tb-1A. SpirF. FrederichsA. LassonNelson    
 
ERNST CASSIRER
Der kritische Idealismus
und die Philosophie des
gesunden Menschenverstandes

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"Alle Wahrscheinlichkeit gehört, wie der Irrtum, nur der Reflexion an und beruht auf unvollständigen Schlüssen."

III.

Stellen wir uns, um zunächst dieses  geschichtliche  Urteil zu begründen, die Argumente, die NELSON für seine unmittelbare Erkenntnis der Vernunft anzuführen weiß, noch einmal einzeln vor Augen. Durch seine Schrift zieht sich, wie wir gesehen haben, die Unterscheidung zweier heterogener Erkenntnismittel: der Anschauung und der Reflexion. Wenn jene für sich genommen unfehlbar und keinem Trug unterworfen ist, so befinden wir uns mit dieser auf dem Gebiet bloßer Wahrscheinlichkeit; wenn für jene keine tiefere Begründung, als ihre eigene Sicherheit gesucht zu werden braucht, so muß diese mühsam und beschwerlich auf den Krücken des Beweises fortschreiten. Das Auszeichnende der "psychologischen" Methode liegt eben darin: daß sie die Reflexion, die sie nicht zu entbehren vermag, dennoch Schritt für Schritt durch die Vergleichung mit der unmittelbaren Anschauung kontrolliert und bewährt. Hier bleiben wir ganz
    "bei der Beobachtung, d. h. bei der Erkenntnis durch Sinnesanschauung stehen. Wir entfernen uns also nicht in das Gebiet abstrakten Denkens und verlieren uns überhaupt nicht in die Spitzfindigkeiten und Grübeleien mittelbarer Beweisverfahren, die der Gefahr des Irrtums umso mehr ausgesetzt sind, je mittelbarer sie sind, je weiter sie sich von der Anschauung entfernen. Je näher wir bei dieser, in unserem Falle der Selbstbeobachtung, bleiben, desto weniger sind wir logischen Fehlern ausgesetzt, und desto leichter lassen sich Fehler, wo sie dennoch vorkommen sollten, aufdecken und verbessern. Auch kommen wir so nicht in Gefahr, uns auf bloße Wahrscheinlichkeiten einzulassen. Denn alle Wahrscheinlichkeit gehört, wie der Irrtum, nur der Reflexion an und beruht auf unvollständigen Schlüssen. Die Anschauung dagegen, von der wir uns nicht entfernen und auf die wir immer zurückgehen, ist überhaupt nicht der Ungewißheit unterworfen, also auch nicht den verschiedenen Graden der Wahrscheinlichkeit." (Seite 27)
Es ist genau diese Grundansicht, die in der Erkenntnistheorie der Schottischen Schule herrschend ist und die sich in all ihren Schriften gleichlautend wiederfindet. Was NELSON hier Anschauung nennt: dies und nur dies bezeichnet und bestimmt BEATTIE durch den Begriff des "common sense". Nun scheint es zwar bei NELSON, als sich ob hie und da gegen ein derartiges Verfahren Bedenken regen wollten. Er selbst spricht es aus,daß "jedes Pochen auf die Unerschütterlichkeit unserer Überzeugungen nur  gewalttätiges Parteimachen  ist, das wohl zur Überredeung, aber nie zur Überzeugung führen kann"; er selbst verlangt nach einem Kriterium, durch welches wir uns "über das nur Faktische unserer Gedanken und Gefühle zu erheben" und die psychologischen Tatsachen "gegen den Zweifel sicherzustellen vermögen." (Seite 14f) Aber welches gedankliche Mittel bietet er uns zuletzt, um dieses Ziel zu erreichen? Das erste Verfahren, das er einschlägt, bezeichnet er selbst als eine Beweisführung ad hominem [auf den Menschen bezogen - wp]: es vermag lediglich zu zeigen, daß bestimmte Grundsätze in den Beurteilungen des täglichen Lebens im steten  Gebrauch  sind und in ihnen implizit beständig vorausgesetzt werden. Diese Methode aber ist genau diejenige, die REID gegen HUME befolgt und die ihm KANT mit scharfen Worten vorgehalten hat.
    "Man kann es, ohne eine gewisse Pein zu empfinden, nicht ansehen, wie so ganz und gar seine Gegner REID, OSWALD, BEATTIE und zuletzt noch PRIESTLEY den Punkt seiner Aufgabe verfehlten und, indem sie immer das als zugestanden annahmen, was er eben bezweifelte, dagegen aber mit Heftigkeit  und mehrenteils mit großer Unbescheidenheit  dasjenige bewiesen, was ihm niemals zu bezweifeln in den Sinn gekommen war, seinen Wink zur Verbesserung so verkannten, daß alles im alten Zustand bliebt, als ob nichts geschehen wäre. Es war nicht die Frage, ob der Begriff der Ursache richtig, brauchbar und in Ansehung der ganzen Naturerkenntnis unentbehrlich sei, denn das hatte HUME niemals in Zweifel gezogen; sondern ob er durch die Vernunft a priori gedacht werde und auf solche Weise eine von aller Erfahrung unabhängige innere Wahrheit und daher auch wohl weiter ausgedehnte Brauchbarkeit habe, die nicht bloß auf Gegenstände der Erfahrung eingeschränkt sei: hierüber erwartete HUME Eröffnung. Es war ja nur die Rede vom Ursprung dieses Begriffs, nicht von der Unentbehrlichkeit desselben im Gebrauch; wäre jener nur ausgemittelt, so würde es sich wegen der Bedingungen seines Gebrauches und des Umfangs, in welchem er gültig sein kann, schon von selbst gegeben haben."
Neben der Berufung auf die tatsächliche Anwendung des Kausalprinzipgs aber bleibt NELSON kein anderer Weg, als der der unmittelbaren  Selbstbeobachtung  übrig und auf ihn werden wir denn auch zur Ergänzung des anfänglichen regressiven Verfahrens fort und fort verwiesen. In der Tat: wenn es möglich wäre, die Zweifel der Vernunft durch sanften Zuspruch oder durch rauhes Poltern, durch linde Beschwichtigungsmittel oder drohende Beschwörungsformeln zum Schweigen zu bringen: so müßte man NELSON den Preis der Methode zugestehen. Keines dieser Mittel hat er unversucht gelassen und in kunstvollem Aufbau steigern und verstärken sich die rhetorischen Akzente. Es ist noch das Geringste, wenn er demjenigen, der der Zuverlässigkeit seiner Vernunft nicht traut, den tröstlichen Rat gibt, "sich an die Psychiater zu wenden und die Philosophen in Ruhe zu lassen." (Seite 33) Wer nach diesem Ausspruch noch nicht völlig überzeugt sein sollte, für den hält er noch kräftigere Mittel in Bereitschaft. "Sich gegen diese Methode" (der psychologischen Deduktion der Grundsätze) "zu sträuben, das ist nur der Sport derer, die fürchten müssen, daß doch noch einmal Philosophie als evidente Wissenschaft dem Spiel ihrer eigenen spekulativen Weisheit ein Ende machen könnte, ohne zu bedenken, daß, wer die Herrschaft der Vernunft ablehnt, sich dadurch nur mit dem Blödsinnigen auf eine Stufe stellt." (Seite 35) Vor sachlichen Argumenten von solcher Kraft und Eindringlichkeit gibt es freilich kein Entrinnen mehr. Nur  eine  Bemerkung sei uns noch verstattet: daß sich nämlich hier ein Mißverständnis eingeschlichen hat. Es ist nicht die Vernunft überhaupt, der wir mißtrauen: es ist nur  seine,  Herrn NELSONs Vernunft, zu der wir nicht das gleiche unbedingte Vertrauen, wie er selber, zu fassen vermögen.

Aber im Ernst gesprochen: kann es eine gröbere Verwechslung geben, als zu glauben, daß derjenige die Herrschaft der Vernunft  ablehnt,  der nach der Beglaubigung und den  Rechtstiteln  dieser Herrschaft frägt? Dann hätten freilich die tiefsten spekulativen Geister aller Zeiten, dann hätten PLATON und KANT sich und uns nutzlos bemüht. "Ich kenne keine Untersuchungen" - so urteil KANT - "die zur Ergründung des Vermögens, welches wir Verstand nennen und zugleich zur Bestimmung der Regeln und Grenzen seines Gebrauchs wichtiger wären, als die, welche ich im zweiten Hauptstück der transzendentalen Analytik unter dem Titel der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe angestellt habe; auch haben sie mir die meiste, aber, wie ich hoffe, nicht unvergoltene Mühe gekostet." Armer KANT! Was Dir die tiefste philosophische Sorge und die ernsteste Schwierigkeit war, das ist in Wahrheit ein bloßes Phantom gewesen, mit dem Deine Einbildungskraft Dich narrte! Denn dies ist in der Tat nach NELSON der prinzipielle Fehler KANTs, daß er "ganz bei der Reflexion stehen bliebt und  sogar(!)  selbst wieder einen Beweis der metaphysischen Grundsätze versuchte, den er den transzendentalen nannte." (Seite 61) So hat NELSON mit einem einzigen absoluten Machtspruch die Vernunftkritik um ihr eigentliches Zentrum gebracht. Wenn er sie auch fürderhin als Grundlage jeder echten Philosophie anerkennen und dulden will, so ist dies lediglich eine seltsame Inkonsequenz. Denn man höre, in welchem Sinne sie nunmehr aufgefaßt und ausgedeutet wird. Ihr Grundmangel - dies sahen wir bereits - liegt darin, daß sie bis zur Einsicht in die "unmittelbare Erkenntnis der Vernunft" nicht vorzudringen vermochte. Diese Erkenntnis allein ist "jenes verborgene  X worauf sich der Verstand stützt" und das den Grund der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori aus bloßen Begriffen bildet. Weil er diesen Grund und Halt, nach dem er beständig suchte,  nicht finden konnte:  darum macht KANT den vergeblichen Versuch, die Reflexion sich selbst ihre Wahrhaftigkeit verbürgen zu lassen durch die analytische Beziehung zwischen der Erfahrung und ihren Grundsätzen. (Seite 63) Man begreift hier die plötzliche Milde in NELSONs Urteil nicht, die von seiner sonstigen Art so merkwürdig absticht. Wie? KANT hätte eine Lehre nur "nicht gefunden", sie also doch von weitem geahnt und in allgemeinsten Umrissen erfaßt, die er in Wahrheit, wie die geschichtlichen Zeugnisse unzweideutig beweisen, mit bewußter Entschiedenheit von sich abgewehrt hat? Wenn das eingeräumt wird - so spricht er sich selbst aus - daß man synthetische Sätze, so evident sie auch sein mögen,
    "ohne Deduktion auf das Ansehen ihres eigenen Ausspruchs dem unbedingten Beifall aufheften dürfe, so ist  alle Kritik des Verstandes verloren;  und  da es an dreisten Anmaßungen nicht fehlt,  deren sich auch der gemeine Glaube (der aber kein Kreditiv [Beglaubigungsschreiben - wp] ist) nicht weigert, so wird unser Verstand jedem Wahn offenstehen, ohne daß er seinen Beifall solchen Aussprüchen versagen kann, die, obgleich unrechtmäßig, doch in ebendemselben Ton der Zuversicht als wirkliche Axiome eingelassen zu werden verlangen. Wenn also zum Begriff eines Dings eine Bestimmung a priori synthetisch hinzukommt, so muß von einem solchen Satz, wo nicht ein Beweis, doch wenigstens eine Deduktion der Rechtmäßigkeit seiner Behauptung unnachläßlich hinzugefügt werden" (1): -
eine Deduktion, die im Kantischen Sinne, wie nicht mehr gesagt zu werden braucht, stets nur aus dem Begriff der Möglichkeit der Erfahrung geführt werden, nicht aber die bloße psychologische Aufweisung eines Satzes in der inneren Beobachtung bedeuten kann. Es ist ein seltsames Schicksal, daß die Vernunftkritik hier als  Vorbereitung  einer Lehre bezeichnet wird, deren endgültige  Überwindung  sie sein will. Die Behauptung unmittelbar gewisser Vernunfterkenntnisse aus reinen Begriffen: dies und nichts anderes ist es, was KANT als  Dogmatismus  enthüllt und bekämpft. Wäre er bei dieser Behauptung stehen geblieben, so wäre er in der Tat dem Rationalismus der WOLFFschen Schule nicht entwachsen, so wäre er über die Berufung auf das eingeborene "natürliche Licht" nirgendwo hinausgekommen. Für NELSON erbot sich, wenn er sachlich verfahren wollte, ein doppelter Weg. Er hätte an der Kantischen Lehre ganz vorübergehen, er hätte seine eigene Auffassung unabhängig von ihr darstellen und ausbauen können. Ober aber er hätte die kritischen Einwände KANTs berücksichtigen, zugleich aber im einzelnen mit  Beweisgründen,  nicht mit bloßen Beteuerungen dartun müssen, daß sie unhaltbar sind. Der Versuch aber, KANT als den ersten Begründer einer Ansicht zu feiern, die das gerade  Widerspiel  seiner Methode ist: dieser Versuch muß notwendig scheitern, solange jemand die Kritik der reinen Vernunft auch nur zu lesen versteht.


IV.

Aber warum sich bei der Frage aufhalten, ob die NELSONsche Lehre kantisch oder nicht-kantisch ist, ob sie die Fortsetzung oder der Gegensatz zur Methode der Vernunftkritik ist? Ob sie richtig und begründet, ob sie für die tiefere Erfassung des Erkenntnisproblems  fruchtbar  ist: das allein ist es, worauf wir zu achten haben. In der Tat hätten wir jene erste Frage gern vermieden, wenn sie uns nicht von NELSON selbst auf Schritt und Tritt aufgedrängt worden wäre. Aber lassen wir sie jetzt einmal ganz beiseite, um nur den  systematischen  Erörterungen nachzugehen, die NELSON uns darbietet. Hier muß ich nun vor allem bedauern, daß er selbst, soviel ich sehe, uns kein einzelnes konkretes  Beispiel  für einen jener Grundsätze gegeben hat, die, ohne durch logische Beweise verbürgt zu werden, dennoch unmittelbar gewiß sein sollen. Die Betrachtung hätte sich alsdann an dieses Beispiel halten, sie hätte an ihm prüfen können, ob der psychologische Schein der "Evidenz" auch wahrhaft in der Sache gegründet oder vielleicht nur ein subjektives Vorurteil sei. Nun nennt NELSON einmal das  Prinzip der Erhaltung der Energie  als einen jener unbeweisbaren Grundsätze, der denn auch tatsächlich nicht auf dem Weg der  Induktion,  sondern auf dem Weg rein  logischer Zergliederung  und Abstraktion gefunden worden sei. Indem HELMHOLTZ sich die Frage vorlegte: "Wie müssen die höchsten Obersätze der Naturwissenschaft beschaffen sein, wenn ein perpetuum mobile unmöglich sein soll", - gelangte er damit zur Aufstellung seines Grundprinzips. Aber NELSON fügt sofort hinzu, daß dieser Weg der  Auffindung  nicht auch schon der der ausreichenden  Begründung  sein könne.
    "Denn es fällt keinem besonnenen Naturforscher ein, die Gültigkeit des Energiegesetzes vom Grad der Gewißheit eines solchen empirischen Satzes (wie es der Satz von der Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile ist) abhängig machen zu wollen. Vielmehr schreibt er es umgekehrt seinen Beobachtungen als Bedingung ihrer Gültigkeit vor, es gilt ihm als Norm und Regulativ für seine Induktionen. Durch Erfahrung können wir also ein derartiges Prinzip nicht beweisen, a priori beweisbar ist es aber ebensowenig, sofern es wirklich ein Grundsatz ist. Wodurch sollen wir es denn aber als solchen beglaubigen und es schützen, wenn sich der Zweifel dagegen kehrt?" (Seite 12f)
Ich gestehe offen, daß ich die Antwort auf  diese  Frage, so begierig ich nach ihr gesucht habe, an keiner Stelle der NELSONschen Schrift zu entdecken vermochte. Hier klafft eine  Lücke,  die durch die späteren Erörterungen nirgends ausgefüllt wird. Denn was bei NELSON als Ergänzung des anfänglichen, regressiven Verfahrens folgt, reicht für unser Problem nicht im entferntesten aus. Außer dem logischen  Beweis,  der hier ja ausgeschlossen werden soll, unterscheidet er noch zwei Arten der Begründung: "Demonstration" und "Deduktion". Die  erstere,  kraft deren wir die Grundurteile der empirischen und mathematischen Wissenschaften rechtfertigen sollen - die also, wie es scheint, hier einzig und allein in Betracht kommt - besteht darin, daß wir eine bestimmte Aussage auf eine anschauliche Erkenntnis in uns zurückführen, die für sich und unmittelbar einleuchtend ist. So haben wir alle geometrischen Sätze begründet, wenn wir sie auf die  Axiome  der Geometrie und damit auf einen von der Willkür des Urteilens unabhängigen Grund zurückgeführt haben. (Seite 17 und 21) Glaubt aber NELSON wirklich eine derartige Anschauung, die uns der Wahrheit des Energieprinzips versicherte, auf psychologischem Weg in uns nachweisen zu können? Und glaubt er weiter, daß irgendein Naturforscher ihm hierin folgen und die eigentliche Begründung seiner Grundsätze fortan in der "inneren Erfahrung" suchen werde? Oder gehört vielleicht der Gedanke der Erhaltung der Energie - um auch diese dritte Möglichkeit zu erwägen, da sich bei NELSON eine  bestimmte  Entscheidung hierüber nicht finden läßt - zu den "metaphysischen" Grundsätzen, die sich weder durch einen Beweis, noch auch in einer direkten Anschauung beglaubigen lassen sollen, die aber dennoch, wenn sie kraft der Reflexion einmal zu deutlichem Bewußtsein erhoben worden sind, nicht minder gewiß und unmittelbar evident sein sollen? Aber auch damit wäre nichts gewonnen: denn immer würde hier ein "a priori" behauptet, das nur auf eine "innere Stimme", auf ein bloßes psychisches Zwangsgefühl hin geglaubt und anerkannt werden müßte. Die "exakte" psychologische Zergliederung sieht sich hier letzten Endes auf eine Instanz verwiesen, auf die jegliche Art der  Mystik  sich von jeher berufen und auf die sie ihre Ansprüche gestützt hat. Den empiristischen Einwänden ist damit Tür und Tor geöffnet. NELSON sieht einen entscheidenden Vorzug seiner Lehre darin, daß sie allein den "alle Philosophie zerstörenden Empirismus" abzuwehren und endgültig zu bewältigen vermöge. (Seite 67f) In Wahrheit indessen ist er es, der die Prinzipien der empiristischen Deutung und Kritik rettungslos preisgibt: die gewöhnlichsten und bekanntesten Einwürfe, wie sie etwa ein JOHN STUART MILL gegen die Apriorität des Beharrungsgesetzes gerichtet hat, reichen hin, um ein a priori in  seinem  Sinne zu entwerten und hinfällig zu machen.

Denn welchen Vorzug hat im methodischen Sinne die innere vor der äußeren Erfahrung: welchen Beweisgrund trägt sie in sich, der sie über alle Fragen und Zweifel, die gegen diese letztere gerichtet werden können, hinaushöbe? Was versichert mir, daß meine psychische Natur in sich regelmäßig und gleichförmig ist, daß die Ergebnisse meiner bisherigen Beobachtung auch für alle künftige Erfahrung Bestand und Geltung haben werden? Auf diese  erkenntnistheoretische Grundfrage  ist NELSON die Antwort schuldig geblieben; alles, was er anführt, ist nur ein mißglückter Versucht, sie beiseite zu schieben. Er mag immerhin die "Abstraktion", kraft deren wir uns der psychologischen Grundtatsachen bemächtigen, von der "Induktion", wie wir sie in der Physik und beschreibenden Naturwissenschaft üben, unterscheiden. Aber auch die Abstraktion muß doch von bestimmten Daten, die uns durch innere Erfahrung gegeben sind, ausgehen und sie als feststehend voraussetzen. Alle derartigen "Gegebenheiten" aber sind als solche veränderlich: und nichts verbürgt mir ihren gleichartigen, notwendigen Fortbestand; so könnte denn auch das Ergebnis der abstraktiven Analyse jederzeit nur bedingte und hypothetische Geltung beanspruchen. Und diesem Schluß vermag NELSON auch dadurch nicht auszuweichen, daß er der Vernunft kritik,  welche psychologisch verfährt und daher in der Tat  eine  empirische Wissenschaft  sein soll, das  "System der Philosophie" gegenüberstellt, das nach ihm aus lauter allgemeingültigen und notwendigen Sätzen besteht. Denn jetzt bigt es für ihn nur  eine  Alternative. Entweder nämlich gründet er das System völlig auf die Kritik und läßt es aus ihr seinen gesamten Gehalt schöpfen: dann ist klar, daß die Urteile, die es in sich schließt, nur von gleichem logischen Rang wie die  Tatsachen-Wahrheiten  sein können, die die Kritik uns eröffnet. Dieser Zusammenhang bleibt bestehen, gleichviel ob man annimmt, daß die Kritik die metaphysischen Sätze logisch zu  beweisen  oder daß sie sie nur zu "deduzieren" d. h. in unserer inneren Erfahrung als vorhanden  aufzuweisen  habe (vgl. Seite 29 und 42f). Denn in beiden Fällen ist doch die Sicherheit, de einem einzelnen philosophischen Grundsatz zukommt, vom  jeweiligen Stand,  den die Kritik als empirische Wissenschaft erreicht hat, abhängig. Ein Fortschritt der Zergliederung und Selbstbeobachtung kann uns lehren, daß ein Prinzip, das wir bisher für ein letztes, nicht weiter auflösbares gehalten haben, sich in Wahrheit noch aus verschiedenen Bestandteilen von ungleichem logischen Wert zusammensetzt; daß daher, was uns bisher als unumstößlich gewiß erschien, nur einen bestimmten Grund der Wahrscheinlichkeit besitzt und durch künftige Erfahrungen jederzeit berichtigt werden kann. Wir sehen uns bei NELSON vergeblich nach einem Prinzip um, das uns die Sicherheit und  Vollständigkeit  in der Ableitung der metaphysischen Grundsätze verbürgte. FRIES und APELT haben sich hier auf den "transzendentalen Leitfaden" KANTs berufen: die  Tafel der Urteile  bietet ihnen das Grundschema, an dem sie sich über das gesamte Gebiet des Verstandes und über den Umfang und Inhalt seiner Stammbegriffe orientieren. (2) Eine derartige Ableitung hat NELSON verschmäht - wohl weil er den Einwänden, die seither gegen die Vollständigkeit und Notwendigkeit der kantischen Urteilstafel selbst gerichtet worden sind, nicht recht zu begegnen wußte. Aber da er nichts anderes an ihre Stelle gesetzt hat, so bleibt er in Wahrheit aller Zufälligkeit der "Selbstbeobachtung" überlassen und treibt ohne Steuer auf dem weiten Meer der "inneren Erfahrung" dahin. Will dagegen NELSON den  zweiten  Weg einschlagen: will er dem "System" einen besonderen selbständigen Machtbereich unabhängig von der "Kritik" zugestehen, so fällt er damit notwendig in die rein  dogmatische  Ansicht von der Stellung und Bedeutung der Metaphysik zurück. Denn jetzt gilt die Kritik vielleicht als ein geeignetes Mittel, metaphysische Wahrheiten  aufzufinden,  nicht aber ist sie es, die uns ihren eigentlichen Grund und Sachgehalt verbürgt; jetzt kann sie daher wohl als ein einzelnes Instrument der Philosophie, nicht aber als ihre  konstitutive  Bedingung gelten. Über eine Kritik, die empirisch und psychologisch ist, erhebt sich nunmehr eine Metaphysik, die als solche, wie NELSON ausdrücklich betont, nur apriorische und apodiktische [logisch zwingende, demonstrierbare - wp]Urteile enthalten darf und daher weder psychologisch ist, noch sein kann. (Seite 42f) Deutlicher kann es nicht ausgesprochen werden, daß die eigentliche  logische Strukur  und  Eigenart  derjenigen Metaphysik, die uns hier verkündet wird, durch den Begriff der Kritik nicht bestimmt wird. Die Kritik dient jetzt nur als gefälliger Helfershelfer, der, nachdem er seinen Dienst getan und zu den unbedingt gültigen metaphysischen Sätzen hingeleitet hat, getrost verabschiedet werden kann. Ihre Rechtfertigung und ihre Beglaubigung finden diese Sätze nunmehr in sich selbst; sie können, nachdem sie einmal festgestellt sind, der kritischen Stützen und Krücken entraten. Daher ist denn auch nicht einzusehen, wie die Kritik es nunmehr noch auf sich nehmen könnte, das wesentliche Ziel, das ihr von KANT gesetzt worden ist, zu erreichen: nämlich den dogmatischen und transzendenten Behauptungen aus reiner Vernunft Schranken zu setzen. Was sie allein vermag, ist die reine Vernunfterkenntnis als solche  aufzudecken:  nicht aber ihren Gebrauch zu bestimmten und das Gebiet ihrer rechtmäßigen Anwendung  abzugrenzen.  So treten denn hier in der Tat die "spekulativen  Ideen"  wieder unmittelbar neben die  Grundsätze,  die die mathematische Naturwissenschaft ermöglichen und sind ihnen im logischen Rang gleichgeordnet (Seite 32); so können FRIES und APELT für den  Gottesbegriff  und für die Grundvorstellungen der Religion, die uns in Gefühl und Ahnung zu Bewußtsein kommen, die gleiche objektive Geltung und Gewißheit in Anspruch nehmen, wie für irgendein Axiom der Mathematik. An solchen Beispielen zeigt sich deutlich, wie die Kritik hier ihre Schärfe und die siegreiche Kraft gegen den Übergriffen der Metaphysik, die sie bei ihrem Urheber besaß, eingebüßt hat - sie ist zu einer stumpfen Waffe geworden.

Diese  Nivellierung  ist beim jüngsten "Erneuerer" der FRIESschen Lehre vollendet. Das "System" bildet hier keine festgefügte organische Einheit mehr, es fällt in heterogene Bestandteile auseinander. Daher bleibt dann auch zuletzt selbst die Beurteilung, die NELSON von der FRIESschen Philosophie gibt, in sich zwiespältig und zweideutig. FRIES ist in seiner Darstellung, sofern er  Kritiker  ist, Empirist und Psychologe; sofern er Systematiker ist,  Apriorist,  ja fast - Transzendentalphilosoph. Im ersten Aufsatz über die "kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie" wird mit aller wünschenswerten Klarheit ausgesprochen, daß "die Deduktion der metaphysischen Grundsätze ein Geschäft der Psychologie" sei. (Seite 24. Eine besondere "transzendentale" Erkenntnisart neben oder über diesem psychologischen Verfahren anzunehmen: das gilt hier als der Grundirrtum, der "im Keim" bereits bei KANT vorhanden ist, der aber zu erschrecklicher und verhängnisvoller Bedeutung erst bei seinen Nachfolgern gediehen ist. (Seite 45. Das "Vorurteil des Transzendentalen" ist es, das bisher der Begründung der Philosophie als exakter Wissenschaft vor allem im Weg gestanden hat. Die zweite Abhandlung aber, die "JAKOB FRIEDRICH FRIES und seine jüngsten Kritiker" überschrieben ist, spricht aus einem anderen Ton. Hier gilt es den  Metaphysiker  FRIES vom Verdacht des "Psychologismus" zu reinigen; hier müssen daher alle Stellen, in denen FRIES sich dagegen verwahrt, daß der systematische  Grund  und  Inhalt  seiner Philosophie aus der empirischen Psychologie gewonnen ist, sorgfältig zusammengestellt werden.  "Die angeführten Stellen beweisen mit unzweideutiger Bestimmtheit, daß FRIES nicht nur selbst nicht Psychologist gewesen, sondern sogar den Psychologismus seiner Zeitgenossen auf das lebhafteste bekämpft und in der Befreiung von ihm das wahre Heil für die Fortbildung der Philosophie gesucht hat."  (Seite 256) Fragen wir aber weiter, welches positive sachliche Verhältnis FRIES somit zur "transzendentalen Methode" gehabt habe, so schlägt NELSON, um die Antwort hierauf zu erteilen, einen merkwürdigen Umweg ein. Statt nämlich den Begriff dieser Methode in der Vernunftkritik, in der er geprägt und gefestigt wird, aufzusuchen, legt er vielmehr die bekannte Schrift MAX SCHELERs "Die transzendentale und die psychologische Methode" zugrunde und vergleicht die einzelnen charakteristischen Eigentümlichkeiten der "transzendentalen Methode", die hier festgestellt werden, Schritt für Schritt mit dem FRIESschen Verfahren. Und das Resultat ist in der Tat überraschend: nachdem fünf verschiedene Merkmale einzeln durchgegangen worden sind, gilt es für NELSON nunmehr "durch vollständig Induktion" als  bewiesen,  "daß FRIES ein Anhänger der transzendentalen Methode ist"! (Seite 270) Nun denn - so wird mancher Leser hier versucht sein zu fragen -: wozu der Lärm, Herr NELSON? Sieht man freilich näher zu, so erkennt man, daß es ein fragwürdiges Zugeständnis ist, das uns hier gemacht wird. Denn diese ganze Ausführung dient im Grunde lediglich  taktischen,  nicht  systematischen  Zwecken. Jetzt steht die FRIESsche Lehre in der Tat unwiderleglich fest; jetzt ist sie gegen die Einwände aller Parteien für alle Zeiten gleichmäßig gesichert. Man braucht nur dem Psychologen die "empiristische", dem Transzendental-Philosophen die "aprioristische" Hälfte des Systems zuzuwenden, um beide zu befriedigen und zu bekehren. (3) Aber glaubt NELSON wirklich, daß durch solche advokatorische Mittel die  Sache,  der er dienen will, gefördert und  geklärt  werden kann? NELSON ist ausgezogen, um die transzendentale Methode, die er als das Erbübel in der neueren Philosophie ansicht, mit Stumpf und Stiel auszurotten. Aber eine geheime widerstrebende Anerkennung ihrer Bedeutung hat er in isch selbst doch nicht völlig zu besiegen vermocht: so kommt es, daß er zuletzt seinen eigenen Helden, daß er FRIES zum Vertreter des echten und wahrhaften - "Transzendentalismus" stempelt. Dieses Zugeständnis spricht deutlich genug; aber es hilft uns freilich in der Sache selbst nicht weiter. Denn die transzendentale Kritik läßt sich nicht damit abfertigen, daß ihr in irgendeinem Winkel des "Systems" ein bequemer Schlupfwinkel geboten wird: wo sie nicht die höchste prinzipielle Instanz, wo sie nicht den Grund und die Kontrolle des Ganzen bildet, da ist ihre Bedeutung bereits vernichtet.
LITERATUR - Ernst Cassirer, Der kritische Idealismus und die Philosophie des gesunden Menschenverstandes, Giessen 1906
    Anmerkungen
    1) KANT, Kritik der reinen Vernunft (B), Seite 285f
    2) Vgl. FRIES, System der Metaphysik, Heidelberg 1824, Seite 195f und APELT, Metaphysik, Leipzig 1857, Seite 97f
    3) Auf die Deutung, die NELSON von der FRIESschen Lehre gibt, gehe ich hier nicht im einzelnen ein: daß auch sie von Irrtümern und Mißverständnissen keineswegs frei ist, hat neuerdings PAUL STERN in einem Aufsatz in der "Philosophischen Wochenschrift und Literatur-Zeitung" (hg. von H. RENNER) gezeigt. (Gegen den Versuch einer Neubelebung der Friesschen Philosophie", Januar 1906.