tb-1Kant und die EpigonenDie Marburger SchuleBedeutung Kants     
 
WILHELM WINDELBAND
Immanuel Kant
- Zur Säkularfeier seiner Philosophie -
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"Die Forderung, daß zwei Vorstellungen in irgendeiner Weise miteinander übereinstimmen sollen, ist nur unter der Voraussetzung gestellt und nur in dem Falle berechtigt, daß sie sich beide auf einen und denselben Gegenstand  beziehen.  Mag man dabei auch von jener populären Meinung absehen, sie seien beide dazu bestimmt, diesen Gegenstand abzubilden und deshalb auch einander zu gleichen, so hat doch das Verlangen der Übereinstimmung nur solange Sinn, als sie beide auf ein gemeinsames  X  bezogen werden, das sie beide in der Vorstellungstätigkeit, wenn auch nicht als seine Abbilder, repräsentieren sollen. Ohne diese Beziehung auf eine und dieselbe Realität wüßte man ja gar nicht, welche unter den zahllosen Vorstellungen miteinander verglichen und zur Herbeiführung der immanenten Wahrheit übereinstimmend gefunden werden sollen."

"Die kantische Philosophie hebt also nicht, wie man ihr nachgesagt hat, die Gegenstände auf: ihr  Idealismus  besteht keineswegs darin, zu behaupten, daß in der weiten Welt nichts existiere, als die Vorstellungsmassen der Individuen. Aber sie behauptet, indem sie jede Metaphysik abschneidet, daß Gegenstände für uns nichts weiter sind, als bestimmte Regeln der Vorstellungsverbindung, welche wir vollziehen sollen, wenn wir wahr denken wollen."

"Das ist in großen Zügen der Inhalt jenes wundersamen Buches, - der Kritik der reinen Vernunft: Die Philosophie soll kein Abbild der Welt mehr sein, ihre Aufgabe ist, die Normen zu Bewußtsein zu bringen, welche allem Denken erst Wert und Geltung verleihen. An die Stelle des Weltbildes, das die griechische Philosophie suchte, tritt die Selbstbestimmung, vermöge deren sich der Geist sein eigenes Normalgesetz zu Bewußtsein bringt."

"Solange man die Wahrheit als Übereinstimmung von Vorstellung und Ding betrachete, da war sie freilich nur im Denken zu suchen: denn von solchen Übereinstimmungen ist weder im sittlichen Handeln, noch im ästhetischen Fühlen etwas zu finden. Wenn man aber unter Wahrheit mit Kant die Norm des Geistes versteht, so gibt es ethische und ästhetische Wahrheit so gut wie theoretische."

"Wie der Sinnenschein trotz der Einsicht des Kopernikus immer den Aufgang und den Untergang der Sonne lehren wird, so bleibt auch im populären Bewußtsein die Erkenntnis immer ein Bild von Dingen und ihren Verhältnissen - für die Philosophie aber wird niemals wieder das Ideal verschwinden, daß sie bestimmt ist, das Gesamtbewußtsein von den höchsten Werten des Menschenlebens zu sein."

Wollte man nun aber doch, der alten Täuschung folgend, daran festhalten, es sei die Aufgabe unseres Denkens und sein Erkenntniswert bestehe darin, die absolute Wirklichkeit abzubilden, so muß daraus zugestanden werden, daß für uns niemals eine Entscheidung darüber zustande kommen könnte, in welchem Maße diese Aufgabe erfüllt wäre. Denn da Ding und Vorstellung inkommensurabel sind, da wir niemals etwas anderes, als Vorstellungen mit Vorstellungen vergleichen können, so ist für uns auch nicht die geringste Möglichkeit vorhanden, zu entscheiden, ob irgendeine Vorstellung mit etwas anderem, als wieder mit Vorstellungen übereinstimmt.

Wenn dem so ist, so hat es keinen Sinn, von der Wissenschaft zu verlangen, daß sie ein Abbild der Wirklichkeit sein soll; der Begriff der Wahrheit kann nicht mehr eine Übereinstimmung der Vorstellungen mit Dingen involvieren; er reduziert sich auf die Übereinstimmung der Vorstellungen untereinander, der sekundären mit den primären, der abstrakten mit den konkreten, der hypothetischen mit den sensualen, der "Theorie" mit den "Tatsachen" [Soll wohl heißen "Theorievorstellungen" mit den "Tatsachenvorstellungen" - wp].

Zu diesem Resultat gelangte man vor KANT durch die Untersuchungen übner den Ursprung der sinnlichen Wahrnehmungen. Die Physiologie leistete der Philosophie den wesentlichen Dienst, sie von der populären Ansicht zu befreien, als ob die Sinneswahrnehmung eo ipso das Abbild des wirklichen Gegenstandes in der vorstellenden Seele sei. Schon in der antiken Skepsis angeregt, wurden diese Gedanken von den terministischen Logikern des Mittelalters wie OCKHAM und von den Skeptikern der Renaissance, besonders von SANCHEZ, vertieft, von DESCARTES aufgenommen und von HOBBES zu der Lehre verarbeitet, daß das gesamte sinnliche Weltbild als subjektives Gebilde zu seinem hypothetischen Original nicht im Verhältnis der Abbildlichkeit stehen könne. Später hat LOCKE dieses im ersten Anlauf gewonnene Resultat modifiziert und die "Subjektivität" auf die sinnlichen Qualitäten beschränkt, während er für Raum- und Zeitformen darauf zurückkam sie als Abbilder der absoluten Wirklichkeit zu betrachten. Er inaugurierte dadurch die Weltvorstellung der modernen Naturforschung, welche von ihren heutigen Vertretern nur durch ein großes Mißverständnis mit dem Namen KANTs in Verbindung gesetzt zu werden pflegt.

Allein die auf solchem Wege gewonnene Ansicht, daß Wahrheit nicht in der "Übereinstimmung" der Vorstellungen mit Gegenstände, sondern in derjenigen von Vorstellungen untereinander zu suchen sei- man ist geneigt, sie den immanenten Wahrheitsbegriff zu nennen - ist weit davon entfernt, in dem Sinne, wie es merkwürdigerweise meistens auch in philosophischen Untersuchungen angesehen wird, von metaphysischen Voraussetzungen und von der Annahme einer bestimmten Beziehung zwischen Dingen und Vorstellungen frei zu sein; sie involviert durchaus nicht, wie es auf den ersten Blick erscheint, ein rein immanentes Verhältnis der Vorstellungen untereinander. Denn daß zwei Vorstellungen verschieden sind, daß sie nicht miteinander übereinstimmen, ist an sich so wenig ein Mangel oder etwas zu Vermeidendes oder zu Verwerfendes, daß vielmehr auf der Unterscheidung der Vorstellungen der gesamte Denkprozeß beruht: die Forderung, daß zwei Vorstellungen in irgendeiner Weise miteinander übereinstimmen sollen, ist nur unter der Voraussetzung gestellt und nur in dem Falle berechtigt, daß sie sich beide auf einen und denselben Gegenstand "beziehen". Mag man dabei auch von jener populären Meinung absehen, sie seien beide dazu bestimmt, diesen Gegenstand abzubilden und deshalb auch einander zu gleichen, so hat doch das Verlangen der Übereinstimmung nur solange Sinn, als sie beide auf ein gemeinsames  X  bezogen werden, das sie beide in der Vorstellungstätigkeit, wenn auch nicht als seine Abbilder, repräsentieren sollen. Ohne diese Beziehung auf eine und dieselbe Realität wüßte man ja gar nicht, welche unter den zahllosen Vorstellungen miteinander verglichen und zur Herbeiführung der immanenten Wahrheit übereinstimmend gefunden werden sollen.

So mannigfach deshalb auch diese Auffassung gewendet und umgeprägt worden ist, immer wird doch die Wahrheit in einer Beziehung der Vorstellung zu einer absoluten Wirklichkeit gesucht, für welche sie das "Zeichen", die "Repräsentation", von der sie die notwendige und konstante Folge sein soll. An die Stelle des sinnlichen ist ein begriffliches, an die Stelle des anschaulichen ein abstraktes Verhältnis getreten, statt des "Abbildens" spricht man von Kausalität. Unsere Vorstellungen sind nicht mehr die Bilder der Dinge, sondern deren notwendige Wirkungen auf uns und so wenig wie in anderen Fällen scheint es auch hier erforderlich, zu meinen, daß die Wirkung ein Abbild ihrer Ursache sein müsse.

Diese Ansicht ist sehr plausibel. Sie bedarf jener unmöglichen Vergleichung zwischen Dingen und Vorstellungen nicht und sie fügt sich dem Rahmen der kausalen Weltbetrachtung scheinbar leicht, einfach und abschließend ein. Zum System der Dinge gehört auch das vorstellende Bewußtsein und zu den Zustandsänderungen, welche sich im System der naturgesetzmäßigen Funktionen ergeben, gehört auch die Erzeugung der Vorstellungen im Bewußtsein durch die Einwirkung der anderen Dinge. Man wird nicht fehl gehen, wenn man bei der großen Mehrzahl der Männer der heutigen Wissenschaft diese Vorstellungsweise voraussetzt. Nur soll man sie nicht kantisch nennen, denn sie ist nur eine von KANT überwundene Vorstufe seiner Kritik. Nur soll man sie nicht Erkenntnistheorie nennen, denn sie enthält eine vollständige Metaphysik als ihre Voraussetzung. Nur soll man sie nicht eine erklärende Theorie nennen, denn sie ist eine Hypothese und zwar eine von denjenigen, die niemals verifiziert werden können.

Denn wenn wir von den Dingen nicht weiter kennen, als die Wirkungen, welche sie auf unsere Vorstellungstätigkeit ausüben, nach welchem Wahrheitsbegriff soll denn diese Annahme selbst als wahr beurteilt werden? Wo ist die wahrnehmbare Tatsache, mit der diese Theorie übereinstimmen soll? Jene in der Hypothese angenommene Einwirkung der Dinge auf die Vorstellungstätigkeit kann selbst niemals wahrgenommen werden, da, der Hypothese selbst zufolge, jede Wahrnehmung nur eine Vorstellungskombination ist und niemals die Dinge selbst enthält. Oder soll etwa diese Ansicht in dem Sinne "wahr" sein, daß das darin ausgesprochene Kausalverhältnis zwischen den Dingen und unseren Vorstellungen der gedankliche Ausdruck, d. h. das Abbild des zwischen beiden  realiter  [in Wirklichkeit - wp], in  natura rerum  [Natur der Dinge - wp] bestehenden Verhältnisses ist? Aber dann sind wir ja wieder bei der alten Vorstellung von der Übereinstimmung zwischen Denken und Sein!

In der Tat liegt jenes ursprüngliche Vorurteil auch noch dieser Hypothese heimlich zugrunde. Alle die Theorien der englischen und französischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts, welche dem Menschen die Fähigkeit absprechen, die "Dinge an sich" zu erkennen, vollziehen damit einen Akt der Resignation und haben deshalb einen skeptischen Anflug. Es kommt immer dabei so heraus, daß unser Wissen eigentlich ein Abbild des Universums sein sollte, daß das aber nun einmal leider nicht der Fall sei, daß vielmehr das Höchste, was wir erreichen können, darin bestehe, den wirklichen Zusammenhang soweit im Bewußtsein zu reproduzieren, als wir unsere Vorstellungen für Wirkungen unbekannter Dinge erklären. Die Lehre der immanenten Wahrheit ist nur ein partieller Verzicht auf die Erreichung der transzendenten Wahrheit, die als Richtschnur geltend bleibt.

Es war nötig, diese Umrisse der verwickelten Geschichte des Wahrheitsbegriffes anzudeuten, um die völlige Originalität von KANTs Erkenntnistheorie verständlich zu machen. Denn der springende Punkt seiner kritischen Philosophie liegt, wie sich biographisch festlegen läßt, in seinen Untersuchungen darüber, "worauf die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf dem Gegenstand beruhe" und das vollkommen Neue in seiner Behandlung dieser Frage besteht darin, daß er seiner Fragestellung nicht mehr jenem populären Gegensatz von Sein und Vorstellen zugrunde legt und deshalb für die Beantwortung weder die sinnlichen Schemata noch die Reflexionsbegriff anwendet, unter denen bis dahin die erkenntnistheoretischen Probleme bearbeitet worden waren. Keines dieser Schemata und keine dieser Reflexionsformen reicht aus, um das Verhältnis von Denken und Sein in der Weise vorzustellen, daß daraus der Unterschied wahrer und falscher Vorstellungen abgeleitet werden könnte. Die geheimnisvolle "Beziehung" der Vorstellungen auf Gegenstände muß also auf ein anderes Verhältnis zurückgeführt werden, welches von jenen metaphysischen Voraussetzungen und allen den daraus entstehenden Schwierigkeiten frei ist.

Dieses Verhältnis findet KANT im Begriff der  Regel. (1) Wenn nach der populären Auffassung der "Gegenstand" das Original ist, mit welchem die für wahr geltende Vorstellung übereinstimmen muß, so ist er, bloß von der Seite der Vorstellungstätigkeit her gesehen, eine Regel, nach welcher sich bestimmte Vorstellungselemente anordnen sollen, damit sie in dieser Anordnung als allgemeingültig anerkannt werden. Die Elemente der Vorstellungstätigkeit, die sogenannten Empfindungen, können in jedem Individuum nach der psychologischen Notwendigkeit der Assoziation in beliebige Verbindungen und Reihenfolgen gebracht werden: von einem "gegenständlichen" Denken ist nur insofern die Rede, als sich in der unendlichen Menge von Kombinationen, die auf diese Weise möglich sind, nur gewisse Anordnungen als solche herausstellen, die gedacht werden sollen. Jedes Individuum ist imstande, die Elemente der Vorstellungstätigkeit in seiner Weise zu verbinden: aber nur  eine  Anordnung derselben ist im einzelnen Fall richtig, d. h. nur eine hat den Wert, daß sie für alle Vorstellenden gelten sollte. Alles Denken, welches den Anspruch erhebt, Erkenntnis zu sein, enthält eine Vorstellungsverbindung, die nicht nur das Produkt individueller Assoziation, sondern eine Regel für alle diejenigen sein will, denen es um Wahrheit ihres Denkens zu tun ist. Was also nach der gewöhnlichen Voraussetzung ein "Gegenstand" ist, der im Denken abgebildet werden soll, das ist in voraussetzungsloser Betrachtung eine Regel der Vorstellungsverknüpfung.

Ob es mehr ist, - das wissen wir nicht und das brauchen wir nicht zu wissen. Wenn diese Regel auf einer absoluten, von allem Vorstellen unabhängigen Realität beruth, in einem "Ding-an-sich" begründet ist, - wenn sie einem "höheren" Vorstellen, einer "transzendentalen Apperzeption" oder einem "absoluten Ich" angehört, - wir können es niemals wissen. Uns genügt es, zu konstatieren, daß es in unseren Vorstellungsassoziationen einen Unterschied der Wahrheit und der Falschheit gibt, welcher darauf beruth, daß nur die als wahr anzuerkennenden Vorstellungsverbindungen nach einer Regel geschehen, die für alle gelten soll.

Auf den ersten Blick kann es erscheinen, als ob dieser neue, auf dem Begriff der Regel und der Allgemeingültigkeit beruhende Wahrheitsbegriff der voraussetzungsvollste von allen wäre, als ob er die metaphysische Annahme einer Vielheit von denkenden Subjekten notwendig involviere und als ob er deshalb die allgemeine Hypothese von einer dem Vorstellen entsprechenden Wirklichkeit durch eine sehr viel speziellere und bestreitbarere ersetze. In Wahrheit ist das aber nicht der Fall. Denn wenn wir die "Regel" als dasjenige bestimmen, was für alle gelten soll, so bedienen wir uns dabei eines abgeleiteten Merkmals, wodurch dasjenige, was wir meinen, unter den Verhältnissen unserer gewöhnlichen Vorstellungsweise am anschaulichsten gemacht zu werden scheint. Aber schon das individuelle Bewußtsein macht - ohne jede Rücksicht auf die anderen - in sich die Erfahrung davon, daß einige seiner Vorstellungen nach einer Regel geschehen, die sein soll, andere dagegen nur sich in ihm vollziehen, ohne den Wert der Normalität in Anspruch nehmen zu dürfen. Die Allgemeingültigkeit ist nur die für die empirische Welt der vorstellenden Subjekte gezogene Konsequenz der Normalität. Schon das einzelne Bewußtsein unterscheidet für sich allein ganz sicher zwischen dem, was nach der Regel gedacht wird und dem, was mit ihr in keiner Beziehung steht: und erst, wenn man die Annahme einer Vielheit denkender und um der Wahrheit willen denkender Individuen hinzunimmt, erweist es sich, daß die "Regel" für alle dieselbe sein muß.

Die kantische Philosophie hebt also nicht, wie man ihr nachgesagt hat, die Gegenstände auf: ihr "Idealismus" besteht keineswegs darin, zu behaupten, daß in der weiten Welt nichts existiere, als die Vorstellungsmassen der Individuen. Aber sie behauptet, indem sie jede Metaphysik abschneidet, daß Gegenstände für uns nichts weiter sind, als bestimmte Regeln der Vorstellungsverbindung, welche wir vollziehen sollen, wenn wir wahr denken wollen. Was diese Regeln sonst sein könnten, geht uns nichts an, da wir davon nicht das geringste ernsthaft vorzustellen imstande sind: KANT lehnt jede metaphysische Deutung dieser Regeln ab; seine Nachfolger haben sich darin desto üppiger ergangen, indem sie meinten, aus der schöpferischen Tätigkeit des Geistes auch die Inhalte seiner regelgebenden Funktion ableiten und damit in ihrer Notwendigkeit begreifen zu können.

Gesetzt also, ich mache die Wahrnehmung, daß sich jetzt in einer bestimmten Entfernung von mir eine rote Kugel von bestimmter Größe befinde, so meint das naive Bewußtsein, die Richtigkeit dieser Wahrnehmung beruhe darauf, daß das alles in derselben Weise unabhängig von mir wirklich so sei: KANT dagegen zeigt, die "Wahrheit" dieser Behauptung bestehe darin, daß die Vorstellungen dieses Zeitpunkts, dieser Raumlage, dieser Gestalt und Größe, dieser Farbe usw. nach einer Regel verknüpft werden, welche unabhängig von jeder individuellen Assoziation, gelten und damit für jeden Denkenden maßgebend sein soll. Man sieht, diese Auffassung ändert an den Verhältnissen der gewöhnlichen Vorstellungstätigkeit nichts; sie rektifiziert [berichtigt - wp] nur die Deutung, welche man ihnen unter dem Einfluß eines gewissen Vorurteils, das sich in den Reflexionsbegriffen von Sein und Vorstellen und dem sinnlichen Schema ihres Verhältnisses ausdrückte, von alters her zu geben gewohnt war. Was man, ohne es in Wahrheit denken zu können, Gegenstand nannte, ist bei KANT eine Regel der Vorstellungsverbindung.

Weder für die Elemente, die dabei verbunden werden sollen, noch für die Formen dieser Verbindung hat es irgendeinen Sinn, zu fragen, ob sie Abbilder einer absoluten Wirklichkeit sind oder sonst in irgendeiner Beziehung zu einer solchen stehen: es handelt sich nur darum, daß im Gewoge der Vorstellungen gewisse Verknüpfungen sich nach einer Regel vollziehen, welche gelten, für alle gelten soll. In der unendlichen Mannigfaltigkeit der Vorstellungsverbindungen gibt es solche, welche einer allgemeingültigen Regel, einer Norm entsprechen. Wahrheit ist Normalität des Denkens.

Jede besondere Regel aber, welche die Normalität einer einzelnen Vorstellungsverbindung und damit ihre "Gegenständlichkeit" ausmacht, erweist sich bei näherer Untersuchung als abhängig von einer allgemeineren Form der Vorstellungsverknüpfung: jene ist nur dann begründet, wenn sie eine besondere Anwendung von dieser ist. Daß zwei Empfindungen  a  und  b  als die gleichzeitigen Eigenschaften eines und desselben Dinges vorgestellt werden sollen, ist nur möglich durch die Anwendung einer allgemeinen Regel, wonach überhaupt verschiedene Vorstellungsakte in der Form der Substantialität und Inhärenz miteinander verknüpft werden sollen. Alle besonderen normalen Vorstellungsverknüpfungen stehen also in letzter Instanz unter einer Anzahl von allgemeinsten Regeln der Verknüpfung, welche die Voraussetzungen des normalen Denkens überhaupt bilden. Es gibt ohne diese Voraussetzungen kein Denken, welches über die Naturnotwendigkeit der Assoziation hinaus den Wert der Wahrheit in Anspruch nehmen dürfte. Alles wissenschaftliche, d. h. normale und allgemeingültige Denken beruth auf der stetigen Anwendung dieser allgemeinen Regeln: die Aufgabe der Philosophie ist es, diese höchsten Normen des nach Wahrheit trachtenden Denkens zu Bewußtsein zu bringen.

Indem sich die Philosophie auf die Regeln des normalen Denkens besinnt, ist sie damit beschäftigt, die Tätigkeit zu begründen, welche die übrigen Wissenschaften an ihren einzelnen "Gegenständen" fortwährend ausüben. Sie sucht die allgemeinen Voraussetzungen, welche als normative Bestimmtheit des richtigen Denkens aller wissenschaftlichen Arbeit zugrunde liegen. Sie sucht die "Vor-urteile" auf, ohne welche alle einzelnen alltäglichen Urteile des Wissens wie des szientifischen Fortschritts haltlos in der Luft schweben würden. Sie entwirft das theoretische Normalbewußtsein des Menschen und weist die Regeln nach, unter welche sich das Denken zu beugen hat.

Das ist in großen Zügen der Inhalt jenes wundersamen Buches, dessen Säkularfeier wir begehen, - der Kritik der reinen Vernunft. Die Philosophie soll kein Abbild der Welt mehr sein, ihre Aufgabe ist, die Normen zu Bewußtsein zu bringen, welche allem Denken erst Wert und Geltung verleihen.

Aber eben deshalb weist dieses Buch, welches nur eine Kritik der Erkenntnis sein will, über sich selbst hinaus. Die Aufgabe der Wissenschaft, zeigt es, ist nicht, die Welt abzubilden, sondern dem Spiel der Vorstellungen das normale Denken gegenüberzustellen und seine philosophische Spitze besteht darin, die letzten alles übrige begründenden Prinzipien des normalen Denkens zu formulieren. An die Stelle des Weltbildes, das die griechische Philosophie suchte, tritt die Selbstbestimmung, vermöge deren sich der Geist sein eigenes Normalgesetz zu Bewußtsein bringt. Und wenn die Aufgabe der Philosophie so gefaßt ist, so zeigt sich von selbst, daß sie mit der Aufstellung der Normen des erkennenden Denkens erst zum geringsten Teil gelöst ist. Denn es gibt andere Tätigkeiten des menschlichen Geistes, in denen, unabhängig von allem Wissen, sich ebenso eine Normalgesetzgebung, ein Bewußtsein davon offenbart, daß aller Wert der einzelnen Funktionen durch gewisse Regeln bedingt ist, denen sich die individuelle Lebensbewegung unterordnen soll. Neben dem normalen Denken steht das normale Wollen und das normale Fühlen: sie haben alle drei das gleiche Recht. Nachdem KANT die Meinung abgestreift hat, daß das richtige Denken ein Abbild des Seins geben soll, verschwindet der Anspruch des Denkens, alle Wahrheit in sich zu haben und aus sich zu schöpfen, von selbst: die Besinnung auf die Normen erstreckt sich auf den ganzen Umfang des Seelenlebens.

Solange man die Wahrheit als Übereinstimmung von Vorstellung und Ding betrachete, da war sie freilich nur im Denken zu suchen: denn von solchen Übereinstimmungen ist weder im sittlichen Handeln, noch im ästhetischen Fühlen etwas zu finden. Wenn man aber unter Wahrheit mit KANT die Norm des Geistes versteht, so gibt es ethische und ästhetische Wahrheit so gut wie theoretische. Darum schrieb KANT nach der Kritik der theoretischen Vernunft diejenigen der praktischen und der ästhetischen und erst alle die drei großen Werke zusammen geben seine ganze Philosophie. Man darf eigentlich nicht mehr sagen: seine Weltanschauung; denn er kann, er will kein Weltbild liefern. Statt dessen gibt er uns eine den  ganzen  Umfang der menschlichen Lebensbetätigung umspannende Besinnung auf die Normalgesetze de Geistes. Er grenzt die Geltund der einzelnen, indem er sie subjektiv begründet, genau gegeneinander ab; er weist jedem den Wert zu, der ihm im Ganzen unseres Normalbewußtseins zukommt und der zeigt, wie sie sich streitlos zu einem System vereinigen, dessen letzte Spitze wir nur zu ahnen vermögen.

Wenn deshalb von einer Ergänzung die Rede gewesen ist, welche KANT für die Unzulänglichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis im ethischen und ästhetischen Bewußtsein gesucht habe, so darf das nicht in iner falschen Analogie zu den Versuchen aufgefaßt werden, welche die frühere Skepsis wohl gemacht hat, das Wissen durch Überzeugungen und Gefühle zu "ergänzen". Man mißversteht KANTs ganze Absicht und man deutet seine Lehre so schief wie nur irgendmöglich, wenn man meint, er habe gezeigt, daß die Wissenschaft nur von der Welt der "Erscheinungen" ein Bild gewinnen, von den Dingen an sich dagegen nicht "erkennen" könne und daß man, um zu einer Weltanschauung zu gelangen, zu den denknotwendnigen Voraussetzungen des sittlichen Bewußtsein und zu den genialen Intuitionen der Kunst greifen müsse. Die Wahrheit ist, daß KANT den Begriff der "Weltanschauung" im alten Sinne überhaupt zersetzt hat und daß er deshalb auch nichts darüber gelehrt hat wie sich etwa in der Erzeugung dieses Weltbildes Wissen, Glauben und Anschauen einander "ergänzen" könnten. Die Wahrheit ist, daß KANT als die Aufgabe der Philosophie die Besinnung auf die "Prinzipien der Vernunft", d. h. auf die absoluten Normen, bestimmt hat und daß diese Besinnung, weit entfernt, durch die Regeln des Denkens erschöpft zu sein, erst durch die Regeln des Wollens und des Fühlens ihren Abschluß findet. In der Besinnung auf die höchsten Wertbestimmungen sind die Normen der Wissenschaft nur ein Teil: neben ihnen gelten, selbständig und völlig unabhängig davon, die Normen des sittlichen Bewußtseins und des ästhetischen Gefühls. Gleich tief wie die Wurzeln unseres Denkens liegen in der Vernunft diejenigen unserer Sitte und unserer Kunst; erst aus allen dreien zusammen bildet sich - nicht ein Weltbild - sondern das normale Bewußtsein, welches mit "Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit" über den zufälligen Ablauf individueller Lebensbetätigung als deren Maß und Ziel stehen soll.

So erkennt im größten Philosophen die Wissenschaft als die bestimmenden Mächte der höchsten Wahrheit neben sich das ethische und ästhetische Bewußtsein an. Sie begrüßt zu hoher Verbindung das Plichtbewußtsein der Gesellschaft und den Genius der Kunst. Sie spricht eben damit das Gesamtbewußtsein der modernen Kultur aus und durch die Umbildung, welche sie mit dem Begriff der Erkenntnis selbst vornimmt, gewinnt sie die Möglichkeit, die Widersprüche zu versöhnen, welche in den Grundlagen des modernen Bewußtseins enthalten waren.

Das ist das neue System der Philosophie, welches KANT geschaffen, welches die Kritik der reinen Vernunft begründet hat. Die einzelnen Lehren, mit denen KANT, gerade im Grundwerk, diese völlig neue Aufgabe aus den Voraussetzungen des früheren Denkens herausentwickelte, lassen vielmehr die Spuren ihres sehr verwickelten Ursprungs sehen. Einige davon sind schon zerbröckelt, andere werden zerbröckelt; der neue Begriffsapparat, in welchem die "Norm" oder die "Regel, wie KANT sage, den Mittelpunkt bilden wird, ist erst im Entstehen; von der neuen Aufgabe, die damit für die Philosophie geschaffen ist, haben nur wenige bisher eine klare Vorstellung; wie der Sinnenschein trotz der Einsicht des KOPERNIKUS immer den Aufgang und den Untergang der Sonne lehren wird, so bleibt auch im populären Bewußtsein die Erkenntnis immer ein Bild von Dingen und ihren Verhältnissen - - für die Philosophie aber wird niemals wieder das Ideal verschwinden, daß sie bestimmt ist, das Gesamtbewußtsein von den höchsten Werten des Menschenlebens zu sein. In diesem Sinne ist die kantische Philosophie nicht nur theoretischer Idealismus als die Lehre, daß alle Erkenntnis in der normativen Gesetzmäßigkeit der Vorstellungen besteht, sondern auch praktischer Idealismus: sie ist die Lehre von den Idealen der Menschheit. In diesem Sinne hat sie auf ihre großen Zeitgenossen gewirkt, in diesem Sinne wird sie bestehen bleiben: - das ist der "Geist" der kantischen Philosophie.

Langsam, oft unbemerkt hat dieser Geist das europäische Denken durchdrungen; an manchen Stellen ist er zur vollen Erscheinung gekommen, an anderen arbeitet er mühsam gegen die alten Vorurteile, an anderen erweist er sich als die siegreiche Kraft gerade durch die Umgestaltung, welche unter ihm die ihn bekämpfenden Richtungen erfahren. Wenn man auch den wahren Sinn der durch KANT gewonnenen Umgestaltung des Denkens nicht überall verstanden hat, - sein tiefgreifenden Wirkungen liegen zutage. Sie zeigen sich vor allem in der Gestaltung des wissenschaftlichen Lebens. Wo nach ihm, sei es im unbewußten Dilettantismus, der aus einzelnen Wissenschaften "philosophische" Konsequenzen zu ziehen glaubt, sei es daß in der Energie hochstrebenden Nachdenkens das Phantom wieder aufgetaucht ist, als ließe sich ein fertiges Weltbild, hier materialistischen, dort idealistischen Kolorits, durch die wissenschaftliche Erkenntnis gewinnen, da sehen wir darin den Mißverstand alten Wissensübermutes und wundern uns nicht mehr über das Fehlschlagen von Versuchen, die auf falsche Fragen falsche Antworten geben. Das wissenschaftliche Bewußtsein der Gegenwart - dafür haben die Berufensten vollgültiges Zeugnis abgelegt - arbeitet im Geist der kantischen Philosophie. In sicherer Ruhe steht es den Phantasmen des Aberglauben, der sich unter uns von neuem als verfeinerte Form uralten Zauberwesens auszubreiten droht, - mit dem ganzen Ernst der Kritik steht es den Ausprägungen gegenüber, welche das metaphysische Bedürfnis einzelner Gruppen der menschlichen Gesellschaft in bindenden Dogmen gefunden hat: aber nun und nimmermehrt meint es die Welt in sich zu reproduzieren oder aller Weisheit Anfang und Ende aus sich allein gewinnen und bestimmen zu können. Die Wissenschaft weiß sich Herrin, unumschränkte Herrin auf ihrem Gebiet; aber sie selbst verlangt, daß die höchsten Werte des Menschenlebens nicht in ihr allein, sondern im sittlichen und ästhetischen Bewußtsein gesucht werden. Gewiß und sicher auf ihrem Gebiet, in voller Anerkennung der anderen Werte des Normalbewußtseins, so steht sie da: der Stolz, der nicht möglich ist ohne die Bescheidenheit, das ist die Tugend der kantischen Philosophie.

Nachdem wir sie so verstanden haben, vergleichen wir die kantische, die deutsche Philosophie noch einmal mit der griechischen. War diese denn wirklich so ganz auf die wissenschaftliche Einsicht beschränkt, wie sie es zu sein glaubte? Spielte in ihr wirklich das ethische und das ästhetische Bewußtsein gar keine Rolle? Es ist nicht schwer, auf diese Fragen die Antwort zu geben; denn es liegt auf der Hand, wie lebhaft sittliche und künstlerische Neigungen das Denken aller griechischen Philosophen beeinflußt haben. Auf dem ethisch-religiösen Ideal beruth die Schöpfung der immateriellen Welt in PLATONs Lehre, beruth der teleologische Grundriß der Weltbetrachtung in seinem, wie im aristotelischen System. Ästhetisch, wie in der kristallenen Bildung ihrer sprachlichen Form, ist die griechische Philosophie in der Harmonie der Linien ihres Weltbildes, in der maßvollen Geschlossenheit ihrer Lebensanschauung, in der schönen Abrundung ihres gesamten Vorstellungssystems. Während sie nur mit den Mitteln wissenschaftlicher Erkenntnis eine Weltanschauung zu schaffen glaubt, färbt sie diese mit dem Lebenssaft griechischer Sittlichkeit und griechischer Kunst. Unwillkürlich flicht sie in das Gewebe der Vorstellungen den Einschlag ihrer ethischen und ästhetischen Ideale hinein. Auch sie findet den Abschluß ihrer Welterkenntnis, die ihr als Weltbild im Kopf des Menschen erscheint, nur dadurch, daß sie die Einsicht der Wissenschaft mit der Sehnsucht des sittlichen und des künsterlischen Triebes befruchtet.

Aber das alles sind in ihr unbewußte Denkmotive, unwillkürliche Assoziationen, die mit wissenschaftlichen Gründen verwechselt werden. Wenn nun jedoch KANT, mit Verzicht auf das von den Griechen gesuchte "Weltbild", das Wissen von den Idealen gleichmäßig auf das theoretische, das ethische und das ästhetische Bewußtsein ausdehnte, wenn er die Normalität, die das Objekt der Philosophie ist, ebenso sehr in Sitte und Kunst wie im wissenschaftlichen Denken suchte, was tat er anderes, als auf dem reiferen Standpunkt, im Zusammenhang seines neuen Begriffssystems dasjenige bewußt zu verlangen, was die griechische Philosophie unbewußt mit ihren Begriffen getan hatte? So ist also die deutsche Philosophie das fertige Bewußtsein dessen, was sich als unwillkürlicher Denktrieb in der griechischen Philosophie entfaltet hatte; jene hat in der Reflexion und deshalb in ganz neuer Form dasjenige, was diese unbewußt ausübte.

Die Philosophien verhalten sich wie die Kultursysteme, denen sie entstammen: die kantische Philosophie steht der griechischen wie der Jüngling dem Mann gegenüber. Der Blick der Jugend haftet schönheitstrunken an der Blüte; des Mannes Sorge hängt an der reifenden Frucht. Darum mag der fertige Sinn des Mannes Freude an jener Klarheit haben, mit der sich in der Reflexion die Gestalten des früheren Lebens darstellen: aber auch sein Blick wird mit dem Genuß der Erinnerung an der Zeit der Unbefangenheit haften, in der die Blüte selbst ihre duftige Schönheit entfaltete.

Dürfen wir so den Gegensatz griechischer und deutscher Philosophie bestimmen, so liegt darin allein noch keine Beurteilung, sondern nur eine Konstatierung der Tatsache. Möglich, daß diese Reflexion das Höhere, das Wertvollere ist - möglich auch, daß sie nur ein Zeichen des alternden Menschengeistes ist. Wir aber dürfen nicht darüber klagen, daß jene harmonische Einfachheit, jene naive Schönheit, jene unbefangene Harmonie des Denkens, mit der die griechische Philosophie erkennend in das Weltall hinausstürmte, uns nicht mehr möglich ist. Wir haben nicht mehr zu wählen, sondern nur zu begreifen: wir müssen uns klar darüber sein, daß jene Unbefangenheit dahin ist und daß wir in der Reflexion den Ersatz für dasjenige haben, was sich den Griechen in schöner Täuschung darstellte. Denn fürwahr töricht wäre es, zu verlangen, daß derselbe Baum zur selben Stunde Blüte und Frucht bringen solle.
LITERATUR - Wilhelm Windelband, Immanuel Kant - Zur Säkularfeier seiner Philosophie, ein Vortrag 1881, in Präludien, Tübingen 1907
    Anmerkungen
    1) Diese Untersuchung, die schwierigste von allen, bildet die "transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe".