A. SpirF. FrederichsA. LassonNelson | |||
Der kritische Idealismus und die Philosophie des gesunden Menschenverstandes [ 2 / 3 ]
III. Stellen wir uns, um zunächst dieses geschichtliche Urteil zu begründen, die Argumente, die NELSON für seine unmittelbare Erkenntnis der Vernunft anzuführen weiß, noch einmal einzeln vor Augen. Durch seine Schrift zieht sich, wie wir gesehen haben, die Unterscheidung zweier heterogener Erkenntnismittel: der Anschauung und der Reflexion. Wenn jene für sich genommen unfehlbar und keinem Trug unterworfen ist, so befinden wir uns mit dieser auf dem Gebiet bloßer Wahrscheinlichkeit; wenn für jene keine tiefere Begründung, als ihre eigene Sicherheit gesucht zu werden braucht, so muß diese mühsam und beschwerlich auf den Krücken des Beweises fortschreiten. Das Auszeichnende der "psychologischen" Methode liegt eben darin: daß sie die Reflexion, die sie nicht zu entbehren vermag, dennoch Schritt für Schritt durch die Vergleichung mit der unmittelbaren Anschauung kontrolliert und bewährt. Hier bleiben wir ganz
Aber im Ernst gesprochen: kann es eine gröbere Verwechslung geben, als zu glauben, daß derjenige die Herrschaft der Vernunft ablehnt, der nach der Beglaubigung und den Rechtstiteln dieser Herrschaft frägt? Dann hätten freilich die tiefsten spekulativen Geister aller Zeiten, dann hätten PLATON und KANT sich und uns nutzlos bemüht. "Ich kenne keine Untersuchungen" - so urteil KANT - "die zur Ergründung des Vermögens, welches wir Verstand nennen und zugleich zur Bestimmung der Regeln und Grenzen seines Gebrauchs wichtiger wären, als die, welche ich im zweiten Hauptstück der transzendentalen Analytik unter dem Titel der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe angestellt habe; auch haben sie mir die meiste, aber, wie ich hoffe, nicht unvergoltene Mühe gekostet." Armer KANT! Was Dir die tiefste philosophische Sorge und die ernsteste Schwierigkeit war, das ist in Wahrheit ein bloßes Phantom gewesen, mit dem Deine Einbildungskraft Dich narrte! Denn dies ist in der Tat nach NELSON der prinzipielle Fehler KANTs, daß er "ganz bei der Reflexion stehen bliebt und sogar(!) selbst wieder einen Beweis der metaphysischen Grundsätze versuchte, den er den transzendentalen nannte." (Seite 61) So hat NELSON mit einem einzigen absoluten Machtspruch die Vernunftkritik um ihr eigentliches Zentrum gebracht. Wenn er sie auch fürderhin als Grundlage jeder echten Philosophie anerkennen und dulden will, so ist dies lediglich eine seltsame Inkonsequenz. Denn man höre, in welchem Sinne sie nunmehr aufgefaßt und ausgedeutet wird. Ihr Grundmangel - dies sahen wir bereits - liegt darin, daß sie bis zur Einsicht in die "unmittelbare Erkenntnis der Vernunft" nicht vorzudringen vermochte. Diese Erkenntnis allein ist "jenes verborgene X, worauf sich der Verstand stützt" und das den Grund der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori aus bloßen Begriffen bildet. Weil er diesen Grund und Halt, nach dem er beständig suchte, nicht finden konnte: darum macht KANT den vergeblichen Versuch, die Reflexion sich selbst ihre Wahrhaftigkeit verbürgen zu lassen durch die analytische Beziehung zwischen der Erfahrung und ihren Grundsätzen. (Seite 63) Man begreift hier die plötzliche Milde in NELSONs Urteil nicht, die von seiner sonstigen Art so merkwürdig absticht. Wie? KANT hätte eine Lehre nur "nicht gefunden", sie also doch von weitem geahnt und in allgemeinsten Umrissen erfaßt, die er in Wahrheit, wie die geschichtlichen Zeugnisse unzweideutig beweisen, mit bewußter Entschiedenheit von sich abgewehrt hat? Wenn das eingeräumt wird - so spricht er sich selbst aus - daß man synthetische Sätze, so evident sie auch sein mögen,
Aber warum sich bei der Frage aufhalten, ob die NELSONsche Lehre kantisch oder nicht-kantisch ist, ob sie die Fortsetzung oder der Gegensatz zur Methode der Vernunftkritik ist? Ob sie richtig und begründet, ob sie für die tiefere Erfassung des Erkenntnisproblems fruchtbar ist: das allein ist es, worauf wir zu achten haben. In der Tat hätten wir jene erste Frage gern vermieden, wenn sie uns nicht von NELSON selbst auf Schritt und Tritt aufgedrängt worden wäre. Aber lassen wir sie jetzt einmal ganz beiseite, um nur den systematischen Erörterungen nachzugehen, die NELSON uns darbietet. Hier muß ich nun vor allem bedauern, daß er selbst, soviel ich sehe, uns kein einzelnes konkretes Beispiel für einen jener Grundsätze gegeben hat, die, ohne durch logische Beweise verbürgt zu werden, dennoch unmittelbar gewiß sein sollen. Die Betrachtung hätte sich alsdann an dieses Beispiel halten, sie hätte an ihm prüfen können, ob der psychologische Schein der "Evidenz" auch wahrhaft in der Sache gegründet oder vielleicht nur ein subjektives Vorurteil sei. Nun nennt NELSON einmal das Prinzip der Erhaltung der Energie als einen jener unbeweisbaren Grundsätze, der denn auch tatsächlich nicht auf dem Weg der Induktion, sondern auf dem Weg rein logischer Zergliederung und Abstraktion gefunden worden sei. Indem HELMHOLTZ sich die Frage vorlegte: "Wie müssen die höchsten Obersätze der Naturwissenschaft beschaffen sein, wenn ein perpetuum mobile unmöglich sein soll", - gelangte er damit zur Aufstellung seines Grundprinzips. Aber NELSON fügt sofort hinzu, daß dieser Weg der Auffindung nicht auch schon der der ausreichenden Begründung sein könne.
Denn welchen Vorzug hat im methodischen Sinne die innere vor der äußeren Erfahrung: welchen Beweisgrund trägt sie in sich, der sie über alle Fragen und Zweifel, die gegen diese letztere gerichtet werden können, hinaushöbe? Was versichert mir, daß meine psychische Natur in sich regelmäßig und gleichförmig ist, daß die Ergebnisse meiner bisherigen Beobachtung auch für alle künftige Erfahrung Bestand und Geltung haben werden? Auf diese erkenntnistheoretische Grundfrage ist NELSON die Antwort schuldig geblieben; alles, was er anführt, ist nur ein mißglückter Versucht, sie beiseite zu schieben. Er mag immerhin die "Abstraktion", kraft deren wir uns der psychologischen Grundtatsachen bemächtigen, von der "Induktion", wie wir sie in der Physik und beschreibenden Naturwissenschaft üben, unterscheiden. Aber auch die Abstraktion muß doch von bestimmten Daten, die uns durch innere Erfahrung gegeben sind, ausgehen und sie als feststehend voraussetzen. Alle derartigen "Gegebenheiten" aber sind als solche veränderlich: und nichts verbürgt mir ihren gleichartigen, notwendigen Fortbestand; so könnte denn auch das Ergebnis der abstraktiven Analyse jederzeit nur bedingte und hypothetische Geltung beanspruchen. Und diesem Schluß vermag NELSON auch dadurch nicht auszuweichen, daß er der Vernunft kritik, welche psychologisch verfährt und daher in der Tat eine empirische Wissenschaft sein soll, das "System der Philosophie" gegenüberstellt, das nach ihm aus lauter allgemeingültigen und notwendigen Sätzen besteht. Denn jetzt bigt es für ihn nur eine Alternative. Entweder nämlich gründet er das System völlig auf die Kritik und läßt es aus ihr seinen gesamten Gehalt schöpfen: dann ist klar, daß die Urteile, die es in sich schließt, nur von gleichem logischen Rang wie die Tatsachen-Wahrheiten sein können, die die Kritik uns eröffnet. Dieser Zusammenhang bleibt bestehen, gleichviel ob man annimmt, daß die Kritik die metaphysischen Sätze logisch zu beweisen oder daß sie sie nur zu "deduzieren" d. h. in unserer inneren Erfahrung als vorhanden aufzuweisen habe (vgl. Seite 29 und 42f). Denn in beiden Fällen ist doch die Sicherheit, de einem einzelnen philosophischen Grundsatz zukommt, vom jeweiligen Stand, den die Kritik als empirische Wissenschaft erreicht hat, abhängig. Ein Fortschritt der Zergliederung und Selbstbeobachtung kann uns lehren, daß ein Prinzip, das wir bisher für ein letztes, nicht weiter auflösbares gehalten haben, sich in Wahrheit noch aus verschiedenen Bestandteilen von ungleichem logischen Wert zusammensetzt; daß daher, was uns bisher als unumstößlich gewiß erschien, nur einen bestimmten Grund der Wahrscheinlichkeit besitzt und durch künftige Erfahrungen jederzeit berichtigt werden kann. Wir sehen uns bei NELSON vergeblich nach einem Prinzip um, das uns die Sicherheit und Vollständigkeit in der Ableitung der metaphysischen Grundsätze verbürgte. FRIES und APELT haben sich hier auf den "transzendentalen Leitfaden" KANTs berufen: die Tafel der Urteile bietet ihnen das Grundschema, an dem sie sich über das gesamte Gebiet des Verstandes und über den Umfang und Inhalt seiner Stammbegriffe orientieren. (2) Eine derartige Ableitung hat NELSON verschmäht - wohl weil er den Einwänden, die seither gegen die Vollständigkeit und Notwendigkeit der kantischen Urteilstafel selbst gerichtet worden sind, nicht recht zu begegnen wußte. Aber da er nichts anderes an ihre Stelle gesetzt hat, so bleibt er in Wahrheit aller Zufälligkeit der "Selbstbeobachtung" überlassen und treibt ohne Steuer auf dem weiten Meer der "inneren Erfahrung" dahin. Will dagegen NELSON den zweiten Weg einschlagen: will er dem "System" einen besonderen selbständigen Machtbereich unabhängig von der "Kritik" zugestehen, so fällt er damit notwendig in die rein dogmatische Ansicht von der Stellung und Bedeutung der Metaphysik zurück. Denn jetzt gilt die Kritik vielleicht als ein geeignetes Mittel, metaphysische Wahrheiten aufzufinden, nicht aber ist sie es, die uns ihren eigentlichen Grund und Sachgehalt verbürgt; jetzt kann sie daher wohl als ein einzelnes Instrument der Philosophie, nicht aber als ihre konstitutive Bedingung gelten. Über eine Kritik, die empirisch und psychologisch ist, erhebt sich nunmehr eine Metaphysik, die als solche, wie NELSON ausdrücklich betont, nur apriorische und apodiktische [logisch zwingende, demonstrierbare - wp]Urteile enthalten darf und daher weder psychologisch ist, noch sein kann. (Seite 42f) Deutlicher kann es nicht ausgesprochen werden, daß die eigentliche logische Strukur und Eigenart derjenigen Metaphysik, die uns hier verkündet wird, durch den Begriff der Kritik nicht bestimmt wird. Die Kritik dient jetzt nur als gefälliger Helfershelfer, der, nachdem er seinen Dienst getan und zu den unbedingt gültigen metaphysischen Sätzen hingeleitet hat, getrost verabschiedet werden kann. Ihre Rechtfertigung und ihre Beglaubigung finden diese Sätze nunmehr in sich selbst; sie können, nachdem sie einmal festgestellt sind, der kritischen Stützen und Krücken entraten. Daher ist denn auch nicht einzusehen, wie die Kritik es nunmehr noch auf sich nehmen könnte, das wesentliche Ziel, das ihr von KANT gesetzt worden ist, zu erreichen: nämlich den dogmatischen und transzendenten Behauptungen aus reiner Vernunft Schranken zu setzen. Was sie allein vermag, ist die reine Vernunfterkenntnis als solche aufzudecken: nicht aber ihren Gebrauch zu bestimmten und das Gebiet ihrer rechtmäßigen Anwendung abzugrenzen. So treten denn hier in der Tat die "spekulativen Ideen" wieder unmittelbar neben die Grundsätze, die die mathematische Naturwissenschaft ermöglichen und sind ihnen im logischen Rang gleichgeordnet (Seite 32); so können FRIES und APELT für den Gottesbegriff und für die Grundvorstellungen der Religion, die uns in Gefühl und Ahnung zu Bewußtsein kommen, die gleiche objektive Geltung und Gewißheit in Anspruch nehmen, wie für irgendein Axiom der Mathematik. An solchen Beispielen zeigt sich deutlich, wie die Kritik hier ihre Schärfe und die siegreiche Kraft gegen den Übergriffen der Metaphysik, die sie bei ihrem Urheber besaß, eingebüßt hat - sie ist zu einer stumpfen Waffe geworden. Diese Nivellierung ist beim jüngsten "Erneuerer" der FRIESschen Lehre vollendet. Das "System" bildet hier keine festgefügte organische Einheit mehr, es fällt in heterogene Bestandteile auseinander. Daher bleibt dann auch zuletzt selbst die Beurteilung, die NELSON von der FRIESschen Philosophie gibt, in sich zwiespältig und zweideutig. FRIES ist in seiner Darstellung, sofern er Kritiker ist, Empirist und Psychologe; sofern er Systematiker ist, Apriorist, ja fast - Transzendentalphilosoph. Im ersten Aufsatz über die "kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie" wird mit aller wünschenswerten Klarheit ausgesprochen, daß "die Deduktion der metaphysischen Grundsätze ein Geschäft der Psychologie" sei. (Seite 24. Eine besondere "transzendentale" Erkenntnisart neben oder über diesem psychologischen Verfahren anzunehmen: das gilt hier als der Grundirrtum, der "im Keim" bereits bei KANT vorhanden ist, der aber zu erschrecklicher und verhängnisvoller Bedeutung erst bei seinen Nachfolgern gediehen ist. (Seite 45. Das "Vorurteil des Transzendentalen" ist es, das bisher der Begründung der Philosophie als exakter Wissenschaft vor allem im Weg gestanden hat. Die zweite Abhandlung aber, die "JAKOB FRIEDRICH FRIES und seine jüngsten Kritiker" überschrieben ist, spricht aus einem anderen Ton. Hier gilt es den Metaphysiker FRIES vom Verdacht des "Psychologismus" zu reinigen; hier müssen daher alle Stellen, in denen FRIES sich dagegen verwahrt, daß der systematische Grund und Inhalt seiner Philosophie aus der empirischen Psychologie gewonnen ist, sorgfältig zusammengestellt werden. "Die angeführten Stellen beweisen mit unzweideutiger Bestimmtheit, daß FRIES nicht nur selbst nicht Psychologist gewesen, sondern sogar den Psychologismus seiner Zeitgenossen auf das lebhafteste bekämpft und in der Befreiung von ihm das wahre Heil für die Fortbildung der Philosophie gesucht hat." (Seite 256) Fragen wir aber weiter, welches positive sachliche Verhältnis FRIES somit zur "transzendentalen Methode" gehabt habe, so schlägt NELSON, um die Antwort hierauf zu erteilen, einen merkwürdigen Umweg ein. Statt nämlich den Begriff dieser Methode in der Vernunftkritik, in der er geprägt und gefestigt wird, aufzusuchen, legt er vielmehr die bekannte Schrift MAX SCHELERs "Die transzendentale und die psychologische Methode" zugrunde und vergleicht die einzelnen charakteristischen Eigentümlichkeiten der "transzendentalen Methode", die hier festgestellt werden, Schritt für Schritt mit dem FRIESschen Verfahren. Und das Resultat ist in der Tat überraschend: nachdem fünf verschiedene Merkmale einzeln durchgegangen worden sind, gilt es für NELSON nunmehr "durch vollständig Induktion" als bewiesen, "daß FRIES ein Anhänger der transzendentalen Methode ist"! (Seite 270) Nun denn - so wird mancher Leser hier versucht sein zu fragen -: wozu der Lärm, Herr NELSON? Sieht man freilich näher zu, so erkennt man, daß es ein fragwürdiges Zugeständnis ist, das uns hier gemacht wird. Denn diese ganze Ausführung dient im Grunde lediglich taktischen, nicht systematischen Zwecken. Jetzt steht die FRIESsche Lehre in der Tat unwiderleglich fest; jetzt ist sie gegen die Einwände aller Parteien für alle Zeiten gleichmäßig gesichert. Man braucht nur dem Psychologen die "empiristische", dem Transzendental-Philosophen die "aprioristische" Hälfte des Systems zuzuwenden, um beide zu befriedigen und zu bekehren. (3) Aber glaubt NELSON wirklich, daß durch solche advokatorische Mittel die Sache, der er dienen will, gefördert und geklärt werden kann? NELSON ist ausgezogen, um die transzendentale Methode, die er als das Erbübel in der neueren Philosophie ansicht, mit Stumpf und Stiel auszurotten. Aber eine geheime widerstrebende Anerkennung ihrer Bedeutung hat er in isch selbst doch nicht völlig zu besiegen vermocht: so kommt es, daß er zuletzt seinen eigenen Helden, daß er FRIES zum Vertreter des echten und wahrhaften - "Transzendentalismus" stempelt. Dieses Zugeständnis spricht deutlich genug; aber es hilft uns freilich in der Sache selbst nicht weiter. Denn die transzendentale Kritik läßt sich nicht damit abfertigen, daß ihr in irgendeinem Winkel des "Systems" ein bequemer Schlupfwinkel geboten wird: wo sie nicht die höchste prinzipielle Instanz, wo sie nicht den Grund und die Kontrolle des Ganzen bildet, da ist ihre Bedeutung bereits vernichtet.
1) KANT, Kritik der reinen Vernunft (B), Seite 285f 2) Vgl. FRIES, System der Metaphysik, Heidelberg 1824, Seite 195f und APELT, Metaphysik, Leipzig 1857, Seite 97f 3) Auf die Deutung, die NELSON von der FRIESschen Lehre gibt, gehe ich hier nicht im einzelnen ein: daß auch sie von Irrtümern und Mißverständnissen keineswegs frei ist, hat neuerdings PAUL STERN in einem Aufsatz in der "Philosophischen Wochenschrift und Literatur-Zeitung" (hg. von H. RENNER) gezeigt. (Gegen den Versuch einer Neubelebung der Friesschen Philosophie", Januar 1906. |