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Der kritische Idealismus und die Philosophie des gesunden Menschenverstandes [ 3 / 3 ]
V. Wir sind den Einwendungen NELSONs geduldig gefolgt und haben uns der Gründe, auf die sie sich stützen, bis ins einzelnen zu versichern gesucht. Dennoch haben wir die originelle Stellung, dier er zu den Grundfragen der Philosophie einnimmt, bis hierher noch nicht vollständig und erschöpfend kennen gelernt. Fortan müssen wir versuchen, uns zu einem höheren Standpunkt der Betrachtung zu erheben. Denn die ganze bisherige Untersuchung könnte noch immer den Glauben aufkommen lassen, als handle es sich für NELSON darum, eine neue festumschriebene Methode der Erkenntnistheorie zu vertreten und sie allen anderen, die heutzutage in dieser Wissenschaft geübt werden, entgegenzusetzen. Damit aber wäre seine Grundabsicht durchaus verkannt: nicht bestimmte Richtungen innerhalb der Erkenntnistheorie will er bekämpfen, sondern die gesamte Disziplin, die mit diesem Namen bezeichnet wird, ist es, die von ihm gewogen und zu leicht befunden wird. Nicht die Antworten, die man bisher auf die Grundfragen der Erkenntnis erteilt hat, waren falsch: die Aufgaben und Ziele selbst, die man sich gestellt hat, waren trügerisch und irreführend. Gerade dies ist die neue und entscheidende Leistung von Fries, daß er - die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie bewiesen hat. (Seite 315 u. a.) Fragen wir nach der näheren Begründung dieses überraschenden Ergebnisses, so hören wir, daß "jede Erkenntnis als solche schon Erkenntnis eines Gegenstandes" ist. Es ist also durchaus nicht nötig, daß irgendeinem Urteil seine "objektive Bedeutung und Geltung erst nachträglich verbürgt" werde, daß gleichsam eine neue äußerliche Qualität zu ihm hinzukäme.
"Die Übereinstimmung mit dem Gegenstand besitzt die Erkenntnis unserer Vernunft oder besitzt sich nicht, ohne daß wir etwas dafür oder dagegen tun können. Es gibt für uns keinen Standpunkt, von dem aus wir, gleichsam außer oder über unserer Erkenntnis stehend, ihre Gültigkeit zum Thema irgendeiner Wissenschaft machen könnten." (Seite 20)
Hätte NELSON übrigens das Verständnis der Kritik der reinen Vernunft aus dieser selbst zu gewinnen versucht, statt sie von vornherein aus seinem eigenartigen "Standpunkt" zu betrachten und zu beurteilen, so hätte er in ihr auch das entscheidende Argument gegen seine Auffassung entdeckt.
Oder will NELSON, um die Grenze zwischen der subjektiven und objektiven Beweisart wiederum zu verwischen, einwenden, daß es sich auch in der Kantischen Fragestellung doch niemals um die Bedingungen des empirischen Gegenstandes selbst, sondern nur um das Denken des Gegenstandes handeln könne; daß aber der Prozeß des Denkens uns eben nur durch "innere Erfahrung" zugänglich sei? (Vgl. Seite 41) Das aber hieße nur wieder, ein Grundproblem aller Philosophie durch eine leere tautologische Behauptung erledigen wollen. Daß das Material, auf das sich alle Forschung, die wissenschaftliche wie die philosophische, bezieht, nur in Inhalten des Bewußtseins besteht, versteht sich freilich von selbst: aber aus dieser Beziehung, die allen Disziplinen gemeinsam ist, kann denn auch niemals etwas über ihren spezifischen Charakter und über das auszeichnende Unterscheidungsmerkmal ihrer Methode gefolgert werden. Das "Bewußtseni" ist nur das Substrat, das überall in derselben Weise zugrunde liegt; die Wissenschaften aber gelangen zur klaren Abgrenzung erst in der verschiedenartigen Auffassung und Formung dieses Grundstoffes. Daß also die Philosophie psychologisch sein müsse, weil sie Erkenntnisse zu ihrem Gegenstand hat: das ist genau ebenso richtig und unrichtig, wie wenn man behaupten wollte, daß die Mathematik ein Zweig der Psychologie sei, da sie doch nur von unseren Begriffen und unseren Anschauungen handle. Ja, man könnte alsdann das gleiche auch für alle Naturwissenschaft behaupten,m da doch die empirischen Erscheinungen nur insoweit, als sie uns zu Bewußtsein kommen, als sie von unseren Sinnen oder unserem Verstand erfaßt werden, der Betrachtung unterworfen werden können. Trotz dieses bestechenden dialektischen Einwandes aber dürfte wohl kein Astronom sich künftig verleiten lassen, seine Ergebnisse, statt sie am Himmel aufzusuchen und in der mathematischen Rechnung zu begründen, durch psychologische "Selbstbeobachtung" gewinnen zu wollen. Was die Wissenschaften scheiet, ist nicht ihr Stoff, sondern ihr Verfahren. Wenn es etwas anderes ist, ob man von der alltäglichen, noch ungesichteten Erfahrung oder von der exakten wissenschaftlichen Bearbeitung des empirischen Stoffes seinen Ausgang nimmt; wenn es etwas anderes ist, ob man den Tatsachen der inneren Beobachtung nachspürt oder aber den Begriff des "Naturobjekts" rein inhaltlich analysiert und auf die "Bedingungen seiner Möglichkeit" prüft: so bleiben die transzendentale und die psychologische Methode voneinander getrennt und es ist ein bloßes Wortspiel, sie unter dem Gesichtspunkt, daß sie beide es im letzten Grund irgendwie mit dem "Bewußtsein" zu tun haben, miteinander vermischen zu wollen. Woher aber - so müssen wir uns zum Schluß dennoch fragen - stammt dieses Unvermögen NELSONs, sich auch nur vorübergehend in den Standpunkt und die Fragestellung der modernen Erkenntniskritik zu versetzen: eine Unfähigkeit, die so stark ist, daß er die Einwendungen COHENs und RIEHLs gar nicht zu begreifen und auch nur sinngemäß wiederzugeben vermag? (2) Eine derartige Verblendung müssen wir, wenn sie nicht zuletzt dennoch wie ein Rätsel wirken soll, wenn nicht in ihren logischen Gründen, so doch wenigstens in ihren psychologischen Ursachen zu verstehen suchen. Herr NELSON verarge es mir nicht, wenn ich diese Erklärung einem Denker, den er ingrimmig befehdet, wenn ich sie JOHANN GOTTLIEB FICHTE entlehne. In einem wenig bekannten Aufsatz, in seiner "Vergleichung des von Herrn Prof. Schmid aufgestellten Systems mit der Wissenschaftslehre" hat FICHTE sein eigenes System einer Lehre entgegengestellt, die alle Philosophie auf vorgeblich letzte und unerweisliche "Tatsachen des Bewußtseins" gründet und hier den Eck- und Schlußstein alles Beweisens gefunden zu haben meint. Woher - so fragt er - kommt die beneidenswerte Sicherheit, mit der man hier auf jene zweifellosen und evidenten "Tatsachen" baut und sie als einen festen, von keiner künftigen Analyse mehr angreifbaren Bestand behauptet? Und der erteilt hierauf einen drastischen, aber treffenden Bescheid.
1) KANT, Kritik der reinen Vernunft (B), Seite 285f 2) Von seinem Verständnis der Lehre COHENs hat NELSON neuerdings in einer Besprechung der "Logik der reinen Erkenntnis" im Oktoberheft der "Göttingische gelehrten Anzeigen" eine Probe abgelegt, die alle seine früheren Leistungen überbietet. Diese Kritik fordert, wenn nicht um ihres sachlichen Gehalts, so doch um der Stelle willen, an der sie erschienen ist, die Betrachtung heraus. Der Grundgedanke von COHENs Werk läßt sich in aller Kürze dahin aussprechen: daß wir, wenn wir zu einer echten wissenschaftlichen Begründung der Logik gelangen wollen, nicht von irgendeiner Art fertiger Existenz auszugehen haben. Was die naive Anschauung als ihren festen und sicheren Besitz ansieht, das bildet für die Logik erst das eigentliche Problem; was ihr unmittelbar "gegeben" heißt, das gilt es erst kritisch zu analysieren und in seine notwendigen gedanklichen Beindungen zu zerlegen. Wir dürfen mit keinerlei gegenständlichem Sein, welcherart es auch sei und welche Bezeichung wir ihm immer geben, den Anfang machen: denn jedes "Sein" ist erst ein Produkt und ein Ergebnis, das die Operationen des Denkens und ihre systematische Einheit zur Voraussetzung hat. Eine grundlegende begriffliche Setzung dieser Art, eine intellektuelle Bedingung, unter der wir erst von "Realität" im wissenschaftlichen Sinn sprechen können, ist nun für COHEN der Gedanke des Infinitesimalen, wie er in der modernen Mathematik zur Auszeichnung und Fixierung gelangt ist. Was wird nun unter NELSONs Händen aus dieser Lehre? "Die Arbeiten von CAUCHY, WEIERSTRASS und ihren Schülern - so belehrt er uns - haben einwandfrei gezeigt, daß im gesamten Gebiet der Analysis dem sogenannten Unendlichkleinen eine mathematisch genau definierbare Bedeutung zukommt und daß man es in ihr niemals mit wirklich existierenden unendlich kleinen Größen in irgendeinem mystischen Sinne zu tun hat." COHENs Ansicht dagegen läuft - nach dem Urteil NELSONs - "darauf hinaus, daß dem Unendlichkleinen nicht nur eine selbständige Bedeutung - und Existenz zukommen soll, sondern daß in ihm sogar das Ursprungs- und Erzeugungsprinzip für das Endliche liegt". Damit aber gehe er auf die "vorkritische Zeit der Wissenschaft" zurück: auf eine Zeit, in der man noch "vielfach mystische Elemente in die Grundbegriffe der neuen Methode hineinzulegen geneigt war" und in der man somit das Unendlichkleine als aktuelle Existenz ansah und ausdeutete. Mit Verlaub, Herr NELSON - hier muß zunächst im Namen der geschichtlichen Wahrheit Einspruch erhoben werden! Die eigentlichen Begründer der Analysis des Unendlichen haben niemals die Absurdität begangen, die Sie ihnen zuschreiben: LEIBNIZ wie NEWTON, EULER wie MacLAURIN haben das Unendlichkleine als reinen Methodenbegriff gedacht und alle Versuche, es zu einem für sich bestehenden Dinge zu hypostasieren [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp], ausdrücklich und energisch abgewehrt. Und COHEN verfolgt nur den Weg, den sie gewiesen haben, wenn er fort und fort betont, daß das Infinitesimale nicht als Ding, sondern als Bedingungen, nicht als eine irgendwie vorhandene Wirklichkeit, sondern als ein gedankliches Instrument zur Entdecktung und zum Aufbau des wahrhaften Seins zu gelten habe. Für NELSON aber schließt die logische Bedeutung, die hier dem Begriff des Unendlichkleinen zugeschrieben wird, unmittelbar die Behauptung der Existenz unendlich kleiner - Dinge ein; die Zurückführung komplexer Inhalte des Denkens auf ihre Prinzipien vermag er sich gar nicht anders vorzustellen, als dadurch, daß er diese letzteren selbst wiederum als metaphysische Wirklichkeiten denkt. Daß sich in seinem Kopf ein erkenntniskritisches Werk anders als sonst in Menschenköpfen malt: das kann uns nach dem, was wir oben von seiner eigenen Lehre erfahren haben, nicht mehr in Staunen setzen; aber wahrhaft bewundernswert bleibt dennoch die Fertigkeit, mit der er in einem einzigen Wort, das er hinzufügt, eine gesamte, eingehende Untersuchung in das Gegenteil ihres Sinns verkehrt und ihr genau diejenige Tendenz unterschiebt, die sie ständig und unablässig bekämpft. - Außer diesem Einwand gegen das Infinitesimale aber, dem sich, so verkehrt er ist, doch allenfalls noch ein sachlicher Sinn abgewinnen läßt, findet sich in der ganzen langen Kritik NELSONs auch nicht ein einziges positives Argument. Was übrig bleibt sind einzig und allein gehässige Entstellungen und Schmähungen. Keinem Begriff wird die feste terminologische Bedeutung, keinem Gedanken der innere sachliche Zusammenhang gelassen, die sie innerhalb der "Logi der reinen Erkenntnis" besitze; überall werden nur einzelne Sätze herausgerissen, um sie mit höhnischen Randbemerkungen zu versehen. Daß es nach dieser Methode - besonder, wenn man in den beigefügten Scherzen nicht allzu wählerisch ist - ein leichtes ist, ein schwieriges spekulatives Werk zu "vernichten", das brauchte nicht erst NELSON zu erweisen: es ist aus der Geschichte des Idealismus sattsam bekannt. Wiederum übt NELSON hier mit Berufung auf KANT ein Verfahren, das KANT für immer gekennzeichnet hat: "bei Lichte besehen ist diese Appellation nichts anderes als eine Berufung auf das Urteil der Menge; ein Zuklatschen, über das der Philosoph errötet, der populäre Witzling aber triumphiert und trotzig tut." 3) Fichte, Sämtliche Werke II, Seite 452f. |