzessionen machte und dadurch die eigene Existenz seiner Philosophie in Frage stellte. Im Allgemeinen besteht diese Inkonsequenz darin: Während aus der transzendentalen Ästhetik und der, von KANT selbst hervorgehobenen und oft wiederholten Tatsache, daß der theoretische Intellekt nur innerhalb seiner Erkenntnisformen oder mittels seiner Funktionen erkennen darf und irgendetwas, was außer diesen und unabhängig von ihnen existieren sollte, ihm gar nicht in den Sinn kommen kann,  notwendig folgt,  daß wir etwas Außerräumliches und Außerzeitliches durchaus nicht vorzustellen oder gar zu denken vermögen, läßt sic KANT von vornherein doch dazu herbei, ein solches, von den Erkenntnisformen emanzipiertes, als irrationales Objekt anzuerkennen, d. i. etwas vorzustellen, was nicht vorstellbar ist - ein hölzernes Eisen. Er tut dies gradatim [Schritt für Schritt - wp] in einer Stufenreihe, welche näher zu betrachten ebenso interessant, als für die Lösung dieser Aufgabe nützlich ist.

Zunächst nennt er die in Raum und Zeit gegebene Mannigfaltigkeit von Datis der inneren und äußeren Erfahrung:  Erscheinungen.  - Wie kommt er darauf? Was berechtigt ihn dazu? Die Welt darf und muß sich diesen Titel verbitten; denn sie wird durch ihn ihrer Dignität, der ihr zugestandenen empirischen Realität, d. i. Wirklichkeit verlustig. Im Titel  Erscheinung  würde offenbar das liegen, daß etwas vorausgesetzt werden solle,  was  erscheint - nämlich als empirische Welt. Wenn aber alles in Raum und Zeit Gegebene "Erscheinung" ist, so müßte das,  was  erscheint, das vorgebliche Substrat der Erscheinung,  nicht  in Raum und Zeit sein. Da nun Raum und Zeit notwendige Formen des Intellekts sind, so wäre dies etwas, was dieser, unser Intellekt, gar nicht zu fassen vermöchte, wovon er also auch nicht reden könnte. Ein außerhalb von Raum und Zeit Liegendes ist ein für allemal -  Unsinn.  Selbst wenn also die räumlich-zeitliche Welt nur "Erscheinung" wäre, so würde sie es  für den Intellekt nicht  sein, da dieser schlechthin nicht fähig ist, die Welt in Raum und Zeit mit irgendetwas anderem zu vergleichen, weil diese eben  alles  ist.  Demnach darf sie nicht "Erscheinung" betitelt werden. 

Konstatieren wir dies und gehen wir weiter!

Schon in der transzendentalen Ästhetik finden wir die weitere Konsequenz dieses  proton pseudos  [erste Lüge / error fundamentalis - wp] Da stellt sich nämlich zur rechten zeit ein "Ding an sich" ein, welches  den  Erscheinungen zugrunde liegen mag." (11) Dies soll nun eben das außerräumlich und außerzeitliche Substrat der Welt sein, dessen bevorstehende Ankunft uns schon im unberechtigten Titel "Erscheinung" leise angekündigt war.
    Da seht, daß Ihr tiefsinnig erfaßt,
    Was in des Menschen Hirn nicht paßt.
Von diesem überflüssigen Anhängsel heißt es nun Seite 286 und 290:  es sei problematisch, ja es sei etwas, von dem wir weder sagen können, es sei möglich, noch es sei unmöglich.  Nun möchte ich in der Tat wissen, wie man überhaupt von einer Sache reden kann, wenn man nicht einmal über ihre Möglichkeit oder Unmöglichkeit im Klaren ist. Dies ist deutlich gesprochen ein problematische Etwas ohne Inhalt, von dem wir gar nichts wissen können, also nur eine dunkle Phrase für das einfache, ehrliche "Nichts".

Unbekümmert hierum spricht er Seite 358 vom "Ding an sich" als von dem, welches "der Erscheinung zum Grunde liegt" und Seite 538 "zum Grunde liegen  muß."  - Wir sehen also, wie der, zuerst nur leise geduldete Fremdling die Frechheit hat, aus der Sphäre des  Problematischen  durch die des  Assertorischen [als gültig behaupteten - wp] zu  apodiktischer  [logisch zwingender, demonstrierbarer - wp] Gültigkeit sich vorzudrängen. (12) Ein echter Parasit das!

In den Prolegomenis und den späteren Schriften ist dieses notwendige Dasein des "Dinges an sich" als eine bekannte, über allen Zweifel erhabene Tatsache vorausgesetzt (Prolegomena, Seite 104 und 141). Um aber der Sache die Krone aufzusetzen, wird es schließlich für  eine  Ungereimtheit erklärt, wenn wir die Dinge an sich nicht einräumen wollen." (Seite 163) - Dies ist nun das Äußerste; der Parasit ist unentbehrlich geworden. Honny soit qui mal y pense! [Beschämt sei, wer schlecht darüber denkt. - wp]

Damit ist dann aber auch in der Tat der  Kritizismus  zu Grabe getragen, der  Dogmatismus  triumphiert. Nun bedenke man, daß derselbe Mann dazwischen immer Äußerungen fallen läßt, wie: "Im bloßen Begriff eines Dinges kann gar kein Charakter seines Daseins angetroffen werden." (13) (Aber etwa im  Unbegriff?)  Ferner: "Man kann doch außer sich "nicht empfinden, sondern nur in sich selbst und das ganze Selbstbewußtsein liefert daher nichts, als lediglich unsere eigenen Bestimmungen." (14) Ja diese Aussprüche bleiben in der zweiten und den folgenden Auflagen neben jenen, toto coelo [himmelweit - wp] entgegengesetzten ruhig stehen. - Man könnte dies mit ironischem Seitenblick "die Antinomie der Kantischen Vernunft" nennen. -

Damit ist die klare, nackte Inkonsequenz als Tatsache an den Tag gelegt. Wären wir boshaft oder Gegner KANTs, so schlössen wir mit "Sapienti sat!" [Dem Klugen reicht es jetzt! - wp] hier die Akten und ließen den Karren im Sumpf stecken. Da wir aber erstens das Große, Edle und Wahre in der Lehre des Meisters mit ungeheuchelter Ehrerbietung hochachten und anerkennen, da wir fernder diese ganze Untersuchung begonnen haben, nicht um ihn zu rezensieren, sondern, um aus seinen richtig verstandenen Prinzipien und in reiner Konsequenz entwickelten Gedanken die System seiner Nachfolger zu begreifen und so den Weg zur weiteren Förderung der Wissenschaft zu finden, so können wir uns bei diesem Stand der Sache nicht begnügen, sondern richten zunächst folgende Frage an uns:

Was hat Kanten dazu veranlaßt, diesen so offenbaren Fehler zu begehen? Wie kommt er darauf, ein "Ding an sich" in seine Philosophie aufzunehmen, die für dasselbe doch gar keinen Platz offen läßt?  Denn wir verlangen schlechterdings eine Erklärung, wie einem solchen Meister auf dem Gebiet des spekulativen Denkens ein (wie es scheint) so leicht vermeidlicher Fehler unterschlüpfen konnte. Die Beantworung dieser Frage wird eine Art von Deduktion des Dings an sich sein; nicht ein objektive (in welcher die Gültigkeit dieses Begriffs nachgewiesen würde), sondern eine subjektive (in der die Möglichkeit dargelegt wird, daß und wie ein solcher Gedanke in diesem System vorkommen konnte.) Eine solche Deduktion, welche im Wesentlichen der astronomischen Erklärung einer Finsternis durch Berechnung der obwaltenden Konstellation gleicht, kann nun von verschiedenen Punkten ausgehen. Entweder nämlich sie verfährt psychologisch, indem sie die Bedingungen im menschlichen Geist nachweist, unter denen er in den gedachten Irrtum geraten konnte; oder sie hebt, an den vorhergehenden Entwicklungsprozeß der Philosophie anknüpfend, historisch diejenigen Lehren früherer Systeme hervor, welche als Antezedentien, Vorfahren oder Ahnen des "Dings an sich" erscheinen. Man könnte jenes eine Biographie, dieses eine Genealogie oder auch jenes eine Deduktion a priori, dieses eine a posteriore des "Dinges an sich" nennen. - Es ist offenbar, daß diese beiden Betrachtungen nicht zusammenhanglos nebeneinander stehen, sondern innerlich einander ergänzen, bedingen und erklären, daß die Deduktion daher nur dann vollständig sein wird, wenn wie beides in Erwägung ziehen; und das wird auch geschehen. Wenn wir aber die beiden Betrachtungen, trotz ihrer Zusammengehörigkeit, trennen, die historische vorausnehmen und erst nach weiteren Zwischenuntersuchungen die psychologische folgen lassen, so hat das darin seinen Grund, weil nach unserer Überzeugung KANT selbst sich des Ersteren bewußt gewesen ist, des Letzteren aber nicht und weil diese letzte,tiefer gehende Betrachtung zugleich unser endgültiges, objektives Urteil über die ganze Angelegenheit enthalten wird.

Indem wir nun an diese historische Deduktion gehen, müssen wir uns gestatten, weiter auszuholen; denn es liegt uns vor allem daran, überzeugend zu sein, was im vorliegenden Fall ohne Ausführlichkeit nicht möglich ist.

Alle Philosophie ist ihrem Wesen nach Betrachtung der Welt als eines Ganzen,  - der Welt nach ihrer materiellen und ihrer geistigen Seite; ihr Objekt ist der  Kosmos,  und zwar der  Makrokosmos,  den wir weit hinausdehnen über alle Fixsterne und Nebelflecke und der  Mikrokosmos  im eigenen Ich, den wir bis in die dunkle Region des Ahnens und Fühlens verfolgen: "die Schwelle des Bewußtseins", wie es HERBART, die "petites perceptions", wie es LEIBNIZ genannt hat. So verschieden auch die nach- und nebeneinander auftretenden Systeme der Denker aller Völker und Zeiten in ihren Prinzipien und Folgerungen, in der Idee und der Ausführung sein mögen, jenes Objekt behandeln alle. Die Philosopie will den Gegenstand des Erkennens und Vorstellens nicht passiv hinnehmen, sich oktroyieren lassen, wie der gemeine Menschenverstand; sie will ihn  begreifen,  sich mit ihm auseinandersetzen und dann erst als begriffenen gelten lassen. Und wie der allgemeine Zweck, die Ideen, so ist auch im gewissen Sinne das Mittel das Organon allen Philosophen gemeinsam. Welches ist nun dieses Mittel? Wie sucht die Philosophie ihren Zweck, die begreifende Reproduktion des Kosmos zu erreichen? Auch der Dichter, der Maler, der Komponist dringen ein in die Tiefe der Natur und der Menschenseele und begreifen beide, indem sie sie reproduzieren. Wie unterscheidet sich das Begreifen des Künstlers von dem des Philosophen? Welches ist die spezifische Differenz zwischen künstlerischer und philosophischer Reproduktion? - Dieser Unterschied ist durchgreifen.

Der  Künstler  erfaßt sein Objekt in der  Phantasie  und reproduziert es als  anschaulich Schönes;  der  Philosoph  begreift es  in der Vernunft  und denkt es als  abstrakt  Wahres. - Wer bei der, uns oktroyierten Vielheit von sinnlichen Einzeldingen als Vereinzelten nicht stehen zu bleiben vermag, sondern vom Wissensdrang getrieben, die Einheit im Vielen, die Bedingung des Bedingten, den Kosmos in der Natur such, der philosophiert. Aber das ist nur möglich durch Bildung von Gemeinvorstellungen. Indem ich diese bilde, muß ich von dem, was an einer Anzahl von Objekten nicht gleichartig, also relativ gültig ist, absehen,  abstrahieren. Abstraktes Vorstellen  ist das Mittel, das Organon der  philosophischen  Erkenntnis im Gegensatz zum  intuitiven  des  Künstlers. 

So suchten nun also die verschiedenen Philosophen auf dem Weg des abstrakten Denkens dem Wesen oder Grund der Welt näher zu kommen. Mochten sie als Empiristen von den materiellen oder als Rationalisten von den geistigen Datis der Erfahrung ausgehen, sie verfolgten  diesen  Zweck mit  diesem  Mittel. Doch nicht allein  Zweck  und  Mittel,  sondern auch (was befremdender klingen mag) die  Resultate  aller verschiedenen Systeme kommen, trotz ihrer scharfen Verschiedenheiten, in einer  wesentlichen Bestimmung  überein; und das gerade ist für uns von Bedeutung. - Mögen sie nämlich von noch so verschiedenen Prinzipien aus, auf noch so verschiedenen Wegen den Grund der Welt suchen, schließlich langen sie alle  an einem Punkt an, wo das Denken aufhört;  sie stoßen auf irgendein sehr allgemeines Etwas, von geistiger oder materieller Natur, welches sie dann für nicht weiter erforschlich und damit für eine letzte Ursache oder ein innerstes Wesen der Welt erklären. Auf dieses letzte Wesen oder diesen Urgrund wird dann die ganze Mannigfaltigkeit der Welt in irgendeiner Weise reduziert oder aus ihm deduziert; und dann - fällt der Vorhang. Sei dieses Letzte und Höchste nun, wie THALES meint, das flüssige Element oder wie SPINOZA behauptet, die Substanz, oder wie HEGEL will, die Dialektik des absoluten Geistes, -  dies  ist eben allen gemeinsam, daß sie bei einem solchen allgemeinsten Etwas stehen bleiben, es nicht weiter zerlegen und  alles nur  aus diesem  Einen  erklären wollen. Auch diejenigen Philosophen, die wie DEMOKRIT, LEIBNIZ und HERBART nicht in einer Einheit, sondern einer Vielheit den Urgrund der Welt finden, stimmen mit jenen überein, daßsie hier bei einem solchen (aus einer Vielheit bestehenden) Urgrund aufhören. - Gesteht man ihnen nun ihren respektiven Urgrund zu, so mag sich alles in der Welt aus ihm sehr streng und konsequent erklären und ableiten lassen, auch das Genze sich recht schön und erbaulich ausnehmen. Die Vernunft hat ihre Schuldigkeit getan, die Vernunft kann - schlafen gehen. Aber damit ist es leider Nichts! Denn es finden sich immer neugierige Frager, die gern noch mehr wissen möchten, die jenen Urgrund nicht als Letztes anerkennen wollen und wohl gar so boshaft sind, die schlafen gegangene Vernunft eine ratio ignava [faule Vernunft - wp] und den Urgrund ein asylum ignorantiae [Asyl der Unwissenheit - wp] zu nennen.

Gewöhnlich finden sich dann auch sehr bald zu jenen Fragern die betreffenden Antworter, welche das allgemeine Etwas, das zuletzt für den Urgrund gegolten hat, auf ein noch allgemeineres zurückführen, damit den tieferen Grund gefunden zu haben meinen und sich dann ebenfalls auf ihren Lorbeeren ausruhen. Dabei haben sie dann freilich zu bemerken vergessen, daß die Grenze nur  weiter hinausgeschoben, nicht aber aufgehoben,  daß also ihr Gewinn ein ganz relativer ist und daß sich daher sehr bald derselbe bekannte Vorgang des Fragens und Antwortens wiederholen muß. - Die gilt, wie gesagt gleicherweise, von allen Richtungen der Philosophie, vom transzendentalen Idealismus, wie vom Materialismus. Letzterer z. B. hält seine Lehre für sehr plausibel, weil er von der  Materie,  als der solidesten Basis ausgeht, die jeder mit Händen greifen kann. Nun braucht aber nur jemand zu fragen: "Ja, was ist denn aber Materie?" so ist es schon mit seiner Weisheit zu Ende; denn es zeigt sich, daß er immer nur die  Prädikate  derselben, nämlich die sinnlichen Qualitäten kennt, während das  Subjekt: Materie,  welches allen den bekannten Sinnesempfindungen als  ekmageion  [als Wachstafel - wp] zugrunde liegen soll, in der Tat nichts als ein ganz unbekannter Urgrund, ein leerer, durchaus leerer Begriff ist, kurz eine taube Nuß.

Indem sich nun dieser Prozeß im Entwicklungsgang der Philosophie immer und immer wieder reproduzierte, glich im Allgemeinen die menschliche Vernunft dem Kinde, das gern durch den Regenbogen hindurchlaufen möchte und sich darüber verwundert, daß dies schlechterdings nicht gelingen will. Es gewann in der Tat (wie JACOBI richtig bemerkt) den Anschein, als ob "die Wahrheit, anstatt dem Menschen entgegenzukommen, ihn fliehe." (15) Stutzig gemacht durch diese Erscheinung treten dann ab und zu Männer auf (Skeptiker), welche die Philosophie zur Vernunft bringen wollen, indem sie ihr sagen, sie werde doch nie zum Ziel kommen. Diese gleichen solchen, die jenem Kind sagen: "Der Regenbogen ist zu weit"" Das Kind wird hierauf wohl zwar seine Bemühungen aufgeben, aber überzeugt von der Unausführbarkeit seines Vorhabens wird es nicht sein. Dies könnte es vielmehr erst dann, wenn ein Verständiger es belehrte, daß das bunte Phänomen nicht etwas Konsistentes, kein an das Himmelsgewölbe gehefteter Bogen, sondern ein Reflex der Sonnenstraheln in den ihnen gegenüber herabfallenden Regentropfen ist, daß es daher immer vor uns entfliehen muß, so lange die Regenwand  vor  den Augen schwebt und die sinne hinter uns am Himmel steht, usw. Auf diese Belehrung hin würde ein gescheites Kind seine fruchtlosen Bemühungen aufgeben, da es einsähe, daß dieselben töricht und ohne Erfolg sind und daß das Erstrebte etwas ganz anderes ist, als wofür es gehalten wurde, nämlich nichts Festes, Greifbares, sondern bloß ein sichtbares Verhältnis. - Ein solcher verständiger, belehrender Mann hat sich nun aber für den philosophierenden Menschengeist gefunden; leider freilich hat er ihn nicht vollständig, sondern nur zum Teil belehrt und daher die Torheit nicht ganz vernichtet, obgleich er uns von der reinen, echten Wahrheit ein gutes dankenswertes Stück mitgeteilt hat. Dieser Mann ist IMMANUEL KANT.

KANT hatte es zunächst mit der LEIBNIZ-WOLFFschen Philosophie zu tun. In dieser nun gibt es, wie in allen früheren, auch ein solches Letztes und Allgemeinstes, welches nicht weiter begründet wird. Sie behandelt dieses, unter Voraussetzung der Logik, in der "Ontologie" und nennt es  Ding (ens). Indem sich KANT zunächst belehrend an die LEIBNIZ-WOLFIANER wendete, mußte er natürlich, um ihnen verständlich sein zu können, ihre Sprache reden, er mußte also auch (und zwar hauptsächlich) das "Ding" behandeln. Da er aber, seinen Prinzipien gemäß, alles und jedes Objekt der Erkenntnis für ein Korrelat des Subjekts erklären mußte und die Wolfianer unter dem "Ding" nicht ein solches Korrelat, sondern etwas schlechthin Unabhängiges, Allgemeines, aber auch ganz Leeres verstanden, so nannte er es, um diese vorgebliche Unabhängigkeit auch vom Subjekt der Erkenntnis und dessen allgemeinen und notwendigen Formen auszudrücken, das "Ding an sich". Im Anfang nun hat er dieses "Ding an sich" als einen, seiner Philosophie fremden Lehrbegriff nur  geduldet.  Nachdem er aber im ersten Entwurf seiner großen Gedanken alle jene Kühnheit des Denkens verbraucht hatte, die sich nicht scheut, paradox zu erscheinen, etwas zu sagen, was der allgemeinen Meinung ins Gesicht schlägt, um nachher doch zu triumphieren, läßt er das "Ding an sich" zunächst nur nebenher laufen, um ihm dann immer mehr Geltung zuzugestehen, anstatt es sofort zu verwerfen und zu vergessen nach dem Satz des SENECA:
    Etiam oblivisci interdum expedit.
    [Auch nützt bisweilen zu vergessen, was man ist. - wp]
Statt dessen verweist er es nur mit steigender Inkonsequenz aus den Formen unseres Intellekts (Raum, Zeit und Kategorien) und verfällt so in den Widerspruch, etwas Nichtvorstellbares vorzustellen. Der Begriff oder vielmehr Unbegriff ist einmal durch das Wort fixiert und nun wir, dem liegen dogmatischen Schlendrian zuliebe, das hölzerne Eisen immer mehr in Gnaden aufgenommen, bis es endlich unentbehrlich geworden ist und apodiktische Gewißheit erlangt hat. Damit hat KANT den letzten, äußersten Schritt getan, den echten Kritizismus verleugnet, wie GALILEI das kopernikanische Weltsystem. - Denn es ist durch das "Ding an sich" nicht nur ein falscher, undenkbarer Begriff in seine Lehre aufgenommen, sondern die, in der transzendentalen Ästhetik erlangte Einsicht in die Allgemeinheit und Notwendigkeit, d. i. Apriorität der Formen alles Anschauens, Raum und Zeit, welche gerade der epochemachende Gedanke seiner großartigen Weltanschauung war, gänzlich in Frage gestellt. Er gibt seinen bedeutendsten Gedanken dadurch wieder auf.

Alles, was er nun über den eingeschmuggelten Unbegriff sagt, ist dunkel und widersprechend. Bald ist es "weder möglich, noch unmöglich", bald "muß es gedacht werden", bald ist ein "ein  X von dem man gar nichts sagen kann", usw. Schon aus dieser schwankenden, unklaren Sprechweise kann man schließen, daß KANT in diesem Punkt kein reines Gewissen hatte.

Nun aber hat er es als dogmatischen Zopf zu tragen, der ihn immer belästigt und drückt, um den er immer herum disputiert, der sich aber nicht wegdisputieren läßt,
    Er dreht sich rechts, er dreht sich links,
    Der Zopf der hängt ihm hinten.
Und trotz alledem hat keiner von den Nachfolgern KANTs eingesehen, daß dieses "Ding an sich" ein fremder Tropfen Bluts im Kritizismus ist, (16) der bei konsequenter Entwicklung der gegebenen Prinzipien nicht einmal  erwähnt  worden wäre. FICHTE z. B. streicht es in der Wissenschaftslehre scheinbar aus, während es nur an einen anderen Ort verlegt wird. SCHOPENHAUER findet, daß es nur auf eine falsche Weise eingeführt, daß es "eine richtige Konklusion aus falschen Prämissen" sei, (17) während es gerade umkehrt als eine falsche Konklusion aus zwei Prämissen erscheint, deren jede für sich genommen richtig ist. Der Schluß ist nämlich folgender:

Jedes Bedingte hängt mit etwas außer ihm als seiner Ursache notwendig zusammen.
    Nun ist die empirische Welt in Raum und Zeit bedingt.
    Also usw.
Dieser Syllogismus ist, solange man auf  dogmatischem  Stanpunkt steht, ganz richtig. So wie man aber die  transzendentale  Einsicht gewonnen hat, daß Raum und Zeit als allgemeine und notwendige Formen der Anschauung a priori gegeben sind, daß also  außer  ihnen  Nichts  besteht, sondern  alles in  ihnen, so bemerkt man den Trugschluß der fallacia falsi medii [Fehlschluß im Mittelteil - wp]. Die Welt in Raum und Zeit ist allerdings "bedingt", aber nicht durch etwas  außer  ihr (denn außer ihr gibt es Nichts, sie ist alles), sondern durch ihre  immanenten  Bedingungen und notwendigen Formen,  Raum, Zeit  und  Kategorien.  Hätte man alos das Prädikat "bedingt" näher definiert, so würde man inne geworden sein, daß es in jeder der beiden Prämissen einen anderen Sinn hat, daß also hier eine quaternio terminorum [Fehlschluß durch Zweideutigkeit - wp] vorliegt.

Übrigens hat KANT (wenn man von der bereits durch seinen Fehler beeinflußten Ausdrucksweise absieht) das selbst schon ausgesprochen, wenn er sagt: "daß wir niemals berechtigt seien, von einem Glied der empirischen Reihen, welches es auch sei, einen Sprung außer dem Zusammenhange der Sinnlichkeit zu tun, gleich als wenn es Dinge an sich selbst wären usw. (18) und "daß die reinen Verstandesbegriffe niemals von  transzendentalem,  sondern jederzeit nur von  empirischem  Gebrauch sein können." (19)

Das wäre also die  historische  Deduktion, wie wir es oben genannt haben. Daß hiermit das Rätsel noch nicht gelöst ist, daß wir uns also damit nicht begnügen können, fühlt wohl jeder; und wir verweisen in dieser Hinsicht auf die  psychologische  Deduktion, welche uns den Schlüssel in die Hand geben, vollkommen Einsicht gewähren soll in die wahre Entstehungsgeschichte jenes merkwürdigen Fehlers. - Bevor wir aber an diese Betrachtung gehen, stellen wir uns noch eine Aufgabe, deren Lösung für unseren Endzweck vielleicht von wesentlicherer Bedeutung ist, als es auf den ersten Blick scheinen mag.

Es ist nämlich bekannt, daß nicht lange nach dem Auftreten der kritischen Philosophie eine Reihe von gefährlichen Angriffen gegen die Kritik der reinen Vernunft unternommen wurden, welche durch schonungslose Bloßlegung der wirklichen und vorgeblichen Fehler KANTs, wenn auch nicht sein Ansehen vernichtet, doch die Entwicklung neuer Philosopheme gezeitigt und damit ein wirklich gründliches Eingehen auf dieses großartige System mit gehemmt haben. Einer der scharfsinnigsten Gegner KANTs, G. E. SCHULZE, wendete sich im  Aenesidemus  (20) gegen den Meister und seinen Apostel REINHOLD zugleich und indem er mit dem wirklichen, großen Fehler KANTs noch mehreres vernichtet zu haben meinte, was unwiderleglich ist, verschuldete er es mit, daß KANT zu voreilig für überwunden gehalten wurde. Das hat viel Unheil angerichtet!

Ich unternehme es nun, nachzuweisen, daß alle Angriffe des  Aenesidemus  nur soweit Bedeutung haben, als sie sich gegen die Konsequenzen des "Dings an sich" wenden, daß sie aber gegen den reinen und echten Kritizismus in Nichts zerfallen. Möge man also den folgenden Abschnitt nir für ein willkürliches Intermezo halten. Er ist ein organisches Glied in unserer Betrachtung.

Die in Betracht kommende Stelle steht:  Aenesidemus , Seite 108f. Der Zweifler beginnt mit der  Darstellung des Humeschen Skeptizismus.  Mit Recht! Denn KANT ist ja, wie er selbst gesteht, durch HUME "aus dem dogmatischen Schlummer geweckt worden." (21)

Dort heißt es nun (Seite 108):
    "Wenn es wahr ist, sagt HUME, daß unsere Vorstellungen entweder unmittelbar oder mittelbar von der Wirksamkeit vorhandener Gegenstände auf unser Gemüth herrühren oder gewissermaßen Abdrücke der außer uns befindlichen Originalien dazu ausmachen, und daß sich hierauf die Realität unserer Vorstellungen gründe, so müssen auch die Begriffe  Ursache, Wirkung  usw. um reell zu sein, aus den Impressionen der außer unseren Vorstellungen vorhandenen Gegenstände  auf uns mittelbar oder unmittelbar  entstanden sein."
Die  Form  dieser Folgerung ist  hypothetisch.  Fällt die Voraussetzung weg, so ist die Folge ungültig. Was nun aber den  Inhalt  derselben anlangt, so wissen wir (woran freilich HUME noch nicht dachte), daß äußere Gegenstände nur insofern da sein, als in der Anschauung durch die allgemeinen Verknüpfungsformen des Intellekts (Kategorien) die gegebenen Empfindungen kombiniert werden, überhaupt daß alles Objekt unzertrennliches Korrelat des Subjekts der Erkenntnis ist. Ferner aber ist die Verknüpfung von Ursache und Wirkung nicht die  Vorstellung eines Gegenstandes,  sondern eines  Verhältnisses  von Gegenständen; da nun in der Voraussetzung nur von Abdrücken der  Gegenstände  in den Vorstellungen, nicht aber von ihren Verknüpfungen und Verhältnissen die Rede war, so gehört der Kausalnexus gar nicht hierher. -

Nachdem nun (Seite 109) gefordert ist, daß zwei Dinge, die als Ursache und Wirkung zueinander gehören sollen, erstlich aneinander grenzen, sich einander berühren, zweitens aufeinander zeitlich folgen und drittens in notwendiger Verbindung stehen sollen, heißt es (Seite 11) weiter: "Auch müßte uns, wenn wir Kenntnis von der Kraft eines Gegenstandes oder von demjenigen hätten, wodurch er Ursache von gewissen Wirkungen ist, möglich sein, sogleich aus der Betrachtung des Gegenstandes anzugeben und zu bestimmen, was daraus folgen werde; denn die Kenntnis einer Beschaffenheit schließt auch die Kenntnis alles desjenigen in sich, was notwendig zu ihr gehört und einen Bestandteil davon ausmacht." - Hiergegen ist zu erinnern, daß die Wirkung nicht "Bestandteil" der Ursache, sondern durch die "bedingt" ist. Der Kausalnexus als reiner Begriff fordert nur,  daß  etwas erfolge; um zu wissen,  was  erfolgen wird, müßten wir eine durchaus vollständige Kenntnis von allen obwaltenden Bedingungen haben. Obgleich aber Letzteres schwerlich je der Fall sein wird, so sind wir doch bei jeder wahrgenommenen Konstellation von empirischen Bedingungen überzeugt, daß irgendetwas daraus hervorgehen wird, ebenso wie daß etwas als Ursache vorangegangen ist. Diese unbedingte Überzeugung, welche wir immer hegen, mögen wir wollen oder nicht, verleiht gerade dem Kausalnexus den Charakter der Kategorie. Darin, daß wir die Allgemeinheit und Notwendigkeit jenes Verhältnisses immer und überalle voraussetzen, obgleich wir nur die zeitliche Aufeinanderfolge, das post hoc [danach - wp], nicht aber die Notwendigkeit der Aufeinanderfolge, das propter hoc [deswegen - wp], wahrnehmen, erkennen wir, daß der Kausalnexus aller Erfahrung vorausgeht und von ihr unabhängig ist. - Gemäß der falschen Annahme unabhängig von unseren Vorstellungen existierender äußerer Gegenstände heißt es nun (Seite 115): "Die notwendige Verknüpfung, die zum Wesen der Ursache und Wirkung gehört, existiert daher durchaus nicht in den objektiven Gegenständen; sondern lediglich in der Folge  unserer Vorstellungen  von ihnen." Dieser Gipfelpunkt des HUMEschen Zweifels ist nun gerade der Ausgangspunkt für den Triumph des  Kritizismus.  Denn indem er nachweist, daß wir überhaupt nur von Gegenständen  in  der Vorstellung, nie aber von welchen  außer  ihr wissen und reden können, restringiert er eben den Gebrauch der Kategorien auf unseren Vorstellungsbereich. - BACON, der gewiß ken Idealist war, sagt doch: "Die Vorurteile der Gattung haben ihren Grund in der menschlichen Natur selbst und im Geschlechte, in der Gattung der Menschen. Es ist eine falsche Annahme: unsere Sinne seien der Maßstab der Dinge. Vielmehr sind alle Wahrnehmungen, sowohl sinnliche als geistige, der Beschaffenheit des Beobachters, nicht dem Weltall analog; und der menschliche Verstand gleicht einem unebnen Spiegel zur Auffassung der Gegenstände, welcher ihrem Wesen das seinige beimischt und so jenes verdreht und verfälscht. (22)

Er erkennt also wenigstens das  Mitwirken  unseres Intellekts beim Zustandekommen der Vorstellungen von sinnlichen Gegenständen an. Nun möchte ich aber den Mann erst noch kennen lernen, der jemals "Originale" zum vermeintlichen "Spiegelbild" in unserem Intellekt gesehen hätte, der also bezeugen könnte, daß uns in der Vorstellung und Erkenntnis wirklich bloße  Kopien  gegeben sind. Dies müßte er in de Tat durch eine  übernatürliche Offenbarung  in Erfahrung gebracht haben oder es müßte ihm gelungen sein, in geistiger Hinsicht einen Akt zu vollziehen, den man in populärer Redeweise: "Aus der Haut fahren" nennt. -

Mit Beziehung auf die Seiten 117 - 122 gegebene Rechtfertigung der humeschen Ansichten können wir nur wiederholen: Der Satz: "Die Kategorie der Kausalität ist ein synthetisches Urteil apriori" bedeutet genau dasselbe, wie: "Es ist eine notwendige Eigentümlichkeit meines Intellekts zu jeder Wirkung eine Ursache vorauszusetzen und umgekehrt." Beide Sätze sind tautologisch. Und den Inhalt dieses letzteren Satzes wird schwerlich jemand bestreiten, der seinen Sinn begriffen hat. Wer unversehens eine Ohrfeige erhält, wendet sich an den vor ihm stehenden Geber derselben und gibt ihm die gebührende Antwort. Wie käme er dazu, wenn er nicht gemäßt der Kategorie der Kausalität aus der räumlichen Nähe, den Gebärden usw. des neben ihm Stehenden in ihm die Ursache der empfundenen Schmach voraussetzte? -

Nachdem nun von Seite 118 - 130 teils untergeordnete, teils schon abgefertigte Gedanken vorgebracht sind, beginnt Seite 130 die Erörterung der Hauptfrage:  Ist Humes Skeptizismus durch die Vernunftkritik wirklich widerlegt worden? 

"Es wird", heißt es Seite 131, bei der Beantwortung der eben aufgeworfenen Frage ganz vorzüglich darauf ankommen, daß wir untersuchen: Ob die Gründe, welche Herr KANT dafür beibringt, daß die notwendigen synthetischen Urteile aus dem Gemütund dem inneren Quell der Vorstellungen selbst herrühren müssen und die Form der Erfahrungserkenntnis ausmachen, so beschaffen seien, daß sie auch DAVID HUME für zureichend und beweisend halten könnte?" - Wir erwidern: Nicht darauf kommt es an, ob DAVID HUME durch Anerkennung der Argumente seines Nachfolgers sich für besiegt erklärt (das kan uns ziemlich gleichgültig sein), sondern darauf, ob KANT ihn soweit evident  widerlegt hat,  als er ihn überhaupt  widerlegen will.  Ferner hat KANT durch seinen Nachweis von synthetischen Urteilen a priori nur dies sagen wollen, daß die ganze empirische Erkenntnis oder Erfahrung (auch die innere, psychologische) durch gewisse allgemeine Verknüpfungen (Kategorien) zusammengehalten wird, welche aus der Erfahrung selbst nicht erklärlich sind; es ist ihm aber nicht in den Sinn gekommen zu behaupten, daß das Gemüt (Subjekt)  Ursache  dieser Kategorien wäre oder sie hervorbrächte, was erst FICHTE getan hat. Die Kategorien sind Funktionen des Intellekts, durch welche  sowohl  Subjekt  als auch  Objekt der Erkenntnis bedingt sind. Die Apriorität derselben läßt sich am einfachsten so darlegen:

Daß wir Erfahrungen machen, ist eine Tatsache und zwar (wie  Aenesidemus  Seite 122 ausdrücklich betont)  unleugbare  Tatsache. Nun wäre aber Erfahrung unmöglich, ohne die Synthesen von Ursache und Wirkung usw. (Kategorien). Also ist das  Dasein  der Kategorien  mindestens  auch eine  unleugbare Tatsache.  Diese Kategorien könnten ferner entweder aus den (inneren oder äußeren) Erfahrung stammen, d. i. a posteriori gegeben sein oder nicht aus ihr stammen, sondern von ihr als Bedingungen vorausgegesetzt werden, d. i. a priori gegeben sein. Aus der Erfahrung aber stammen sie, wie HUME ganz richtig behauptet und  Aenesidemus  Seite 110 referiert,  nicht. Also sind die Kategorien a priori  gegeben. qod errat demonstrandum.

AENESIDEMUS ist fortwährend von dem Irrtum befangen, daß "a priori gegeben sein" soviel bedeute, als "vom Gemüt (Subjekt) hervorgebracht sein." Deshalb polemisiert er nun gegen KANT, weil dieser die menschliche Vernunft für die "Quelle oder den Realgrund" der notwendigen synthetischen Urteile in unserer Erkenntnis ausgebe, während "wir uns doch das Vermögen der "Vorstellungen als den Grund dieser Urteile nur  denken,  nicht aber hieraus schließen könnten, daß es auch wirklich dieser Grund  sei."  Alle diese Angriffe sind Schläge in die Luft, weil die Voraussetzung, von der ausgegangen wird, ganz falsch, ein Mißverständnis der kantischen Lehre ist. -

KANT nennt diejenigen Formen der Erkenntnis, die in allem Erkennen tatsächlich vorhanden sind, ohne deren Gegenwart und Vorhandensein alles Erkennen und Vorstellen überhaupt auseinanderfallen, ja vernichtet werden würde, die daher in aller Erfahrung schon vorausgesetzt sind, ohne daß wir doch irgendwie wissen können, woher sie stammen -  Erkenntnisse a priori.  Von ihrem  Ursprung  oder  Realgrund  kann gar nicht die Rede sein. Denn so, wie wir irgendetwas vorstellen und erkennen,  sind sie schon da, gegeben.  Das intelligente Ich oder Subjekt der Erkenntnis bewegt sich fortwährend in ihnen, als in seinem Element, wie der Fisch im Wasser. Wäre es nun überhaupt irgendwie möglich, daß dieses Subjekt der Erkenntnis einmal unerklärlicherweise aus diesen Intellektualformen (Raum, Zeit und Kategorien) herauskommen könnte, wie etwa ein Fisch aus dem Wasser in die Luft, so würde das, was irgendwie noch übrig bliebe, für es ganz fremd und unfaßbar sein, wie die von der Luft gebrochenen Lichtstrahlen für das Auge des Fisches. Aber  omne simile claudicat  [Jedes Gleichnis hinkt. - wp]. Eine solche Metamorphose, ein solches Heraustreten des Subjekts aus seinen Intellektualformen ist ein unmöglicher Fall, von dem wir gar nicht reden dürfen, weil er den tatsächlichen Gesetzen unserer Vernunft geradezu widerspricht und ins Gesicht schlägt.

Indem nun aber AENESIDEMUS mit diesem seinem Mißverständnis tief unter dem Niveau der kantischen Weltansicht steht, setzt er zugleich immer voraus, KANT wolle HUME durchweg widerlegen und fordert nun Seite 133, daß die Vernunftkritik entweder das Gegenteil von HUMEs Behauptungen beweisen oder ihn ad absurdum führen solle. Daran wird sie aber gar nicht denken, da sie ja mit der vorzüglichsten Behauptung HUMEs ganz übereinstimmt. HUME nämlich sagt: "Der notwendige Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung ist nicht aus der Erfahrung geschöpft." - Ganz richtig! erwidert KANT. - "Also, fährt jener fort, ist er ohne Bedeutung und muß im Objekt geleugnet werden." Mitnichten! wendet die Vernunftkritik ein; nur wenn wir, wie du in deiner petitio principii [es wird vorausgesetzt, was erst zu beweisen ist - wp] angenommen hast,  außer  unseren Vorstellungen Gegenstände zugeben müßten, wäre der Kausalnexus etwas bloß Subjektives, ohne Anwendbarkeit auf jene Gegenstände; da es aber geradezu ein Widerspruch ist, von anderen Gegenständen zu reden, als den in unserer Vorstellungen gegebenen, so fällt deine Folgerung weg. -

Wenn nun ferner KANT im Allgemeinen ein Vorwurf daraus gemacht wird, daß er bei seiner Entdeckung der Kategorien als solcher diese selbst schon in seinem Denken angewendet habe, so ist das ebenso ungereimt, als ob man dem Optiker vorwerfen wollte, daß er bei seinen Untersuchungen sich selbst des Sehnervs, der Retina, der Pupille usw. bedient habe (23). Ein solcher Vorwurf ist überhaupt nur dann möglich, wenn man die kantische Lehre in empiristischer Weise mißdeutet, wenn man von ihrem  transzendentalen  Gesichtspunkt keine Ahnung hat. Und daß letzteres bei AENESIDEMUS in der Tat der Fall ist, zeigt sich sehr deutlich in dem Seite140 als vorgebliche Summe der Vernunftkritik untergeschobenen Syllogismus, welcher gar von nichts weiß, daß "empirisches sein" und "Vorstellung sein" bei KANT dasselbe ist und daß die Erkenntnisse a priori Voraussetzung bei allem Vorstellen sind. Fast komisch tritt dieselbe Unkenntnis in der naiven Äußerung (Seite 182) hervor, "daß sich ja etwas, was auf der  gegenwärtigen Stufe der Kultur  nur auf diese eine Weise denken lasse (Apriorität der Kategorien),  vielleicht auf einer anderen späteren auch anders werde erklären lassen."

Wie wenig AENESIDEMUS der kantischen Tiefe gewachsen ist, ersieht man ferner aus folgendem Passus (Seite 143): "Es ist nämlich unrichtig, daß, wie in der Vernunftkritik angenommen ist, das  Bewußtsein der Notwendigkeit,  welches gewisse synthetische Sätze begleitet, ein  unfehlbares  Kennzeichen ihres Ursprungs a priori und aus dem Gemüth ausmache. Mit den wirklichen Empfindungen der äußeren Sinne z. B., welche auch nach der kritischen Philosophie in Ansehung ihrer Materialien insgesamt nicht aus dem Gemüt, sondern von Dingen außer uns herstammen sollen, ist, ihres empirischen Ursprungs ungeachtet, ein Bewußtsein der Notwendigkeit verbunden. Währenddessen nämlich, daß eine Empfindung in uns gegenwärtig ist,  müssen  wir sie als vorhanden erkennen." - Vor allem wieder das gerügte Mißverständnis des  a priori.  Dann aber ist dieses "als vorhanden erkennen  müssen"  der in uns gegenwärtigen Empfindung nicht der Ausdruck metaphysischer Notwendigkeit und Allgemeinheit, sondern des empirischen Gezwungenseins. Was  zwingt  uns denn nun dazu? Haben wir ein solches Zwingendes wahrgenommen? Nein! Vielmehr setzen wir gemäß der Kategorie der Kausalität einen Gegenstand voraus, der die Ursache der gegenwärtigen Empfindungen in uns ist und kommen so erst zu der empirischen Notwendigkeit des Gezwungenseins. Wäre aber unser Vorstellen nicht von jener Kategorie beherrscht und geleitet, nähmen wir jene metaphysische Notwendigkeit des  nexus causalis  hinweg, was bliebe dann von dem "müssen", von der empirischen Notwendigkeit übrig? Nichts anderes, als der Satz: "Solange eine Empfindung unserem Bewußtsein gegenwärtig ist, ist sie ihm gegenwärtig." Ein Satz, der seinem Inhalt nach eine leere, überflüssige Tautologie, seiner Form nach  assertorisch  [behauptend - wp], nicht aber h  apodiktisch  [unumstößlich - wp] ist. - Wenn der Mathematiker sagt: "Alle ebenen Dreiecke, die je existiert haben, existieren und überhaupt existieren können, müssen die Winkelsumme von zwei Rechten haben und das Gegenteil ist undenkbar" oder der Philosoph: "Alle Ereignisse der Welt müssen eine Ursache haben und wären ohne diese unmöglich", so tragen sie bei ihren Sätzen jene innige Überzeugung von der Notwendigkeit derselben in sich, die nicht aus der Erfahrung geschöpft ist, sondern a priori gegeben. Die jeweiligen Empfindungen aber, z. B. die des vor mir liegenden Papiers, könnten ganz gut wegfallen oder mit anderen vertauscht werden, ohne daß dadurch die Natur unseres Bewußtseins und des Intellekts alteriert würde. Dies ist der Unterschied zwischen den  Erkenntnissen a posteriori,  deren Inhalt für die Gesetze des Erkennens gleichgültig ist und den  Erkenntnissen a priori,  welche nicht hinweggedacht werden können, ohne daß zugleich der Intellekt vernichtet würde; - ein Unterschied, den KANT  entdeckt  und AENESIDEMUS  nicht begriffen  hat. -

Bis hierher hatte nun der Skeptiker durchweg Unrecht, weil er seine Angriffe gegen die unumstößlichen Wahrheiten der kritischen Philosophie richtete. Von nun an aber wendet er sich gegen das "Ding an sich", und was er gegen dieses sagt, ist so richtig und treffend, daß wir es geradezu unterschreiben können. "Wenn," heißt es Seite 296, "von  Dingen an sich  die Rede ist, so versteht man allgemein darunter ein Etwas, so außer unseren Vorstellungen realiter da sein soll, so mit unseren Vorstellungen nicht erst entsteht, noch auch mit denselben wieder untergeht, sondern das da sein würde, wenn wir auch ganz und gar nicht da wären. Fragt man z. B. ob der Vorstellung des Baumes, den man wachend und im gesunden Zustand des Gemüts sieht, ein Ding an sich zum Grunde liegt, so ist hierbei davon gar nicht die Rede, ob in der Vorstellung des Baumes unter vielen anderen Merkmalen, die zusammengenommen die Vorstellung desselben ausmachen, nicht auch das Mermal einer Beziehung und eines Verhältnisses der Vorstellung zu einem außer uns befindlichen Gegenstand enthalten sei oder ob wir uns nicht den Baum als etwas von uns selbst Unabhängiges vorstellen müssen; sondern ob etwas objektiv vorhanden sei, welches mit der Anschauung des Baumes in Verbindung stehe und den Inhalt derselben bestimmt habe, so daß, wenn dieses Etwas nicht eben so  an sich  und außer uns wirklich wäre, als wie die Vorstellung des Baumes in uns wirklich ist, und mit unserem Gemüt nicht in einer reellen Verbindung stände, wir gar keiner Vorstellung des Baumes teilhaftig geworden wären. Die kritische Philosophie behauptet nun allerdings wohl, daß es solche Dinge an sich objektiv gäbe und daß sie der Realgrund des Inhalts unserer Erfahrungserkenntnisse seien:  Allein, sie behauptet dies ohne allen Grund und hat durch ihre Lehren über die Natur und Bestimmung der Grundsätze des reinen Verstandes und der reinen Vernunft alle Möglichkeit, jene Behauptungen gänzlich zerstört.  Denn wenn es wahr ist, wie die kritische Philosophie apodiktisch erwiesen zu haben vorgibt, daß eine Erkenntis des Dings ansich alle Fähigkeiten unseres Vorstellungsvermögens gänzlich übersteige und daß dieses Ding uns nach dem, was es objektiv ist, völlig unbekannt ist,  so hat ihre Behauptung, dasselbe sei eine Bedingung, unter der wir allein Erfahrungskenntnisse besitzen imstande sind, gar keinen Sinn, weil man, um behaupten zu können, Dinge an sich liegen den Vorstellungen in unserem Gemüt zugrunde, doch wenigstens dieses wissen muß, daß Dinge an sich realiter existieren und Ursache von etwas sein können.  Wenn man ferner annimt, daß das Prinzip der Kausalität gar nicht auf Dinge an sich angewendet werden dürfe, sondern nur in Beziehung auf das, was als Erfahrung bloß subjektiv in uns da ist, Gültigkeit habe, (wie auch die kritische Philosophie völlig erwiesen zu haben vorgibt); so fällt dadurch wieder die Möglichkeit weg, den Zusammenhang gewisser Teile unserer Erkenntnis mit Dingen, die nicht zu dieser Erkenntnis gehören, dartun zu können,  und ist das Prinzip der Kausalität außer der Erfahrung ungültig, so ist es ein Mißbrauch der Verstandesgesetze, wenn man den Begriff Ursache auf etwas anwendet, was außer unserer Erfahrung und gänzlich von derselben unabhängig da sein soll.  Wenn also auch die kritische Philosophie gar nicht geradezu leugnet, daß es Dinge an sich, als Ursachen des Stoffes der empirischen Erkenntnis gäbe,  so muß sie doch eigentlich, vermöge ihrer eigenen Prinzipien, der Annahme einer solchen transzendentalen Ursache des Stoffes unserer empirischen Erkenntnis alle Realität und Wahrheit absprechen und nach ihren eigenen Grundsätzen ist also nicht nur der Ursprung des Stoffes der empirischen Erkenntnis, sondern auch deren [transzendentale] Realität oder deren wirkliche Beziehung auf etwas außer unseren Vorstellungen völlig ungewiß und für uns = x."  - Die letzten Worte dieser ganzen Stelle (welche wir ihrem  Gehalt  nach durchaus adoptieren, während wir sie ihrer  Tendenz  nach nicht billigen können) hätten schärfer gefaßt werden sollen, indem man statt  ungewiß  und für uns = x" hätte schreiben müssen  undenkbar  und ungereimt." -

Wenn aus dem bisherigen klar geworden ist, daß KANT mit der Annahme eines "Dings ansich" außerhalb der Grenzen, d. i. der notwendigen und allgemeinen Formen, unseres Intellekts (Raum, Zeit und Kategorien) dem echten Geist seiner eigenen Lehre widersprochen hat; wenn wir ferner gesehen haben, welchen historischen Bedingungen, welchen Antezedenzien [das Vorausgehende - wp] in der Entwicklungsreihe der philosophischen Systeme dieses "Dings an sich" sein illegitimes Dasein verdankt; wenn wir endlich zu der Überzeugung gekommen sind, daß dieser Unbegriff vor allem gegründete Ursache zu Angriffen gegen die kantische Philosophie gegeben hat und daß dieselbe, wenn jener entfernt wird, in ihren wesentlichen Hauptsätzen unwiderlegt und unwiderleglich ist, - so bleibt uns noch eine letzte Frage übrig, deren Beantwortung für uns von wesentlichem Interesse sein muß und uns zugleich bei Gelegenheit dieses ganzen Problems einen tiefen Blick in unsere geistige Natur eröffnen wird. Diese Frage lautet:

Welches sind die subjektiven, psychischen Bedingungen, unter denen überhaupt KANT zur Annahme seines "Dings an sich" kommen konnte? 

Die Antwort hierauf wird jene oben versprochene Deduktion a priori des "Dings an sich" enthalten. -

Aus den, im Anfang dieses Kapitels entwickelten Grundsätzen der kritischen Philosophie waren wir zu folgendem allgemeinen Resultat gekommen: (24) Subjekt und Objekt der Erkenntnis stehen in durchgängiger Relation zueinander, sind unzertrennliche Faktoren, notwendige Korrelate der Erkenntnis. Es existiert also weder etwas unabhängig Subjektives (Ich an sich), noch ein unabhängig Objektives (Ding an sich). Miteinander verbunden sind Subjekt und Objekt durch die allgemeinen und notwendigen Formen des Vorstellens und Erkennens, Raum, Zeit und Kategorien; innerhalb des Gebietes dieser Formen bewegt sich der Intellekt, entwickelt sich die Welt, das All; ein  anderes  Gebiet ist uns nicht nur  unbekannt,  sondern geradez zu  undenkbar.  Wie, fragen wir, ist nun dennoch die Möglichkeit gegeben, daß dieser so beschaffene Intellekt aus seinen notwendigen Formen hinauszugehen strebt, da er sich doch gar keine anderen vorstellen kann? Dies ist die Frage oder vielmehr das Rätsel. Wir beginnen auch hier mit den allgemeinsten, einfachsten und bekanntesten Tatsachen, wie es KANT und SOKRATES zu tun pflegten.

Wenn du mit einem Kind in der freien Natur spazieren gehst, so wird es über allerlei ihm auffallende Gegenstände diese und jene Frage an dich richten. Denn ihm ist die weite, mannigfaltige Welt noch nicht, so wie dir, eine alte Bekannte, deren Eigenschaften man in langjährigem Umgang, wenn auch nicht alle kennen, so doch gleichgültig betrachten gelernt hat. Das Kind erblickt z. B. die dicht über dem Horizont stehende, große, rotglänzende Scheibe des Vollmondes. Da es diese Erscheinung noch nie wahrgenommen hat, so wird es fragen: "Was ist das?" Du wirst ihm antworten: "Das ist der Mond"; und mit kindlichem Erstaunen wird es diese Belehrung hinnehmen. - Oder es reitet jemand auf steinigem Weg schnell an euch vorüber, so daß der Hufschlag des Pferdes Funken von den Steinen aufsprühen läßt. Das Kind fragt: "Woher kommt das?" und du wirst antworten: "Das kommt daher, weil Eisen an Stein geschlagen glühende Stückchen verspritzt." - Auf diese Antworten hin ist in der Seele des Kindes folgendes vorgegangen: Die niedrigstehende, größer als gewöhnlich und rotglänzend erscheinende Vollmondscheibe ist durch die gemeinsame Benennung mit der hochstehenden, kleineren silberglänzenden identifiziert worden. Damit hat also "der Mond" für das Kind eine weitere Bedeutung erhalten, ist ihm zum gemeinsamen Inhaber des schon vorher bekannten und des jetzt wahrgenommenen Zustandes, zum Subsistens [Ersatz - wp] geworden, welches verschiedener, wechselnder Inhärenzien [Innewohnheiten - wp] teilhaftig oder fähig ist; kurz, in der Seele des Kindes ist auf den Mond in Beziehung auf jene verschiedenen Erscheinungen oder Zustände die  Kategorie der Substanzialität angewendet worden.  - Im zweiten Falle hat es als allgemeine Regel gelernt, daß durch das Zusammentreffen von Eisen und Stein die Funkten entstehen, daß beides sich zueinander verhält, wie Ursache und Wirkung, d. h. es ist in Beziehung auf dieses Ereignis die  Kategorie der Kausalität zur Anwendung gekommen.  Je geweckter nun das Kind ist, umso weniger wird es sich bei den ersten Antworten begnügen. Es wird z. B., befremdet über jene verschiedenen Erscheinungsarten des Mondes, weiter fragen, woher diese rühren, oder auch, was denn der Mond eigentlich sei. Oder im anderen Fall wird es wissen wollen, wie denn das Eisen dazu komme, glühende Stückchen vom Stein abzuschlagen und was denn nun für Bestandteile und Eigenschaften in Eisen und Stein verborgen liegen, usw. - Indem du nun bei Gelegenheit dieser geistigen Vorgänge in der Kindesseele einen Blick zurückwirfst in deine eigene intellektuelle Vergangenheit, auf die Genesis deiner geistigen Bildungsstufe, wirst du inne werden,  daß du die Höhe deiner gegenwärtigen Gesamtbildung erreicht hast durch stufenweise aufsteigende Abwechslung ineinandergreifender Fragen und Antworten.  Freilich pflegt man bei unserem Kulturzustand, je älter man wird, desto weniger seine (auf  eigentliche Belehrung zielenden)  Fragen an  andere Menschen  zu richten; aber desto mehr an  Bücher, an den eigenen Verstand  oder an die  unmittelbaren Objkekte der Natur und der Kunst.  Immer aber ist alle geistige Entwicklung ihrem innersten Kern nach nichts anderes, als jenes wechselnde Fragen und Antwortfinden; (25) und je schneller, beharrlicher, vielseitiger und unermüdlicher dieses Fragestellen und Antwortsuchen in einem Subjekt vor sich geht, für umso intelligenter ist es zu halten.

Es ist nun zu bemerken, daß nach Analogie der beiden obigen Fragen des Kindes (solange es sich allein um  objektive Gewißheit,  um  eine theoretische Erkenntnis  handelt) immer nur dies beides gefragt wird: "Was ist das?" und "Woher kommt das?" In philosophischer Redeweise übersetzt, heißt das: Der menschliche Intellekt bewegt sich fortwährend in den Kategorien der Substantialität und Kausalität. (26) Ich bin hier des Einwurfs gewärtig, daß man notwendige und allgemeine Verstandesfunktionen (synthetische Urteile a priori) nicht so auf empirisch-induktivem Weg einführen dürfe. Indessen liegt es hier auch gar nicht in unserer Absicht, eine  Begründung der Kategorienlehre  zu geben. Die Kategorienfrage ist hier, wie sich zeigen wird, von sekundärem Interesse, ist nur Mittel, um uns zur Beantwortung der Hauptfrage überzuführen. (27) Was uns hier interessiert, ist eben nur dies, daß die Kategorien, als allgemeine synthetische Erkenntnisformen, nicht unmotiviert aus dem Subjekt ins Objekt hinübergreifen, sondern daß sie vielmehr erst durch das Bedürfnis nach Erkennen und Wissen, zuerst unbewußt, in Wirksamkeit gesetzt, allmählich dann durch Übung und Gewohnheit konkret zu Bewußtsein gebracht werden, bis sie endlich als abstrakte Begriffe aus dem lebendigen Vorstellen ausgesondert und erfaßt werden können; daß sie, auf irgendwelches Motiv in der Frage erstrebt werden, in der Antwort zu anschaulicher Geltung kommen; überhaupt aber, daß das abstrakte Erkennen nicht die erste Tatsache des Geistes ist, sondern aus dem Gebiet des unmittelbaren Vorstellens, der unsagbaren Empfindung erweckt und hervorgetrieben wird.

Die  Frage  also geht dem Akt des Erkennens voraus, der uns die Antwort gibt. Worin aber besteht jede Frage? Wenn jemand über irgendeinen Punkt eine Frage an uns richtet, so müssen wir voraussetzen, daß er über denselben im Ungewissen ist, ferner, daß er diese Ungewißheit unangenehm fühlt und daher durch Gewißheit zu vertreiben wünscht; formuliert er das Resultat dieser subjektiven Gefühle in abstrakten Vorstellungen, in Worten, so entsteht die  Frage,  mit der er sich nun dahin wendet, wo er Antwort erwartet, sei dies ein Mensch oder ein physikalisches Experiment oder sonst etwas. Es kommt dabei nicht darauf an, an welche Adresse er sich wendet, sondern nur darauf, daß in allen Fällen der Erkenntnis eine Frage vorangeht, der dann das Erkennen als Antwort folgt und Genüge tut. - Wenn wir nun diesen psychischen Vorgang, der als unmittelbarer Grund der Erkenntnis anzusehen ist, fixieren und begrifflich zerlegen, so ergeben sich in ihm folgende Bestandteile:
    1) Gefühl der Ungewißheit
    2) Befremden hierüber
    3) Streben nach Beseitigung der Ursache des Befremdens durch Erlangung des Wissens
Hieraus entspringt die formulierte  Frage. Dies ist der Quell allen Erkennens. 

Die Art der Erkenntnis nun, welche man "Philosophie" zu nennen pflegt, hat nur das Eigentümliche, daß das Objekt, wonach sie fragt, was sie zu erkennen strebt, allgemeinste Ideen, nicht aber relativ gleichgültige Einzelheiten sind; daß sie auf die innere Einheit des Weltganzen, den Kosmos zielt, daß daher jener psychische Prozeß im großen Maßstab vor sich geht. - Es ist das eine Wahrheit, welche ich keineswegs hier zum ersten Mal dargelegt zu haben mir einbilde; aber klar und bündig erfaßt, gedacht, ausgesprochen, in alle begriffliche Einzelheiten zerlegt hat sie wohl noch niemand. KANT legt der praktischen Vernunt "das Primat" bei im Verhältnis zur theoretischen Vernunft oder dem Intellekt; FICHTE, SCHELLING, SCHOPENHAUER sehen den Intellekt als etwas Sekundäres an. In alledem klingt die Wahrheit dunkel, einseitig und halb mit, wie ein unvollkommenes Echo; nirgends aber ist sie bis auf den Grund verfolgt; nirgends ist nachgewiesen worden, wie denn eigentlich der Geist aus der unmittelbaren und stummen Ruhe des intuitiven Vorstellens zum Erkennen überhaupt, zum Abstrahieren und Denken komme. Wir haben also gesehen, daß die Veranlassung hierzu durch jenen psychischen Vorgang gegeben wird, dessen unmittelbarer Ausdruck die  Frage  ist. Ohne vorhergehende Frage ist keine Antwort (d. h. Erkenntnis) denkbar; ohne sie würde die ganze Mannigfaltigkeit der inneren und äußeren Erfahrung (Mikrokosmos und Makrokosmos) gleichgültig an uns vorübergehen, wie an einem toten Spiegel; ja wir würden, was sich leicht einsehen läßt, gar nicht einmal zum Selbstbewußtsein kommen können. Hierauf gründet sich denn auch sowohl die Darstellung des SOKRATES in seinen philosophischen Gesprächen, als die ganze dialogische des PLATON, daß alles Lernen Erinnerung sei. Indem nämlich darauf gerechnet wird, daß jeder die Fragen, welche an ihn gerichtet werden, sich selbst in Gedanken mitstellt, übernimmt in jenen Dialogen der Weisere die Rolle des Fragers und befördert im Schüler den Denkprozeß (der ja, wie gesagt, ein aus Fragen und Antworten zusammengeketteter Monolog ist) dadurch, daß er durch passende Aufeinanderfolge der Fragen ihn weder vor der Zeit ermüden, noch die Richtung verfehlen läßt, damit zugleich Stumpfheit und Verworrenheit des Denkens beseitigt und dem Schüler ad oculos [vor den Augen - wp] demonstriert, wie er durch zweckmäßige und beharrliche Ausübung seines Denkmonologs Gedanken aus sich zu produzieren imstande ist, von denen er sonst nichts ahnte. -

Sehen wir nun von den, relativ gleichgültigen, Fragen des täglichen Lebens ab, welche meistens nicht aus spekulativen, sondern aus praktischen Motiven hervorgehen und von ephemerem [flüchtigem - wp] Interesse sind, betrachten wir nur die, welche rein um des Erkennens und Wissens willen gestellt und in der Wissenschaft beantwortet werden, so findet es sich, daß es nur zwei allgemeinste (rein theoretische) Fragen gibt, welche schon oben in Einfalt ein kindliches Gemüt an uns richtete, nämlich:
    1) Was ist das?
    2) Woher kommt das?
Indem die theoretische Vernunft diese Fragen vollständig zu beantworten sucht, wird sie von Stufe zu Stufe, vom Besonderen zum Allgemeinen getrieben; sie sucht ein immer höheres Was und ein immer tieferes Woher. Das eben ist es, was KANT so ausdrückt: "Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die endlich selbst unbedingt ist, gegeben" und "der eigentliche Grundsatz der Vernunft überhaupt ist: zur bedingten Erkenntnis des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird." (28) Gerade hierin hat auch SCHOPENHAUER die  kantische Philosophie  weder verstanden, noch erklärt, noch verbessert, sondern ungerecht getadelt.

Es ist aber das Eigentümliche des theoretischen Intellekts, daß er, wenn irgendein Gebiet des Wissens durch abwechselndes Fragen und Antworten erforscht und erkannt ist,  schließlich doch nie mit einer Antwort aufhört, sondern immer mit einer Frage.  - Verfolgen wir das an einem Beispiel. Ich habe einen Baum vor mir. Zunächst betrachte ich ihn eben als Ganzes seiner sinnlichen Teile und Eigenschaften nach der Seite des "Was" und als aus lauter Anlagen und Keimen entwickelt nach der Seite des "Woher". Auf die Dauer aber wird mir das schwerlich genügen; ich kann weiter fragen, tiefer forschen; ich werde die physikalischen, chemischen, vegetabilischen Gesetze, Kräfte, Vorgänge, welche in diesem Naturprodukt mitwirken und über das Samenkorn hinaus, aus dem es entstand, in unabsehbare Vergangenheit hinab gewirkt haben, verfolgen können. Wenn es nun aber auch gelänge, eine erschöpfende Einsicht in die Bestandteile und das inner Getriebe zu gewinnen, als deren Produkt und Ganzes eben dieser Baum vor mir erscheint; - würde ich mich dabei beruhigen können? Würde ich nicht vielmehr hier nach den langen, erschöpfenden Untersuchungen der Wissenschaft doch gerade wiederum in jenes Gefühl der Ungewißheit verfallen, welches der Quell der Frage, das subjektive Motiv aller Erkenntnis ist? Hier hilft es nichts, wenn man dem Geist Stillstand gebietet; es treibt ihn fort von Frage zu Antwort und er würde in der Frage stehen bleiben, selbst wenn er wüßte, daß eine Antwort nicht zu erwarten wäre. Denn auch in dieser Hinsicht gilt der Ausspruch des BACON: "Mit Ungestüm strebt der Geist vorwärts und kann nicht ruhen und rasten; allein vergebens. So ist es undenkbar, daß irgendwo der Welt Ende sei, sondern es muß immer noch etwas Weiteres geben." (29) - Es ist offenbar, meine Untersuchung hört hiermit der Frage auf: "Ja, was ist denn nun aber der tiefere Grund, die höhere Einheit, die alle jene physikalischen, chemischen, vegetabilen Kräfte, Gesetze, Vorgänge, verbindet, was dazu nötig, sich zur Produktion dieses einzelnen Baumes zu vereinigen? Wie kommt der Baum dazu, Früchte zu tragen, aus denen seinesgleichen wieder enstehen kann? - Ja endlich - was ist und wie wirkt denn das Ganze, dessen unbedeutender Teil dieser einzelne Baum ist, die unendliche, erhabene Natur? Was vereint und bindet ihre Gesetze, was überhaupt treibt sie, in Wirksamkeit zu treten?" - Hier muß nun der theoretische Intellekt, wenn er gegen sich selbst ehrlich sein will, achselzuckend gestehen: "Non possumus! Ich weiß keine Antwort!" -

So ist es durchgängig in aller Geistestätigkeit und speziell in allen Wissenschaften. So nehmen z. B. die Optiker als Erklärung der sichtbaren Empfindungsqualitäten, des Lichtes und der Farben, gewisse Undulationen [Schwingungen - wp] des Äthers an. Hierbei ist zunächst zu bedenken, daß die Undulationen und der Äther, selbst wenn sie nachgewiesen wären, nicht  allein  hinreichen würden, das Dasein jener Qualitäten in der Empfindung zu erklären, sondern daß hierzu als Korrelat das  Auge  gehört, ohne welches die Ätherschwingungen nimmermehr "Farbe" hervorbringen würden. Erst aus dem Zusammenwirken von Augen und Ätherschwingung würden: "blau, rot, hell, dunkel, usw." entstehen und wenn man entweder das Auge oder die hypothetische Ätherschwingung hinwegnähme, würden jene Qualitäten zu Nichts verschwinden. Nun aber weiter! Jene Schwingungen der Ätherteilchen und der Äther selbst, welche man in den Lichterscheinungen als Korrelat des subjektiven Organs, des Auges, annimmt, - habe ich sie  wahrgenommen?  Nein! Vielmehr habe ich sie  hinzugedacht.  Gesetzt aber auch, es würde auf irgendeiner hohen Entwicklungsstufe der Wissenschaft möglich, die Undulationen des Äthers in der sinnlichen Wahrnehmung nachzuweisen, was wäre im Grunde gewonnen? Sofort würde sich von Neuem die Frage nach dem "Was" und "Woher" einstellen, als deren mögliche Antwort ich wiederum bemüht sein würde, ein neues hypothetisches Korrelat zu suchen. Immer  würde die Untersuchung mit einer Frage enden.  Nun bedenke man ferner folgendes: Hätten wir statt unseres Auges, welches Organ der Lichterscheinung ist, ein anderes Organ, das die Fähigkeit hätte, die  magnetischen Kräfte  in unmittelbarer Empfindung wahrzunehmen, also statt des  Lichtauges ein magnetisches Auge,  so würde die ganze sinnliche Welt eine andere. Die Licht- und Farbenqualitäten wären verschwunden und statt ihrer eine Reihe anderer Empfindungen und Qualitäten hervorgetreten, von deren Art wir jetzt gar keine Ahnung haben. So stehen wir am Ende immer wieder bei den Fragen, die wir am Anfang stellten: "Was ist das eigentlich? Woher kommt das alles?" So gräbt und sucht der Intellekt nach immer tieferen Ursachen, allgemeineren Substraten, hilft sich mit Hypothesen und sucht sie zu befestigen, - und dann:
    Encheiresin naturae nennt es die Chemie,
    Spottet ihrer selbst und weiß nicht wie.
Endlich aber, wenn wir nun mit KANT zu der tiefen Einsicht gekommen sind, daß Raum, Zeit und Kategorien Funktionen des Intellektes sind, daß die ganze Welt, diese empirisch-reale, nichts Unabhängiges, sondern unzertrennliches Korrelat des Subjekts der Erkenntnis ist, dann wird sich jene Ungewißheit, jenes Staunen am peinlichsten, die Frage am dringendsten einstellen. Es wird uns dann diese bekannte Welt durchweg als ein ungeheures Rätsel erscheinen; uns wird, wie ARTHUR SCHOPENHAUER treffend sagt, zu Mute sein, wie "jemandem, der, er wüßte gar nicht wie, in eine ihm gänzlich unbekannte Gesellschaft geraten wäre, von deren Mitgliedern, der Reihe nach, ihm eines das andere als seinen Freund und Vetter präsentierte und so hinlänglich bekannt machte, er selbst aber hätte unterdessen, indem er sich jedesmal über den Präsentierten zu freuen versicherte, stets die Frage auf den Lippen: "Aber wie Teufel komme ich denn zu der ganzen Gesellschaft? (30)

Kurz also, wir sehen:  Unser Wissen kann nur mit einer unbeantworteten Frage aufhören.  Wir finden uns nach soe vielem und langem Fragen, Forschen, Antworten, Erkennen, trotz aller erworbenen Einsciht, am Ende immer wieder in dem, womit wir begannen: in der  agnoia  [Nichtwissen - wp] oder, wie es der scharfsinnige theologische Skeptiker NICOLAUS CUSANUS treffend bezeichnet, in der "docta ignorantia" [wissende Unwissenheit - wp]. Die Frage ist das Ende des Wissens, wie sie dessen Ursprung war.

Wenn wir nun aber nicht ehrlich gegen uns selbst sind, wenn wir unser Unvermögen zu einer endgültigen Antwort nicht eingestehen, sondern dem fragenden Selbst vorspiegeln wollen wir könnten ein positives Etwas als tiefsten Grund dieses in Raum und Zeit wirkenden und ausgebreiteten Kosmos angeben, dann fingiert sich unser Intellekt ein  x,  das nicht räumlich, nicht zeitlich, nicht durch die Kategorien geordnet und erkennbar, also für uns überhaupt nicht vorstellbar ist, ein Ding, welches wir nicht als Ding erkennen - kurz ein  Ding an sich.  -

Da haben wir es nun! Das "Ding an sich" ist gar nichts anderes, als das Unding, welches der in einer Frage endigende Intellekt am letzten Ende sich als Antwort hinzuträumt, ein leeres, unvollendbares Haschen nach irgendeinem Phantasiebild ohne Dauer und Gestalt, welches vor der Wißbegier des Menschengeistes ewig zurückweicht, wie der Apfel vor dem Munde des TANTALUS.

Im Allgemeinen kann man sich die Ungereimtheit dieses leeren Scheinbegriffes (um eine scherzhafte Analogie anzuwenden) daran anschaulich machen, daß der abstrakte Intellekt im Gedanken des "Dings an sich" als der Bedingung dessen, wodurch er selbst erst  kat energeian  [das wirklich Tätige - wp] bedingt ist (der räumlich-zeitlichen Welt),  als sein eigener Großvater auftritt.  Gehen wir aber näher auf die begrifflichen Bestandteile desselben ein, so frage ich:  Was soll man sich unter einem etwas vorstellen, das weder räumliche Ausdehnung hat, noch sich an irgend einem Ort befindet, weder eine Zeit lang dauert, noch vergangen, gegenwärtig oder zukünftig ist, das weder Eigenschaften hat, noch selbst Eigenschaft eines anderen ist, endlich weder Wirkung einer Ursache, noch Ursache einer Wirkung ist?  Ein solches Ding ist nichts anderes, als ein  Messer ohne Klinge, dem das Heft fehlt.  Es ist also nicht nur ein  leerer,  sondern überhaupt  gar kein Begriff.  - Hätte KANT nur einigermaßen herzhaft diesen Pseudobegriff analysiert, anstatt immer scheu darum herumzutasten, so hätte er ihn wegwerfen müssen, wie wir es hier getan haben. Es bestätigt sich so an ihm das, was er selbst sagt: "Ich merke nur an, daß es gar nichts ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Gespräch, als in Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand,  indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete, oder auch dachte."  (31) Das paßt ganz genau! -

Übrigens hat KANT das dunkle Bewußtsein, daß es hier mit seiner Lehre nicht ganz sicher ist. Deshalb fällt es ihm nicht ein, den  kategorischen Imperativ  aus den "Ding an sich" zu deduzieren; sondern er läßt ihn uneingeführt aus der Welt des Gefühls als  deus ex machina  [als Gott aus der Maschine - wp] in den Intellekt hineinblitzen. Deshalb nennt er auch das "Ding an sich" einen  negativen,  einen Grenzbegriff und gibt sich zuerst das Ansehen, als wolle er es nur benutzen "um die Anmaßungen der Sinnlichkeit einzuschränken." (32) Aber abgesehen davon, daß dieser "negative" Begriff nachher eine sehr positive Bedeutung erhält,  kann das letzte, äußerste Ziel unseres Intellekts überhaupt kein Begriff sein, sondern nur eine unbeantwortete Frage, ein ungelöstes Rätsel.  Aus einem  Begriff  kann man unter allen Umständen noch in das jenseitige Gebiet weiter folgern; aus einer  Frage nicht.  Ja, genau genommen, (so sollte man meinen) darf der Intellekt hier, wo er an seinen ewigen Grenzen (Raum, Zeit und Kategorien) steht, gar nicht einmal die Frage formulieren, weil er doch a priori überzeugt sein muß, daß es eine müßige, nicht zu beantwortende ist; er muß in der  agnoia  stehen bleiben. Und in der Tat wird er das auch. Es ist der große, unselige Fehler KANTs, daß er an dieser entscheidenden Stelle der Natur des menschlichen Intellekts und seiner eigenen Lehre ins Gesicht geschlagen hat. -

Wie man sieht, treffen hier nun am Schluß die  historische  und die  psychologische  Deduktion des großen Fehlers zusammen. Auf induktivem Weg hatten wir in jener den immer weiter hinausgeschobenen und deshalb stets leeren Begriff des letzten, allgemeinsten Weltgrundes in allen Systemen gefunden und hatten aus ihm deduziert, wie die kritische Philosohie, nachdem sie in den Erkenntnissen a priori die letzte und äußerste Grenze allen menschlichen Erkennens und Vorstellens richtig fixiert hatte, durch Annahme jenes  leeren Begriffs  in den  transzendenten Unbegriff  des "Dings an sich" geraten war. Auf induktivem Weg haben wir nun andererseits das letzte subjektive Agens des Erkennens im psychischen Prozeß der Frage gefunden und aus ihr deduziert, wie der Intellekt, wenn er sie in transzendenter Weise über die Grenzen seines Könnens ausdehnt, als vorgebliche Antwort eben jenen Unbegriff des "Dings an sich" sich vorspiegelt.

Hiermit wäre dann unsere Aufgabe gelöst. Es sind einerseits die Bedingungen vollständige entwickelt, unter denen KANT zu jener Inkonsequenz gekommen ist; es ist damit andererseits der  Grenzpunkt der eigentlich konsequenten kritischen Philosophie  dargelegt und so ist uns der Maßstabe für die Beurteilung der Nachfolger in die Hand gegeben. Wir dürfen es uns jedoch nicht versagen, noch einige kurze Bemerkungen hinzuzufügen, welche unsere Untersuchung insofern vervollständigen, als sie gewissermaßen den metaphysischen Ort des abstrakten Intellekts bestimmen.

Mit einer Frage beginnt die Erkenntnis und in einer Frage endet sie. Für den abstrakten Intellekt ist nun allerdings eine Frage etwas Unbefriedigendes, Halbes, ja  Negatives.  Aber der menschliche Geist besteht so wenig nur aus abstraktem Erkennen und Reflektieren, daß diesem vielmehr ein Unmittelbares in der objektiven Empfindung und im subjektiven Gefühl vorausgehen muß, ehe es zum Fragen, Erkennen, abstrakten Wissen kommen kann. Wenn sich nun der abstrakte Intellekt in der letzten, transzendenten Grenzfrage für bankrott erklären muß, so ist dieses schmerzliche Geständnis des  Gefühl  fremd. Denn da es zwar den Anlaß zur Frage und auch zur letzten, äußersten, gibt, aber doch selbst toto genere [auf jede Art - wp] vom abstrakten Denken verschieden ist, so kann es sich dort, wo das Denken daran verzweifeln muß, einen Begriff als Antwort zu finden, ein  Surrogat,  gleichsam eine  gefühlte Antwort  geben, welche in Begriffe zu fassen, zu denken, freilich unmöglich ist. - Das  Denken  sucht dort zu erfassen,
    was die Welt
    Im Innersten zusammenhält.
Aber es findet, daß es in Raum, Zeit und Kategorien eingeschlossen ist. Das  Gefühl  hingegen findet hier in einem Positiven, Unsagbaren innere Beruhigung und Versöhnung, in etwas, das sich nicht denken und aussprechen sondern nur  fühlen  läßt. Hier tritt ihm gleichsam der  theos arretos  [göttliche Annahme - wp] der Gnostiker entgegen, das, von dem gesagt wird:
    Ich habe keinen Namen
    Dafür! Gefühl ist alles.
Das ist das Eigenste und Innerste der Menschennatur, das Rätsel in unserer Brust, das Allerheiligste unserer Seele, das in Kunst und Religion seinen sagbaren, sambolischen Ausdruck findet. Es ist dasselbe, was den abstrakten Intellekt nach begriffener Wahrheit streben und ringen läßt in der Philosophie, was andererseits in den herrlichsten und tiefsten Kunstwerken der größten Geister immer wiederkehrt. - Es ist das, was in BEETHOVENs neunter Symphonie unser Innerstes durchwetter und durchbraust und - nachdem im letzten Satz der angestrengte, verzweifelte Kampf nach Versöhnung zur wilden, furchtbaren Dissonanz ausgeartet ist, - erst in leisen, tiefen Tönen ahnungsvoll uns durchdringt, dann steigend und anwachsend in immer volleren Akkorden uns emporträgt, "bis endlich die kämpfende Seele sieghaft mit titanischer Kraft die irdische Last von sich schleudert und in schrankenlosem, himmlischen, transzendenten Jubel einzieht zur Feier des ewigen Weltfriedens." - Es ist das, was RAFAEL in der sixtinischen Madonna, nachdem er vor den dürstenden Blicken der Menschheit den Vorhang gelüftet hat, aus der Glorie eines geahnten Jenseits, aus den heiligen, schüchternen Augen der Jungfrau uns entgegenleuchten läßt. - Es ist das, wonach GOETHEs Faust überall vergeblich sucht, was er weder im Reich der Gedanken, noch in der niederen Sphäre der Sinnenlust zu finden vermag und was ihm endlich nach langem Lebenskampf beruhigen, versöhnend entgegenklingt:
    Alles Vergängliche
    Ist nur ein Gleichnis;
    Das Unzulängliche
    Hier wird's Ereignis;
    Das Unbeschreibliche
    Hier ist's getan. 
Hier können wir das Gesuchte finden: nicht in  Begriffen,  nicht durch den  abstrakten Intellekt.  - Bei der Vertiefung in eines jener Meisterwerke erscheint unserem inneren Blick das erfreuliche, versöhnende Licht; - dann erblaßt und verschwindet die hastige Neugier des Genießens vor dem tiefen, heiligen Ernst des Verstehens; das ästhetische Vergnügen wird zur ethischen Arbeit. Denn wir fühlen, daß jenes tiefste Etwas ausgesprochen ist, wonach unser innerstes Wesen sich sehnt, was unsere Sehnsucht beruhigt und lindert, wonach aber der abstrakte Intellekte vergeblich forscht und fragt, weil es etwas nur Gefühltes, nichts Sagbares oder gar Denkbares ist. Gerade deshalb fühlen wir uns nach dem Genuß eines solchen Meisterwerkes gehoben, gleichsam besser, geläuterter, - und dann doch wieder gedrückt; - eine Seelenstimmung, die seltsam aus Seligkeit und Trauer gemischt erscheint, weil wir einerseits in der Tat innerlich befriedigt sind, andererseits uns aber schmerzlich gehemmt fühlen durch das Unvermögen, das Genossene zu  erkennen,  d. i. durch das  medium  des fragenden Intellekts zu begreifen.

Der abstrakte Intellekt muß hier verstummen. Er steht ratlos da mit seiner Frage an den Weltgeist. Die Frage hat er freilich frei, aber was die Antwort angeht, so spricht jener Weltgeist eine andere Sprache, als er. Sollte er ihm aber je verständlich antworten, so würde er sprechen:
    Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
    Nicht mir!
Wohl aber hüte man sich vor einer sogenannten "Gefühlsphilosophie á la JACOBI, BAADER usw. Die Philosophie soll  erkennen  und  wissen,  das Gefühl aber ist nicht Organon des Erkennens. Die Erkenntnis hat das zum Objekt, was abstrakt vorgestellt, in Begriffe gefaßt, gedacht werden kann, also immer ein Allgemeines. Das Gefühl wird vom Unsagbaren, Namenlosen, schlechthin Individuellen befriedigt. Ein "erkennendes Gefühl" aber oder eine Gefühlsphilosophie" ist ganz analog einem "höheren Auge" oder "sehenden Ohr". -

Das Kantische "Ding an sich" ist der verfehlte Versuch des abstrakten Intellekts, auf eine unbeantwortliche Frage einen Begriff als transzendente Antwort zu finden, wo uns nur dadurch geholfen werden kann, daß durch anderweitige Befriedigung des Gefühls der Anlaß zur Frage hinwegfällt. Indem der Intellekt jenen Versuch macht, jene undenkbare Idee zu realisieren meint, verfällt er in den Widerspruch, etwas Unvorstellbares vorstellen, ein Undenkbares denken zu wollen, - begeht er die  metabasis eis allo genos  [unzulässiger logischer Sprung auf ein artfremdes Gebiet. - wp] im eminenten Sinne. -

Das ist die Bedeutung und das Schicksal des Kantischen "Dings an sich."
LITERATUR - Otto Liebmann, Kant und die Epigonen, Stuttgart 1865
    Anmerkungen
    1) HERBART behauptet (Die Psychologie als Wissenschaft, Seite 144), der Kantische Beweis beruhe auf einer quaternio terminorum [Fehlschluß beruhend auf dem Gleichlaut zweier Begriffe. - wp]. KANT schließe nämlich so:
          Was Erfahrung lehrt, enthält nie das Merkmal der Notwendigkeit.
          Der Raum und die Zeit sind notwendige Vorstellungen.
          Also sind Raum und Zeit nicht aus der Erfahrung gelernt.
    Hier habe nun das "notwendig" in jeder der beiden Prämissen eine andere Bedeutung. Raum und Zeit seien nämlich nur insofern notwendig, als man sie nicht hinwegdenken könne; dies komme aber allein daher, weil sie die  Körperwelt erst möglich  machen, welche für uns  wirklich  ist und weil man immer dasjenige, welches Bedingung der Möglichkeit eines  Wirklichen sei, notwendig  vorstellen müsse. Deshalb aber sei der Obersatz falsch; denn in  diesem  Sinne lehre uns die  Erfahrung  allerdings auch  Notwendiges.  - Hierauf ist zu erwidern: 1) Daß wir die Bedingungen der Möglichkeit eines von uns als  wirklich  Anerkannten für  notwendig erklären, lehrt  uns nicht die  Erfahrung,  sondern wir  fordern es nach subjektiven Denkgesetzen.  2) Nicht deshalb allein sind Raum und Zeit  notwendige  Vorstellungen, weil ohne sie die  Körperwelt unmöglich wäre, sondern vor allen Dingen deshalb,  weil ohne sie  unsere  eigene Intelligenz, das Subjekt der Erkenntnis, mein eigenes Ich, unmöglich wäre. Wir können ohne Raum und Zeit nicht nur  Nichts,  sondern auch  nicht  vorstellen; sie sind fortwährend in aller geistigen Tätigkeit  gegenwärtig  usw. Kurz, wenn man die Kantische Beweisführung einmal in die Form eines Syllogismus drängen will, so würde derselbe so lauten:
          Alles, was ich mir aus dem Subjekt der Erkenntnis nicht hinwegdenken kann, ohne zugleich dieses Subjekt selbst zu vernichten, ist ihm wesentlich, das heißt  a priori. 
          Raum und Zeit kann ich mir aus dem Subjekt der Erkenntnis nicht hinwegdenken, ohne dieses zugleich selbst zu vernichten.
          Wenn neuerdings von KIRCHMANN (Philosophie des Wissens, Bd. I, Seite 418 - 420) diese ganze Lehre angreift und HERMANN LOTZE (Mikrokosmus, Bd. III. Seite 485) wenigstens mit den Beweisen nicht zufrieden ist; so verweisen wir nur auf das eine Argument, welches man Seite 24 und 31 der Kritik der reinen Vernunft, 1. Ausgabe findet. Dieses allein schlägt jeden Zweifel zu Boden.
    2) Kritik der reinen Vernunft, Seite 253. Wir zitieren immer nach der ersten Ausgabe.
    3) Kr. d. r. V., Seite 246
    4) Kr. d. r. V., Seite 48, 49, 246, 253
    5) Kr. d. r. V., Seite 42. Vgl. Prolegomena 1783, Seite 62
    6) Kr. d. r. V., Seite 370, 371, 379
    7) Kr. d. r. V., Seite 383
    8) Kr. d. r. V., Seite 371, 378
    9) ARTHUR SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, Seite 515. - KUNO FISCHER, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. III, Vorrede Seite XIV, 278. - Vgl. ÜBERWEG: De priore et posteriore forma Kant. crit. rat. pur Commentatio Berol. 1861
    10) KANT, Kritik der reinen Vernunft, 2. Ausgabe, Seite 274
    11) Kr. d. r. V., Seite 49
    12) An dieser Stelle ist es nun auch (Seite 539), wo KANT in klaren Worten  transzendent  wird, indem er die Kategorie der Kausalität, welche doch nach seiner eigenen, ganz richtigen Erklärung nur auf räumliche und zeitliche Objekte anwendbar ist, auf jenes unvorstellbare, übersinnliche "Ding an sich" oder Noumenon anwendet. Dies ist der schlimme Präzedenzfall für manches folgende Unheil.
    13) Kr. d. r. V., 2. Ausgabe, Seite 272
    14) Kr. d. r. V., ebenda Seite 378
    15) FRIEDRICH HEINRICH JACOBI, David Hume - ein Gespräch, 1787, Seite 79
    16) SCHLEIERMACHER in dem interessanten kleinen Aufsatz über das Spinozistische System (Geschichte der Philosophie, 1839, Seite 283f) kommt dem, was hier von uns nachgewiesen ist, nahe, aber erreicht es nicht. SPINOZA nämlich mit KANT vergleichend, gelangt er zum Resultat, daß das Noumenon oder Ding an sich nur durch "einen inkonsequenten Rest des alten Dogmatismus" in der kritischen Philosophie entstanden sei. Aber dieser treffende, gerechte Tadel wird nicht weit genug verfolgt, um Veranlassung zu geben zur Bloßlegung des wahren kritischen Grundgedankens und zur Verwerfung der grundfalschen verkehrten Auffassungen, welche leider, aus jenem Fehler KANTs enstpringend, den aufkeimenden Samen der Wahrheit als Unkraut üppig überwuchert haben und zu ersticken drohten. SCHLEIERMACHER scheut sich doch, die gefährliche Nessel mit beherztem Griff zu erdrücken, auszuraufen und wegzuwerfen, wie wir jetzt getan haben; er begnügt sich damit, zu erklären, daß KANT in diesem Stück mutatis mutandis [das zu Ändernde geändert - wp] Spinozist sei", womit freilich die nachhinkende Inkonsequenz des Kritizismus getroffen, aber weder erklärt noch verworfen ist. So aber fehlt dem Angriff die Wucht, der Waffe die Spitze.
    17) SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Seite 597
    18) Kr. d. r. V., Seite 563
    19) Kr. d. r. V., Seite 246
    20) GOTTLOB ERNST SCHULZE, Aenesidemus oder über die Fundamente der von Herrn Professor Reinhold in Jena gelieferten Elementarphilosophie. Nebst einer Verteidigung des Skeptizismus gegen die Anmaßungen der Vernunftkritik, 1792
    21) KANTs Prolegomena, Seite 13
    22) FRANCIS BACON, Novum Organon I, Seite 41
    23) Ebendahin gehört die hegelsche Vergleichung KANTs mit einem Scholastikus, der  "schwimmen  zu lernen sich vorsetzt,  ehe er sich ins Wasser wagt".  Dieses ganz unzutreffene, falsche Gleichnis ist bereits von kompetenter Seite gebührend abgefertigt worden. - HEGELs "Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, 1827, Einleitung § 10. Vgl. KUNO FISCHERs Geschichte der Philosophie, Bd. III, Seite 21
    24) siehe oben folgende
    25) Eine dritte Frage ist das  Wozu?  Die Antwort enthält den  Zweckbegriff.  Da dies aber eine in das praktische Gebiet gehörige Kategorie ist, so sehen wir hier von ihr ab.
    26) Eine Deduktion oder Begründung der Kategorien liegt ganz außerhalb des Bereichs dieser Abhandlung, welche allein einen kritischen Zweck hat. Beiläufig nur folgendes: Daß es die, unabhängig von aller Erfahrung gegebene Überzeugung von der Notwendigkeit jener allgemeinsten Synthesen ist, was KANT unter Apriorität verstand und was ihnen den Charakter der "Kategorie" verleiht, ist schon bemerkt worden. Alle Synthesis aber bezieht sich auf Anschauungen. Nun sind Raum und Zeit als allgemeine Formen aller Anschauung gegeben. Im Charakter des Raumes liegt das träge Nebeneinander, in dem der Zeit das rastlose, fließende Nacheinander. In ihrer Kombination sind folgende Fälle die allgemeinsten: Entweder ich suche das notwendig räumlich Beharrende im zeitlichen Wechsel -  Substantialität oder ich suche das notwendige zeitliche Aufeinanderfolgen am räumlich Beharrenden -  Kausalität
    27) Kr. d. r. V., Seite 307
    28) ARTHUR SCHOPENHAUER behauptet in seiner Kritik der kantischen Philosophie, KANT habe hierin Unrecht und "der Satz vom  zureichenden  Grund fordere immer "nur die Vollständigkeit der nächsten Bedingung,  nie die Vollständigkeit einer Reihe.  (Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Seite 572) Diese Behauptung klingt ungefähr so, als wenn jemand sagen wollte: "Um in dieser Höhe über den Erdboden fest zu ruhen, bedarf der Architrav [Säulenschaft - wp] nur des Kapitäls." Architrav und Kapitäl würden zusammen niederstürzen, wenn nicht Letzteres vom Säulenschaft, dieser vom Piedestal [Sockel - wp] und dieses wiederum vom Erdboden getragen würde. Man könnte vielleicht den obigen Satz KANTs am Besten so fassen: "Es ist ein Postulat der Vernunft, daß sie bei einem regressus in indefinitum die Reihe einander bedingender Zustände, deren Resultat das Gegenwärtige ist,  vollständig  finde, so weit sie auch zurückgreifen mag." Wer sich aber nach SCHOPENHAUERscher Methode immer mit der Vollständigkeit nur der  nächsten  Bedingungen begnügte, der, in der Tat, wäre  unglaublich beschränkt, ein wahres Monstrum an Borniertheit. 
    29) FRANCIS BACON, Novum Organon I, § 48
    30) ARTHUR SCHOPENHAUER, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Seite 117
    31) Kr. d. r. V., Seite 341
    32) Kr. d. r. V., Seite 255