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MAX FRISCHEISEN-KÖHLER
Über die Grenzen der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung

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"Ein Stück Kohle ist das gleichgültigste Ding auf der Welt; in seiner Eigenart ist nichts gegeben, das seine Erhaltung als dieses so beschaffene körperliche System erfordert, denn es kann jederzeit durch ein anderes ersetzt werden. Ganz anders verhält es sich mit einem wertvollen Diamanten, z. B. dem bekannten  Kohinoor;  ihn wird man sorgfältigst vor einer Vernichtung bewahren, denn seiner Einzigartigkeit kommt eine unersetzliche Bedeutung zu."

"Offenbar beschränkt sich eine geschichtliche Darstellung niemals auf die bloße Beschreibung einer vereinzelten, wenn auch noch so wertvollen Individualität. Sie wird einmal, wenn sie überhaupt eine Geschichte, d. h. eine Erzählung von einem Geschehen sein will, immer auf frühere Zustände, allgemein gesprochen auf das Werden der gewählten Individualität zurückgreifen müssen, und sie wird zweitens dieselbe niemals als etwas schlechthin Isoliertes, von den Bedingungen der Umwelt ganz und gar Loslösbares bebtrachten können."


II.

Der zweite und positive Teil des RICKERTschen Werkes (1) enthält die Klarlegung der Ziele und logischen Formen der historischen Wissenschaften. Wir folgen auch hier, wie im ersten Teil, seiner teleologischen, deduktiven Konstruktion.

1. Die Geschichte als
Wirklichkeitswissenschaft

Die Aufgabe, welche RICKERT der Wissenschaft im Begriff der  Geschichte  stellt, ist durch das gegeben, was nach ihm die naturwissenschaftliche Begriffsbildung niemals, selbst in ihrer höchsten Vollendung, bewältigen kann. Die Naturwissenschaft betrachtet ihre Objekte aber lediglich mit Rücksicht auf das Allgemeine und so entfernt sie sich mit fortschreitender Entwicklung ihrer Begriffe immer weiter vom Besonderen der Erscheinungen und damit von der anschaulichen, individuellen Wirklichkeit überhaupt. Demgemäß muß die Darstellung dieser empirischen Wirklichkeit einer Wissenschaft zugewiesen werden, die ihre Begriffe nicht mit Rücksicht auf den Zweck, das Allgemeine zu erfassen, bildet, sondern danach strebt, in einem System von Urteilen das Wirkliche, so wie es ist, abzubilden. Bezeichnen wir alle Disziplinen, welche nicht der Aufstellung allgemeiner Begriffe gewidmet sind, als historische [24, 251], so liegt in der Aufklärung der Prinzipien, welche die Bildung von derartigen Wirklichkeitsbegriffen bestimmen, das Problem einer Logik der Geschichte.

Die Geschichte ist so ihrem weitesten Begriff nach Wirklichkeitswissenschaft. Nun kann aber keine Wissenschaft das empirische Reale, wie es in der Erfahrung gegeben ist, mit Worten darstellen. Die beiden Momente des Wirklichen, welche die Grenze der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung bezeichnen, sind seine Anschaulichkeit und seine Individualität. Die Anschaulichkeit ist aber eine Grenze jeder begrifflichen Darstellung; niemals kann sie in einen Begriff oder ein System von Begriffen eingehen; sie bleibt unter allen Umständen unübersehbar mannigfaltig. Demgemäß muß auch der Historiker grundsätzlich auf eine restlos erschöpfende Abbildung seines Objektes verzichten. Allerdings wird er stets - im Gegensatz zum Naturforscher - bemüht sein, sich durch eine bildliche Schilderung und Häufung von Zügen über das Notwendige hinaus einer getreuen Wirklichkeitswiedergabe wenigstens anzunähern. Die Geschichte wendet sich an die Phantasie und bedarf selbst der Phantasie. Sobald aber die Phantasie ins Spiel kommt, hat die Logik nichts mehr zu sagen; denn wie weit der Historiker im Interesse der Anschaulichkeit zum Künstler wird, ist im wesentlichen Sache des Taktes und des Geschmacks [382f].

Anders dagegen verhält es sich mit der Individualität. Wenn sie auch stets anschaulich  gegeben  ist, so folgt daraus noch nicht, daß sie mit der Anschauung identisch ist. Das Problem der historischen Begriffsbildung besteht demnach darin, ob eine wissenschaftliche Bearbeitung und Vereinfachung der anschaulichen Wirklichkeit möglich ist, ohne daß wie in der Naturwissenschaft zugleich auch die Individualität verloren geht. Die Aufgabe der Geschichte ist die Bildung von Begriffen mit einem individuellen Inhalt.

Aber schon hier, bei diesen ersten Sätzen, erheben sich Bedenken. Zunächst ist die Ausscheidung der Frage nach der Anschaulichkeit einer historischen Darstellung aus einer Methodologie der Geschichte doch nicht so selbstverständlich; denn hinter ihr verbirgt sich ein tieferes Problem. Faßt man allerdings den Begriff der Geschichte lediglich formal, so erscheint RICKERTs Ablehnung durchaus begreiflich, und reflektiert man etwa auf Disziplinen wie die  historische Biologie,  auch völlig berechtigt. Läßt sich aber ein Gleiches auch behaupten, wenn es sich um die Wiedergabe rein geistiger Tatsachen handelt? Kann auch bei der Schilderung eines Charakters die Anschaulichkeit, sofern man billig von der äußeren Erscheinung absieht, als ein logisch Zufälliges betrachtet werden? Aus einer Erdgeschichte lassen sich gewiß alle lediglich für die phantasiemäßige Vergegenwärtigung der Vorgänge bestimmten Bestandteile von den für die wissenschaftliche Beschreibung unentbehrlichen reinlich sondern. Aber man nehme irgendeine der großen Charakteristiken von RANKE oder MOMMSEN und streiche alles weg, was zunächst nur im Interesse der Anschaulichkeit hinzugefügt zu sein scheint: schwindet nicht mit der Anschaulichkeit das ganze Bild der Persönlichkeit? Man kann sich sehr wohl eine Kosmogonie denken, als deren Typus etwa die Hypothese des LAPLACE gelten mag, in welche nahezu gar keine anschaulichen Elemente mehr aufgenommen sind; gleichwohl würde dieselbe nach RICKERT unter einem logischen Gesichtspunkt als eine historische Darstellung, und zwar als eine ansich sehr vollkommene, angesprochen werden müssen. Es ist aber schlechterdings unvorstellbar, wie die Entwicklung und das Wesen eines Charakters auf eine gänzlich unanschauliche Weise geschildert werden kann. Denn wir wollen in diesem Fall nicht nur gewisse das Objekt in seiner Individualität bezeichnende Merkmale kennen lernen, wir begnügen uns nicht mit der Tatsache ihrer Koexistenz oder Sukzession wie bei den Gegenständen der körperlichen Welt; vielmehr erachten wir erst dann die Aufgabe des Historikers für gelöst, wenn er uns ihren inneren Zusammenhang durchsichtig gemacht hat. Die Natur  erklären  wir, das geistige Leben aber wollen wir  verstehen.  Und wie der Prozeß des Verstehens immer auf das eigene unmittelbare Erleben zurückweist, muß der Historiker, wenn er überzeugen will, sich eines Verfahrens bedienen, das dieses Nacherleben in Bewegung setzt; das Mittel aber hierfür ist die anschauliche Schilderung. Gibt man dies zu, dann erhebt sich sofort das Problem nach dem Verhältnis der hierbei maßgebenden Gesichtspunkte zu dem von RICKERT für die historische Begriffsbildung hervorgehobenen Prinzip. Der Umstand, daß wir genötigt sind, jedes Moment eines geistigen Tatbestandes einem Erlebniszusammenhang eingeordnet zu denken, könnte vielleicht ihre Auslese und Zusammenfügung nach irgendeinem anderen Prinzip wesentlich einschränken oder geradezu unmöglich machen. Indem RICKERT die Frage nach der Anschaulichkeit von vornherein ausschaltet, setzt er nicht nur das Problem des Verstehens und Nacherlebens ungebührlich zurück, sondern er läßt auch seine Methodologie in einer sehr bedeutenden Hinsicht ungeklärt.

Wir werden auf die hierin enthaltenen Schwierigkeiten zurückkommen; zunächst verdient hier am Beginn noch ein anderes hervorgehoben zu werden. RICKERT legt den entschiedensten Wert auf die Bezeichnung der Geschichte als  Wirklichkeitswissenschaft. Indem er aber selbst die Forderung der Anschaulichkeit als ein wissenschaftliches Postulat preisgibt, hebt er die durch diesen Terminus ausgedrückte Charakteristik des historischen Verfahrens wenigstens zum Teil wieder auf. Denn in diesem Verzicht ist zugleich das Zugeständnis enthalten, daß auch die historischen Begriffe Fiktionen sind, Vereinfachungen oder Abstraktionen, die dem objektiven Tatbestand so wenig kongruent sind, daß mit demselben Recht, wie die Naturwissenschaft als Lehre vom Unwirklich-Allgemeinen, nunmehr die Geschichte als die Lehre vom Unwirklich-Individuellen bezeichnet werden müßte.

Und hierzu kommt noch eins.

Daß die Aufgabe, ein Besonderes in irgendeiner Form darzustellen, von der Aufgabe, Allgemeinbegriffe zu bilden, gesondert werden kann und muß, ist sicher richtig. Aber sieht man auch vorläufig davon ab, ob die Aufgabe wenigstens in Bezug auf die körperliche Welt unter Zugrundelegung unserer früheren Ausführungen (2) nicht durch ein Verfahren auflösbar sein könnte, das sich ausschließlich naturwissenschaftlicher Begriffe bedient, so fragt sich doch, ob sie in der Tat so ausgezeichnet und so umfassend ist, daß auf sie alle nicht naturwissenschaftlichen Methoden bezogen und aus diesem Grund unter dem gemeinsamen Namen der  Geschichte  zusammengefaßt werden dürfen. RICKERT meint allerdings,  daß  hier der denkbar größte logische Unterschied zum Ausdruck kommt, den es zwischen den Methoden der empirischen Wissenschaft geben kann. Ein dritter Denkzweck nämlich, der sich von den beiden genannten in logischer Hinsicht so prinzipiell unterscheidet, wie diese untereinander verschieden sind, ist bei der Darstellung empirischer Wirklichkeiten nicht möglich. (3) Diese Behauptung ist jedoch bestreitbar; sie erscheint nur solange plausibel, als man sich an die ausschließlich logische Bedeutung des Begriffspaares  Allgemeines  und  Besonderes  hält; und wenn die eine Gruppe der Wissenschaften nur das Allgemeine will, bleibt der anderen nur das Besondere übrig. Aber es ist dargelegt, daß RICKERT dem Begriff des Allgemeinen stets den des  Gemeinsamen  und noch bestimmter den des  Gesetzes  substituiert. Gründet man aber so auf bestimmte der Objektwelt entnommene Momente die Einteilung der Wissenschaften (denn die Regelmäßigkeiten der Koexistenz und Sukzession sind keine willkürlichen Schöpfungen des Denkens), unterscheidet man sie nach der klaren Terminologie von WINDELBAND in Gesetzes- und Ereigniswissenschaften, dann ist nicht einzusehen, warum nicht auch andere Begriffsgegensätze als zunächst gleichberechtigt angezogen werden sollten.

Vor allem dürfte ein Paar in Frage kommen, das in gleicher Weise wie das Gesetz und das Ereignis auf alle Objekte gleichmäßig anwendbar und seit dem Beginn des wissenschaftlichen Denkens auch zur Scheidung der Wissenschaften und ihrer Aufgaben benutzt worden ist: das ist der Gegensatz von Sein und Werden. Verstehen wir mit DROYSEN (4) unter  Natur  das im Wechsel Gleiche, unter  Geschichte  das im Gleichen Wechselnde, schreibt man den Naturwissenschaften so die Erkenntnis der seienden Verhältnisse, den historischen Wissenschaften die Erkenntnis der großen Werdegänge zu, dann ist ersichtlich, wie nahe eine Einteilung nach diesem Gesichtspunkt dem kommt, was insbesondere so oft von Historikern als der Gegenstand und das Ziel ihrer Tätigkeit empfunden und ausgesprochen worden ist. Wenn RICKERT [261-63 und 440] sie ablehnt, weil sie ihm noch einen Rest des platonischen Begriffsrealismus, der das niemals Wirkliche zum immer Seienden macht, zu enthalten scheint und an der Stelle des Gegensatzes von Sein und Werden allein den Gegensatz der dauernd gültigen Begriffe und der stets sich verändernden Wirklichkeit als logisch brauchbar anerkennt, so setzt er als erwiesen voraus, daß die Naturwissenschaft es nur mit dem Unwirklich-Allgemeinen zu tun hat, eine, wie ausführlich dargetan, für uns nicht haltbare Voraussetzung; und zugleich ist hierin die positive Behauptung enthalten, daß allein dem Individuellen  Wirklichkeit  zukommt. Aber diese Annahme ist ebenso wie die gegenteilige diskutabel. Weder das  principium indescernibilium  [Prinzip des Ununterscheidbaren - wp] noch die Hypothese von der vollständigen Gleichartigkeit der letzten Wirklichkeitselemente gründet sich auf Erfahrung. Die Charakterisierung der Geschichte als der Wirklichkeitswissenschaft beruth somit nicht auf einer methodologischen als vielmehr auf einer erkenntnistheoretischen Entscheidung.


2. Die Wertbeziehung als Prinzip der
historischen Begriffsbildung

Aber wie es sich damit auch verhalten mag: wesentlich ist nunmehr die Frage, wie das von RICKERT als Gegenstand der historischen Wissenschaften herausgehobene  Individuelle  zum Prinzip einer eigenen Begriffsbildung werden kann. RICKERT löst das Problem durch die Einführung einer Unterscheidung von zwei Arten von Individuen. Zunächst kann jedes Stück der Wirklichkeit, z. B. jeder beliebige Körper, als Individuum im allgemeinsten Sinn bezeichnet werden. Aber dem Wort  Individuum  eignet nicht nur die Bedeutung des Besonderen und Einzigartigen, sondern auch zugleich die des Unteilbaren. Versucht man festzustellen, unter welcher Bedingung der Begriff der Einheit und Unteilbarkeit mit dem der Einzigartigkeit sich so verbinden kann, daß die Einzigartigkeit der Grund oder die Voraussetzung der Einheit einer individuellen Mannigfaltigkeit ist, so zeigt sich, daß nur dadurch, daß die Einzigartigkeit in Beziehung zu einem Wert gebracht wird, die charakterisierte Art von Einheit entstehen kann. So ist etwa ein Stück Kohle das gleichgültigste Ding auf der Welt; in seiner Eigenart ist nichts gegeben, das seine Erhaltung als dieses so beschaffene körperliche System erfordert, denn es kann jederzeit durch ein anderes ersetzt werden. Ganz anders verhält es sich mit einem wertvollen Diamanten, z. B. dem bekannten  Kohinoor;  ihn wird man sorgfältigst vor einer Vernichtung bewahren, denn seiner Einzigartigkeit kommt eine unersetzliche Bedeutung zu. So sondert sich aus der unübersehbaren Fülle von individuellen Gestaltungen eine bestimmte Anzahl von ihnen ab, die vermöge ihrer Wertigkeit allein aus wirklichen Individuen besteht. Und zwar gibt dieses Prinzip der Wertauslese zugleich auch das Mittel an die Hand, bei diesen In-dividuen im engeren Sinn aus der unübersehbaren Mannigfaltigkeit ihrer Bestimmungen wesentliche und unwesentliche zu unterscheiden; denn die Einheit, durch die ein derartig ausgezeichnetes Ding seine Individualität besitzt, umfaßt nur einen Teil seiner Bestimmungen. So liefert uns das Prinzip die Möglichkeit, aus der Wirklichkeit eine bestimmte Anzahl einzigartiger und einheitlicher Mannigfaltigkeit herauszulösen, von denen jede einen bestimmten und übersehbaren Inhalt hat.

Man wird diese Ableitung zweifelsohne für sehr scharfsinnig halten müssen. Gleichwohl ist sie nicht zwingend. RICKERT selbst gibt zu, daß es noch andere Gründe als Werte gibt, die einen Körper zu einer unteilbaren Einheit machen. Organismen z. B. können nicht geteilt werden, wenn sie aufhören sollen, Organismen zu sein, und dasselbe gilt auch von Werkzeugen und Maschinen. "Aber, so meint er, "diese Einheit kommt für uns hier nicht in Betracht, weil sie nicht die Einzigartigkeit eines bestimmten individuellen Dings betrifft" [351]. Hierbei ist jedoch ein sehr Wesentliches übersehen oder doch nicht hinreichend gewürdigt. Die Art von Einheit, welche RICKERT einer Mannigfaltigkeit aufgrund ihrer Wertigkeit zuschreibt, ist prinzipiell verschieden von der Einheit, die etwa ein Organismus aufweist. Jene gilt offenbar nur für den Wertenden, hat ihre Existenz nur im Geist des Betrachtenden im Hinblick auf den Wert, diese ist von jeder idealen Relation frei und ganz und gar unabhängig von einer denkenden Auffassung; jene ist lediglich subjektiv, diese dagegen objektiv in demselben Sinn, in welchem wir überhaupt von einer objektiven Wirklichkeit zu reden berechtigt sind. Dürfen wir einen Diamanten lediglich deshalb, weil er einen gewissen, z. B. ästhetischen Wert repräsentiert, als Einheit bezeichnen, so hindert uns nichts, auch die Mannigfaltigkeit, als welche etwa ein Sonnenuntergang im Gebirge sich dem Beschauer darstellt, aus dem gleichen Grund als eine Einheit aus der unabsehbaren Wirklichkeit abzulösen. Am Beispiel des Koh-i-noor fällt allerdings die ideale, die Werteinheit, mit der realen Einheit zusammen; aber es ist ersichtlich, wie ganz anders die Elemente des Organismus miteinander verbunden sind, als diejenigen, welche das Bild einer schönen Landschaft konstituieren. Und zwar läßt sich zumindest für die körperliche Welt das die objektive Einheit der individuellen Gestaltungen begründende Prinzip sehr leicht ermitteln. Man könnte, wie RICKERT, vom Namen ausgehen; das Wort  Gestaltung  drückt es hinlänglich aus. Welches auch die physikalischen oder auch metaphysischen Erklärungsgründe sind: in den Formen der Dinge tritt uns ein Etwas entgegen, durch welches sie ihre Selbständigkeit gegenüber ihrer Umgebung erweisen. Und wie nun durchaus nicht alles, was den Inhalt unserer Erfahrung bildet, derart geformt ist, läßt sich auch unter diesem Gesichtspunkt ein Inbegriff des Gegebenen als eine Art von Individuen im engeren Sinn aussondern; aber es sind nicht Werteinheiten, sondern Formeinheiten. Und auch von diesen gilt, daß sie im engen Zusammenhang mit der Einzigartigkeit der von ihnen umfaßten Mannigfaltigkeit stehen; allerdings ist das Verhältnis nicht das gleiche wie bei den Werteinheiten. Von den besonderen Wirklichkeiten, denen wir einen ausgezeichneten Wert zuschreiben, wünschen wir ihre Einheit und Erhaltung; aber nur diejenigen, die eine Formeinheit sind, können sich unabhängig von unseren Wünschen als Einheiten behaupten. Diese Formeinheit ist die Bedingung, daß Einzigartigkeiten Bestand haben; sie kann sich nicht mit jedem beliebigen körperlichen Sein verbinden; und insofern ist sie doch nicht so neutral gegen die Einzigartigkeit des Inhaltes, wie etwa die Dinghaftigkeit. Bei gewissen Temperaturen z. B. verliert jeder Körper seine Formhaftigkeit. Allerdings wird man zugeben können, daß die Unersetzlichkeit eines Dings im allgemeinen nicht auf seiner Form allein beruhen wird. Immerhin zeigen z. B. die technischen und organischen Formen eine schon recht weitgehende Einschränkung der Vertretbarkeit. Es gibt jedoch einen Bezirk der Wirklichkeit, wo die Form so eng mit der Einzigartigkeit der Mannigfaltigkeit verbunden erscheint, daß man von einer individuellen Form sprechen kann: das sind die psychophysischen Einheiten, die wir als Persönlichkeiten oder besser mit dem von DILTHEY eingeführten Ausdruck als  Lebenseinheiten  bezeichnen. Wenn RICKERT glaubt, daß, weil die Einheit der Persönlichkeit nicht in der erkenntnistheoretischen des Bewußtseins noch in der metaphysischen der Seele zu suchen ist, sie darum  nur  durch eine Beziehung auf einen Wert gewonnen werden kann [352], so tritt die Hinfälligkeit seines Schlußverfahrens deutlich hervor; denn dasselbe behält einen Schein von Beweiskräftigkeit nur unter der Voraussetzung, daß von objektiven Einheiten jener Art, wie sie in Bezug auf die Organismen allgemein zugestanden sind, hier nicht die Rede sein kann. RICKERT hat aber dieses Seite der Sache ununtersucht gelassen.

Diese Vernachlässigung der in der Objektwelt unabhängig von jeder Wertbetrachtung gegebenen Struktur erweist sich nun aber auch für den weiteren Aufbau der Methodologie verhängnisvoll. RICKERT war davon ausgegangen, daß die individuelle Wirklichkeit als solche dem allgemeinsten Begriff des historischen Objekts gleichzusetzen war. Indem er nun die Auffassung, welche Individuen besonderer Art als Werteinheiten aus dem Wirklichkeitsganzen aussondert, als historische Auffassung bezeichnet, gewinnt er sofort den Ausblick auf die Möglichkeit einer im logischen Sinne geschichtlichen Darstellung. Denn da diese historische Auffassung oder Individuenbildung sowohl die extensiv als auch die intensiv unübersehbare Mannigfaltigkeit der empirischen Wirklichkeit überwindet, so muß der dabei maßgebende Gesichtspunkt auch zum Prinzip der Bildung von Begriffen mit individuellem Inhalt geeignet sein. RICKERT bezeichnet dieses Verfahren, Merkmale nach ihrer Beziehung auf einen Wert zu einem Begriff zusammenzustellen, als teleologische Begriffsbildung. Ihre wissenschaftliche Vollendung erhält sie in der Geschichte.

Es ist sofort ersichtlich, wie unzureichend diese allgemeinste Formulierung der historischen Methode ist, selbst wenn man die Darstellung des Singularen als Aufgabe der Geschichte ohne Einschränkung zugibt. Die Beschreibung des Kohinoor durch die alleinige Angabe der Bestimmungen, auf denen sein Wert für uns beruth, dürfte wohl schwerlich jemals als eine spezifisch historische Leistung empfunden werden; verglichen mit der tatsächlich ausgeübten Geschichtsschreibung erscheint dieses logische Ideal zumindest recht leer. Daher sieht sich dann auch RICKERT genötigt, die bisherige Ausführung verschiedentlich zu erweitern und zu präzisieren.

Offenbar beschränkt sich eine geschichtliche Darstellung niemals auf die bloße Beschreibung einer vereinzelten, wenn auch noch so wertvollen Individualität. Sie wird einmal, wenn sie überhaupt eine Geschichte, d. h. eine Erzählung von einem Geschehen sein will, immer auf frühere Zustände, allgemein gesprochen auf das Werden der gewählten Individualität zurückgreifen müssen, und sie wird zweitens dieselbe niemals als etwas schlechthin Isoliertes, von den Bedingungen der Umwelt ganz und gar Loslösbares betrachten können. Jener Gesichtspunkt führt die Geschichte von der Wiedergabe ruhender Zustände zu einer Konstruktion von Entwicklungsreihen, dieser zu einem Verfahren, das RICKERT als  Einordnung in ein Ganzes  bezeichnet. Nun kann der Begriff der Entwicklung ja sehr verschieden aufgefaßt werden und es gelingt auch RICKERT, sieben verschiedene Bedeutungen dieses Wortes voneinander zu sondern. Indem er aber, nach Ausscheidung aller metaphysischen oder rein logischen Auffassungen, betont, daß die Geschichte es jedenfalls nicht mit dem bloßen Werden oder der bloßen Veränderung zu tun hat, da in ihrer Darstellung doch die Individualität der Wirklichkeit erhalten bleiben soll, bleibt für sie allein der Begriff der teleologischen Entwicklung übrig. So ist es dasselbe Prinzip, das überhaupt die Heraushebung historischer Individualitäten gestattet, nach welchem die Geschichte, indem sie es vom Simultanen auf das Sukzessive ausdehnt, einen Werdegang durch seine Beziehung auf einen Wert zu einer Einheit zusammenschließt und aus der in ihm enthaltenen unübersehbaren Mannigfaltigkeit die wesentlichen von den unwesentlichen Bestandteilen unterscheidet.

Und ähnlich verhält es sich mit der Einordnung des historischen Objekts in ein Ganzes, d. h. den allgemeinen Zusammenhang, in den es gehört. Dieselbe muß von der Unterordnung unter einen Begriff mit seinem allgemeinen Inhalt sorgfältig unterschieden werden. Denn das Verhältnis des Teils zum Ganzen ist ein anderes als das der Exemplare zu dem ihnen übergeordneten Begriff. Und zwar ist auch dieser Begriff eines allgemeinen Zusammenhangs, da das Ganze ein Einmaliges und Besonderes ist, ein Individuum höherer Ordnung, nach teleologischen Prinzipien zu bilden; seine Elemente sind dann die Begriffe, die man von seinen historisch bedeutsamen Gliedern gebildet hat, und sie schließen sich mit Rücksicht auf die Bedeutung zusammen, die das Ganze durch seine Besonderheit besitzt.

Aber auch die Wertgesichtspunkte selbst, die maßgebend für die Bildung von historischen, d. h. Individualbegriffen sind, erfahren noch eine genauere Bestimmung. Zunächst darf offenbar der Historiker in der Auslese seiner Objekte nicht allein subjektiven Neigungen und Werten folgen, welche für andere Menschen nicht verbindlich sind. Die Geschichte als Wissenschaft muß eine für alle gültige Darstellung anstreben; d. h. der Wert, der die Objekte zu historischen Individuen macht, muß ein allgemeiner Wert sein; von seiner Geltung ist die Geltung der geschichtlichen Darstellung abhängig. Und zwar müssen diese Werte, wenn die Geschichte derselben Art von Allgemeingültigkeit wie die Naturwissenschaft teilhaftig werden soll, nicht nur faktisch von allen Gliedern einer bestimmten Gemeinschaft anerkannt werden, sondern sie müssen unbedingt allgemein gelten. Der Anspruch der Geschichtswissenschaften auf Objektivität weist so auf das Problem eines Systems absoluter Werte.

Und weiter darf der Wert nicht in dem Sinn gefaßt werden, daß er eine direkte, sei es nun positive oder negative Beurteilung eines Individuums seitens des Historikers einschließt. Was eine individuelle Wirklichkeit zum Gegenstand des geschichtlichen Interesses macht, ist nicht in dem Umstand zu begründen, daß sie selbst einen Wert repräsentiert; vielmehr ist nur notwendig, aber auch hinreichend, daß sie zum Objekt eines Wertstreits werden kann. Bezeichnet man also das, wodurch eine den verschiedensten Wertbeurteilungen gemeinsame Auffassung der Wirklichkeit entsteht, als bloße Beziehung auf Werte, so ist die Loslösung jedes Werturteils von dieser  Wertbeziehung  ein wesentliches Merkmal der wissenschaftlichen historischen Auffassung.

Hiermit ist gegeben, daß die absoluten Werte, welche die Voraussetzung der Geschichtswissenschaft sind, lediglich formal sein dürfen.

Wie das von RICKERT entworfene logische Ideal einer universalen Naturlehre, ist auch dieses logische Ideal der Geschichte durchaus einheitlich konstruiert und von einer bewunderungswürdigen Geschlossenheit. Aber wie in der Aufstellung jenes Begriffs der Naturwissenschaft der leitende Gesichtspunkt immerhin als ein tatsächlich wirksamer anzusprechen war, der jedoch mit rücksichtsloser Einseitigkeit zum allein herrschenden erhoben wurde, so kann auch hier den Werten die ihnen von RICKERT zugeschriebene zentrale Bedeutung für die geschichtliche Auffassung der Wirklichkeit grundsätzlich bestritten werden, wenn auch praktisch ein gewisser jedoch wenig hervorragender Einfluß derselben auf das geschichtliche Denken nicht abzuleugnen ist.

Wir führen den Nachweis hiervon durch eine schrittweise Einschränkung der Leistungsfähigkeit der Wertbeziehung als Prinzip der historischen Begriffsbildung.

Die von RICKERT als Voraussetzung der individualisierenden Wirklichkeitsauffassung postulierten absoluten, formalen Werte haben eine doppelte Aufgabe zu lösen: einmal sollen sie gestatten, aus der unbegrenzten Mannigfaltigkeit des Gegebenen die Objekte der geschichtlichen Darstellung auszulesen, und sodann sollen sie das Mittel gewähren, an diesen Objekten von der unendlichen Vielzahl ihrer Merkmale die wesentlichen herauszuheben und zu einer Einheit zusammenzuschließen. Es ist nun aber von vornherein keineswegs selbstverständlich, daß ein und dasselbe Prinzip beides zu leisten imstande ist. Gesetzt, die Beziehung auf einen allgemeingültigen Wert reicht aus, um den Inbegriff der absolut historischen Erscheinungen zu begrenzen, so ist es doch im höchsten Maß problematisch, ob die Angabe derjenigen Merkmale, auf denen die Bedeutsamkeit dieser Individuen für alle beruth, zu ihrer wissenschaftlichen Beschreibung genügt oder auch nur jemals genügen kann. Denn sieht man von der bloßen Mitteilung jeweils interessierender Züge ab, so erfordert der Begriff einer wissenschaftlichen Beschreibung eines individuellen Tatbestandes auf alle Fälle, daß derselbe soweit deutlich bestimmt wird, daß er auch unabhängig von einem gegebenen Zusammenhang der Darstellung als ein einzigartiger zu erkennen ist. Hierien liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen der bloß orientierenden Erzählung und der wissenschaftlichen Erkenntnis. Man nehme, um die verwickeltere Beziehung bei der Geistesgeschichte zu vereinfachen, das von RICKERT selbst gegebene Beispiel einer Beschreibung des Kohinoor. Sage ich, daß der Kohinoor ein Diamant von einem Gewicht von 106 Karat, von ausgezeichnetem Wasser und Schliff usw., ist, so möchte er auch den ersten Blick durch die Angabe dieser ihn auszeichnenden Eigenschaften vielleicht hinreichend charakterisiert erscheinen. Tatsächlich aber kann diese Definition nur dann genügen, wenn die Kenntnis derjenigen Merkmale, die im Begriff des Diamanten überhaupt vereinigt sind, vorausgesetzt wird; man bringe nur an die Stelle des Wortes  Diamant  einen beliebig unbestimmten Ausdruck, z. B. ein Ding, um den hervorgehobenen Mangel sofort deutlich zu empfinden. Nun ist richtig, daß die hier fehlenden Merkmale solche sind, die von RICKERTs Methodologie als wesentliche allein aus naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten anzusehen sind. Aber für die Darstellung einer individuellen Wirklichkeit kommen sie nicht deshalb in Betracht, weil sie dem gegebenen Individuum mit anderen ähnlichen gemeinsam sind, sondern insofern sie auch diesem Individuum zukommen. Ohne Angabe der im naturwissenschaftlichen Sinn konstituierenden Merkmale ist die Beschreibung eines wie immer sonst ausgezeichneten Dings unvollständig, und schon darum erweist sich die für die im Begriff zu vollziehende Vereinfachung der unabsehbaren Mannigfaltigkeit angezogenen  Wertbeziehung  allein als unzureichend.

In dem gewählten Beispiel geschieht die Angabe der unabhängig von jeder Wertbeziehung aufzunehmenden Bestimmungen eines Gegenstandes durch seine Subsumtion unter den nächst höheren Gattungsbegriff. Dieses Verfahren gestattet, in der Aufzählung der förmlichen Prädikate sich auf die aus irgendeinem Grund bedeutsamen Merkmale zu beschränken. Aber die Subsumtion setzt die vorgängige Generalisation oder allgemein gesprochen eine vorgängige begriffliche Bearbeitung der Wirklichkeit im naturwissenschaftlichen Sinn voraus. Ist nun nach der Lage der Wissenschaft diese Voraussetzung nicht erfüllt, so kann der Versuch einer individuellen Beschreibung nicht ohne weiteres auf den Gattungsbegriff zurückzugreifen und durch Subsumtion des Gegenstandes unter ihn die in ihm enthaltenen Einsichten stillschweigend einführen. Vielmehr muß er in dem Maß der Unvollständigkeit des naturwissenschaftlichen Gattungsbegriffs eine Aufzählung der Merkmale mit eigenen Mitteln unternehmen. Im denkbar extremsten Fall umfaßt die Aufzählung alle möglichen Präzidierungen, während der Subjektbegriff nur die Form der Synthese bestimmt. Beispiele hierfür liefert die deskriptive Astronomie. Es ist ja an und für sich schwer zu begreifen, wie etwa die Topographie unseres Mondes auf irgendeine Beziehung des Erdtrabanten zu einem absoluten Wertsystem beruhen kann. Aber selbst zugegeben, daß das Interesse der Astronomen an diesem Weltkörper sich hiermit auf irgendeinem indirekten Weg begründen läßt (5), so ist nur erforderlich, die Vorstellung des leuchtenden Nachtgestirns mit dem modernen Begriff des Mondes zu vergleichen, um einzusehen, wie wenig die Beschreibung dieser individuellen Wirklichkeit bei der Heraushebung ihrer vielleicht zunächst interessierenden Eigenschaften stehen bleiben kann.

Nun wird die Darstellung eines individuellen Tatbestandes wohl selten so weit wie hier bis zur Aufnahme von Bestimmungen fortgehen müssen, die tatsächlich einer unendlichen Anzahl von Körpern, vielleicht allen, gemeinsam sind, wenngleich sie nicht mit Rücksicht auf eben diese Allgemeinheit ausgewählt werden. Und es ist auch offenbar, daß es feste Grenzen hierfür nicht geben kann. Aber das Entscheidende ist, daß die Beschreibung eines  historischen Individuums  sich niemals auf die Angabe der Eigenschaften beschränken kann, welche durch eine Wertbeziehung aus der in ihm enthaltenen Mannigfaltigkeit herausgelöst werden können. Dieses Plus ist keineswegs logisch zufällig, sondern eine notwendige Bedingung für die Deutlichkeit des historischen Begriffs. Welcher Mittel sich der  Historiker  hierzu bedient, ist im Prinzip gleichgültig; denn ob eine einfache Subsumtion genügt oder ob die förmliche Aufzählung der erforderlichen Merkmale unentbehrlich ist, hängt nur von der Durchbildung der zurzeit zur Verfügung stehenden höheren Begriffe ab.

Aber noch in einer anderen Richtung muß die Wissenschaft über das von RICKERT deduzierte Mindestmaß aufzunehmender Eigenschaften hinausgehen. RICKERT selbst betont den Unterschied nur zusammenseiender und zusammengehörender Merkmale eines Dings. Indem er aber die Zusammengehörigkeit lediglich in ihrer gemeinsamen Beziehung auf einen allgemeinen Wert erblickt, läßt er den Gesichtspunkt vollständig zurücktreten, der erst die Vollendung der bloß deskriptiven Definition in der analytischen ermöglicht. Denn mögen auch gewisse Eigenschaften eines  historischen Individuums  die Konstruktion einer idealen Werteinheit gestatten: ganz unabhängig von jeder Wertbetrachtung steht die Tatsache fest und ist in jedem Fall zumindest prinzipiell zu ermitteln, daß diese Eigenschaften untereinander sich auch in einem realen Zusammenhang befinden. Die Unterscheidung von fundamentalen, abhängigen und abgeleiteten Merkmalen ist nicht wie die von wesentlichen und unwesentlichen von irgendeiner Zweckbetrachtung abhängig, sondern im Wesen der Sache selbst begründet. Die Individuen sind nicht beliebige Komplexe von Elementen, von denen einige nach idealen Gesichtspunkten geordnet werden können, sondern sie weisen eine objektive Struktur auf, welches das Verhältnis derselben zueinander bestimmt. Hier tritt die Bedeutung jener von RICKERT nicht untersuchten realen Einheiten hervor. Der Historiker wird immer bestrebt sein müssen, zu den diese Einheit fundamentierenden Eigenschaften vorzudringen, auch wenn sein Interesse zunächst nur an einigen abgeleiteten Merkmalen haftet. Für deren Auswahl leistet aber RICKERTs Wertprinzip gar nichts; zumindest wäre es der seltsamste Zufall, wenn diejenigen Eigenschaften, welche die Unersetzlichkeit einer Individualität ausmachen, zugleich die fundamentalen sein würden. Und die wissenschaftliche Geschichte wird noch weiter dringen; sie wird auch das funktionale Verhältnis zwischen den Elementen, die sie an einer Wirklichkeit aussondert, bestimmen wollen. Die Charakteristik einer Persönlichkeit erschöpft sich z. B. niemals in einer bloßen Aufzählung derjenigen Eigenschaften, welche mit Rücksicht auf einen Wert unersetzliche Bestandteile des Ganzen bilden [352], sondern sie wird stets die Ermittlung des Grundzuges oder der Grundzüge eines Charakters und des inneren Zusammenhangs all seiner Äußerungen und Handlungen erstreben. Welche Prinzipien hierbei leitend sind, steht im Vordergrund der Diskussion, wie sie die Arbeiten von DILTHEY, SIMMEL und WUNDT eingeleitet haben. Und letzthin ist es auch das Problem, das LAMPRECHT - man mag nun über seine theoretischen Ausführungen denken, wie man will - so angelegentlich behandelt hat. Es ist bezeichnend, daß RICKERT, der in seinem ganzen Werk so entschieden und mit oft auffallender Schärfe gegen LAMPRECHTs kulturgeschichtliche Methode Stellung nimmt, in diesem Punkt seinen Gegner nicht verstanden hat. Denn der Begriff des  Diapason  [Gleichklang - wp], auf den sich LAMPRECHTs Scheidung der Kulturzeitalter gründet, ist nicht ohne weiteres dem Typus, sei es als des Durchschnitts oder als des Vorbildes, gleichzusetzen; er läßt sich überhaupt nicht in RICKERTs Methodologie einordnen; denn er entstand aus dem Bedürfnis nach einer Formel, die gestatten soll, die in der Mannigfaltigkeit der Lebensäußerungen doch übereinstimmende Gesamthaltung der Menschen einer Epoche hervorzuheben und dadurch die bloße Beschreibung durch Einzelvorgänge dieser Zeit in eine Erklärung umzuwandeln. In welchem Sinn eine Erklärung dieser Art, die sehr wohl von der kausalen Ableitung zeitlich aufeinanderfolgender Zustände auseinanderzutrennen ist, möglich sei, hat RICKERT nicht untersucht. Und weder reicht die Rücksicht auf das Allgemeine noch irgendeine Wertbeziehung aus, um die logische Struktur eines solchen Begriffs begreiflich zu machen.

Und schließlich verdient noch ein letzter Punkt eine besondere Erwähnung. Wenn ein Historiker vor die Aufgabe der Schilderung des Kohinoor gestellt wird, so wird er gewiß seine ihm den vorzüglichen Wert verleihenden Eigenschaften hervorheben; aber zunächst wird er doch mit der Angabe von ganz anderen Bestimmungen beginnen. Er wird vielleicht erzählen, wo und wann er gefunden wurde, oder wo er doch zuerst in der Literatur erwähnt wird; er wird berichten, wer ihn besaß und wie und wann er schließlich in den Besitz der englischen Krone kam. Allgemein gesprochen: der Historiker wird neben der Aufzählung von Merkmalen eines geschichtlichen Objekts in seine Darstellung immer gewisse Bestimmungen aufnehmen, die diesem zwar nicht als Eigenschaften zukommen, aber zu seiner örtlichen und zeitlichen Fixierung unentbehrlich sind. Und zwar sind unter ihnen die chronologischen Angaben besonders bedeutsam; ja sie besitzen geradezu eine solche Wichtigkeit, daß mit ihrer Einführung erst von einer  historischen  Darstellung gesprochen werden kann. Alle Geschichte beginnt mit einer zeitlichen Orientierung und auch die kompliziertesten Begriffe, welche die moderne Geschichtswissenschaft bildet, enthalten in irgendeiner Weise einen Hinweis auf dieses allgemeine Ordnungssystem. Wenn im gewöhnlichen Sprachgebrauch die beschreibenden Wissenschaften im engeren Sinne, wie etwa die Geographie, von der Geschichte getrennt werden, so liegt einer der wesentlichsten Gründe in eben dieser Rücksichtnahme auf die zeitliche Einordnung. Nun behauptet allerdings RICKERT, daß jede Beschreibung einer individuellen Wirklichkeit als im logischen Sinne historische Begriffsbildung angesehen werden muß, und da die Namensgebung frei ist, wird man ihm das Recht zu einer solchen erweiterten Anwendung des Wortes  Historisch  nicht gut bestreiten können. Aber entscheidend für die Einsicht in die logische Struktur des historischen Begriffs ist doch, daß unter gewissen Umständen die zeitliche Fixierung, die man mit anderen Bestimmungen derselben Art als Positionsbestimmungen zusammenfassen kann, hinreicht, um aus einem nach naturwissenschaftlichen Prinzipien gebildeten Begriff einen historischen zu machen. So ist etwa bei der Bildung der Begriffe  Erdbeben  oder  Hungersnot,  wo sie durch Abstraktion aus zahlreichen ähnlichen Erscheinungen gewonnen sind, gewiß die Rücksicht auf das Allgemeine - mit RICKERT zu sprechen - leitend gewesen; aber das Erdbeben vom 1. November 1755, durch welches Lissabon zerstört wurde, oder die Hungersnot zu Fulda im Jahre 750 bezeichnen ganz bestimmte individuelle Ereignisse. Allerdings sind gerade diejenigen Merkmale, durch welche sich diese Vorgänge von anderen unterscheiden, hierbei nicht hervorgehoben; gleichwohl muß anerkannt werden, daß derartige Beschreibungen durch ihre Eingrenzung auf einen einmaligen Tatbestand doch nicht mehr rein naturwissenschaftliche Begriffe sind, und andererseits dadurch, daß sie eine begriffliche Bearbeitung der Wirklichkeit enthalten, sich sehr wesentlich von den bloßen Eigennamen unterscheiden. Jedes beliebige Geschichtswerk zeigt, in welchem Umfang der praktische Historiker von ihnen Gebrauch macht. Man könnte geneigt sein, das, was hier zum naturwissenschaftlichen Begriff hinzutritt und seinen empirischen Umfang auf ein bestimmtes Exemplar beschränkt, logisch dem Verfahren gleichzusetzen, das RICKERT als das der Einordnung in ein Ganzes bezeichnet hatte. In der Tat findet durch die zeitliche Fixierung eine Einordnung in ein einmaliges umfassenderes Geschehen statt. Aber der Begriff des Ganzen ist in diesem Fall nicht nach einem teleologischen Prinzip gebildet. Gewiß heftet sich der Ausgangspunkt der Zeitzählung immer an ein denkwürdiges Ereignis; aber die Wahl desselben ist so konventionell wie die des Ortes der Erde, dessen Meridian man als ersten bezeichnet. Für die Geschichte bedeutet das chronologische Bezugssystem etwas ähnliches wie das System der Koordinaten in der analytischen Geometrie; und so wenig wie dieses ist der Begriff eines universalen Zeitenlaufes durch den Rückgang auf irgendwelche Wertmomente zu gewinnen. Er gibt den Rahmen, innerhalb dessen alles wirkliche Geschehen, das wertvolle wie das gleichgültige, sich abspielt; aber insofern jeder Einzelvorgang an einer Stelle und nur an dieser in seinen Grenzen stattfinden kann, wird er durch die Angabe an dieser Stelle als ein einmaliger eindeutig bestimmt.

Aber die volle Tragweite dieses Verfahrens wird erst deutlich, wenn man zur Diskussion der bisher offengelassenen Frage übergeht, ob in der Tat das Historische bei der Auswahl derjenigen Eigenschaften, die das Individuum als solches kennzeichnen und insofern für dasselbe  charakteristisch  oder  wesentlich  sind, allein wie RICKERT meint, von Wertgesichtspunkten geleitet wird. Wir hatten bisher zu zeigen versucht, daß es jedenfalls mehr als diese so ausgezeichneten Eigenschaften geben muß. Aber es scheint nun, daß selbst bei ihrer Auslese die Wertbeziehung, wenn überhaupt eine, so nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt. Denn zunächst kann sehr leicht ein Prinzip entwickelt werden, das die gleichen Dienste wie das RICKERTsche Wertprinzip erfüllt. Der Begriff der  Individualität  als einer Werteinheit setzt den seiner Einzigartigkeit voraus. Sieht man nun von den bloßen Positionsbestimmungen ab, so entsteht die Frage, worin die Einzigartigkeit eines gegebenen Stückchens Wirklichkeit beruth. Da nun die Elemente des Wirklichen außer ihren Positionsbestimmungen keine Individualität aufweisen, können gegebene Individualitäten nur als Komplexe von Elementen aufgefaßt werden. Diese Voraussetzung gibt RICKERT zu [339]. Aber er schließt nun, daß das Besondere eines Objekts darin gegründet ist, daß es als Ganzes einen Komplex von Elementen darstellt, der sich nur dieses eine Mal vorfindet; dadurch unterscheidet sich dieses Objekt von allen anderen. Aber man wird außer dem Vorhandensein der Elemente in einem Verband noch andere differenzierende Faktoren zu beachten haben; z. B. ihre Ordnung und vor allem ihre Dimensionen oder ihre quantitativen Bestimmungen. Es ist schon ausgeführt, inwiefern die Ordnung gestattet, gegebene Wirklichkeiten als Formeinheiten aufzufassen. Mit Rücksicht auf diese Formeinheit ist die vergleichende Wissenschaft imstande, Begriffe zu bilden, welche beliebig viele einander sehr ähnliche Gebiete als eine Gattung zusammenfassen. Und zwar enthalten diese Gattungsbegriffe durchaus nicht, wie RICKERT irrtümlich meint, das den einzelnen Exemplaren Gemeinsame. Vielmehr fixieren sie einen Normaltypus, eine  Idee,  die in dieser Bestimmtheit nirgends verwirklicht ist. Und wenn sie, als ein Allgemeines, einen direkt verstellbaren Inhalt auch nicht haben, so liegt ihre Bedeutung, wie SIGWART gegen VOLKELT mit Recht bemerkt hat, (6) darin, daß sie als Prädikate fungieren. Was nun ein gegebenes Objekt gegenüber einem gegebenen Gattungsbegriff, der unter jene fällt, als einzigartig charakterisiert, ist ein Doppeltes. Einmal sind gewisse im Gattungsbegriff aufgenommene Merkmale innerhalb gewisser Grenzen variabel und daher in diesen selbst unbestimmt gelassen; der Begriff des Menschen schließt wohl den Besitz von Haaren, aber nicht deren Farbe ein. Zum anderen sind allen quantitativen Bestimmungen gewisse Grenzen gesetzt; Körpergröße und Lebensdauer des Menschen bewegen sich um ein bestimmtes Mittel. Unter der Zugrundelegung eines solchen Gattungsbegriffs ist aber sofort die Möglichkeit gegeben, eine Wirklichkeit, die unter ihn fällt, jederzeit beliebig genau auch in dem zu beschreiben, worin die Einzigartigkeit liegt. Bezeichnet man die Ausfüllung der im Gattungsbegriff unbestimmt gelassener Merkmale als Methode der Präzisierung, die Angabe der Übereinstimmung oder der Abweichung der quantitativen Bestimmungen vom Normaltypus als Methode der Differenzen, so leisten sie in ihrer Verbindung das gleiche wie RICKERTs Wertprinzip. Auch sie enthalten eine eindeutige Anweisung, aus einem gegebenen Komplex von Elementen gewisse besonders hervorzuheben; die dem Ganzen mit anderen Objekten gemeinschaftlichen Merkmale setzen sie dabei durch die Einführung des Gattungsbegriffs summarisch voraus. So ergänzen sie die Angaben der Positionsbestimmungen. Während diese den empirischen Umfang eines naturwissenschaftlichen Begriffs auf ein bestimmtes Exemplar einschränken, bereichern jene seinen Inhalt um die Züge, die sich gerade bei diesem Objekt vorfinden. Auch hier genügt ein Blick in jedes Geschichtswerk für den Nachweis, daß der Historiker sich tatsächlich dieses Verfahrens bedient. Wer das körperliche Aussehen BISMARCKs schildern will, wird allerdings nicht zu betonen nötig haben, daß er eine Nase und zwei Augen besaß; aber die Farbe der Augen wird er wohl angeben und seine Größe wird er wohl ebenso erwähnen müssen, wie er bei NAPOLEON etwa die Kleinheit hervorheben wird.

Wie weit nun der Historiker in der Präzisierung und der Angabe der Differenzen gehen will, ist offenbar in erster Linie vom Umfang seiner Darstellung und insofern von seiner Willkür abhängig. Solange es sich um die Beschreibung eines isolierten, unveränderlichen Objekts handelt, ist sie, unter der Voraussetzung einer vorgängigen hinreichenden naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Wirklichkeit, mit ausschließlich naturwissenschaftlichen Begriffen möglich. Die Methoden der Präzisierung und der Differenzen gestatten im Prinzip, aus einem gegebenen Komplex von Merkmalen diejenigen hervorzuheben, welche die Einzigartigkeit des Ganzen begründen. Aber die Notwendigkeit, sie nun tatsächlich von den anderen zu unterscheiden und sie oder doch einige von ihnen in die Darstellung aufzunehmen, ist erst gegeben, wenn der Historiker zu einer zusammenhängenden Schilderung einer Mehrheit von Objekten fortschreitet. Durch den Zusammenhang, in den er sie eingliedert, sind sofort gewisse Minimalforderungen an Angaben von Individualeigenschaften gesetzt. Und da verschiedene Gesichtspunkte in der Zusammenstellung leitend sein können, ist auch der Grund der Forderungen ein verschiedener.

Zunächst kann die Einheit einer Geschichtsdarstellung, die über ein Objekt hinausgreift, in der Einheit einer Idee gründen, auf welche die verschiedenen Objekte bezogen werden.

Dies trifft in gewisser Hinsicht mit dem zusammen, was RICKERT als die Beziehung auf einen Wert bezeichnet und so stark in den Vordergrund rückt. So mag etwa die Schilderung des Kohinoor nur einen Bestandteil in einer Beschreibung aller bekannten Edelsteine bilden. Auch eine Schilderung berühmter Afrika-Reisender oder Königsmörder wäre ein Beispiel dafür. So gewiß also dieser Gesichtspunkt bei derartigen Zusammenstellungen leitend sein kann, so müssen doch die Schranken seiner Geltung hervorgehoben werden. Denn erstens ist er, wie dargelegt, jedenfalls nicht allein wirksam. Nur in Verbindung mit den angedeuteten Methoden oder doch unter Anwendung von Operationen, die ihnen logisch äquivalenz sind, vermag er einen historischen Begriff zu gestalten, der hinreichende Bestimmtheit besitzt. Erst müssen aus dem gegebenen Komplex von Elementen diejenigen zumindest im Prinzip ausgesondert sein, welche für seine Individualisierung überhaupt in Betracht kommen, bevor diejenigen unter ihnen, deren Angabe unentbehrlich ist, bestimmt werden können. Und wie es nun in erster Linie die Methoden der Präzisierung und der Differenzen sind, welche den Inbegriff von Merkmalen abzugrenzen gestatten, der für die Unterscheidung der einzelnen Exemplare von dem ihnen übergeordneten Gattungsbegriff bedeutsam sind, kann der Historiker ihrer nicht entbehren; denn nicht die Merkmale überhaupt, sondern nur die im naturwissenschaftlichen Sinn individuellen Merkmale will er weiter in wesentliche und unwesentlich scheiden.

Sodann ist klar, daß der gewöhnliche wie der wissenschaftliche Sprachgebrauch unter der Einheit einer geschichtlichen Darstellung doch etwas anderes als die bloße Beziehung verschiedener sonst nicht zusammenhängender Objekte auf einen Begriff versteht; denn wie die Beispiele zeigen, führt diese Aufgabe nicht über eine Sammlung von Monographien hinaus. Der Historiker jedoch, der eine Geschichte der  Deutschen Kaiser  oder der  Päpste  schreibt, will mehr als eine Reihe von Biographien geben.

Und schließlich kann der Begriff der  Beziehung  eines Objekts auf eine Idee hier in einer Weise gefaßt werden, die ihn deutlich von RICKERTs Begriff der  Wertbeziehung  trennt. RICKERT versteht darunter die Relation eines Objekts zum Historiker, die durch die Möglichkeit gesetzt ist, daß es zum Gegenstand seiner Billigung oder Mißbilligung werden kann. Damit wird aber im Grunde die Auswahl der Merkmale auf ein alogisches Prinzip zurückgeführt. Psychologisch gesprochen liegt dann die Entscheidung in einem gefühlsmäßigen Verhalten des Menschen, und wie abstrakt man den Begriff des Wertes auch fassen mag: seinen Ursprung aus dieser irrationalen Sphäre wird er nie verleugnen können. Dagegen tritt hier der rein logische Sinn der Beziehung deutlich hervor. Er enthält letztlich nur die Anweisung, bei der begrifflichen Darstellung einer Reihe von Objekten, die im Hinblick auf ein bestimmtes Merkmal oder eine bestimmte Merkmalsgruppe sich unter einen Allgemeinbegriff subsumieren lassen, für diese Merkmale die individuellen Größen oder Qualitäten anzugeben. Das heißt nicht, daß die Bildung eines neuen Allgemeinbegriffs gefordert wird; vielmehr muß diese als vollzogen vorausgesetzt werden, damit der Historiker sich seiner als Mittel der Auslese bedienen kann. So geht er von zwei gegebenen Allgemeinbegriffen aus. Der eine, der immer nach naturwissenschaftlicher Methode gebildet ist (z. B. Mensch), erlaubt ihm, aus den unabsehbaren Mannigfaltigkeiten des Wirklichen gewisse Einheiten herauszuheben; indem er aber zugleich seiner Darstellung einen anderen Allgemeinbegriff, jedoch von logisch geringerem Umfang, zugrunde legt (z. B. Königsmörder), entsteht ihm die Aufgabe, an den vorhandenen empirischen Exemplaren dieses Begriffs diejenigen Züge besonders zu charakterisieren, um welche sein Inhalt ein reicherer ist. Nun kann der Grund für die Bildung eines solchen Allgemeinbegriffs, den man zur Unterscheidung vom naturwissenschaftlichen als historischen Prinzipalbegriff bezeichnen mag, gewiß in dem Umstand begründet sein, daß die in ihm aufgenommenen Merkmale in eine Beziehung zu einem Wert zu bringen sind. Aber dies ist keineswegs allgemein erforderlich; vielmehr genügt es, wenn nur das Prinzip seiner Bildung ein anderes ist, als das des zugleich eingeführten naturwissenschaftlichen Gattungsbegriffs. Nach RICKERTs Auffassung vom Wesen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung ist das freilich nur möglich, sofern bei der Konstruktion des historischen Prinzipalbegriffs überhaupt von naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten abgesehen wird. Aber hält man dafür, daß die Naturwissenschaft nicht nur von  einem  Prinzip beherrscht ist, daß sie nicht nur  ein  System von Begriffen, eine  platonische Begriffspyramide  erstrebt, dann ist denkbar, daß auch einmal ein rein naturwissenschaftlicher Begriff zu einem historischen Prinzipalbegriff werden kann. Wenn ein Astronom z. B. vergleichende Studien über die Witterungsverhältnisse auf den Weltkörpern, die für derartige Beobachtungen überhaupt in Betracht kommen, unternimmt, so legt er einerseits den Begriff etwa des Planeten zugrunde; andererseits hebt er an den der Untersuchung zugänglichen Exemplaren dieses Begriffs nur hervor, was dem Begriff einer  Witterung  oder dem Begriff einer  Atmosphäre  untergeordnet werden kann. Und offenbar geschieht das nicht, um den Begriff der  Atmosphäre  selbst zu bereichern oder zu verallgemeinern; der Astronom will nicht einen neuen naturwissenschaftlichen Begriff aufstellen, der das Gemeinsame der atmosphärischen Beschaffenheit der Weltkörper enthält, sondern er wird bemüht sein, die individuellen Abweichungen bei jedem einzelnen von ihnen von den auf der Erde bekannten Verhältnissen zu ermitteln. Ähnliche Fälle bietet die vergleichende Sprachwissenschaft. Das Entscheidende für die Bildung des historischen Prinzipalbegriffs kann somit nicht auf der Wertigkeit seiner Merkmale beruhen; vielmehr stellt sich diese Auslese nach Werten nur als ein spezieller und zwar ziemlich untergeordneter Fall eines allgemeineren logischen Verfahrens dar. Das Wesentliche dabei ist, daß die historischen Prinzipalbegriffe einen genau angebbaren Inhalt besitzen, mit Rücksicht auf welchen sich ihnen Klassen von Objekten unterordnen lassen. Sofern Werte überhaupt zur Auswahl von Merkmalen verwertet werden, müssen sie daher die vorgängige Bildung eines allgemeinen Begriffs veranlaßt haben. RICKERT sagt einmal (7):
    "Da die Kulturwerte als allgemeine Werte immer auch Begriffe mit allgemeinem Inhalt sind, so lassen sich die historischen Ereignisse, die durch ihre Individualität mit Rücksicht auf einen allgemeinen Kulturwert wesentlich werden, zugleich auch als Exemplare dieses allgemeinen Begriffs betrachten."
Man wird hinzufügen müssen, daß für den Historiker  Wertbeziehung  nur die Beziehung des historischen Ereignisses auf den Inhalt jenes allgemeinen Begriffs bedeuten kann.

Ein naturwissenschaftlicher Begriff mag bisweilen zu einem historischen Prinzipalbegriff werden; aber es wird doch immer ein vereinzelter Fall bleiben, der sich auf einige vergleichende Wissenschaften beschränkt. Soll die Entbehrlichkeit von RICKERTs Wertprinzip nachgewiesen werden, so müssen wenigstens einige der positiven Gesichtspunkte entwickelt werden, welche die Bildung der historischen Prinzipalbegriffe beherrschen, wenn es das Wertprinzip nicht ist. Hier ist nun von zentraler Bedeutung, daß, sofern geistiges Leben der Gegenstand der historischen Untersuchung wird, sich aus der Struktur des Materials selbst gewisse Prinzipalbegriffe gewinnen lassen.

Innerhalb des geschichtlichen Lebens der menschlichen Kultur entstehen Gebilde, denen eine über die einzelnen Personen hinausreichende Existenz zugesprochen werden muß, als Ausdruck der Verwirklichung von Zwecken. Denn die Wechselwirkung der Individuen in der Gesellschaft hat auf der Grundlage der ihnen gemeinsamen Bestandteile der Merkmale ein Ineinandergreifen der Tätigkeiten zur Folge, in welchem diese Bestandteile der Menschennatur zu ihrer Befriedigung gelangen. So entstehen Zweckzusammenhänge, welche wir mit dem von DILTHEY (8), der ihre Theorien entwickelt hat, eingeführten Namen eines Systems bezeichnen.
    "Diese Systeme beharren, während die einzelnen Individuen selbst auf dem Schauplatz des Lebens erscheinen und von demselben wieder abtreten. Denn jedes ist auf einen bestimmten, in Modifikationen wiederkehrenden Bestandteil der Person gegründet. Die Religion, die Kunst, das Recht sind unvergänglich, während die Individuen, in denen sie leben, wechseln. Seine volle Realität, Objektivität empfängt das System aber erst dadurch, daß die Außenwelt Einwirkungen von Individuen, die rasch vergänglich sind, auf eine mehr dauernde oder sich wiedererzeugende Weise aufzubewahren und zu vermitteln die Fähigkeit hat. Das einzelne Individuum ist ein Kreuzungspunkt einer Mehrheit von Systemen, welche sich im Verlauf der fortschreitenden Kultur immer feiner spezialisieren."
Der Begriff eines solchen Systems ist nun in vorzüglicher Weise geeignet, als historischer Prinzipalbegriff zu fungieren. Legt man ihn der geschichtlichen Behandlung des geistigen Lebens zugrunde, so gestattet auch er die durchaus eindeutige Auswahl der zur Charakteristik der Einzigartigkeit einer gegebenen Objektreihe erforderlichen Merkmale. Der Historiker, der eine Geschichte der Mathematik zu schreiben unternimmt, hat im Begriff der Mathematik ein Mittel, die Leistungen der zu beschreibenden Persönlichkeiten genau in wesentliche und unwesentliche zu scheiden. Und zwar überwindet dieser Begriff des Systems zugleich die Einseitigkeit, welche jenem ersten Typus des historischen Prinzipalbegriffs anhaftete. Da das System als solches, wie es von einer Mehrheit von Individuen hervorgebracht und durch eine mannigfaches Ineinandergreifen ihrer Tätigkeiten fortgebildet wird, ein Objektives ist, gibt es auch die Basis für die Konstruktion eines realen historischen Zusammenhangs. Die Verbindung der einzelnen Königsmörder existiert nur im Geist des Schriftstellers, der von ihnen in einem Zusammenhang erzählt; aber das Fortwirken und die Verflechtung der Arbeiten der Mathematiker aller Zeiten zum Aufbau und Ausbau einer mathematischen Wissenschaft ist eine Tatsache.

Der Begriff eines  Systems  ist ein Begriff von Zwecken und der Historiker, der die Entstehung und Ausbildung eines Systems verfolgen will, hat die Mittel oder auch die Hindernisse festzustellen, welche für die Erreichung dieser Zwecke in Betracht kommen. Gleichwohl hat der Begriff des Systems nichts mit RICKERTs Wertprinzip zu tun. Wollte man für die obersten Zwecke, denen sie ihr Dasein verdanken, auch die Bezeichnung von  Werten  zugeben, so sind diese Werte erstens nicht formal, sondern inhaltlich genau bestimmt; ja sie lassen sich zumindest im Prinzip auf psychologisch sehr wohl umschreibbare Triebe, Leidenschaften, Wünsche zurückführen; in der Politik z. B. wird immer ein Streben nach Macht als treibender Faktor ermitteln lassen. Sodann - und hierin liegt das Entscheidende - sind es nicht Werte, die der Historiker zwecks einer begrifflichen Darstellung des individuellen geistigen Lebens voraussetzen muß, sondern er findet diese Werte als anerkannte, und zwar von den zu beschreibenden Objekten, den Personen, selbst anerkannte vor. So gliedern sich schon für diese Personen ihre Tätigkeiten hinsichtlich der von ihnen gewollten Zwecke in wesentliche und unwesentliche, und wenn der Historiker einen über die einzelnen Individuen hinausgreifenden Zusammenhang geben will, hat er nur diese Scheidung aufzunehmen; und er darf sie weiter als allgemeines Prinzip verwenden, da die gleichen Zwecke vielen ertrebenswert erscheinen. RICKERT selbst betont den Unterschied der Werte, welche für den Historiker das Bezugssystem bilden, und derjenigen, die von den geschichtlichen Menschen innerhalb der Kulturentwicklung hervorgebracht werden. Aber er benutzt diese Einsicht nur, um aus dieser materialen Eigentümlichkeit des geistig-gesellschaftlichen Lebens die praktische Einschränkung seines allgemein formalen, Geistes- und Körperwelt gleichmäßig umfassenden Begriffs von Geschichte auf die Behandlung von Kulturvorgängen zu erklären. Aber da sie allein schon hinreichend sind, um für die gechichtliche Darstellung des geistigen Lebens als Auswahlprinzip zu dienen, machen sie offenbar die absoluten Werte für den Historiker überflüssig.

Nun ist richtig, daß die Bildung derartiger Prinzipalbegriffe nur für die Erforschung der menschlichen Kulturentwicklung möglich ist; denn nur geistige Wesen sind wertende Wesen und nur ihren Handlungen eignet ein Zweckcharakter. So entsteht die Frage, ob sich auch ungeachtet der Besonderheiten dieses bestimmten Materials Prinzipien für die Bildung von historischen Prinzipalbegriffen finden lassen. Gesetzt, es handelt sich um die Darstellung physischer Objekte; sind auch hier aus dem Zusammenhang, in den dieselben zu bringen sind, Regeln für das sichere Erkennen dessen, was wesentlich an jedem einzelnen von ihnen ist, abzuleiten? Ein realer Zusammenhang zwischen Dingen der körperlichen Welt kann aber nur als ein Kausalzusammenhang verstanden werden; und so spitzt sich das Problem dahin zu: vermögen wir in ähnlicher Weise wie im geistigen Leben Zweckreihen in der räumlichen Welt Kausalreihen zu isolieren, welche eine natürliche Gliederung von wesentlichen und unwesentlichen Momenten aufweisen?

Offenbar ist der Begriff einer solchen Kausalreihe nur, aber dann auch sehr leicht zu gewinnen, wenn wir imstande sind, einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung gleichsam unter dem Gesichtspunkt einer Zweckreihe zu betrachten, ihn als einen gerichteten aufzufassen. Das geschieht am einfachsten und ohne jede Mystik, wenn wir den Weg, den die Naturwissenschaft bei der Konstitution von Kausalverbindungen einschlägt, umkehren; gehen wir nicht von den Bedingungen vorwärts zum Effekt, sondern von diesem aus rückwärts zu den Bedingungen, so vermögen wir sofort diese von anderen in räumlicher und zeitlicher Nähe befindlichen Momenten zu sondern und unter ihnen die einzelnen nach dem Grad ihrer Wichtigkeit für den Eintritt des Effekts zu unterscheiden. Das ist nun in der Tat das Verfahren des Historikers, der erklären will. Ihm ist zunächst ein Endzustand, ein Erfolg, eine Katastrophe gegeben; indem er die Ursachen aufdecken will, blickt er weiter in die Vergangenheit, und aus der unermeßlichen Mannigfaltigkeit der in dieser ihm zugänglichen Wirklichkeit wählt er diejenigen Elemente oder Bestimmungen aus, welche ihm für die Erklärung des Endzustandes notwendig und hinreichend erscheinen. Und zwar läuft er bei diesem Rückgang durchaus nicht die Gefahr, wie RICKERT meint [477], sich im Grenzenlosen zu verlieren. Wollte er allerdings die Forderung, daß für jedes historische Faktum alle Ursachen, von denen seine individuelle Gestaltung abhängt, dargestellt werden müssen, buchstäblich nehmen, so würde diese Aufgabe ihn wieder in die ganze unübersehbare Mannigfaltigkeit des Weltalls hineinführen; denn schließlich ist die Summe der Bedingungen für jedes Ereignis gleich dem unendlichen Kausalzusammenhang der Dinge. Hier hat doch aber schon die an den Methoden des naturwissenschaftlichen Denkens orientierte Logik erheblich vorgearbeitet. Indem sie die Unterschiede von permanenten und veränderlichen Bedingungen hervorhob und unter letzteren wiederum diejenigen erkennen lehrte, welche für die Bestimmtheit des gegebenen Erfolges als entscheidend anzusehen sind, eröffnet sie wenigstens prinzipiell die Möglichkeit, jeden abgeschlossenen Effekt zu erklären, ohne bis an den Anfang der Zeiten oder das Ende der Welt die Reihen zu verfolgen. So liegt das Ziel einer wissenschaftlichen Erklärung nicht in der Ableitung eines Tatbestandes aus allen denkbaren Momenten; es genügt vielmehr vollkommen, denselben auf einen anderen zu reduzieren, d. h. ihn aus diesem unter Bezugnahme auf geltende Kausalgesetze abzuleiten. Bei der Darstellung dieser Ableitung scheiden daher diejenigen Bedingungen, welche für den zu schildernden Verlauf als konstant oder in ihrer Einwirkung als verschwindend anzusehen sind, von vornherein aus; und unter den Bestimmungen des Ursachenkomplexes sind nur diejenigen wesentlich, von denen die zu erklärenden Bestimmungen des Effekts eindeutig abhängen. Damit ist aber wiederum ein Prinzip für die Bildung historischer Prinzipalbegriffe gewonnen, und zwar eins, das in erster Linie für die begriffliche Beschreibung physischer Zusammenhänge in Betracht kommt. Was bei der Beschreibung der in diesen vorhandenen Objekte als Minimum von Individualangaben aufzunehmen ist, richtet sich nach den Besonderheiten des Endgliedes der Reihe. Was zur Erklärung desselben unentbehrlich ist, ist  wesentlich, wichtig;  die Mitteilung anderer individueller Merkmale hängt von der Willkür des Forschers oder des Erzählers ab. Auch hier könnte man, wenn man auf dem Wort besteht, von einem Wert reden; aber das Entscheidende ist, daß der Wert dann durchaus relativ ist. Die Merkmale sind nicht durch irgendeine Beziehung auf einen absoluten Wert, sondern lediglich durch ihren Erklärungswert im jeweiligen Fall ausgezeichnet.

Man kann das Ergebnis dieser Diskussion, um es gegen RICKERTs Auffassung abzugrenzen, auf eine allgemeine Formel bringen. RICKERT bezeichnet die Methode der historischen Begriffsbildung, sofern sie vom Prinzip der Wertbeziehung geleitet wird, als  teleologisch.  Das Gemeinsame an der von uns charakterisierten Verfahrensweise des Historikers bei der Bildung der einen Zusammenhang fundierenden Prinzipalbegriffe ist das Rückwärtsblicken von einem Endpunkt aus, sei es von einem mehr oder weniger willkürlich gewählten Begriff aus, sei es von einem aus einem spezifischen Material gewonnenen Wertbegriff oder ganz allgemein von einem Effektbegriff. Es erscheint daher berechtigt, das historische Denken insofern als ein  retrospektives  zu bezeichnen. Aber das Wesentliche dabei ist nicht der Name, sondern die Einsicht, daß bei der Konstruktion der geschichtlichen Begriffe die Werte im Sinne RICKERTs irrelevant sind. Zumindest kann ihnen solange keine sonderliche Bedeutung zugestanden werden, als nicht ihr Verhältnis zur Funktion und den Bildungsprinzipien der Prinzipalbegriffe im entwickelten Sinn geklärt und der Nachweis ihrer Superiorität [Vorherrschaft - wp] geliefert ist.

So bleibt dann allein noch die Frage, ob, wenn auch nicht die Auswahl der Merkmale an einem historischen Objekt, so doch die Auswahl dieser Objekte selbst auf eine Wertbeziehung derselben zu begründen ist. Allein diese Frage ist schon im Prinzip durch die bisherigen Ausführungen entschieden. Zunächst sind ersichtlich die Prinzipalbegriffe auch in einem weiteren Umfang zur Auslese der als historisch anzusprechenden Objekte geeignet. Das ist besonders deutlich der Fall, wo als solche die Begriffe von Kultursystemen fungieren. Denn die Scheidung der verschiedenen Systeme voneinander und die Zuordnung der einzelnen Individualitäten zu ihnen vollzieht sich nicht durch einen Kunstgriff des theoretischen Verstandes, sondern im Verlauf der Kulturentwicklung selbst tritt dieser Differenzierungsprozeß ein, und das Verhältnis der Personen der Gesellschaft zu den Systemen ist ein lebendig reales, da sie ihre Schöpfer und Träger sind. Und wie es nur eine endliche Anzahl von solchen Systemen gibt, wird, wer überhaupt die menschliche Kultur geschichtlich behandeln will, in den ihm von der Geschichte selbst dargebotenen Begriffen der Einzelsysteme den natürlichen Leitfaden für die Auswahl seiner Objekte finden. Es steht dem Einzelnen frei, sich der Erforschung der Entwicklung der Lyrik oder der Mathematik oder des Handels zu widmen; hat er aber hier gewählt, ist er in der Aufnahme der zu beschreibenden Personen und Leistungen gebunden.

In ähnlicher, wenn auch nicht in gleich umfassender Weise grenzen Begriffe von Effekten, die als Prinzipalbegriffe fungieren, den Kreis der für den Historiker in Betracht kommenden Objekte ein. Denn wenn dieser sich um die Ermittlung der für einen gegebenen Erfolg hinreichenden Bedingungen und Ursachen bemüht, so will er nicht bloß, wie RICKERT gelegentlich anzudeuten scheint [474f], die zwischen zwei ansich teleologisch bedeutsamen Ereignissen bestehende Lücke mit kausalem Werden ausfüllen; vielmehr gewinnt das frühere Ereignis seine Bedeutsamkeit nur mit Bezug auf das spätere. Welches Interesse auch den Forscher an letzteres fesselt: mit ihm ist zugleich die Notwendigkeit eines Rückgangs auf das erstere gegeben, sofern dasselbe zu den wirksamen Faktoren des zu erklärenden Tatbestandes gerechnet werden kann. Wer die Jugendgeschichte FRIEDRICHs des Großen schildern will, kann nicht gut von der Persönlichkeit seines Vaters absehen, und zwar ausschließlich vermöge des bestimmenden Einflusses dieses Mannes auf seinen Sohn; wieweit er ein Eigeninteresse beanspruchen darf, ist dabei ganz gleichgültig.

Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, daß dieses Prinzip der Auswahl der Objekte nach Maßgabe ihres Erklärungswertes für einen Effekt nichts mit den Versuchen gemeinsam hat, die durch eine Art von quantitativer Abschätzung der historischen Folgen eines Ereignisses eine absolute historische Qualifikation desselben glauben bestimmen zu können. Vielmehr muß ausdrücklich zugestanden werden, daß in der Wahl des erklärenden Effekts ein rein subjektives Moment nicht auszuschalten ist. Um der hierin enthaltenen Willkür zu entgehen, hat RICKERT die Forderung der Allgemeinheit der Werte aufgestellt, von denen die Anordnung des historischen Stoffes und seiner Merkmale abhängen soll. So wird ihm die Geschichte, wie die Wissenschaft von der Natur, zu  einem  geschlossenen System, welches in seiner Gliederung von  einem  Gesichtspunkt beherrscht wird und in welchem aus dem einmaligen Verlauf des Weltprozesses zusammengefaßt wird, was durch eine mögliche Beziehung auf einen Wert ausgezeichnet ist. Die Objektivität dieser Geschichtsauffassung ist daher von der absoluten Geltung der Werte abhängig.

Trifft es aber zu, daß für die historische Begriffsbildung als solche die Wertbeziehung nicht als leitendes Prinzip anerkannt werden kann, schränkt sich der Einfluß subjektiver Interessen lediglich auf den ersten Ansatz der Stoffauswahl ein, dann fällt offenbar jede Nötigung fort, den Spielraum dieser Interessen irgendwie einzugrenzen. So wenig wie die Wissenschaftlichkeit und Allgemeingültigkeit der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung von den Gründen abhängig ist, aus denen der eine Forscher sich akustischen, der andere sich biologischen Problemen zuwendet, so wenig ist die Methode der historischen Forschung und Darstellung von den Motiven abhängig, die diesen zur Beschreibung des eigenen Lebens, jenen aber zur Schilderung der Lustseuche im Altertum bewegen. Was als historisch anzusehen ist, unterliegt keiner allgemeinen Bestimmung; denn die unbeschränkte Freiheit der Auswahl der Objekte, welche als Individualitäten in ihrer Entwicklung und in ihrem Zusammenhang mit anderen dargestellt werden sollen, gefährdet nicht das Ergebnis der Darstellung. Wie nichtig, unbedeutend und zufällig auch das Interesse an einer frei gewählten historischen Aufgabe erscheinen mag: ist die Frage einmal gestellt, so ist ihre Beantwortung von jeder Wertbeziehung unabhängig; sie bildet nunmehr als Teil unseres historischen Wissens ein dauerndes Ergebnis, das von anderen Forschern aufgenommen und weitergeführt werden kann. Denn wenn auch die Notwendigkeit der Angabe von Merkmalen, die in historisches Faktum in seiner Einzigartigkeit charakterisieren, nur durch den Zusammenhang der Darstellung gegeben ist, so enthält doch der Begriff dieses Faktums immer mehr als gerade diese Merkmale, die nur für den jeweiligen Zweck ausdrücklich hervorgehoben werden, aber allein nicht zur vollständigen Bestimmung ausreichen. Daher ist die Objektivität der historischen Begriffe für sich genommen von ihrer besonderen Verwertung unabhängig; und umgekehrt gilt, daß der mit Rücksicht auf einen besonderen Zweck gebildete historische Begriff auch ohne diese Bezugnahme richtig bleibt. Wer ein Interesse an der Schilderung der Kleidung hat, die GOETHE trug, als er aus Italien nach Weimar kam, mag nach seinem Geschmack oder nach seiner Absicht, die er dabei verfolgt, gewisse Merkmale an diesem Objekt vornehmlich hervorheben, andere im Dunkeln lassen: aber es sind doch nicht voneinander total verschiedene Begriffe, die so entstehen; der ihnen gemeinsame Inhalt vielmehr ist schon hinreichend, um die Sache, auf die sie beide sich beziehen, als eine individuelle und einmalige erkennen zu lassen.

Nicht dadurch unterscheidet sich der wissenschaftliche Geschichtsschreiber vom gewöhnlichen wertenden Menschen, daß seine Werte, die er der Auswahl zugrunde legt, auf eine allgemeine Anerkennung Anspruch erheben können, sondern nur durch die Methode der wissenschaftlichen Bearbeitung der gewählten Objekte.

Und noch in einer anderen Hinsicht ist diese nicht aufzuhebende Willkür in der Auswahl des historischen Stoffes unschädlich. Nach RICKERT ist im Grunde der Zusammenhang, in den der Historiker eine Mehrheit von Objekten bringt, ein ideeller; die realen Beziehungen, in denen sie untereinander stehen, kommen nur soweit in Betracht, als sie zur Ausfüllung der zwischen den teleologisch bedeutsamen Ereignissen liegenden Lücken dienen. Indem wir aber den Begriff der Geschichte als einer Wirklichkeitswissenschaft strenger fassen, stellen wir die Forderung einer Kongruenz der begrifflichen mit den reellen Zusammenhängen. Es ist gezeigt, inwiefern die Begriffe des Systems oder des Kausalzusammenhangs die Lösung dieser Aufgabe ermöglichen. So schließt sich auch für uns der Inbegriff der historischen Sonderdarstellungen zu einem großen Ganzen; aber da dieses sich nicht auf die durch die Beziehung auf ein Wertesystem erlesene Auswahl von historischen Individualitäten beschränkt, vielmehr die ganze unermeßliche Wirklichkeit umfaßt, ist es ebenso reich und unerschöpflich wie diese selbst. Welchen Teil auch immer der Historiker aus ihr herausgreift und als einen isolierten Tatbestand beschreibt, so fügt sich seine Darstellung doch in den einen universalen Zusammenhang. Die Vergangenheit ist dunkel, aber die Forschung arbeitet unablässig daran, dieses Dunkel zu lichten; welche Strecken zuerst und welche überhaupt beleuchtet werden, ist bei diesem Aufklärungsprozeß im Prinzip gleichgültig. Dem Historiker genügt das Bewußtsein, daß seine Arbeit nicht verloren ist; und wie klein und gering das jeweilig Erkannte auch ist: er weiß, daß es doch ein Glied im Konnex des Wirklichen für alle Zeiten heraushebt und so auch berufen ist, der Erkenntnis der Totalität der geschichtlichen Erfahrung zu dienen.

Ist die begriffliche Darstellung von Individualitäten das Ziel der Geschichte, so eröffnet sich ihr zugleich die Aussicht auf eine unermeßliche Fülle von Aufgaben. Während in der Naturwissenschaft durch die Behandlung eines Falles gleich eine ganze Klasse von analogen erledigt ist, erfordert das Singulare der einzelnen Erscheinungen immer eine selbständige Untersuchung. Jeder Versuch, den Kreis der hier möglichen Aufgaben allgemeingültig abzustecken, muß im Interesse der Freiheit des Historikers zurückgewiesen werden. Zumindest ergibt sich aus dem logischen Begriff der wissenschaftlichen Geschichte nichts, das zur Einschränkung der Extension der gegebenen Mannigfaltigkeit nötigt oder auch nur berechtigt. Gewiß ist diese Unendlichkeit niemals überwindbar. Gleichwohl ist die Historie nicht richtungslos. Denn das Entscheidende ist, daß die Geschichte nicht aus einer unendlichen Summe simultan gegebener Objekte zu wählen, sondern in erster Linie ihre sukzessive Ordnung zu verfolgen hat. So hat die Geschichte, indem sie rückblickend die Vergangenheit aufhellen will, in der Gegenwart einen festen und praktisch schon sehr begrenzten Ansatz. Von ihr aus konstruieren sich rückwärts die Linien. Von den Interessen aus, die in ihr lebendig sind, empfängt der einzelne Geschichtsschreiber den Impuls zu seinen Arbeiten. Und wenn auch der Umstand, daß die Geschichte und mit ihr die Gegenwart beständig fortrückt, zunächst eine nochmalige Erweiterung des historischen Stoffgebietes gleichsam in der Längendimension zu bedingen scheint, so liegt doch andererseits im Aufsteigen neuer Interessen ein äußerst befruchtender Antrieb für die Geschichtsschreibung. So wächst diese mit der Geschichte selbst und kein Machtspruch wird das natürliche Abhängigkeitsverhältnis des Historikers von den Forderungen und den Werten seiner Zeit aufzuheben imstande sein.
LITERATUR - Max Frischeisen-Köhler, Über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Archiv für systematische Philosophie, Neue Folge, Bd. 12, Berlin 1907
    Anmerkungen
    1) HEINRICH RICKERT, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung - eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen und Leipzig, 1902.- Bloße Zahlenangaben bedeuten immer Seiten dieses Werkes.
    2) FRISCHEISEN-KÖHLER, Grenzen der naturwissenschaftl. etc, diese Zeitschrift, Bd. 12, Seite 156f
    3) Vgl. RICKERT, Über die Aufgaben einer Logik der Geschichte, dieses "Archiv", Bd. VIII, Seite 142.
    4) GUSTAV DROYSEN, Grundriß der Historik, 1875, Seite 69
    5) Nach 448f. soll das Objekt der Astronomie "wegen seiner Einzigartigkeit eine Bedeutung" erhalten, "die unser Interesse über die Allgemeinbegriffe hinaus zur Erforschung auch der individuellen und gesatzmäßig stets unbegreiflichen Gestaltungen der einzelnen Teile hinleitet. Kenntnisse über die Individualität des umfassendsten historischen Ganzen, das wir kennen, müssen für unsere Weltanschauung und Lebensauffassung von Bedeutung sein, und daher wird auch das Ganze, dem unsere Erde als Schauplatz aller Geschichte sich einordnet, in einem gewissen Sinn zu einem historischen Individuum". man beachte, daß hier die bloße Einzigartigkeit genügt, die nach den früheren Ausführungen, z. B. 348f, nur sofern sie den Grund der Einheit bildet, ein Wirkliches zu einem historischen Individuum macht. Freilich ist das Objekt der Astronomie auch nur ein historisches Individuum "in gewissem Sinne"!
    6) SIGWART, Logik I, Seite 380f
    7) WILHELM WINDELBAND, (Hg), Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts, Bd. 1, Seite 94
    8) DILTHEY, Einleitung in die Geisteswissenschaften I, Seite 61f.

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